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Gletscher schmelzen, Arbeitswelten verschwinden, Ordnungen zerfallen. Verluste bedrängen die westlichen Gegenwartsgesellschaften in großer Zahl und Vielfalt. Sie treiben die Menschen auf die Straße, in die Praxen der Therapeuten und in die Arme von Populisten. Sie setzen den Ton unserer Zeit. Während sich die Formen ihrer Bearbeitung tiefgreifend verändern, scheinen Verlusterfahrungen und Verlustängste immer weiter zu eskalieren. Wie ist das zu erklären? Und was bedeutet es für die Zukunft?
Andreas Reckwitz leistet Pionierarbeit und präsentiert die erste umfassende Analyse der sozialen und kulturellen Strukturen, die unser Verhältnis zum Verlust prägen. Unter dem Banner des Fortschritts, so legt er dar, wird die westliche Moderne schon immer von einer Verlustparadoxie angetrieben: Sie will (und kann) Verlusterfahrungen reduzieren – und potenziert sie zugleich. Dieses fragile Arrangement hatte lange Bestand, doch in der verletzlichen Spätmoderne kollabiert es. Das Fortschrittsnarrativ büßt massiv an Glaubwürdigkeit ein, Verluste lassen sich nicht mehr unsichtbar machen. Das führt zu einer der existenziellen Fragen des 21. Jahrhunderts: Können Gesellschaften modern bleiben und sich zugleich produktiv mit Verlusten auseinandersetzen? Ein wegweisendes Buch.
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Seitenzahl: 784
3Andreas Reckwitz
Verlust
Ein Grundproblem der Moderne
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2024.
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
eISBN 978-3-518-78064-0
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung: Verlust als Grundproblem der Moderne
Erster Teil Was sind und wie wirken Verluste?
1 Verlust als soziales Phänomen
Die Vergänglichkeit sozialer Praxis
Die Zeitlichkeit des Sozialen
Soziale Praktiken
Die Normalität des Verschwindens
Soziales Vergessen
Negativität und positive Bindung
Verschwinden und Verlust
Emotionale Bindungen als Voraussetzung von Verlusterfahrungen
Irreversibilität und Unverfügbarkeit
Selbst- und Weltverlust
Verlust und soziale Praxis
Verlustpraktiken
Verlustdiskurse und Verlustnarrative
Die Narrativität des Sozialen
Verlusttypen
Der Verlust von Menschen, Dingen und Räumen
Statusverluste
Kulturelle Verluste
Stabilisierungsverluste
Verlusttotalen
Scheitern, Niederlage, Trauma
2 Zeitstrukturen, Emotionen, Arenen
Verlustpraktiken als Zeitpraktiken
Erinnerung und Gedächtnis
Verlustantizipation und Zukunftsverlust
Verlustrhythmen
Die Emotionen und Affekte der Verluste
Die Affektivität des Sozialen
Trauer
Angst
Wut und Empörung
Scham und Verbitterung
Ambivalente Emotionen
Verlustarenen und die Figuren des Dritten
Verlustkämpfe
Schuldige, Gewinner, Beobachter
Zweiter Teil Die Verlustparadoxie der Moderne
3 Der Fortschrittsimperativ und seine Folgen
Fortschritt und Modernisierung
Radikale Zukunftsorientierung: Fortschritt als Versprechen
Fortschrittsdiskurs und Geschichtsphilosophie
Der Fortschrittsimperativ und seine gesellschaftliche Verankerung
Wissenschaft und Technik
Ökonomie
Politik und Staat
Lebensform der Mittelklasse
Merkmale des Fortschrittsnarrativs
Kollektivsingular
Positive Affektivität
Das progressive Imaginäre: Freiheit und Überfluss
Unendlichkeit
Berechenbare Verbesserung: Die Kontinuität in der Diskontinuität
Verlusterfahrungen im Widerspruch zum Fortschrittsimperativ
Die Verdrängung des Todes
4 Zwischen Verlustreduktion und Verlustpotenzierung
Die vier Verlusteffekte und die doppelte Verlustparadoxie
Wie die Moderne die Verluste reduziert
Wie die Moderne die Verluste potenziert
Strukturelle Mechanismen: Wie die Anlässe für Verlusterfahrungen zunehmen
Das Regime der Obsoleszenz
Biografische Betroffenheit durch sozialen Wandel
Vermarktlichung des Sozialen
Kaskadeneffekte sozialer Komplexität
Staatliche Gewalt
Kulturelle Mechanismen: Wie man sich für Verluste sensibilisiert
Erwartungsexpansion
Emotionale Empfindsamkeit
Singularisierungsprozesse
Geschichtskultur
Das Freiheitsparadox und die Vernichtung der Möglichkeiten
5 Wie die Moderne die Verluste unsichtbar macht
Verlustinvisibilisierung als
undoing loss
Narrative Relativierungen
Der illegitime Verlust
Der Verlust als Preis für den Fortschritt
Der temporäre Verlust
Der Verlust als Abweichung
Gesellschaftliche Hemmung: Transformation, Ausschluss, Entleerung
Strukturelle Neigung zum Vergessen
Ausdifferenzierung der Privatsphäre
Soziale Logik der Ersetzbarkeit
Soziale Exklusion der »Verlustunwürdigen«
Stigmatisierung von Verlierern und Opfern
Sanktionierung negativer Emotionen
Erosion nichtmoderner Verlustnarrative: Kosmologie, Tragik, Heroik
Das Vokabular des emotional ungebundenen Selbst
6 Wie die Moderne die Verluste bearbeitet
Nostalgie: Die Ästhetisierung der Verluste
Risiko: Die Ökonomisierung der Verluste
Konservatismus, Risikopolitik, Opferpolitik: Die Politisierung der Verluste
Komplizierte Trauer: Die (Psycho-)Therapeutisierung der Verluste
Diaspora: Heimatverlust und Gemeinschaftsbildung
Religion: Der Trost der Transzendenz
Dritter Teil Verlusteskalation in der Spätmoderne
7 Fortschrittsverlust
Nach dem Boom
Das zukunftsskeptische Zeitregime
Zukunft als Katastrophe
Dystopien
Wissenschaftliche Katastrophenszenarien
Kipppunkte, normale Unfälle, Szenarien
Technikskepsis, Ökonomieskepsis, Staatsskepsis
Die Umkehrung: Positiver Erfahrungsraum, negativer Erwartungshorizont
Präventionsregime
Subjektivierung des Fortschritts
8 Verlustschübe
Die industrielle Moderne und das Phantasma des verlustfreien Fortschritts
Sechs spätmoderne Verlustschübe
Verlustschub
I
: Die Verlierer des liberalen Postindustrialismus
Verlustschub
II
: Klimawandel
Verlustschub
III
: Politische Regressionen
Verlustschub
IV
: Artikulation historischer Wunden
Verlustschub
V
: Emotionales Selbst und Verlustsensibilisierung
Verlustschub
VI
: Alternde Gesellschaft
Die neue Qualität der Verluste
Wechselseitige Steigerung von Negativität
Politische Entgrenzung
Löchrige Verlustreduktion
Fortschrittssubjektivierung: Enttäuschung oder Entkopplung?
Von der Invisibilisierung zur Sichtbarmachung
Erschöpfungsverluste
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Doing loss
Verletzlichkeit und Verlustidentitäten
Cultural Heritage: Schutz des Wertvollen gegen Zerstörung
Restorative Justice: Anerkennung der Opfer
Resilienz: Sich wappnen gegen Negativität
Populismus: Verlustunternehmertum und Rache an den Gewinnern
Verzicht: Neoaskese und »Verlust als Gewinn«
Neue Trauerkultur: Abschiednehmen und Verlustintegration
Verlustkontroversen
Ausblick: Die Moderne reparieren?
Dank
Literaturverzeichnis
Filmverzeichnis
Register
Fußnoten
Informationen zum Buch
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7»Die idealistische Fabel von der List der Vernunft, durch die das Grauen der Vergangenheit mittels des guten Endes beschönigt wird, plaudert die Wahrheit aus, daß an den Triumphen der Gesellschaft Blut und Elend haftet. Der Rest ist Ideologie.«
Max Horkheimer
»Freedom is just another word for nothing left to lose.«
Janis Joplin
»Der Mensch leidet, weil er Dinge zu besitzen und zu behalten begehrt, die ihrer Natur nach vergänglich sind.«
Siddhartha Gautama
»Der Weg der Realität ist mit verlorenen Objekten gesäumt.«
Paul Ricœur
»Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.«
Samuel Beckett
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Tuvalu versinkt im Meer. Der Inselstaat inmitten des Pazifischen Ozeans büßt jedes Jahr einen Teil seiner Landfläche ein. Ihr allmähliches Verschwinden und die Folgen, die es für die dort bisher lebenden Menschen hat, ist nur ein besonders plastisches Beispiel für die Schädigungen, die der Klimawandel global bewirkt. Der Hurrikan Katrina hat 2005 im US-Bundesstaat Louisiana eine Spur der Verwüstung nach sich gezogen, Kalifornien wird fast jährlich von verheerenden Waldbränden heimgesucht, regelmäßig plagen tödliche Hitzewellen Indien und Pakistan. Auch in Europa sind die Folgen der klimatischen Verschiebungen längst zu spüren: In Spanien und Italien gehen immer größere Flächen für die Landwirtschaft verloren, Irland war 2017 vom Hurrikan Ophelia betroffen, in Deutschland häufen sich die Flutkatastrophen mit beträchtlichen Schäden. Und im Hintergrund dieser spektakulären Katastrophen findet ein großes Artensterben statt.
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84 Prozent der Deutschen blicken 2022 pessimistisch in die Zukunft. Dies ist das Ergebnis einer Studie der Universität Bonn, die außerdem zeigt, dass der Anteil derjenigen, die erwarten, dass es künftigen Generationen materiell schlechter gehen wird, in den letzten Jahren beständig gewachsen ist. Auch wenn Meinungsumfragen mit Vorsicht zu genießen sind: Es ist bemerkenswert, wie stark sich negative gesellschaftliche Zukunftserwartungen seit den 2010er Jahren in vielen westlichen Ländern verfestigt haben. In den Vereinigten Staaten sind es 2023 nach einer Untersuchung des Pew Research Center 57 Prozent der Bevölkerung, die pessimistisch der Zukunft ihrer Gesellschaft entgegensehen. Auch bezogen auf die Problemlösungskompetenz liberaler Demokratien haben sich die Erwartungen flächendeckend eingetrübt: Einer Studie des an der Universität Cambridge angesiedelten Centre for the Future of Democracy zufolge ist bei der Mehrheit der Menschen in den westlichen Gesellschaften ein politischer Vertrauensverlust zu verzeichnen.[1]
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10Während weltweit eine sehr kleine Gruppe von Reichen und Superreichen ökonomisch stark profitiert und im Globalen Süden jenes Gros der Bevölkerung, dessen Leben zuvor von Armut geprägt war, an Einkommen moderat hinzugewonnen hat, gilt für einen großen Teil der Menschen Europas und Nordamerikas, dass ihr Wohlstand stagniert. Im Vergleich ist die traditionelle Mittelklasse des Westens also zurückgefallen: Branko Milanovic hat die komplexe Entwicklung sozialer Ungleichheit, wie sie sich weltweit seit den 1990er Jahren beobachten lässt, in dieser Weise auf den Punkt gebracht.[2] Häufig ist in diesem Zusammenhang der Begriff der »Modernisierungsverlierer« verwendet worden. Die neue soziale Ungleichheit, die mit dem Ende der klassischen Industriegesellschaft Auftrieb erfahren hat, hinterlässt dabei auch sozialräumliche, demografische und selbst gesundheitliche Spuren: Zwischen Ostdeutschland, Nordfrankreich und dem Mittleren Westen der USA kann man vielerorts die Folgen der Deindustrialisierung auf das soziale Leben konkret beobachten. Die Kombination aus niedriger Geburtenrate und Abwanderung führt in Europa mancherorts zu einer allmählichen, ja dramatischen Entleerung ländlicher Regionen. Und als Ergebnis der neuen sozialen Ungleichheit ist in Großbritannien und den USA in einigen Segmenten der Bevölkerung die Lebenserwartung gesunken.[3]
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Die Benin-Bronzen, Kunstwerke des 16. bis 19. Jahrhunderts, die aus dem ehemaligen Königreich Benin in Westafrika stammen, wurden über viele Jahrzehnte in europäischen und nordamerikanischen Museen ausgestellt, ohne dass sich ein besonderes Augenmerk auf sie gerichtet hätte. Dies ändert sich Anfang des 21. Jahrhunderts markant: Die Tatsache, dass es sich bei den mehreren tausend Stücken um Raubkunst handelt, die von den damaligen Kolonisatoren außer Landes geschafft wurde, ist 11zum Gegenstand heftiger kulturpolitischer Auseinandersetzungen geworden. Nigeria hat die Rückgabe der Bronzen verlangt, einige staatliche und kulturelle Institutionen in Großbritannien, Frankreich und Deutschland sind dieser Forderung nach Restitution nachgekommen. Auch wenn es sich hierbei um eine spezielle Auseinandersetzung der Kulturpolitik handelt: Sie scheint repräsentativ zu sein für die breite gesellschaftliche Tendenz, dass Schädigungen, Traumata und Opfer der Vergangenheit zu einem Politikum in der Gegenwart werden. Entsprechend ist das Gedenken an historische Gewaltverbrechen zu einem Kernbestandteil nationaler Erinnerungskulturen geworden, sorgt die Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Priester der katholischen Kirche weltweit für heftige Diskussionen und verlangt die indigene Bevölkerung in Ländern wie Kanada und Australien Anerkennung für das in früheren Generationen erfahrene Leid. Insgesamt ist die Kultur der Spätmoderne – mit Dipesh Chakrabarty gesprochen – zu einer Kultur der öffentlich debattierten »historischen Wunden« geworden.[4]
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Meine Trauer wird dich finden, Verletzlichkeit macht stark, Wenn der Partner geht – in den Buchhandlungen und auf dem Markt der Sachbücher der Gegenwart stechen der Umfang und die Relevanz psychologischer Ratgeber ins Auge.[5] Auf besonderes Interesse stoßen dabei jene Bücher, die den Umgang mit der Trauer zum Thema haben und die sich mit Trennungen, Verletzlichkeit und Verlustschmerz befassen: Wie bewältige ich das Scheitern einer Beziehung oder beruflicher Hoffnungen? Was gibt Trost angesichts einer Krebsdiagnose oder des Todes eines nahen Angehörigen? Wie gehe ich mit dem Alterungsprozess um? Dies sind auch wichtige Gegenstände der Psychotherapie. Generell kann man feststellen: Das Individuum hat in der spätmodernen Kultur offenbar eine besondere Sensibilität für Negativereignisse in seiner Biografie entwickelt, 12die nach einer entsprechenden Bewältigung verlangen. Dies gilt auch für den Umgang mit dem Tod. In der klassischen Moderne ein Tabuthema, finden wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts offensivere Formen des Umgangs mit dem Sterben. Dies zeigt sich an der Hospizbewegung ebenso wie an einer individualisierten Bestattungskultur oder an Formaten gemeinsamer Trauer im digitalen Raum.
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»Make America Great Again« – Donald Trumps Wahlslogan bringt die Stoßrichtung der wirkmächtigsten Neuentwicklung im politischen Feld der Gegenwart auf den Punkt: des rechten Populismus. Im Populismus dreht sich alles um Verluste. Seine Wählerbasis sind insbesondere Menschen, die Status- oder Machtverluste erfahren haben oder diese befürchten und einen allgemeinen gesellschaftlichen Niedergang wahrnehmen. Das populistische Versprechen lautet, vermeintlich ideale, jedenfalls bessere Verhältnisse, wie sie früher geherrscht hätten, zwischenzeitlich aber verloren wurden, wiederherzustellen. Die immer neuen Verlustängste kommen dem Populismus dabei gerade recht, ja, sie werden von ihm systematisch genährt. Populismus ist politisches Verlustunternehmertum. Er stellt aber nur das prominenteste Beispiel eines breiten politisch-kulturellen Feldes von verlustorientierten Bewegungen der letzten Jahre dar, zu denen etwa auch die »Gelbwesten« aus dem ländlich-kleinstädtischen Frankreich oder die »Incels« gehören.[6] Die Relevanz von Verlusten im Feld des Politischen betrifft als Reaktion darauf jedoch auch das linksliberale Lager: Denn je stärker die Rechtspopulisten werden, umso mehr fürchten die Linksliberalen demokratische Regressionen. Die politischen Auseinandersetzungen der Gegenwartsgesellschaft drehen sich somit häufig weniger um den Anteil der einzelnen Gruppen am gesellschaftlichen Fortschritt, sondern darum, wer verliert und wessen Verlustängste stärker die politische Agenda prägen.
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13Vinylplatten haben ein überraschendes Revival erlebt. Einst hoffnungslos antiquiert und erst durch CDs, dann Streamingdienste verdrängt, punkten sie nun mit der Authentizität ihres Hörerlebnisses. »Wie früher« – ein Früher, das man selbst möglicherweise nie erlebt hat – hält man die aufwändig gestalteten Plattencover in den Händen und lauscht dem Knistern, wenn die Nadel über die Rille der Schallplatte gleitet. Zeitgleich sind im Städtetourismus die lost places zum Geheimtipp geworden: heruntergekommene, häufig am Stadtrand gelegene Gebäude etwa aus der Blütezeit der industriellen Moderne, in denen sich eine spezielle Ruinenästhetik entdecken lässt. Aber auch sorgfältig restaurierte Bauwerke wie das Tacheles in Berlin oder die Bourse de Commerce in Paris beschwören die Faszination einer jüngeren Vergangenheit. Dies alles sind Beispiele einer spätmodernen Nostalgieökonomie und einer nostalgischen Ästhetik, die in den Dingen und Orten einen bestimmten, häufig idealisierten Ausschnitt der Vergangenheit präsent zu halten versuchen. Wenn die Zukunft nicht mehr viel verspricht, ist die Bewahrung der Kultur der Vergangenheit vor dem vollständigen Verlust – als Heritage, Retro oder eben Nostalgie – offenbar zu einer charakteristischen Strategie der Gegenwartskultur geworden.
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Die COVID-19-Pandemie, die den Globus von 2020 bis 2022 beherrschte und Millionen von Todesopfern forderte, hat zahlreiche Spuren hinterlassen. Eine davon ist, dass sich das Modell der Resilienz als Programm für gesellschaftliche und politische Steuerung auf Dauer etabliert hat. Um sich gegen die Pandemien von morgen zu wappnen, so heißt es nun, müsse die Gesellschaft heute resiliente Strukturen ausbilden, indem sie entsprechende institutionelle Vorkehrungen trifft. Resilienz hat jedoch weit über Fragen der Gesundheit hinausgehend Konjunktur. Sie erscheint als Zielmarke eines Antivulnerabilitätsprogramms für das Individuum und zugleich als Leitvorstellung für eine Gesellschaft, die sich beispielsweise über den Weg einer Diversifizierung von Lieferketten gegen lokale Störungen und globale Krisen abpuffert oder mit einer gezielten Pflege ihrer politischen Institutionen und Öffentlichkeiten gegen demokratische Rückschritte vorbeugen will. Während klassisch-moderne Steuerungsmodelle wie das der Planung optimistisch ein positives Ziel in der Zukunft anvisieren, ist die Resilienz als Steuerungsmodell des 21. Jahrhunderts von 14Skepsis grundiert: Ihr geht es nicht mehr um die Perfektionierung der Lebensbedingungen, sondern darum, das Schlimmste zu verhüten.
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Die vorstehenden acht Episoden oder genauer: Befunde aus der Gegenwartsgesellschaft sind natürlich nicht zufällig gewählt. Vielmehr haben sie – bei allen Unterschieden – etwas gemeinsam: Sie drehen sich um Verluste. Um Judith Schalansky zu zitieren, handelt es sich um ein »Verzeichnis einiger Verluste«.[7] Ob es um die Folgen des Klimawandels geht oder die Verfestigung negativer Zukunftserwartungen, um postindustrielle Modernisierungsverlierer oder um den Umgang mit historischen Wunden, um den Umgang mit individueller Verletzlichkeit, den Populismus, die Nostalgie oder die Resilienz: Verluste sind im Zentrum der Spätmoderne angekommen. Jedes einzelne dieser Felder wird uns im Laufe dieses Buches noch ausführlicher beschäftigen. In ihnen allen finden sich in der Gegenwart Verlusterfahrungen, man antizipiert kommende oder erinnert sich an vergangene Verluste, es werden politische und kulturelle Formate entwickelt, die auf Verlusterfahrungen antworten, sie transformieren oder versuchen, sich gegen sie zu wappnen. Was geht hier vor? Warum erlangen heute so verschiedenartige Verluste Relevanz?
Das ist die Frage, von der dieses Buch seinen Ausgang nimmt. Sie entspringt dem spezifischen historischen Moment, in dem wir uns heute, im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, befinden. Sie lässt sich allerdings nur beantworten, wenn man zunächst einen Schritt von den unmittelbar zeitgenössischen Phänomenen zurücktritt und die moderne Gesellschaft, so wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert in Europa und Nordamerika entwickelt hat, als ganze ins Visier nimmt. Mit anderen Worten: Um die spätmoderne Gegenwart zu verstehen, müssen wir die historische Formation in den Blick nehmen, von der sie ein Teil ist, das heißt: die Moderne insgesamt. Die Frage im Mittelpunkt dieses Buches lautet daher: In welchem Verhältnis steht die westliche Moderne zu den Verlusten? Erst wenn wir verstanden haben, auf welche besondere Weise die moderne Gesellschaft generell mit Verlusterfahrungen umgeht, können wir einschätzen, was sich in der spätmodernen Gegenwart ändert.
Um einem Missverständnis frühzeitig vorzubeugen: Dieses Buch will 15eine nüchterne Analyse der modernen Gesellschaft unter dem Aspekt vornehmen, in welcher Relation sie sich zu Verlusterfahrungen befindet. Es will keiner haltlosen Dramatisierung Vorschub leisten, in der man überall nach Verlusten »sucht« und sich empört, aufgeregt oder resignativ auf diese fixiert. Wer eine solche kulturpessimistische Schrift fürchtet, den kann ich beruhigen. Wer sie erhofft, wird enttäuscht sein. Dieser Hinweis ist wohl nötig, denn wenn im öffentlichen Diskurs seit den 2010er Jahren in verstärkter Weise von gesellschaftlichen Verlusten die Rede ist, davon, was in der Gegenwart sich (vorgeblich) alles verschlechtert hat und in Zukunft noch weiter verschlechtern wird, sind die Apokalyptischen Reiter nicht fern. Das doomscrolling in der digitalen Welt hat eine solche Negativspirale der Aufmerksamkeit zur Perfektion getrieben. Gleich ob digital oder analog – rasch gerät man so auf den abschüssigen Pfad allgemeiner Niedergangs-, ja Untergangsszenarien, die von manchen geradezu lustvoll inszeniert werden.
In Sachen Erkenntnis ebenso hinderlich wie der Negativismus ist allerdings die Einstellung der Abwehr, wenn man also von den Verlusten nichts (mehr) hören will, sie aktiv ausblendet. Verluste sind ein unangenehmes Thema, nicht selten – insbesondere, wenn sie das Scheitern im persönlichen Leben betreffen – mit Scham verbunden oder mit einem Tabu belegt, über das man lieber den Mantel des Schweigens breitet. Wer trotzdem von ihnen spricht, wird leicht zum Spielverderber: »Warum immer so negativ?«, heißt es dann, »Wo bleibt das Positive?« Zur Abwehr passt die Haltung der Beschwichtigung: Verglichen mit den zahlreichen Zugewinnen, die es im Laufe der Moderne bislang gegeben habe, halte sich die Anzahl der Verluste doch sehr in Grenzen, die außerdem oft nur »gefühlt« oder gar »eingebildet« seien. Jedenfalls seien sie ganz gewiss nur ein vorübergehendes Phänomen, nach dem Motto: »Am Ende wird alles gut. Und wenn es noch nicht gut ist, ist es nicht das Ende.«[8]
Negativismus und Abwehr oder Beschwichtigung sind komplementäre Ausflüchte, die verhindern, dass man ein nüchternes Verständnis für das grundsätzliche, komplexe Problem entwickelt, das Verluste für die westliche Moderne darstellen. Sie müssen daher gleichermaßen überwunden werden – in dieser Hinsicht verfährt die soziologische Analyse ähnlich wie die Psychoanalyse. Die Existenz dieser beiden Einstellungen, die uns aus den medialen, politischen und persönlichen Diskursen vertraut ist, 16ist natürlich kein Zufall. Vielmehr sind beide im intellektuellen Diskurs der Moderne lange und gut vorbereitet worden, in dem zwei widerstreitende Perspektiven auf Verluste entwickelt wurden: Die eine operiert im Rahmen einer optimistischen Geschichtsphilosophie und nimmt Verluste nur am Rande des Blickfelds wahr; die andere fokussiert hingegen geradezu auf Verluste, und zwar im Rahmen einer Kulturkritik, die häufig als eine Art intellektuelle Generalabrechnung mit der Moderne auftritt.
Es ist interessant: Nach einem Eintrag zum Begriff »Verlust« sucht man vergeblich in den Geschichtlichen Grundbegriffen, dem historischen Lexikon, das den Wandel der politisch-sozialen Semantik seit dem 18. Jahrhundert verfolgt.[9] Mit dem geschichtlichen Einschnitt, den die Aufklärungsphilosophie, die Demokratiebewegungen und die industrielle Revolution markierten, wurde in Europa vielmehr eine neue, geschichtsphilosophisch imprägnierte Semantik leitend, auf deren Grundlage man optimistisch nach vorn schaute. Der Begriff des Fortschritts und verwandte Bewegungsbegriffe wie die der »Entwicklung«, der »Revolution« und der »Geschichte«, verstanden als umfassende Menschheitsgeschichte, etablierten sich während jener Phase von 1750 bis 1850, die Reinhart Koselleck die Sattelzeit nennt.[10] Diese zukunftsorientierten Bewegungsbegriffe wurden zu Leitvorstellungen der westlichen Moderne. Die individuellen und kollektiven Verlusterfahrungen, die sich inmitten der Modernisierung – oder trotz dieser – ausbilden, bleiben in der Fortschrittsperspektive hingegen eine Leerstelle. Höchstens werden sie als Kollateralschaden abgeheftet. Mit den Verlusten will man sich im Projekt der Moderne nicht weiter aufhalten, so scheint es.
Zu der Beobachtung, dass Verlust kein etablierter Begriff im Mainstream-Denken der Modernisierung ist, passt die Tatsache, dass auch die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin zur Untersuchung moderner Gesellschaften bislang keine systematische Soziologie des Verlusts etabliert hat. Das 1974 vom britischen Entwicklungs- und Stadtsoziologen Peter Marris verfasste Buch Loss and Change versuchte hier zwar einen alternativen Weg zu weisen, indem es herausarbeitet, wie stark der Modernisierungsprozess immer wieder von Verlusterfahrungen sozialer Gruppen 17begleitet und beeinflusst wird.[11] Diese erhellende Untersuchung ist im sozialwissenschaftlichen Feld freilich weitgehend wirkungslos geblieben. Dies kann nur auf den ersten Blick überraschen. Denn die Soziologie ist insbesondere im Zuge ihrer Institutionalisierung nach 1945 vom Paradigma der Modernisierung geprägt gewesen, das wiederum mit dem geschichtsphilosophischen Fortschrittsmodell verknüpft ist und die westliche Moderne letztlich mehr oder minder als das Ende der Geschichte betrachtet. Zwar wird der kritische Strang innerhalb der Soziologie nicht müde, auf Pathologien und Krisen des Modernisierungsprozesses hinzuweisen. Aber die leitende Perspektive geht auch hier gerade nicht davon aus, dass in den Krisen etwas für die Akteure Relevantes verloren gegangen, sondern vielmehr die Entwicklung gewissermaßen noch nicht weit genug fortgeschritten sei. Der kritische Blick richtet sich also meist auf den Mangel an »wirklichem« Fortschritt, nicht auf den durch den Fortschritt erlittenen Mangel oder den Mangel trotz des Fortschritts.
Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite kann man nicht behaupten, dass die Thematik des Verlusts im intellektuellen Diskurs der Moderne durch Abwesenheit glänzen würde. Bereits seit dem 18. Jahrhundert und damit parallel zum Aufstieg der Fortschrittsidee stechen an prominenter Stelle immer wieder Werke ins Auge, deren Verlustdiagnosen mit dem Fortschrittsdiskurs konkurrieren. Schon Jean-Jacques Rousseau bringt in Diskurs über die Ungleichheit mit der Annahme, dass sich der Mensch durch Vergesellschaftung dem Naturzustand entfremde, einen aufklärungskritischen Verlusttopos auf den Weg, der sich für die gesamte moderne Denkrichtung einer Theorie der Entfremdung als wirkmächtig herausstellen wird.[12] An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sind es mit Max Weber und Georg Simmel zwei einflussreiche frühe Soziologen, die der Moderne eine differenzierte Verlustrechnung aufmachen: Weber weist auf die Entzauberung hin, die der Prozess der Rationalisierung und Säkularisierung seiner Ansicht nach bedeutet. Simmel argumentiert unter der Überschrift einer »Tragödie der Kultur«, dass in der modernen Gesellschaft das Individuum die Fähigkeit einbüße, die Komplexität der »objektiven Kultur« in sich aufzunehmen. Der Parcours der intellektuellen Verlustdiagnosen setzt sich im 20. Jahrhundert auf dem Höhenkamm der Philosophien der Moderne fort und reicht von Walter 18Benjamins These vom Verlust der Aura durch die technisierte Massenkultur über Georg Lukács' Annahme einer transzendentalen Obdachlosigkeit bis hin zu Martin Heideggers Ontologie der Seinsvergessenheit.[13] In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts begegnen einem enger gefasste Verlustdiagnosen: So weist beispielsweise Richard Sennett auf den »Verfall und das Ende des öffentlichen Lebens« hin, und Alasdair MacIntyre behauptet für die Moderne einen »Verlust der Tugend«.[14]
Das ist der Zwiespalt, dem man begegnet, wenn es um die Bedeutung von Verlusterfahrungen im intellektuellen Diskurs geht: Auf der einen Seite steht eine auffällige Verlustverdrängung im Rahmen einer politischen und wissenschaftlichen Leitvorstellung von Modernisierung und Fortschritt; hier bleibt man für die Verlusterfahrungen »auf tragische Weise blind«.[15] Im Rahmen der Fortschrittserzählung und ihrer impliziten Geschichtsphilosophie hat es sogar den Anschein, als würde sich langfristig »das Problem […] des Leidens durch dessen allmähliche Beseitigung [auflösen]«.[16] Auf der anderen Seite findet man einen lebhaften Diskurs der Kulturkritik, der beklagt oder seziert, was in der Moderne aus der Perspektive des kritischen Beobachters angeblich verloren gehe: der Sinn, die Gemeinschaft, die Individualität, ja auch der Glaube an die Steuerbarkeit des historischen Prozesses selbst. Manche dieser Kulturkritiken sind von großer Brillanz, andere neigen zur Verabsolutierung ihrer Sicht. Geschichtsphilosophie beziehungsweise Modernisierungstheorie und Kulturkritik sind also die beiden grundlegenden Perspektiven, die uns das moderne Denken anbietet, wenn es um die Verluste geht. Ich werde in diesem Buch zu beiden auf Distanz gehen, denn aus meiner Sicht stellt keine von ihnen die Mittel bereit, um die Relation zwischen der modernen Gesellschaft und den Verlusten soziologisch zu begreifen. Ja, Geschichtsphilosophie und Kulturkritik bilden selbst jeweils auf ihre Weise prägende Phänomene innerhalb der Verlustbezogenheit der modernen Gesellschaft, die soziologisch zu analysieren sind.
Das Buch behandelt nacheinander drei Fragen. Erstens: Was sind Ver19luste und wie lassen sie sich als soziales Phänomen begreifen? Zweitens: In welchem Verhältnis steht die moderne Gesellschaft zu Verlusten? Drittens: Was ändert sich mit den Verlusten in der spätmodernen Gegenwart?
Ich werde also mit einer einfachen Frage beginnen: Was ist überhaupt ein Verlust? Ihre Beantwortung wird uns im Ersten Teil dieses Buches beschäftigen. Vorab lässt sich ganz allgemein feststellen: Verluste sind immer Verlusterfahrungen – von einzelnen Subjekten oder sozialen Gruppen. In der Erfahrung eines Verlusts wird die Tatsache, dass etwas verschwindet, negativ bewertet. Das Verschwinden wird bedauert und löst häufig heftige Emotionen aus. Zum Gegenstand des Verlusts werden kann vielerlei: das Leben eines Menschen oder ein zerstörtes Objekt, ein sozialer Status oder die Heimat, die Kontrolle über das eigene Leben oder eine positive Erwartung hinsichtlich der Zukunft. Es gilt jedoch in jedem Fall: Verlieren kann man nur etwas, was zuvor subjektiv oder kollektiv wertvoll erschien, was für die eigene Identität essenziell oder zumindest relevant und an das man entsprechend emotional gebunden ist. Verluste sind höchst komplexe Phänomene, nicht nur aus psychologischer, sondern auch aus soziologischer Sicht. Sie unterhalten über den Weg von Erinnerungen ein spezifisches Verhältnis zur Vergangenheit und über den Weg von Erwartungen ein Verhältnis zur Zukunft. Da Verluste von ihrer Wahrnehmung abhängen, haben sie eine enge Verbindung zu gesellschaftlichen Deutungsmustern, zu Diskursen und Narrativen, die Verluste kulturell verhandeln. Die Palette der Verlustemotionen ist breit und reicht von Trauer, Scham und Angst bis hin zu Wut, Empörung und Verbitterung. Verlusterfahrungen werden in sozialen Praktiken verarbeitet – vom Trauerritual bis zur juristischen Entschädigung –, und im Rahmen von sozialen Arenen werden sie nicht selten zu Gegenständen heftiger Kontroversen. Hier lautet die Frage: Was wird als Verlust gesellschaftlich anerkannt und was nicht?
Zweifellos: Verluste hat es immer gegeben, sie gehören zum Menschsein dazu – zuerst und zuletzt durch die Konfrontation mit Sterblichkeit und Tod, mit dem ultimativen, existenziellen und unausweichlichen Verlust. Darüber hinaus ist offensichtlich, dass Verlusterfahrungen in historisch vergleichender Perspektive Bestandteil aller menschlichen Gesellschaftsformen sind. Unwägbarkeiten der Natur, individuelle Krankheiten, soziale Epidemien, gewaltsame Konflikte – dies alles sind Umstände, die sämtliche Gesellschaftstypen in der Geschichte herausgefordert haben. Man findet die entsprechenden Verlusterfahrungen in Jäger- und Samm20lergesellschaften ebenso wie in den frühen Hochkulturen, in der europäischen Antike, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Und verarbeitet werden sie in höchst unterschiedlicher Weise: mittels aufwändiger Übergangsrituale oder im Rahmen religiöser Weltbilder, eingebettet in die Abfolge der Generationen oder verstanden als tragisches Schicksal, akzeptiert als Element der Vergänglichkeit oder als Schmach, die nach Rache verlangt.
Was ist nun in der Moderne anders? Nun, nicht anders sind die Verlusterfahrungen selbst, die Tatsache, dass es sie gibt, dass sie schmerzhaft sind und dass Individuen und Gesellschaften auf irgendeine Weise mit ihnen umgehen müssen. Das Besondere an der modernen, westlichen Gesellschaft ist vielmehr das Verhältnis, in dem sie zu den Verlusten steht. Zugespitzt formuliert: Die Moderne hat ein tiefsitzendes Problem mit Verlusterfahrungen. Verlust ist ein Grundproblem der Moderne. Was heißt das? Warum ist das so? Und was folgt daraus? Mit diesen Fragen werden wir uns im Zweiten Teil des Buches beschäftigen. Meine Grundthese will ich allerdings schon hier nennen. Sie lautet, dass die Moderne ein fundamentales Problem mit Verlusterfahrungen haben muss, und zwar deswegen, weil diese dem für die Moderne konstitutiven Fortschrittsglauben widersprechen. In die Moderne ist ein grundlegender Widerspruch zwischen Fortschritt und Verlust, zwischen dem Glauben an den Fortschritt und der Realität von Verlusterfahrungen eingebaut. Dieser Widerspruch lässt den Status von Verlusten prekär werden.
Die moderne Gesellschaft hat seit dem 18. Jahrhundert mit der Industrialisierung und der Verwissenschaftlichung, mit der Vermarktlichung, der Säkularisierung und der Demokratisierung in Europa und Nordamerika eine Reihe von Strukturen ausgebildet, in deren spätmoderner Fassung wir gegenwärtig weiterhin leben. Im Kern angetrieben wird sie von der Orientierung am Fortschritt, genauer: durch ihren Fortschrittsglauben, der sie von der Technik bis zur Politik, von der Wirtschaft bis zur Alltagskultur durchzieht und ihr eine besondere Form und Dynamik verleiht. Der Fortschrittsglaube ist ganz ungewöhnlich und grandios einfach: Er besagt, dass die Zukunft für die Gesellschaft und für das Individuum besser sein wird als die Gegenwart, so wie die Gegenwart schon besser ist als die Vergangenheit. Die Moderne basiert also auf der Annahme eines grundsätzlichen Bruchs zwischen dem Erfahrungsraum der Vergangenheit und dem Erwartungshorizont der Zukunft, eines Bruchs nicht nur zu etwas ganz Anderem, sondern auch zum signifikant Besse21ren.[17] Der Fortschritt ist der Moderne daher mehr als nur vage Hoffnung. Er bildet vielmehr das Zentrum eines gesellschaftlichen Imperativs, der von dem »Vorwärts« und »Nach-oben« als fester Erwartung, ja Norm und Versprechen ausgeht.
Verluste – ob vom Individuum erfahren oder von sozialen Gruppen – durchkreuzen jedoch dieses Fortschrittsversprechen. Denn unabhängig davon, was verloren wird, stellt sich jeder Verlust in je bestimmten, aber wichtigen Hinsichten als eine Verschlechterung gegenüber dem Bisherigen dar. Und im Falle einer Verlustantizipation wird entsprechend erwartet, dass die Zukunft eine grundlegende Verschlechterung gegenüber der Gegenwart mit sich bringen wird. Anders gesagt: Erfährt man einen Verlust, dann wird deutlich und spürbar, dass jetzt und wohl auch künftig etwas Entscheidendes fehlt, was zuvor vorhanden gewesen ist: Leben beispielsweise oder körperliche Unversehrtheit, sozialer Status, geordnete Strukturen, die Heimat oder ein intakter Zukunftsglaube. In einer modernen Gesellschaft, die in ihren Individuen die Überzeugung eingepflanzt hat, dass der normale Gang der Dinge einer des Fortschritts ist, müssen Verlusterfahrungen damit eine elementare Enttäuschung, ja im Extrem ein Skandalon darstellen. Die Realität negativer Erfahrungen passt eben nicht ins »antitragische […] Programm der Moderne«.[18] Für diese gilt vielmehr jene Verheißung, die ihr die zukunftsbegeisterten Saint-Simonisten einmal auf die Fahnen schrieben: »Morgen werden wir ein neues Leben beginnen, die Fanfaren werden klingen; und wir brauchen nicht mehr zu trauern.«[19] Für die Negativität und die Trauer um das Verlorene, Gescheiterte und Misslungene hat das moderne Fortschrittsdenken keinen wirklichen Ort.
Um den Stellenwert von Verlusten in der Moderne zu verstehen, ist die Einsicht in den Grundwiderspruch zwischen Fortschritt und Verlust allerdings nur der erste Schritt. Dieser stellt sich nämlich als Voraussetzung für eine enorme gesellschaftliche Produktivität heraus, die in der Moderne auf die Verluste einwirkt. Er mündet in einen weiteren Spannungszustand: die moderne Verlustparadoxie. Vereinfacht gesagt, besteht diese darin, dass die westliche Moderne Verluste einerseits hemmt und sie 22andererseits steigert. So gibt es in dieser Gesellschaft weniger und mehr Verluste zugleich, so werden sie unsichtbarer und zugleich sichtbarer. Die moderne Gesellschaft enthält also nicht nur eine wohlbekannte Fortschrittsdynamik, sondern bei näherer Betrachtung auch eine außerordentliche Verlustdynamik. Man erkennt so eine »Dialektik der Aufklärung« eigener Art.
Die verlusthemmende Seite der Moderne folgt unmittelbar aus ihrer Fortschrittsorientierung. Da Verluste dem Fortschrittsimperativ widersprechen, müssen sie beseitigt und besiegt, müssen sie verhindert oder zumindest minimiert werden. Folglich geht es im Modernisierungsprozess etwa darum, Unwägbarkeiten der Natur durch Technik zu zähmen, schwere Krankheiten durch die Medizin zu heilen, Krieg durch »ewigen Frieden« (Kant) zu bannen. In diesem Projekt der Verlustreduktion ist die moderne Gesellschaft teilweise sehr erfolgreich gewesen, was man weder verschweigen noch geringschätzen sollte. Aber es gibt auch die verluststeigernde Seite der Moderne, also eine teils beabsichtigte, teils unbeabsichtigte Vermehrung von Verlusten, die allesamt menschengemacht sind. Ich werde systematisch auf die konkreten strukturellen Mechanismen dieser Verlustpotenzierung eingehen, die den Modernisierungsprozess prägen. Der grundlegendste von ihnen ist die ständige Überbietung gegenwärtiger Strukturen durch »Neues«, welche das Gegebene als »alt« entwertet, also eine permanente Verdrängung des Bisherigen im Rahmen einer Herrschaft der Obsoleszenz. Auch die Etablierung von Markt- und Wettbewerbsstrukturen, aus denen regelmäßig nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer hervorgehen, trägt zur Steigerung von Verlusterfahrungen bei. Ähnliches gilt für die Gewalteffekte der Moderne, die von den totalitären Systemen bis zu den Weltkriegen reichen. Aber auch die Demokratisierung der Erwartungen der Individuen an ein erfolgreiches, gelingendes Leben mündet in eine Vermehrung von Verlusten: Die Kehrseite hoher Erwartungen ist nämlich ein gesteigertes Risiko für Enttäuschungen und »verlorene Illusionen«.[20]
Wäre die westliche Moderne ein Mensch, müsste man ihm eine gewisse Perfidie attestieren. Denn obgleich das Fortschrittsversprechen eines »Besser« und »Mehr« die Aussicht auf Verlustfreiheit enthält und Verschlechterungen in ihrer Agenda streng genommen nicht vorgesehen sind, bringt der Modernisierungsprozess von seinen Anfängen bis zur Gegen23wart über verschiedenste Mechanismen seinerseits Verlusterfahrungen mit sich. Das Versprechen auf Verbesserung wird für viele somit immer wieder gebrochen. Diese Paradoxie führt jedoch keineswegs in eine gesellschaftliche Blockade, sondern wird im Gegenteil mit großem Aufwand und immenser Energie verarbeitet. Die Paradoxie sorgt dafür, dass die Moderne mit den Verlusten, die sie eigentlich verabschieden wollte, enorm beschäftigt ist. Auf die Verlustpotenzierungen – ja, auf Vergänglichkeit generell – reagiert diese Gesellschaft durch weitere widersprüchliche Entwicklungen, die uns näher beschäftigen werden.
Einerseits bilden sich großflächig Diskurse und Mechanismen, welche die negativen Erfahrungen versuchen der öffentlichen Sichtbarkeit zu entziehen, andererseits entwickelt die moderne Gesellschaft ihre eigenen Formate des doing loss, die sich auf die Verluste fokussieren, ja nicht selten fixieren. Einerseits findet also eine Verlustinvisibilisierung statt, in deren Rahmen Verluste beispielsweise zum Kollateralschaden des Fortschritts umgedeutet, Opfer und Verlierer beschämt oder verlusttypische Gefühle wie Trauer oder Angst sanktioniert werden. Da dies nie vollständig gelingen kann, differenziert sich andererseits eine ganze Palette von Formen der Verlustbearbeitung aus, die von der Nostalgie über das Versicherungswesen und die Psychotherapie bis zur Religion reicht. Dies führt zu der paradoxen Lage, dass die eigentlich verlustfeindliche Moderne geradezu verlustverliebt sein kann. Von einer restlosen Verlustverdrängung kann jedenfalls keine Rede sein, im Gegenteil: Der Verlust wirkt in der modernen Kultur als »Motor einer Erzählmaschine«.[21]
Wenn man die moderne Gesellschaft von ihrer Relation zu den Verlusten her betrachtet, ergibt sich insgesamt das Bild einer prekären Balance zwischen Reduktion und Steigerung, zwischen Unsichtbarmachung und intensiver Thematisierung. Erst wenn wir diese Verlustparadoxie begriffen haben, sind wir hinreichend gerüstet, um abschätzen zu können, was sich in der Spätmoderne verändert. In welcher Konstellation befinden wir uns heute? Kurz gesagt: In der Gegenwartsgesellschaft ist die prekäre Balance der Verlustparadoxie dabei, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Es findet eine Verlusteskalation statt. Was das im Einzelnen heißt, dieser Frage gehe ich im Dritten Teil des Buches nach. Die Spätmoderne – damit ist jene Form der modernen, westlichen Gesellschaft gemeint, die sich 24seit den 1970er Jahren allmählich und seit Beginn des 21. Jahrhunderts in aller Deutlichkeit ausbildet. Die Spätmoderne ist weiterhin eine moderne Gesellschaft, in der somit auch die genannten Widersprüche und Paradoxien wirken, was die Verluste angeht. Zugleich verändert sich etwas, und zwar grundsätzlich. Mit der Verlusteskalation ist allerdings nicht gemeint, dass es in der Gegenwart schlichtweg »mehr Verluste« gäbe. Angesichts der gewaltigen Katastrophen, die Europa in seiner historischen Entwicklung erlebt hat, wäre dies eine geschichtsvergessene und sicherlich falsche Aussage. Bei der Verlusteskalation geht es nicht um Quantitäten, sondern um Qualitäten: Was in der Gegenwart deutlich wird, ist eine veränderte Konstellation, die das gesellschaftliche Verhältnis zu den Verlusten, ihre Form und ihre Thematisierung betrifft.
Als zentraler Faktor stellt sich heraus, dass das Fortschrittsversprechen in der Spätmoderne an Glaubwürdigkeit einbüßt, so dass den Verlusterfahrungen ihr geschichtsphilosophischer Schutzschild abhandenkommt. Seit Donella und Dennis Meadows' wegweisendem Buch Grenzen des Wachstums haben sich wissenschaftlich gestützte skeptische Szenarien etabliert, die bis zur Prognose einer »Zukunft als Katastrophe«[22] reichen. Zu den Fortschrittsverlusten treten die Erschöpfungsverluste: In derart unterschiedlichen Dimensionen wie dem Klimawandel und der Alterung der Gesellschaft stößt die westliche Moderne in der Gegenwart an Grenzen ihrer Expansion. Darüber hinaus erlangen Verlusterfahrungen in der Öffentlichkeit eine neue Sichtbarkeit, und die Individuen bilden für sie eine besondere Sensibilität aus. Dies gilt für die Traumata und Wunden der Vergangenheit ebenso wie für die Trauer in der Gegenwart und die Ängste hinsichtlich der Zukunft.
Zugleich florieren neue, sehr unterschiedliche Formen der Verlustbearbeitung. Das doing loss rückt in der Spätmoderne von der Peripherie ins Zentrum des gesellschaftlichen Problemhaushalts. Einige der wichtigsten zeitgenössischen Stichworte dieser Entwicklung sind bereits gefallen: Resilienz, Cultural Heritage, Populismus. Dazu kommen eine neue Trauerkultur, ein Ethos des Verzichts und die Bewegung der Restorative Justice. Während die Geschichtlichen Grundbegriffe noch ohne das Stichwort »Verlust« auskommen, ist ein Glossar der Gegenwart entsprechend von programmatischen Begriffen geprägt, die um eine Handhabung des 25Negativen kreisen.[23] Die Spätmoderne ist auf diese Weise von vielfältigen sozialen und kulturellen Verlustidentitäten bevölkert, die um Anerkennung ringen. Die Gesellschaft wird in ihrer Vulnerabilität sichtbar, und in öffentlichen Debatten wird – dazu passend – bevorzugt darüber gestritten, welche Verluste zählen und welche nicht, wer Opfer ist und wer nicht, welche Verluste man in Zukunft in Kauf nehmen will und welche nicht. Am Ende stellt sich die Frage: Wie kann es weitergehen mit der Moderne, wenn das prekäre Verhältnis zwischen Verlust und Fortschritt aus dem Gleichgewicht gerät?
***
Ich verstehe mein Buch als einen Beitrag zur Theorie der Moderne. Es ist also in den Zusammenhang der soziologischen Gesellschaftstheorie einzuordnen. Ziel des Unternehmens ist die Entwicklung einer veränderten, selbstreflexiven Sichtweise auf unsere Gesellschaftsform, die deren latente Voraussetzungen zu erfassen vermag. Mit Jean-François Lyotard gesprochen: Es geht mir darum, »die Moderne zu redigieren«.[24] Die fortschrittsorientierte Vorstellung von einem weitgehend verlustfreien Prozess der Modernisierung in den Teilbereichen Technik, Wirtschaft, Politik und Kultur, welche sowohl die Sozialwissenschaften als auch die öffentliche Debatte nach 1945 prägt, ist einer Revision zu unterziehen, indem die Verlustparadoxie transparent gemacht wird, in die sich diese Gesellschaft verstrickt – ganz im Sinne einer kritischen Analytik der modernen Verhältnisse.[25] Das heißt: Nicht einzelne Verlusterfahrungen sollen bewertet, nicht Verluste als solche betrauert oder angeprangert werden.[26] Es 26geht mir vielmehr darum, eine alternative Perspektive auf den Modernisierungsprozess zu entfalten, die dessen »blinden Fleck« sichtbar macht: die in sich widersprüchliche Verlustdynamik. Dies lässt sich als eine eigene Form der Modernekritik verstehen: als eine Kritik am mangelnden Bewusstsein der Moderne für die Widersprüche und Paradoxien hinsichtlich der Verluste. Mein Anliegen ist dabei keine pauschale Abrechnung mit der westlichen Moderne. Es besteht aus meiner Sicht kein Zweifel, dass diese in vielen Bereichen enorme Fortschritte vorweisen kann – ob nun in der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung, dem wirtschaftlichen Wohlstand, der Demokratisierung oder der kulturellen Liberalisierung. Wem aber die Leistungen und Vorzüge dieser Gesellschaftsform am Herzen liegen, der darf ihre »andere Seite« nicht ignorieren.
In diesem Buch geht es also um die westliche Moderne – aber ohne eurozentrischen Unterton. So jedenfalls meine Absicht. Tatsächlich war die klassische soziologische Modernisierungstheorie eurozentrisch, indem sie davon ausging, dass die Verhältnisse in Europa und Nordamerika die Blaupause für einen Modernisierungsprozess liefern sollten, der am Ende die ganze Welt erfassen werde und überall auf das gleiche Ziel zulaufe, nämlich ebenjenes westliche Modell. Eine solche Sichtweise muss heute als überholt gelten. Es gibt nicht die Moderne, sondern es gibt multiple Modernitäten, verstreut über die ganze Welt, die jeweils ihren eigenen sozialen Logiken folgen.[27] Dies zu begreifen, schärft wiederum den Blick auf die Kultur und Gesellschaft des Westens und ihren Sonderweg. Es ist eben ein besonderer historischer Pfad, der uns auf diesen beiden Kontinenten bis zur Gegenwart prägt und der seit dem 18. Jahrhundert auf friedlichem oder gewaltsamem Weg seine weltweiten Spuren hinterlassen hat.[28] Vielleicht ist gerade in dem Moment, in dem die weltweite Dominanz der europäisch-nordamerikanischen Muster zur Disposition steht, eine klare Sichtweise auf diesen Sachverhalt und seine Ursachen möglich – zu denen auch die eigentümliche Relation gehört, die der Westen zu den Verlusten unterhält.
In seinem augenöffnenden Werk Wir sind nie modern gewesen argumentiert Bruno Latour, dass die Moderne zwar von sich selbst behaupte, auf einem Dualismus zwischen Kultur und Natur, zwischen Gesellschaft und Technik zu basieren, dies allerdings nie der Realität entsprochen ha27be.[29] Stattdessen habe es hinter der Fassade »amtlicher« Verlautbarungen ständig einen regen Austausch zwischen beiden Sphären gegeben. Gemessen an dem halbierten Moderneverständnis der offiziellen Agenda sind wir also nie modern gewesen. Aus meiner Sicht verhält es sich ganz ähnlich mit dem Fortschritt (und den Verlusten). Die offizielle Agenda besagt: Modern sein, das heißt, fortschrittlich zu sein, was wiederum heißt: sich dem Zustand der Verlustfreiheit anzunähern. Der Realität entspricht dies jedoch nicht, es hat ihr nie entsprochen. Auch diese offizielle Selbstbeschreibung der Moderne – bezogen auf den Dualismus von Fortschritt und Verlust – verbirgt vielmehr die widersprüchliche Relation zwischen Verlusten und Fortschrittsorientierung, die hier immer schon am Werk gewesen ist. Auch gemessen an ihr, sind wir eigentlich nie modern gewesen. Diesen Zusammenhang führt uns die Spätmoderne mit ihrer Verlusteskalation in aller Deutlichkeit vor Augen.
Die Frage nach einer Theorie der Moderne, die systematisch eine andere, eben eine redigierte Perspektive auf den langfristigen Modernisierungsprozess in Europa und Nordamerika entwickelt, beschäftigt mich seit Beginn der 2000er Jahre. So gesehen, war der Weg zu diesem Buch ziemlich lang – länger jedenfalls als der, der 2019 begann, als ich erste Überlegungen zum Thema »Verlust« gesammelt habe. Zu den sichtbaren Stationen des längeren Wegs gehören Das hybride Subjekt, Die Erfindung der Kreativität und Die Gesellschaft der Singularitäten, in denen ich ebenfalls den Strukturwandel von der klassischen Moderne zur Spätmoderne untersucht habe, und zwar unter dem Aspekt, dass Prozesse der Kulturalisierung, der Ästhetisierung und der Singularisierung von der Peripherie ins Zentrum der dominanten Subjektivität und des Sozialen gerückt sind – bis in die Ökonomie des kognitiv-kulturellen Kapitalismus, die neuen Klassenkonflikte und die digitalen Technologien hinein.[30] Während ich mich in diesen Büchern also auf die Speerspitze des sozialen und kulturellen Wandels konzentriert habe, auf die alten und neuen Hegemonien sowie ihre Bedingungsfaktoren, letztlich also auf der Gewinnerseite des Modernisierungsprozesses unterwegs war, begebe ich mich nun auf 28die andere Seite und betrachte das Projekt der Moderne von der Kehrseite dieser Entwicklungen. Mein Fokus in diesem Buch liegt somit auf den Verlierern und den Enttäuschungen, auf den Formen des Scheiterns und den Opfern, die dieser Modernisierungsprozess hervorbringt, und auf den Folgen, die dies hat. Zusammen verweisen Die Gesellschaft der Singularitäten und Verlust auf die Janusköpfigkeit der westlichen Moderne, ihre Fortschritts- und ihre Verlustdynamik. Diese beiden Theorieperspektiven lassen sich wie Folien übereinanderlegen, um beides zu erkennen.[31]
Das Buch will dazu beitragen, den Sozial- und Kulturwissenschaften eine Problemstellung zu erschließen, die bisher kaum systematische Aufmerksamkeit erhalten hat, zu Unrecht, wie ich auf den folgenden Seiten zeigen will. Aus meiner Sicht verdient das Verhältnis der modernen Gesellschaft zu Verlusterfahrungen diese Aufmerksamkeit, und es bedarf zugleich einer breit angelegten und vor allem interdisziplinären Forschungsanstrengung. Nicht nur, dass vieles von dem, was ich im Rahmen dieser Monografie nur recht kurz anreißen kann, einer historischen und/oder empirischen Detailuntersuchung bedarf. In einem solchen arbeitsteiligen Forschungsprozess könnte auch eine doppelte Erweiterung der Sichtweise vorgenommen werden: zum einen durch einen historischen Vergleich mit dem doing loss in nicht- und vormodernen Gesellschaften und Kulturen, zum anderen durch einen gegenwartsbezogenen Vergleich zur Verlustbearbeitung in nichtwestlichen Modernitäten.
Dass das Thema dieses Buches von grundsätzlichem Interesse für die gesellschaftliche Selbstverständigung auch außerhalb der Wissenschaft ist, liegt auf der Hand. Man könnte meinen, dass uns die Verlustproblematik gegenwärtig nachgerade bedrängt, und zwar auf breiter Front. Zugleich sind Verluste nach wie vor häufig ein schmerzliches und angstbesetztes Thema – die erlittenen ebenso wie die befürchteten, die persönlichen ebenso wie die gesellschaftlichen. Ich will in diesem Buch keine Ratschläge erteilen. Vielmehr geht es darum, aus nüchtern soziologischer Perspektive einen hinreichend differenzierten Hintergrund zu entwickeln, vor dem sich die praktische Frage bearbeiten lässt, die uns in den westlichen Gesellschaften mit zunehmender Dringlichkeit umtreibt: Wie sollen und können wir mit Verlusten umgehen? Nach meiner Überzeugung ist die Entwicklung eines reflektierten Verhältnisses zu Verlusterfahrungen jen29seits von Abwehr, Verdrängung und Fixierung, welches ihre Integration in das individuelle und soziale Leben erlaubt, um in der Zukunft zwar nicht unbeschädigt, aber trotzdem gedeihlich weiterleben zu können, eine elementare Aufgabe der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Für eine Moderne, die über Jahrhunderte vom ehernen Gesetz ihres eigenen Fortschritts überzeugt war, die glaubte, die Trauer überwinden zu müssen und zu können, bleibt dies eine schwierige Aufgabe.
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Es gibt ein berührendes Gedicht von Elizabeth Bishop, das von Verlusten handelt. Es beginnt mit dem Satz: »The art of losing isn't hard to master«.[32] Das Gedicht verblüfft durch die Darstellung der Bandbreite dessen, was man alles verlieren kann. Zu Anfang findet sich die lakonische Feststellung, dass unscheinbare Dinge wie ein Türschlüssel leicht verloren gehen. Rasch steigert sich jedoch die Verlustdramatik: Das lyrische Ich muss den Verlust eines Hauses, ja mehrerer Länder, in denen es gelebt hat, und auch den eines geliebten Menschen verschmerzen. Das Gedicht legt nahe, sich im gelassenen Verlieren unscheinbarer Dinge zu üben, damit man an den – früher oder später fast notwendig eintretenden – schwerwiegenden, die eigene Identität bedrohenden Verlusten nicht zerbricht.
Bishops Gedicht weist darauf hin, dass Phänomene des Verlierens und des Verlusts allgegenwärtig und äußerst vielgestaltig sind. Sie betreffen das Individuum unmittelbar und müssen von ihm subjektiv verarbeitet werden. Gegenüber diesem existenziellen Tatbestand nimmt die Soziologie jedoch eine spezifische Perspektive ein:[33] Was mich im Folgenden interessiert, sind nicht die nebensächlichen Verluste des Alltags, die keine irreversiblen Folgen haben und rasch wieder vergessen werden. Das soziologische Interesse richtet sich vielmehr auf die Verluste »im starken Sinne«, welche die Individuen langfristig berühren – vom Verlust des Lebens eines Angehörigen über einen Heimat-, Status- oder Kontrollverlust bis zur Befürchtung von Regression oder Apokalypse. Auch wenn solche Verluste subjektiv tief empfunden werden und somit auf den ersten Blick als eine ureigenste Erfahrung des Individuums erscheinen müssen, ist entscheidend zu begreifen, dass Verluste ihre Form und Relevanz in der Regel in einem sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhang erlangen. Verluste bezeichnen also keine rein individuellen Phänomene, sondern Erfahrungen, die erst in soziokulturellen Gefügen von Praktiken, Diskursen, Emotionslagen und Arenen entstehen 34und die ihre gesellschaftlichen Wirkungen durch die Subjekte hindurch erzielen.[34]
In den folgenden beiden Kapiteln will ich eine begriffliche Heuristik für ein solches soziologisches Verständnis von Verlusten im Rahmen von sozialen Verlustgefügen entwickeln. Es geht um eine allgemeine Kartierung von Verlustphänomenen, die deren Komplexität schrittweise zum Vorschein bringt. Die Leitfragen dieser Kartierung lauten: Was sind Verluste? Wie entstehen sie? Wie wirken Verluste? Wie werden sie verarbeitet? Welche Rolle spielen dabei Emotionen und Erzählungen? Und in welchem Verhältnis stehen Verluste zur Vergänglichkeit, zur Erinnerung und zur Zukunftserwartung?
Verluste als soziales Phänomen zu begreifen, erfordert einige grundsätzliche Überlegungen (Kapitel 1). Ich beginne mit der Zeitlichkeit der sozialen Welt, betrachtet aus der Perspektive einer prozessorientierten Sozialtheorie. In der Dialektik von Wiederholung und Neubeginn, die der sozialen Praxis eigen ist, ist das Verschwinden ein elementarer Tatbestand, und der Verlust stellt sich als ein besonderer Fall desselben dar. Ein Verlust ist ein Verschwinden, das negativ interpretiert und negativ erlebt wird. Ihm kommen die Merkmale der Irreversibilität und Unverfügbarkeit zu: Er lässt sich nicht rückgängig machen, und man ist ihm ausgesetzt. Im Kern stellen sich Verluste als Selbst- und Weltverluste heraus, in denen Subjekte oder Gruppen etwas verlieren, an das sie in ihrer Identität emotional positiv gebunden sind. Im Verlust bricht im Extrem eine ganze Welt zusammen – und mit ihr das Selbst.
Verluste erlangen eine soziale Form, indem sich Verlustpraktiken ausbilden, die ein doing loss betreiben. Tatsächlich liegen die Verluste nicht einfach als solche vor, sondern werden in Handlungsweisen erst zu Verlusten gemacht. Unter diesen sozialen Praktiken kommt den Verlustdiskursen eine besondere Rolle zu, denn in ihnen werden Verluste ausdrücklich zu einem kulturellen Thema. Als zweite Dimension der Verlustgefüge neben der Zeitlichkeit erweist sich daher die Narrativität des Sozialen: In Praktiken, Diskursen und subjektiven Selbstverhältnissen werden Ver35luste in Erzählmuster eingebettet. Es werden »Verlustgeschichten« erzählt.
Verluste als soziales Phänomen gewinnen weiter an Komplexität, wenn man betrachtet, welche spezielle zeitliche und emotionale Struktur sie enthalten und wie sie mit sozialen Arenen zusammenhängen (Kapitel 2). Als Zeitpraktiken beziehen sich Verlustpraktiken zum einen auf die Vergangenheit vor dem Verlust, sie enthalten also Erinnerungen. Zum anderen können sie sich auf die Zukunft beziehen, sobald es um den Verlust positiver Zukunftserwartungen geht, gleichsam um den Verlust von etwas, was man noch gar nicht besaß, aber fest erhoffte. Neben der Zeitlichkeit und dem Erzählcharakter tritt als dritte Dimension des Verlustgeschehens die Affektivität – denn Verluste sind in der Regel mit negativen, zumindest mit ambivalenten Emotionen verknüpft. Affektivität sorgt dafür, dass Verlusterfahrungen sowohl individuell als auch gesellschaftlich wirkmächtig sind. In einer Affektkartografie der Verluste ist nicht nur Trauer zu finden, sondern auch Angst, Wut, Scham und Verbitterung. Schließlich spielen für die gesellschaftliche Verhandlung von Verlusten Figuren des Dritten eine wichtige Rolle. Das heißt, es gibt im Verlustgeschehen nicht nur zwei Instanzen: die Verlierer – ob Individuen oder kollektive Einheiten – und das, was verloren wird, sondern es kommt eine dritte hinzu: in Gestalt von Personen, die etwa als Schuldige, Täter und Verantwortliche erscheinen, denen die Verluste der Anderen also angekreidet werden, oder die wie in einem Wettstreit als Gewinner den Verlierern gegenüberstehen. Es bilden sich so soziale Verlustarenen, in denen eine Auseinandersetzung um die Anerkennung und Legitimität von Verlusterfahrungen stattfindet.
Schon an diesem Punkt sollte deutlich geworden sein, dass Zeitlichkeit, Narrativität und Affektivität von zentraler Bedeutung für eine soziologische Analytik der Verluste sind. Diese drei Dimensionen verstehen sich aber nicht von selbst, sondern sind gegen bestimmte Grundannahmen klassischer Sozialtheorien stark zu machen: die Zeitlichkeit des Sozialen gegen die Vorstellung einer zeitlosen Stabilität von sozialen Strukturen, der Erzählcharakter des Sozialen gegen eine einseitige Vorstellung von Kultur als System von Wissen und Argumenten und schließlich die Affektivität und Emotionalität des Sozialen gegen die Vorstellung eines aller Gefühle entkleideten rational man. Gegen diese klassischen Verengungen haben die Sozial- und die Kulturwissenschaften Ende des 20. Jahrhunderts begonnen, sich mit der Zeitlichkeit, der Narrativität und der 36Affektivität des Sozialen intensiv zu beschäftigen.[35] Diese Bemühungen liefern den notwendigen Hintergrund für eine Soziologie der Verluste.
Abb. 1: Analytischer Bezugsrahmen einer Soziologie der Verluste.
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Die Welt befindet sich in einem Prozess des Werdens und Vergehens. Manches wiederholt sich, ständig entsteht etwas, permanent verschwindet etwas. Dies gilt schon für die Welt der Natur. Und es gilt ebenso für die Welt des Sozialen, um die es hier geht. In diesem Prozess von Wiederholung, Werden und Vergehen strukturiert sie ihre eigene Zeit und wird zugleich durch sie strukturiert. Dies ist alles andere als eine selbstverständliche Aussage, denn tatsächlich hat die Sozialtheorie lange Zeit Mühe gehabt, ein angemessenes Verständnis von der Zeitlichkeit des Sozialen zu entwickeln. Ein solches braucht man freilich, um die soziale Relevanz des Verschwindens und Vergessens zu begreifen, was wiederum die Voraussetzung ist, um zu verstehen, was Verluste sind.[36]
Auf Isaac Newton geht der im modernen Denken einflussreiche Objektivismus der Zeit zurück, eine Konzeption, die auf einem Containermodell der Zeit fußt. Die Zeit bildet hier gewissermaßen einen Rahmen oder Behälter, in dem Handlungen und Ereignisse ablaufen. Sie liefert also eine objektive Struktur, ist absolute Zeit, quantifizierbar und messbar. So verstanden, stellt sich die Zeit als eine notwendige, aber gleichsam neutrale Rahmenbedingung dar, die den Handlungen der Menschen letztlich äußerlich bleibt. Anders ausgedrückt: Am Bild selbst ändert sich durch den Rahmen nichts. Dieser Zeitobjektivismus war lange Zeit auch in den Sozialwissenschaften einflussreich und hatte zur Folge, dass man meinte, die Zeit als eine kalenderzeitliche Bedingung schlichtweg voraussetzen zu können und sich um eine gegebenenfalls eigene, innere Zeitlichkeit sozialer Phänomene nicht kümmern zu müssen.[37] In der klassischen Sozialtheorie – etwa im Strukturfunktionalismus und Strukturalismus – 38lag es dementsprechend nahe, von der Starrheit und Dauerhaftigkeit sozialer Ordnungen auszugehen, die wie festgefroren wirkten. Sozialer Wandel musste vor diesem Hintergrund als ein erklärungsbedürftiges Sonderphänomen erscheinen: als außergewöhnliche Episoden, in denen die Zeit in die soziale Ordnung »einbricht«.
Dass der Zeitobjektivismus nicht der Weisheit letzter Schluss ist, hat eine ihm diametral entgegengesetzte Perspektive demonstriert: der Subjektivismus der Zeit. Die Leitvorstellung ist hier, dass Zeit eine durch und durch menschengemachte, eine (inter)subjektive Kategorie ist. Zeit existiert dieser Auffassung zufolge allein als Zeitvorstellung. Bereits Immanuel Kant konzipiert die Zeit als eine Kategorie des erkennenden Subjekts, das mit deren Hilfe die Welt wahrnimmt. Nicht die Welt an sich ist zeitlich, sondern sie erscheint dem Subjekt vor dem Hintergrund entsprechender temporaler Schemata zeitlich. Nur ein kleiner Schritt führt dann von Kant zu Émile Durkheim, der eine Soziologisierung der Zeitvorstellungen betreibt: Die Zeit an sich mag eine universale Kategorie sein, so Durkheim, aber hinsichtlich der einzelnen temporalen Modelle, die entwickelt und im Handeln vorausgesetzt werden – lineare, zyklische usw. –, unterscheiden sich soziale Gruppen und ganze Gesellschaften voneinander. Der (Inter-)Subjektivismus der Zeit mündet damit in eine Analyse von Zeitsemantiken und Zeitdiskursen.
Weder der Zeitobjektivismus noch der Zeitsubjektivismus sind jedoch dazu in der Lage, die inhärente Zeitlichkeit der sozialen Praxis (und der Vorgänge der Natur) zu erfassen und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Zeit zwar mehr ist als nur subjektiv vorgestellt, aber auch nicht einfach objektiv gegeben. Zeit wird vielmehr sozial hergestellt, wird in der Prozessualität des sozialen (und natürlichen) Lebens permanent auf bestimmte Weisen strukturiert und gestaltet. Notwendig ist daher eine prozessorientierte Konzeption der Zeitlichkeit des Sozialen. Edmund Husserl entwickelt in seiner Phänomenologie Kants Zeitsubjektivismus einen entscheidenden Schritt in diese Richtung. Denn bei Husserl ist das Bewusstsein nicht nur ein Bewusstsein von der Zeit, es ist auch selbst zeitlich, das heißt, es besteht aus einer Abfolge einzelner Bewusstseinsakte, die zudem aufeinander Bezug nehmen: zurück in die Vergangenheit und voraus in die Zukunft. Die Akte selbst bilden also einen zeitlichen Verweisungszusammenhang. Auch den bei Husserl noch vorhandenen »Käfig« des Bewusstseins gilt es freilich hinter sich zu lassen. Entsprechend hat sich mit Autoren wie Alfred North Whitehead, Henri Bergson und Mar39tin Heidegger, später auch mit Jacques Derrida und in der Soziologie mit Autorinnen und Autoren wie Niklas Luhmann, Anthony Giddens und Barbara Adam der Gedanke durchgesetzt, dass beide Welten, die natürliche und die soziale Welt, immer schon einen prozessualen Charakter haben. Die Praxis, die Kommunikation oder der lebende Organismus »fabrizieren« so ihre jeweils eigene Zeitlichkeit zwischen Wiederholung und Neubeginn, zwischen Vergangenheits- und Zukunftsbezügen.[38]
Mein Ausgangspunkt ist ein solches prozessuales Zeitverständnis. Es bildet die Voraussetzung dafür, die Bedeutung von Verlusten für die soziale Welt angemessen erfassen zu können, muss dazu allerdings in einen übergreifenden sozialtheoretischen Rahmen eingebettet werden. Ich greife für die Soziologie des Verlusts auf jene Perspektive der Sozialtheorie zurück, die sich in den letzten Jahrzehnten unter dem Namen »Praxistheorie« oder auch »Theorie sozialer Praktiken« in den Sozial- und Kulturwissenschaften etabliert hat und zu der unter anderem Pierre Bourdieu, Anthony Giddens und Theodore Schatzki wichtige Beiträge geliefert haben.[39] Für die Praxistheorie gilt, was zuvor als Erfordernis benannt wurde: dass die Einsicht in die inhärente Zeitlichkeit und Prozessualität des Sozialen von vornherein in ihr Verständnis der sozialen Welt eingebaut ist. Bevor dieses praxeologische Zeitverständnis näher betrachtet wird, will ich kurz die grundsätzliche Perspektive der Praxistheorie auf das Soziale verdeutlichen, die ich in diesem Buch verwenden werde und die konkret wird, wenn es um die Praktiken des Verlusts geht, das doing loss.
Das sozialwissenschaftliche Feld der allgemeinen Theorie des Sozialen zeichnet sich durch eine Pluralität verschiedener theoretischer Entwürfe 40zwischen Handlungs- und Systemtheorie aus, die jeweils eigene Leitbegriffe für das formulieren, was das Soziale ausmacht. Handeln und Kommunikation, Normen und Regeln, Interaktion und Struktur sind ihre wichtigsten Konzepte. Die Praxistheorie beschreitet einen dritten Weg, der zwischen dem Individualismus der Handlungstheorie auf der einen Seite und dem Holismus der Struktur- und Systemtheorie auf der anderen Seite hindurchführt. Statt bottom up von den Akteuren und Individuen oder umgekehrt top down