23,99 €
In Zeiten tiefgreifender sozialer Umbrüche und manifester Krisen schlägt die Stunde grundsätzlicher Analysen, welche die gegenwärtige Gesellschaft als ganze in den Blick nehmen, ihre Strukturmerkmale und Dynamiken untersuchen und vielleicht sogar Wege aus der krisenhaften Entwicklung aufzeigen. In jüngster Zeit haben Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa großangelegte, jedoch ganz unterschiedlich akzentuierte Gesellschaftstheorien vorgelegt, welche die gegenwärtigen Debatten über die Spätmoderne maßgeblich bestimmen. In diesem gemeinsamen Buch treten sie nun in einen kritischen Dialog.
Ausgehend von dem geteilten Anliegen, dass die Analyse der Moderne als Sozialformation ins Zentrum einer Soziologie gehört, die ihre Aufgabe der Aufklärung der Gesellschaft über sich selbst ernst nimmt, entfalten sie in umfangreichen Essays zunächst ihre je eigene gesellschaftstheoretische Perspektive: Während Reckwitz »soziale Praktiken«, »Kontingenz« und »Singularisierung« als Leitbegriffe wählt, entscheidet sich Rosa für »Beschleunigung«, »Steigerung« und »Resonanz«. Im zweiten Teil des Buches spitzen sie ihre Positionen nochmals zu, arbeiten Gemeinsamkeiten heraus, markieren aber auch grundlegende Differenzen – und zwar im direkten, von Martin Bauer moderierten Gespräch.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 404
3Andreas Reckwitz Hartmut Rosa
Spätmoderne in der Krise
Was leistet die Gesellschaftstheorie?
Suhrkamp
Cover
Titel
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Inhalt
Einleitung
Andreas Reckwitz Gesellschaftstheorie als Werkzeug
1. Doing theory
1.1 Sozialtheorie
1.2 Gesellschaftstheorie als soziologische Kernaufgabe
1.3 Funktionen der Gesellschaftstheorie
1.4 Theorie als Werkzeug
2. Praxistheorie als Sozialtheorie
2.1 Merkmale der Praxistheorie
2.2. Vier Phänomene des Sozialen aus praxeologischer Sicht
2.3 Praxistheorie als Werkzeug
3. Die Praxis der Moderne
3.1 Kontingenzöffnung und Kontingenzschließung: Dialektik ohne Telos
3.2 Die Radikalisierung der Welterzeugung
3.3 Paradoxe Zeitlichkeit
4. Gesellschaftstheorie
at work
: Von der bürgerlichen Moderne über die industrielle Moderne zur Spätmoderne
4.1 Bürgerliche Moderne
4.2. Industrielle Moderne
4.3 Spätmoderne
4.4. Krisenmomente der Spätmoderne
5. Theorie als kritische Analytik
6. Coda: Der Experimentalismus der Theorie
1. Was ist und was kann eine Theorie der Gesellschaft?
1.1 Die Bestimmung der Moderne und das Problem der Formationsbegriffe
1.2 Gesellschaftliche Selbstdeutung und die Aufgabe der Soziologie
1.3 Perspektivischer Dualismus und die drei Ebenen des Best Account
2. Dynamische Stabilisierung und Weltreichweitenvergrößerung: Eine Analyse der modernen Sozialformation
2.1 Baustein 1: Dynamische Stabilisierung
2.2 Baustein 2: Weltreichweitenvergrößerung
3. Desynchronisation und Entfremdung: Diagnose und Kritik der Moderne
3.1 Baustein 3: Eskalation und Desynchronisation
3.1.1
Zu schnell für die Wirtschaft
: Die Finanzkrise
3.1.2
Zu schnell für die Politik
: Die Demokratiekrise
3.1.3
Zu schnell für die Natur
: Die ökologische Krise
3.1.4
Zu schnell für die Seele
: Die Psychokrise
3.2 Baustein 4: Entfremdung und Weltverstummen
4. Adaptive Stabilisierung und Resonanz: Therapeutisch-transgressive Skizze eines alternativen Horizonts
4.1 Baustein 5: Jenseits der Steigerungsimperative – Adaptive Stabilisierung
4.1.1 Der Stoffwechsel mit der Natur
4.1.2 Den Stecker ziehen: Die Ausschaltung der negativen Antriebsenergie
4.1.3 Den Stecker umpolen: Die institutionelle Neuausrichtung der positiven Antriebsenergie
4.2 Baustein 6: Das Andere der Entfremdung – Resonanz
Moderne und Kritik
Dank
Fußnoten
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
3
5
7
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
23
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
100
101
102
103
104
105
106
107
108
109
110
111
112
113
114
115
116
117
118
119
120
121
122
123
124
125
126
127
128
129
130
131
132
133
134
135
136
137
138
139
140
141
142
143
144
145
146
147
148
149
150
151
153
154
155
156
157
158
159
160
161
162
163
164
165
166
167
168
169
170
171
172
173
174
175
176
177
178
179
180
181
182
183
184
185
186
187
188
189
190
191
192
193
194
195
196
197
198
199
200
201
202
203
204
205
206
207
208
209
210
211
212
213
214
215
216
217
218
219
220
221
222
223
224
225
226
227
228
229
230
231
232
233
234
235
236
237
238
239
240
241
242
243
244
245
246
247
248
249
250
251
253
255
256
257
258
259
260
261
262
263
264
265
266
267
268
269
270
271
272
273
274
275
276
277
278
279
280
281
282
283
284
285
286
287
288
289
290
291
292
293
294
295
296
297
298
299
300
301
302
303
304
305
306
307
308
309
310
311
313
9Zu Beginn des Jahres 1997 sind wir uns zum ersten Mal begegnet, im Rahmen eines Doktorandenseminars der Studienstiftung des deutschen Volkes in einem Kloster im Münsterland. Der eine (Hartmut Rosa) befand sich in der Endphase seiner Dissertation über Charles Taylor, der andere (Andreas Reckwitz) am Anfang seiner Doktorarbeit über Kulturtheorien. In der Veranstaltung gab es lebhafte Diskussionen über den cultural turn und die Bedeutung des Sozialkonstruktivismus für die Sozial- und Geisteswissenschaften. Es waren die 1990er Jahre, in Deutschland war gerade die Mauer zwischen West und Ost – und auch so manche dogmatische Frontstellung in den Köpfen – gefallen, und solche Fragestellungen waren typische Themen der Zeit. Jenes Seminar bedeutete auch den Anfang eines Gesprächsfadens zwischen uns – eines Gesprächs über Fachliches, Berufliches und Persönliches –, der seitdem nicht abgerissen ist.
Nachdem wir beide in der Mitte der 2000er Jahre Rufe auf Professuren erhalten und anschließend in unseren Büchern und Forschungsprojekten verschiedene Pfade beschritten hatten – in Richtung Beschleunigung, Resonanz und Unverfügbarkeit hier, in Richtung Subjekt, Kreativität und Singularisierung dort –, liefen die biografischen Linien zwar manchmal auseinander, aber sie kreuzten sich auch immer wieder. So zum Beispiel im Herbst 2016 während des Soziologiekongresses in Bamberg. Der eine (Hartmut Rosa) hatte dort sein Buch über »Resonanz« vorgestellt, der andere (Andreas Reckwitz) einen Kommentar dazu gehalten. Im Nachgang dieser Veranstaltung kam dann erstmals die Idee auf, in einer gemeinsamen Publikation noch einmal grundsätzlicher anzusetzen und unsere recht unterschiedlichen, aber doch auch in vielem miteinander verwandten theoretischen Perspekti10ven auf die moderne Gesellschaft und auf das, was Soziologie leisten kann und soll, einander gegenüberzustellen und miteinander ins Gespräch zu bringen.
Die Idee blieb eine Weile latent. Vor dem Hintergrund neu aufflammender und lebhafter Auseinandersetzungen innerhalb der soziologischen Disziplin und jenseits ihrer Grenzen über die Frage, wie Soziologie zu betreiben sei, was sie zu leisten vermag und was nicht, wozu es einer Gesellschaftstheorie bedarf und was von dieser für die Gesellschaft zu erwarten sei, haben wir uns schließlich dazu entschlossen, sie – unter tatkräftiger Unterstützung unserer Lektorin im Suhrkamp Verlag, Eva Gilmer – in die Tat umzusetzen. Den letzte Anstoß dazu gab die Einsicht in eine grundlegende Gemeinsamkeit, eine gemeinsame Motivation, die ein solches Buch sinnvoll und vielleicht sogar nötig erscheinen lässt: die Motivation, die Gesellschaftstheorie und damit auch die Theorie der Moderne als zentrale Aufgabe der Soziologie stark zu machen. Dieses Anliegen prägt unser beider Arbeit seit den 2000er Jahren.
Ein solches disziplinäres Selbstverständnis ist durchaus nicht selbstverständlich, wenn man die gegenwärtige Landschaft der Sozialwissenschaften national und international betrachtet, ja, es stößt vielerorts auf Widerstände. Man begegnet in jüngster Zeit vielmehr einer merkwürdigen Diskrepanz innerhalb des intellektuellen Feldes, die sich aufspannt zwischen einem ausgeprägten, immer drängenderen Interesse der Öffentlichkeit an umfassenden Theorien der Gegenwartsgesellschaft, ja der menschlichen Gesellschaft und Geschichte in ihrer Gesamtheit einerseits und andererseits einer auffälligen Erosion der Bereitschaft und vielleicht auch des Mutes auf Seiten der international organisierten Soziologie, an solchen Gesellschaftstheorien zu arbeiten. Mit anderen Worten: Während die »Nachfrage« nach Gesellschaftstheorie anwächst, scheint das entsprechende »Angebot« in der internationalen Soziologie zurückzugehen.
Das öffentliche Interesse an einer solchen Theorie, an umfas11senden Analysen und Deutungen der Gegenwartsgesellschaften, aber auch an der longue durée der Transformation menschlicher Gesellschaften von ihren Anfängen bis in die Zukunft hinein hat sich im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts jedenfalls deutlich intensiviert. Dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern für alle Gesellschaften dessen, was man einmal den »Westen« genannt hat, also insbesondere für Europa und Nordamerika, sowie darüber hinaus: für China, Indien oder Brasilien und auch für den arabischsprachigen Raum. Das ist vielleicht überraschend. Von Jean-François Lyotard stammt bekanntlich die 1979 in Das postmoderne Wissen entfaltete These, dass wir am »Ende der großen Erzählungen« der Moderne und der Modernisierung angelangt seien.[1] Die großen Theorien gesellschaftlicher Entwicklung, welche die klassische Moderne prägten, hätten in der Postmoderne an Kredit verloren, gefragt seien nur mehr die »kleinen Erzählungen«, die spezifischen Analysen: lokal, zeitlich und sachlich begrenzt. Lyotards Kritik am Erbe der Geschichtsphilosophie und an deren aus heutiger Sicht naiv und einseitig anmutenden Fortschrittsgeschichten war sicherlich berechtigt – aber mit seiner Prognose, dass damit die umfassenden theoretischen Deutungsversuche überflüssig werden, lag er letztendlich falsch. Genau das Gegenteil ist inzwischen eingetreten.
Hatten sich die Sozialwissenschaften in den zwei Jahrzehnten zwischen 1985 und 2005 gerne darüber beklagt, das Interesse der Öffentlichkeit an Gesellschaftsanalyse sei erlahmt, ist spätestens seit 2008 eine Revitalisierung dieses öffentlichen Interesses am big picture zu beobachten. »In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?« und »Wohin entwickelt sich die menschliche Gesellschaft?« sind Fragen, die man sich allenthalben (wieder) stellt. Die öffentliche Diskussion gibt sich nicht mehr mit empirischen Einzelanalysen zu Spezialfragen und erst recht nicht mehr mit »kleinen Erzählungen« zufrieden. Herauskristallisiert hat sich viel12mehr eine Neugier und auch ein durchaus drängender Wunsch nach Gesamtanalysen des gesellschaftlichen Zustandes. Dass dies der Fall ist, haben die beiden Autoren dieses Bandes auf jeweils eigene Weise in den letzten Jahren durchaus persönlich erfahren. Unsere gesellschaftstheoretischen Versuche sind jeweils auf eine überraschend breite Rezeption nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des wissenschaftlichen Feldes gestoßen: in den Medien, in der Politik, in der Wirtschaft, im Kultur- und Kunstfeld, in den Kirchen und den psychosozialen Organisationen und nicht zuletzt bei den Studierenden und Promovierenden an den Universitäten. Darüber hinaus haben wir zahlreiche Reaktionen von gesellschaftlich und politisch hochinteressierten, ebenso offenen wie kritischen privaten Leserinnen und Lesern erhalten, deren intellektueller Wissensdrang und mitunter beeindruckendes Beobachtungsvermögen jedes Naserümpfen des Wissenschaftsbetriebs über die vermeintlich schlichten Gemüter der »Laien« als ziemlich dünkelhaft erscheinen lassen.
Dieses erstarkte Interesse an der Theorie und am »großen Bild«, welches über die heterogenen Fäden der Alltagserfahrung hinaus ein wissenschaftlich gestütztes sinnhaftes Ganzes präsentiert, hat nachvollziehbare Ursachen. Die wichtigste ist sicherlich, dass in den letzten zehn Jahren die Ballung gesellschaftlicher Krisenmomente der kritischen Reflexion der westlichen Gesellschaften über sich selbst einen gewaltigen Schub gegeben hat. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 hat die Frage nach den Strukturmerkmalen eines postindustriellen Kapitalismus und seinen sozialen Folgen, etwa in Form verschärfter sozialer Ungleichheit, auf die Tagesordnung gesetzt. Die Einsicht in die bedrohlichen Konsequenzen des Klimawandels hat der ökologischen Frage nach der Geschichte des Verhältnisses zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umwelt sowie nach dem, was die Epoche des Anthropozäns ausmacht, größte Aufmerksamkeit beschert. Dass die Geologie der Erde selbst durch menschliches Handeln veränderbar ist, hat bei manchen zu einer tiefgreifenden on13tologischen Verunsicherung geführt. Der internationale Aufstieg des Rechtspopulismus schließlich hat eine breite Diskussion über dessen strukturelle Ursachen, über Modernisierungsgewinner und Modernisierungsverlierer in Gang gesetzt. Generell gilt: Während man in den 1990er Jahren am »Ende der Geschichte« angekommen schien – an der Schwelle zu einer Posthistoire, welches die Alternativlosigkeit des westlichen Modells stabiler Marktdemokratien suggerierte – oder auf die neuen Verheißungen der Globalisierung, der Digitalisierung oder der Wissensgesellschaft setzte, scheint der Fortschrittshorizont mittlerweile rapide geschrumpft. Und auch das »westliche Modell« befindet sich geopolitisch eher auf dem Rückzug. Alle diese Krisenmomente sind mit neuen sozialen und politischen Bewegungen verbunden, die von Attac über Fridays for Future und die französischen Gelbwesten bis hin zu Black Lives Matter und zu indigenen Bewegungen reichen. Die Selbstreflexion, die alle diese Krisen induzieren, bleibt jedoch mindestens implizit auf Gesellschaftstheorie oder auf andere großflächige Modelle gesellschaftlicher Entwicklung angewiesen: Wie lassen sich die genannten Phänomene einordnen, wie erklären und welche Konsequenzen sind zu erwarten? Welche Alternativen sind denkbar, welche wären wünschenswert?
Das intensivierte Interesse der Öffentlichkeit an umfassenden Synthesen hat seine zweite Ursache offensichtlich im Wandel dieser Öffentlichkeit selbst. Manches spricht dafür, dass es sich dabei auch um eine Reaktion auf die Informations- und Meinungsexplosion handelt, welche die Digitalisierung der Informationsverbreitung im vergangenen Jahrzehnt bewirkt hat. Informationen über gesellschaftliche Sachverhalte und ihre kritische Kommentierung folgen in der Welt der digitalen Medien endlos aufeinander und sprengen mittlerweile alle Grenzen der Aufnahmefähigkeit. Eine unüberschaubare Menge an heterogenen und fragmentierten bits and pieces von Informationen und Meinungen wird im stetigen Strom dargeboten: politische Ereignisse, Sozialstatistiken, personal interest stories des Journalismus, Interviews, Skandalisierun14gen, persönliche Kommentare. Das Internet ist dabei zugleich ein Affektmedium, das Informationen leicht mit Erregungszuständen zu verknüpfen vermag, nicht zuletzt mit negativen Emotionen der Empörung und des Hasses – oder umgekehrt: das für jede Empörung die entsprechenden Informationen, das erforderliche »Brennmaterial« bereitstellt. Angesichts dieser Gemengelage von immer neuen, kleinteiligen Informationen und kurzatmigen Affekten wird jedoch das Bedürfnis virulent, die übergreifenden Zusammenhänge gesellschaftlicher und historischer Entwicklungen zu begreifen. Eine hinreichend große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern will über die gebotenen Informationsschnipsel hinaus fachlich fundiert, empirisch informiert und theoretisch elaboriert gesellschaftliche Zusammenhänge verstehen. Der Prozess gesellschaftlicher Selbstverständigung bedarf also holistischer Formate der Analyse und Erklärung aus einem Guss; sie werden vom intellektuellen Feld erwartet, erhofft, verlangt. Weigert sich die Soziologie jedoch, entsprechende Impulse auf der Grundlage ihrer fachlichen Möglichkeiten und Kompetenzen zu liefern, darf sie sich nicht wundern, wenn andere »Anbieter« in die Bresche springen.
Entsprechende Deutungsvorschläge gibt es durchaus, und sie werden international breit rezipiert. In der Geschichtswissenschaft ragen die Bücher von Yuval Harari heraus, der nichts weniger als eine Gesamtgeschichte der menschlichen Gattung von der Urzeit bis zur Gegenwart komponiert hat und daraus politische Schlussfolgerungen zieht.[2] Auch die Vertreterinnen und Vertreter der Big History wie David Christian, der Natur- und Kulturgeschichte zusammendenkt, sind hier zu nennen.[3] Aus dem Feld der Wirtschaftswissenschaften wurden in jüngster Zeit eine Reihe zugespitzter und umfassender Synthesen der Gesellschaftsent15wicklung präsentiert, die ein internationales Publikum finden. Dies gilt etwa für die Bücher von Thomas Piketty über die Transformation von Ökonomie, Staat und Vermögensverteilung, von Branko Milanović über globale Ungleichheit und von Shoshana Zuboff über die Folgen der Digitalisierung.[4] Darüber hinaus entfalten Darstellungen, die eher dem Genre des – durchaus fachwissenschaftlich abgestützten – Sachbuchs zuzuordnen sind, zum Beispiel Das Zeitalter des Zorns von Pankaj Mishra, in dem dieser die globale Kultur des Ressentiments erklärt,[5] oder Unsere Welt neu denken von Maja Göpel, die darin auf die politischen Folgen aus dem Klimawandel reflektiert,[6] einige Synthesekraft und werden in der breiten Öffentlichkeit intensiv diskutiert.
Und die Soziologie? Wir stoßen hier auf die erwähnte Diskrepanz. So wünschenswert Interdisziplinarität auch sein mag und bei allem Respekt vor der Leistungsfähigkeit anderer Disziplinen: Eigentlich ist die Soziologie dazu prädestiniert, am »großen Bild« der Gesellschaftstheorie und an einer umfassenden Theorie der Moderne zu arbeiten. Das Projekt der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin besteht seit ihren Anfangstagen just darin, die Strukturmerkmale und Strukturdynamiken der Moderne – oder sogar darüber hinausgehend von Gesellschaftsformen insgesamt – zu rekonstruieren und damit den Zusammenhang von wirtschaftlichem, technologischem, kulturellem, politischem und sozialem Wandel zu klären. Das disziplinäre Projekt der Soziologie ist damit auch das einer Krisenwissenschaft der jeweiligen Gegenwart. Der theoretisch und empirisch sich ständig erneuernde und interdisziplinär angereicherte Fundus der Soziologie ist üppig ausgestat16tet. Wir sind davon überzeugt, dass sie über die empirischen, begrifflichen und theoretischen Mittel einer systematisch angelegten Wissenschaft der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit verfügt.
Obwohl die Voraussetzungen für die soziologische Gesellschaftstheorie also sehr gut zu sein scheinen, erweist sich die Disziplin gegenwärtig als merkwürdig gehemmt, diese ihre Aufgabe zu erfüllen. Dies gilt zumal auf internationaler Ebene, auf der die englischsprachige Soziologie nach wie vor dominant ist. Die Bereitschaft, Gesellschaftstheorie zu betreiben und an Theorien der Moderne oder Spätmoderne zu arbeiten, hat an den soziologischen Instituten in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien aus unserer Sicht in den letzten beiden Jahrzehnten auffällig abgenommen. Das ist durchaus bemerkenswert, denn es war einmal anders: Noch in den 1990er Jahren gab es eine Fülle einflussreicher und vieldiskutierter Beiträge zur Gesellschaftstheorie von Sozialwissenschaftlern aus dem angelsächsischen Raum, die weit in die internationale Diskussion ausgestrahlt haben. Man denke nur an Zygmunt Baumans Moderne und Ambivalenz, an David Harveys The Condition of Postmodernity, an Scott Lashs und John Urrys Economies of Signs and Space, an Anthony Giddens' Konsequenzen der Moderne oder an Manuel Castells opulente Trilogie Das Informationszeitalter.[7]
Wie erklärt sich diese mangelnde soziologische Bereitschaft zur Gesellschaftstheorie? Die erste und wichtigste Ursache ist sicherlich in einer immer weiter reichenden empirischen Spezialisierung der Sozialwissenschaften zu finden. Diese wird durch die sozialen Erwartungen eines kompetitiven Wissenschaftssystems in Richtung quantifizierbarer Forschungsleistungen sowie einer starken Orientierung an Publikationen in Peer-Review-Zeitschriften und 17eingeworbenen Drittmitteln verstärkt. Die radikale Ausdifferenzierung der Soziologie in eine Fülle von Bindestrichsoziologien und -studies mit ihren qualitativen und quantitativen Daten und Studien ist einerseits zweifellos ertragreich, bedeutet aber andererseits, dass die Arbeit an theoretischen Synthesen in der institutionalisierten Soziologie immer weniger einen Ort hat. Die Ambition, über die Grenzen der Bindestrichsoziologien hinweg zu arbeiten, deren Ergebnisse theoretisch auszuwerten und miteinander zu kombinieren, wird so institutionell gehemmt. Hinzu kommt: Innerhalb eines entsprechenden, an der empirischen Forschung orientierten wissenschaftlichen Belohnungssystems, das vom »New Public Management« der Hochschulen geprägt ist, erscheint es zunehmend unattraktiv, Bücher zu schreiben (die immer noch das bevorzugte Format der Theorie darstellen). In diesem System »zählt« ein ganzes Buch häufig nur so viel (wenn nicht sogar weniger) wie ein einzelner Zeitschriftenaufsatz in einem renommierten Journal, dem Goldstandard der empirisch-standardisierten Forschung. Ein ambitioniertes Projekt wie Niklas Luhmanns Ende der 1960er Jahre in Bielefeld angemeldetes Forschungsvorhaben – »Thema: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine« – würde im Wissenschaftsfeld der Gegenwart wie eine Anomalie erscheinen.
Eine zweite Ursache für den eher schweren Stand der Gesellschaftstheorie in der gegenwärtigen Soziologie ist in den Effekten der genannten postmodernen Wissenschaftskritik zu finden, die insbesondere im angelsächsischen Raum seit den 2000er Jahren verbreitet ist. Der gängige Einwand dieser Wissenschaftskritik lautet: Wenn man den interpretativen und damit auch selektiven Charakter der Wissenschaft und zugleich die Heterogenität und Pluralität der diskursiv erzeugten Wirklichkeiten erkennt, erscheint dann nicht jeder holistische Anspruch einer Theorie, jeder Versuch, »das Ganze« zu erfassen, vergeblich – oder schlimmer noch: notwendigerweise einseitig verzerrt? Kann man überhaupt noch über die Moderne oder die Spätmoderne schreiben? Diese Denk18weise entmutigt und hemmt die Theoriearbeit beträchtlich, obwohl sie bei näherer Betrachtung nicht einleuchtet: Selektiv ist schließlich jede wissenschaftliche Forschung, von der Fallstudie über die statistische Korrelationsanalyse bis hin zur Gesellschaftstheorie, ganz unabhängig davon, ob es sich um »kleine« oder »große« Phänomene handelt. Zweifellos gilt es, eine entsprechende wissenschaftliche Selbstreflexivität zu entwickeln – das ist ein wichtiges Ergebnis der postmodernen Wissenschaftskritik –, aber sich deshalb die Arbeit an umfassenden Theorien ausreden zu lassen, wäre wenig zielführend. Die Tatsache, dass jeder einen Blick auf das Ganze der gesellschaftlichen Formation beanspruchende theoretische Entwurf sofort erhebliche und gleichsam apriorische Widerstände aus ganz unterschiedlichen Lagern hervorruft, die den Theoretikerinnen ihre unvermeidlichen »Lücken« und »blinden Flecken« vorrechnen, schreckt jedoch offenbar mittlerweile viele Sozialwissenschaftler davon ab, überhaupt ins theoretische Feld vorzustoßen. In der angelsächsischen Soziologie spielen die empirische, an den Modellen der Naturwissenschaften orientierte Spezialisierung, die postmoderne Fragmentierung sowie das New Public Management der Hochschulen einander auf diese Weise in die Hände. Für die Theorie heißt das: Sie ist erheblich unter Druck geraten und in Gefahr, ganz zu verschwinden.
Obwohl oder gerade weil also die historisch-kulturelle Situation gleichsam eine Hochkonjunktur für die Gesellschaftstheorie auf der Nachfrageseite erzeugt, muss innerhalb der Soziologie angesichts der genannten Fragmentierungstendenzen erst wieder eine Lanze für sie gebrochen werden. Da die angelsächsischen Sozialwissenschaften immer noch wie ein Schrittmacher auf internationaler Ebene fungieren, wirken die genannten Hemmnisse auch auf dem gesamten europäischen Kontinent, den deutschsprachigen Raum eingeschlossen. Es ist allerdings kein Zufall, dass dieses Buch von zwei deutschen Soziologen verfasst ist, denn richtig ist auch, dass die Gesellschaftstheorie hierzulande tendenziell offensiver aufgestellt ist als beispielsweise in den USA oder in Großbri19tannien. Auch dafür gibt es Gründe: In Deutschland existiert schon rein historisch gesehen eine stärkere Verbindung zwischen der Soziologie und der Sozialphilosophie (namentlich in der Theoriebildung der Frankfurter Schule), die dazu führt, dass die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhang in der Soziologie stets präsent gehalten wurde und wird. Es gibt zudem die Tradition einer auf Muster der Lebensführung und ihre historischen Transformationen orientierten verstehenden Soziologie, die sich von Max Weber und Georg Simmel herleitet und eher kulturwissenschaftlich den Blick auf »das Ganze« ermutigt, und darüber hinaus auch die weiterhin präsente Richtung der systemtheoretischen Modernetheorie, wie sie prominent Niklas Luhmann entfaltet hat. Dass im deutschsprachigen stärker als im angelsächsischen Raum ein öffentliches intellektuelles Feld existiert, das nicht nur in den Medien, sondern bis weit in die Politik, den Kulturbetrieb und sogar die Wirtschaft hinein Beachtung findet und auf dem Wissenschaftlerinnen, darunter auch Soziologen, durchaus Gehör finden, trägt schließlich ebenfalls dazu bei, dass sich systematische Theorien der (Spät-)Moderne hier doch etwas leichter entwickeln lassen, als es im internationalen Mainstream der Fall ist.[8] Wäre dem nicht so, würde es dieses Buch in dieser Form wahrscheinlich gar nicht geben.
20Allen länderspezifischen Differenzierungen zum Trotz: Die Gesellschaftstheorie hat insgesamt innerhalb der gegenwärtigen Soziologie keinen selbstverständlichen Platz, sondern muss ihn sich erkämpfen. Genau auf diese Situation reagiert das vorliegende Buch, indem es fragt »Was leistet die Gesellschaftstheorie?« und dabei zu explorieren versucht, auf welchen Wegen, mit welchen konzeptuellen Mitteln Gesellschaftstheorie operieren kann, um die von ihr erwartete Leistung zu erfüllen. Es ist nicht verwunderlich, dass wir in der Beantwortung dieser Frage trotz vieler Gemeinsamkeiten am Ende doch zu recht unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Um die Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Grenzen gesellschaftstheoretischen Arbeitens aus unseren unterschiedlichen Perspektiven auf systematische und Vergleichsmöglichkeiten eröffnende Weise in den Blick zu nehmen, haben wir unsere beiden Ausgangsbeiträge jeweils so angelegt, dass sie unsere Ansätze Schritt für Schritt entfalten: Wir legen zunächst unsere Auffassungen darüber dar, was unter »Theorie« zu verstehen sei und wie sich Sozial- und Gesellschaftstheorie voneinander unterscheiden, um sodann unsere spezifischen Perspektiven auf die Moderne im Allgemeinen und auf die gegenwärtige Spätmoderne im Besonderen zu entwickeln und schließlich auch zu diskutieren, was es bedeutet, dass das Verhältnis der Gesellschaftstheorie zu ihrem Gegenstand ein kritisches sein sollte. In beiden Fällen mündet die Gesellschaftstheorie am Ende in eine Krisendiagnostik der Gegenwart: Beide sehen wir die »Spätmoderne in der Krise«, und die Ausprägungen, Ursachen und Konsequenzen dieser Krisenhaftigkeit zu bestimmen bildet nach unserer Überzeugung den zentralen Fluchtpunkt dessen, was Gesellschaftstheorie heute leisten kann und leisten sollte und worum wir in diesem Buch bemüht sind.
Die kondensierten Darstellungen unser beider Perspektiven bilden den Ausgangspunkt, um anschließend – moderiert von Martin Bauer, dem wir sehr dafür zu danken haben, dass er diese nicht ganz einfache Aufgabe in großer Souveränität übernommen hat – 21in ein intensives Gespräch über unsere Ansätze zu kommen. Es wurde im März 2021 im Suhrkamp Verlag in Berlin geführt. Auch wenn die Theoriearbeit auf das Medium der Schrift angewiesen bleibt, ist Mündlichkeit doch immer noch das beste Medium, um tatsächlich nicht übereinander, sondern in konstruktiver Kontroverse miteinander zu sprechen. Auch die Theorie kommt nicht ohne die Begegnung face-to-face aus, wenn sie wirklich eine Debatte führen, wenn sie resonanzfähig bleiben will. Denn erst in dieser Form kommt sie in Bewegung und wird lebendig, verliert sie ihre abstrakte Starre und beginnt, Farbe anzunehmen und Funken zu schlagen.
Berlin und Jena, im Sommer 2021
Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa
Theorie ist selbst eine Praxis, genauer: Sie ist ein Ensemble von Praktiken. Man müsste eine detaillierte Wissenschaftssoziologie der Sozialwissenschaften betreiben, um ein umfassendes Bild davon zu bekommen, welche Praktiken beim Verfertigen dessen zum Einsatz kommen, was man Theorie nennt – beim doing theory. Praktiken des Reflektierens und Ausprobierens von Begriffen, des Sammelns und Zusammenstellens von empirischem Material, des Exzerpierens, des Anlegens von Zettelkästen und Datenbanken, der Diskussion von Ideen, des Visualisierens von Argumentationen und nicht zuletzt des Schreibens und Komponierens von Texten, sei es handschriftlich oder am Computer, sind hier von Bedeutung. Ebenfalls von Relevanz für das doing theory ist der Kampf zwischen Orthodoxien und Heterodoxien, der im sozialen Feld der Wissenschaft stattfindet; zudem fließen persönliche Erfahrungen der Theoretiker in ihre Fragestellungen und Grundintuitionen ein; und auch aktuelle politische Debatten, historische Sensibilitäten sowie zeitgenössische kulturelle Problemlagen schlagen sich in der Theoriearbeit nieder. Sie ist unweigerlich in einem sozialen Entstehungskontext situiert. Die theoria, im Wortsinne die »Betrachtung« der Wirklichkeit aus der Distanz, suggeriert, sie befinde sich in einer neutralen Beobachterposition oder sei Ausdruck beziehungsweise Resultat »reinen Denkens«. Tatsächlich ist die Theorie aber eine durch und durch praktische und interpretative Angelegenheit – gewissermaßen eine Kulturtechnik des generalisierenden Weltverstehens. Die Produktionspraktiken der Theorie sind ihrerseits verknüpft mit variablen Praktiken der Rezeption: dem Durcharbeiten von Theorie als Teil einer fachlichen Sozialisation, dem Lesen zum Zwecke der Weiterbildung, der freien Lektüre aus dem Wunsch heraus, die Welt verstehen, 26eine politische Veränderung herbeiführen oder eine subjektive Transformation anstoßen zu wollen, nach der man »nicht mehr der ist, der man war«.
Seit der Antike war es in Europa zunächst die Philosophie, die der Praxis der Theorie ihren institutionellen Ort bot. Mit der allmählichen Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaften wandert das Theorieinteresse jedoch in die spezialisierten Fachdisziplinen ein, auch und gerade in die Sozialwissenschaften. Da sich diese so wie alle modernen Disziplinen als Wirklichkeitswissenschaften verstehen, die ihre Aussagen aus der Erfahrung der Realität gewinnen, stellt sich von Anfang an die Frage des genauen Ortes der Theorie im Verhältnis zur Empirie. Um den spezifischen Stellenwert von Theorie für die Soziologie nachvollziehen zu können, muss das, was hierzulande unter die Kategorie »soziologische Theorie« subsumiert wird, jedoch von dem unterschieden werden, was im englischsprachigen Raum social theory genannt wird. Innerhalb der social theory wiederum ist die Unterscheidung zwischen Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie zentral.[9] Grundsätzlich gilt: Die Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft arbeitet im Alltag ihres Forschungsbetriebs in erster Linie an dem, was Robert K. Merton Theorien mittlerer Reichweite (middle range theories) genannt hat, eben an soziologischen Theorien. Im Rahmen der innerfachlichen Arbeitsteilung beziehen diese sich auf spezialisierte Fragestellungen und einzelne gesellschaftliche Phänomene. Hier können unterschiedliche qualitative und quantitative Methoden zum Einsatz kommen. Generell gilt, dass solche Theorien nach einer unmittelbaren empirischen Plausibilisierung ihrer Beschreibungen und Erklärungen verlangen; zugleich ist, wie der Name schon andeutet, die Reichweite ihrer Aussagen begrenzt.
Im Verhältnis zu den mannigfachen soziologischen Theorien mittlerer Reichweite bewegt sich die social theory auf einer abstrak27teren Ebene. Hier geht es um Theorie im engeren Sinne. Dies gilt für ihre beiden Stränge: Sowohl die Sozialtheorie als auch die Gesellschaftstheorie stellen allgemeine und zugleich grundlegende Vokabulare zur Verfügung, die jeweils auf zwei elementare Fragen antworten. Die Sozialtheorie fragt: »Was ist das Soziale?« und »Unter welchen Aspekten lässt es sich analysieren?« Die Gesellschaftstheorie fragt: »Was sind die Strukturmerkmale von Gesellschaft und insbesondere moderner Gesellschaften?« und »Was sind Konzepte, mit denen sich diese untersuchen lassen?« Zur Beantwortung ihrer Fragen entwickelt die Sozialtheorie Grundbegriffe wie Handeln und Kommunikation, Norm und Rolle, Macht und Institution, Wissensordnung, Praktik und Diskurs. Max Webers »Soziologische Grundbegriffe« und Émile Durkheims Die Regeln der soziologischen Methode sind klassische, Niklas Luhmanns Soziale Systeme, Anthony Giddens' Die Konstitution der Gesellschaft und Bruno Latours Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft neuere Werke, in denen solche sozialtheoretischen Vokabulare entwickelt werden. Die Gesellschaftstheorie formuliert im Unterschied dazu Grundannahmen über gesamtgesellschaftliche Strukturen, Phänomene und Mechanismen, wie sie sich im Laufe der Geschichte herausgebildet haben. Sie interessiert sich vor allem für die Strukturen der Moderne und tut dies etwa in Form einer Theorie des Kapitalismus, der funktionalen Differenzierung, der Individualisierung oder der Ästhetisierung. Karl Marx' Das Kapital und Georg Simmels Philosophie des Geldes sind Beispiele für klassische, Pierre Bourdieus Die feinen Unterschiede oder Manuel Castells Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft für neuere Werke, die solche gesellschaftstheoretischen Ansätze entwickeln.
Der Doppelhorizont der Frage nach Sozialität und moderner Gesellschaftlichkeit ist konstitutiv für die Entstehung der Soziologie im 19. Jahrhundert. Er leitet die bis zur Gegenwart wirkmächtigen Autoren der Gründergeneration – Marx, Weber, Simmel, Durkheim – an. Trotz aller fortschreitenden Arbeitsteilung des Forschungsbetriebs bleiben diese Problemstellungen auch für die 28Soziologie des 21. Jahrhunderts von Bedeutung – und sie sollten aus der Perspektive, die ich hier vertrete, auch grundlegend bleiben, bilden sie doch gleichsam die Klammer, welche die zahlreichen und mannigfaltigen empirischen Einzelanalysen der Soziologie zusammenhält. Ohne die social theory würde die Soziologie sich in der extremen Spezialisierung ihrer zweifellos notwendigen Detailforschungen verlieren. Die Werkzeuge der Sozial- und der Gesellschaftstheorie bewahren damit den Bezug zur Totalität des Sozialen beziehungsweise der Gesellschaft insgesamt – die Referenz auf das Ganze, das big picture, wie es klassischerweise die Philosophie kultivierte. Zugleich unterbreiten Sozial- und Gesellschaftstheorie der kulturellen und politischen Öffentlichkeit umfassende und zugespitzte Deutungsangebote, die eine gesellschaftliche Selbstaufklärung ermutigen.
Ich will in diesem ersten Abschnitt des Textes genauer erläutern, was Sozial- und Gesellschaftstheorie aus meiner Perspektive bedeuten, was beide voneinander unterscheidet und an wen sie sich richten. Ich werde dabei ein Verständnis von »Theorie als Werkzeug« stark machen. Im zweiten Abschnitt werde ich die Version der Sozialtheorie skizzieren, die mir als Werkzeugkasten der Gesellschaftsanalyse dient: die Theorie sozialer Praktiken. Der dritte Abschnitt arbeitet jene drei Dimensionen der Moderne heraus, die aus der gesellschaftstheoretischen Perspektive, die ich vertrete, zentral sind: die Dialektik von Kontingenzöffnung und Kontingenzschließung, die Rivalität zwischen einer sozialen Logik des Allgemeinen und einer des Besonderen sowie zwischen Rationalisierung und Kulturalisierung des Sozialen und schließlich eine paradoxe Zeitstruktur, geprägt durch ein Regime des Neuen, eine Dynamik der Verluste und eine zeitliche Hybridisierung. Im vierten Abschnitt erläutere ich vor dem Hintergrund dieser Kategorien ein historisches Transformationsmodell der Moderne: von der bürgerlichen Moderne über die industriell-organisierte Moderne bis zur Spätmoderne. Hier werden auch die Ursachen für die spezifische Krisenhaftigkeit der gegenwärtigen Spätmoderne 29deutlich. Im fünften Abschnitt arbeite ich heraus, in welcher Weise aus meiner Sicht die Theorie eine kritische Orientierung verfolgen sollte, ohne zur Kritischen Theorie im engeren Sinne zu werden: Es geht um das Projekt einer »kritischen Analytik«. In der Coda stelle ich abschließend die Frage, wie man mit Theorien arbeiten kann, und spreche mich für einen experimentellen Umgang mit ihnen aus.
Zunächst ist es wichtig, sich zu verdeutlichen, dass sowohl die Sozialtheorie als auch die Gesellschaftstheorie zwei Funktionen in sich vereinen, die jeweils unterschiedliche Publika adressieren: Sie sind zum einen an der empirischen Forschung der Sozialwissenschaften ausgerichtet, der sie Impulse geben beziehungsweise die sie verarbeiten; zum Zweiten zirkulieren sie als umfassende Theorien im intellektuellen Feld und richten sich insofern an die Wissenschaften insgesamt, aber auch an die nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit.
Ich will das zunächst für die Sozialtheorie zeigen. Diese stellt die elementare Frage nach der Form des Sozialen, das heißt, sie fragt danach, mit welchen Begriffen sich das Soziale begreifen lässt. »Das Soziale« soll eine kollektive Ebene bezeichnen, eine, die über die Individuen, ihr je individuelles Handeln und ihre partikularen Interessen hinausgeht. Diese Annahme ist die Grundeinstellung der soziologischen Denkweise. Aber was genau sind die Elementarmerkmale der sozialen Welt? Die Soziologie hat sich niemals auf eine einzige Theorie des Sozialen einigen können, sondern vielmehr eine Pluralität unterschiedlicher Perspektiven auf Sozialität entwickelt. Das ist auch nachvollziehbar, denn eine pluralistische (Wissenschafts-)Kultur, wie sie die Moderne hervorbringt, bietet Raum für die Entwicklung einer Vielzahl von Theorievokabularen des Sozialen. In ihrem Verständnis des Sozia30len können diese Theoriesprachen kulturalistisch oder materialistisch, holistisch oder individualistisch, strukturalistisch oder prozess- und situationsorientiert ausgerichtet sein und an unterschiedlichen Leitkonzepten (Handeln, Interaktion, Kommunikation, Praktiken, Struktur usw.) ansetzen.
Sozialtheorien entwickeln auf diese Weise Grundbegrifflichkeiten, die grundsätzlich den Status einer Heuristik haben, welche die empirischen Analysen der Soziologie anleitet. Sie bieten auch der empirischen Forschungspraxis in anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen eine grundbegriffliche Orientierung, zum Beispiel der Geschichtswissenschaft oder der Kulturanthropologie. Nach Art von sensitizing concepts weisen die Sozialtheorien den Weg, nach welchen Phänomenen und Zusammenhängen die empirische Forschung zu suchen hat – eben etwa nach Praktiken, Kommunikation, Machtdynamiken, Diskursen, Artefaktstrukturen, Dispositiven oder sozialen Systemen. Im Sinne einer Heuristik übernehmen sie für die Empirie auf diese Weise die Rolle einer Such- und Findetechnik. Ohne eine solche sozialtheoretische Perspektivierung würde die empirische Analyse blind bleiben oder sich auf unreflektierten Alltagsannahmen ausruhen.[10] Daraus ergeben sich aber auch Qualitätsanforderungen für eine gute Sozialtheorie: Sie muss Werkzeuge zur Verfügung stellen, damit die empirische Forschung eine Vielzahl unterschiedlicher Phänomene perspektivenreich analysieren kann.
Neben ihrer heuristischen Funktion für die empirische Forschung kommt der Sozialtheorie jedoch auch eine autonome Bedeutung zu, nämlich die einer Sozialontologie. Auf dieser Ebene erhält sie gewissermaßen unabhängig von der empirischen For31schung einen eigenen »Reflexionswert«, sie ist der Ort einer Grundlagenreflexion über die soziale Welt. Die Sozialtheorie bietet den Humanwissenschaften so ein elementares Vokabular zum Verständnis der menschlichen Welt als soziokultureller Welt, indem sie eine Sozialontologie des Handelns, der Kultur, der Sprache, der Affektivität, der Materialität, der Strukturen und der Prozesse formuliert. Hinsichtlich dieser Aufgabe befindet sie sich in intensivem Austausch mit der Philosophie, die ihrerseits seit ihren Anfängen den Anspruch erhebt, (auch) eine Sozialontologie der menschlichen Welt zu entwickeln. Darüber hinaus bestehen enge Verbindungen zwischen der Sozialtheorie in der Soziologie und sozialtheoretischen Überlegungen anderer Disziplinen, zum Beispiel der Kulturtheorie aus der Kulturanthropologie oder der Medientheorie aus den Medienwissenschaften. Generell ist die Sozialtheorie als Grundlagenreflexion der soziokulturellen Welt also ein interdisziplinäres Unternehmen der Humanwissenschaften, das sich nur selten an Fächergrenzen hält.[11]
Die Sozialtheorie als eine Ontologie der soziokulturellen Welt entfaltet ihren eigenständigen Reflexionswert dabei nicht nur im innerwissenschaftlichen Feld, sondern dieser kommt auch in der breiten, das heißt nichtwissenschaftlichen Öffentlichkeit zum Tragen. Die säkularisierte Moderne, in der Religion und Theologie ihr Deutungsmonopol verloren haben, ist mit der Herausforderung einer – chronisch unterbestimmten und kontroversen – Selbstaufklärung über die conditio humana konfrontiert. Diese Aufgabe wächst zwar klassischerweise der Philosophie zu, aber auch die Sozialtheorien von John Dewey bis Bruno Latour, von Helmuth Plessner bis Jürgen Habermas liefern solche grundsätzlichen Beiträge zur Selbstaufklärung. In dieser Hinsicht konkurriert die Sozialtheorie insbesondere mit naturwissenschaftlichen Ansätzen aus dem Bereich der Lebenswissenschaften – Evolutions32biologie, Evolutionspsychologie, Neurophysiologie etc. – darum, der Öffentlichkeit und damit dem einzelnen nichtwissenschaftlichen Leser ein solches Basisvokabular der Selbstverständigung zur Verfügung zu stellen.
»Theorie« in den Sozialwissenschaften bedeutet jedoch nicht nur Sozialtheorie, sie bedeutet auch und gerade Gesellschaftstheorie. Was unterscheidet beide voneinander? Die kurze Antwort darauf lautet: die Universalität beziehungsweise Historizität ihres Gegenstandes. Zwar erreicht die Sozialtheorie häufig (wenn auch nicht immer) begrifflich die Makrodimension des Sozialen, die Ebene von Institutionen, Klassen, Wissensordnungen oder der Gesellschaft insgesamt. Auch sie kann also von Gesellschaft reden, verbleibt dabei aber gewissermaßen in einem universalistischen Begriffsrahmen. Der Sozialtheorie geht es nämlich um Sozialität und Gesellschaftlichkeit an sich, das heißt um die überzeitliche und ortsungebundene Struktur menschlicher Praxis. Die Gesellschaftstheorie bezieht sich hingegen auf konkrete Gesellschaften, wie sie zu konkreten Zeiten an konkreten Orten bestehen. Kurzum: Sie macht allgemeine Aussagen über besondere Gesellschaften. Im Zentrum der soziologischen Gesellschaftstheorie steht dabei die Moderne, jener Typus von Gesellschaftlichkeit, dessen Wurzeln mit Beginn der europäischen Neuzeit gelegt wurden, der sich seit dem 18. Jahrhundert in Europa und Nordamerika im Zuge der Industrialisierung, der Demokratisierung, der Verwissenschaftlichung, der Säkularisierung und der Individualisierung herausgebildet hat und der seitdem friedlich oder gewaltsam und in verschiedenen Spielarten und hybriden Mischungen über den Globus prägend wirkt.[12]
33Um das Spezifische dieser modernen, zunächst westlichen Gesellschaft zu bestimmen, kann der gesellschaftstheoretische Blick sich darüber hinaus sozusagen sowohl zeitlich als auch räumlich weiten. Die moderne Gesellschaft westlicher Prägung kann so in Beziehung gesetzt werden zu jenen Gesellschaftsformen, die es vor der Neuzeit und Moderne gab (nomadische und agrarische Gesellschaften sowie hochkulturelle Reiche), und zu jenen, die jenseits des europäisch-nordamerikanischen Kontextes existierten und existieren. Der Gesellschaftstheorie bietet sich so die Möglichkeit, eine allgemeine Theorie des gesellschaftlichen Wandels und der globalen Verflechtungen von den frühesten menschlichen Gesellschaften bis in die Gegenwart zu entwickeln sowie systematische Vergleiche von Gesellschaftstypen anzustellen.[13]
Trotz des Interesses an der Langzeittransformation von Gesellschaftlichkeit befindet sich im Zentrum der soziologischen Gesellschaftstheorie in Europa und Nordamerika jedoch die moderne, westliche Gesellschaft. Anders gesagt: Die zentrale Aufgabe der 34Gesellschaftstheorie ist die Theorie dieser Moderne.[14] Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Die Gesellschaftstheorie hat zwar durchgehend auch historische Ambitionen, aber federführend bleibt ihr Interesse an der Gegenwart; sie will die Gegenwartsgesellschaft in ihren Strukturen und Dynamiken begreifen. Diese theoretische Selbstaufklärung über »unsere« Gesellschaft liefert den Hintergrund für praktische Bestrebungen, auf die die Soziologie unmittelbar oder mittelbar hinwirkt. Die praktischen Bestrebungen können auf die politische Gestaltung gesellschaftlicher Institutionen zielen oder auf den reflektierten Umgang des Individuums mit seiner eigenen Lebensform. Beides vollzieht sich notwendig in der Gegenwart oder mit Blick auf die Zukunft. Die Gegenwartsgesellschaft ist aus soziologischer Sicht nun eine, die durch Modernität charakterisiert ist, sie ist die moderne Gesellschaft, wie sie sich aus der feudal-traditionalen, religiös orientierten »Vormoderne« heraus entwickelt hat. Erst für die so verstandene Moderne ergibt sich jedoch der genannte Nexus von Theorie und Praxis. Erst die moderne Gesellschaft geht nämlich grundsätzlich davon aus, dass ihre Institutionen und Lebensformen nicht als unabänderlich gegeben, sondern der politischen und soziokulturellen Gestaltung zugänglich sind. Ohne dieses politische oder persönliche Gestaltungsinteresse als Grundmotivation – das eine Gestaltungsmöglichkeit voraussetzt – ist die Theorie der Moderne nicht zu begreifen.
Wenn die Gesellschaftstheorie damit im Kern Theorie der Moderne ist, ergibt sich jedoch im historischen Verlauf eine Verkomplizierung. Während Autoren wie Weber, Durkheim, Tönnies und Simmel um 1900, als die letzten Ausläufer der traditionalen Gesell35schaftlichkeit verschwanden, ihre Gegenwart noch als die Moderne denken konnten, hat das, was man moderne Gesellschaft nennt, sich seitdem beträchtlich transformiert. Die Moderne hat – Stand 2021 – mittlerweile selbst mindestens 250 Jahre hinter sich, ist also keineswegs ausschließlich die Epoche unserer Gegenwart. Bei näherer Betrachtung wird deutlich: Die Strukturmerkmale der Gesellschaft um 1800 waren andere als jene der Gesellschaft um 1900, deren Merkmale aber schon nicht mehr identisch waren mit jenen um 1950, die sich wiederum von denen unserer aktuellen Gesellschaft unterscheiden. Dies heißt nicht, dass sich innerhalb der Geschichte der Moderne nicht auch Kontinuitäten und übergreifende Merkmale festmachen lassen, die sich über die Jahrhunderte reproduziert haben. Aber angesichts der hohen Selbsttransformationsfähigkeit der Moderne ist es alles andere als überraschend, dass sich eine Reihe ihrer Grundstrukturen tiefgreifend gewandelt haben. Dass die Moderne selbst eine Geschichte hat, stellt die Gesellschaftstheorie im 21. Jahrhundert somit vor neue Herausforderungen.
Insbesondere seit Mitte der 1970er Jahre zeichnet sich ab, dass die »neue« Gegenwart, die man zunächst »Postmoderne« oder »Hochmoderne« nannte und für die sich mittlerweile der Begriff der Spätmoderne – ebenfalls ein Behelfsbegriff nicht ohne Tücken – eingebürgert hat, im Zuge von Prozessen der Globalisierung, der Postindustrialisierung, der Digitalisierung und der Liberalisierung neuartige Grundstrukturen hervorgebracht hat, die sich von jenen der beiden Versionen einer »klassischen«, das heißt der bürgerlichen und industriellen Moderne grundsätzlich unterscheiden. Das wirkt sich auch auf das doing theory aus. Denn nur wer denkt, dass die Moderne zeitlos und unveränderlich ist – wir also in einer Posthistoire angekommen sind –, geht davon aus, dass man auch die Gesellschaft der Gegenwart kurzerhand mit den immergleichen abstrakten Merkmalen (Kapitalismus, funktionale Differenzierung etc.) begreifen kann. Paradoxerweise ist es gerade die Einsicht in die grundsätzliche Geschichtlichkeit der Mo36derne – nicht nur deren Entstehung, sondern auch ihres weiteren Verlaufs –, die es nur konsequent erscheinen lässt, dass die gegenwärtige Version der Moderne selbst eine hochspezifische und singuläre ist. Vor diesem Hintergrund entwickelt die Gesellschaftstheorie damit über die allgemeine Theorie der Moderne hinaus eine spezifischere zeitgenössische »Abteilung«: die Theorie der spätmodernen Gesellschaft oder kurz: die Theorie der Spätmoderne. In ihrer pointierten, öffentlichkeitswirksamen Zuspitzung kann diese im Genre sogenannter Zeitdiagnosen auftreten, als Version der Gesellschaftstheorie ist sie jedoch dezidiert mehr als eine solche Zeitdiagnose.[15] Zwangsläufig muss die Theorie der Spätmoderne dabei immer in Tuchfühlung mit der Theorie der Moderne insgesamt agieren, sei es historisch vergleichend, sei es mit einem Blick auf die Kontinuitäten. Ohne den Vergleich mit dem Alten lässt sich nicht abschätzen, was neu ist.
Aus meiner Sicht ist die Arbeit an der Gesellschaftstheorie als Theorie der Moderne im Allgemeinen und einer Theorie der Spätmoderne als der zeitgenössischen Phase der Moderne im Besonderen kein beliebiges Spezialproblem der Soziologie, sondern letztlich ihre Kernaufgabe. Die Vielfalt der empirischen Forschungen liefert Versatzstücke, die im gesellschaftstheoretischen Rahmen verarbeitet werden können und müssen. Die Herausforderung einer Analyse der Strukturen der gegenwärtigen Gesellschaft in ihrer Besonderheit, gerade weil diese neu, ungewöhnlich, ja überraschend ist und bislang taugliche Begriffe für ihr Verständnis fehlen, markiert gleichsam die Urszene der Entstehung der Sozial- und Gesellschaftswissenschaften im 19. Jahrhundert. Die offene 37Frage, welche die Soziologie von Anfang an gefangen genommen hat, lautet: Was ist das Moderne der Moderne? Dies ist die Problemstellung, die sie alle motivierte: Marx' Analyse der Dynamik des Kapitalismus, Webers Untersuchung der formalen Rationalisierung, Durkheims Analyse der fortgesetzten sozialen Arbeitsteilung und Simmels Untersuchung des Individualismus sind im Kern angetrieben von dem erkenntnisleitenden Interesse, ebenjener Strukturen der Modernität in ihrer unerhörten Novität, ihrer zunächst schwer begreifbaren Einzigartigkeit habhaft zu werden. Diese Urszene wird in der Geschichte der Soziologie immer wieder neu aufgenommen, aus ihr zieht die Disziplin ihre bleibende Faszination für das Neue der Modernität.[16] Die Theorien der Spät- und Postmoderne, die seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts die intellektuelle Bühne betraten – Daniel Bells Cultural Contradictions of Capitalism, Luc Boltanskis und Ève Chiapellos Der neue Geist des Kapitalismus, Ulrich Becks Risikogesellschaft oder Antonio Negris und Michael Hardts Empire, um nur einige Beispiele zu nennen –, sind vom selben modernetheoretischen Ziel motiviert: die historische Andersartigkeit der Gegenwartsgesellschaft in ihren Grundstrukturen und Dynamiken fassbar zu machen.
Damit beantwortet sich auch die Frage, wie das Verhältnis zwischen Sozial- und Gesellschaftstheorie zu denken ist. Obwohl grundbegrifflich für die Soziologie nichts elementarer ist als die Sozialtheorie, ist das Verständnis der modernen Gesellschaft doch der Fluchtpunkt des gesamten Unternehmens namens Soziologie. Zweifellos: Ohne Sozialtheorie, ohne eine grundbegriffliche Reflexion dessen, was das Soziale, die Kultur, die Macht etc. insgesamt sind, kommt keine empirische Analyse und keine Theorie der Moderne aus. Das sozialtheoretische Vokabular liefert den konzeptuellen Hintergrund dafür, welche Phänomene in welchen Zusammenhängen in der Gesellschaftstheorie überhaupt sichtbar wer38den können. Ein spezifisches sozialtheoretisches Vokabular – man denke etwa an die Rolle der Weltbilder bei Max Weber oder des Sakralen bei Durkheim, an das kommunikative Handeln bei Habermas oder an die Kommunikation als Beobachtung bei Luhmann – sensibilisiert dafür, bestimmte gesellschaftliche Zusammenhänge zu sehen, was impliziert, anderes entsprechend nicht zu sehen. Die Gesellschaftstheorie bedarf also der Sozialtheorie als notwendiger Vorbereitung, um ihre Arbeit zu tun. Umgekehrt gilt allerdings auch: Eine Sozialtheorie ohne Gesellschaftstheorie hätte etwas von Trockenschwimmen. Die Sozialtheorie kann kein selbstgenügsames Unternehmen sein; letztlich bereitet sie die Gesellschaftstheorie vor. Dabei lässt sich allerdings aus einem sozialtheoretischen Vokabular weder umstandslos noch zwingend eine bestimmte Gesellschaftstheorie ableiten. Die Gesellschaftstheorie kann kein bloßes Produkt der Sozialtheorie sein, denn die Zusammenhänge, die sie fokussiert, gewinnt sie nie aus einem allgemeingültigen Vokabular des Sozialen allein, sondern auch und gerade aus der Erfassung einer besonderen historischen oder gegenwärtigen Wirklichkeit.[17]
Auch für die Gesellschaftstheorie kann man analog zur Sozialtheorie einige Grundmerkmale feststellen. Die Gesellschaftstheorie befindet sich in einem doppelten Verhältnis zur empirischen Analyse. Auf der einen Seite baut sie auf empirischer Forschung und Erfahrung auf, ist auf Beobachtungen und Untersuchungen der konkreten Phänomene des Wandels von ökonomischen Strukturen oder politischen Systemen, von Familienverhältnissen oder kulturellen Strömungen angewiesen, um ihrerseits welthaltig zu sein. Eine gute Gesellschaftstheorie muss bestehendes Wissen für verschiedenste Teilaspekte der Gesellschaft – etwa für die Wirtschaft, die Politik, die Kultur etc. – umfassend aufarbeiten. Die Gesellschaftstheorie führt also Untersuchungen und Beobachtungen aus verschiedenen Dimensionen der Gesellschaft zusammen, welche ansonsten in der empirischen Forschung arbeitsteilig und häufig gegeneinander abgeschottet behandelt werden, setzt sie zueinander in Beziehung und entwickelt daraus eine Synthese, die den Zusammenhang unterschiedlicher Phänomene und Einzelstrukturen sichtbar macht. Die Gesellschaftstheorie erkennt so gewissermaßen den Wald, wo sonst nur einzelne Bäume gesehen werden. Hinsichtlich der Moderne kann man dabei idealerweise erwarten, dass die Gesellschaftstheorie – um ein Gesamtbild zu erhalten – Aussagen über die Strukturen und den Wandel erstens der Ökonomie, zweitens von Staat und Politik, drittens der Sozialstruktur (Gefüge sozialer Gruppen), viertens der Kultur (Ideensysteme und Wissensordnungen) und fünftens der Technologien macht. Man kann zudem erwarten, dass sie sechstens das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuen, also die gesellschaftlichen Subjektivierungsweisen und damit auch die typischen Praktiken der Lebensführung behandelt.
Die Gesellschaftstheorie baut jedoch nicht nur notwendig auf empirischer Forschung auf. Ist die Theorie einmal erarbeitet worden, vermag sie selbst auch empirische Forschung anzuleiten, sie 40offeriert ihr Grundbegriffe und Erklärungshypothesen sowie einen breiteren makrosoziologischen Kontext für ihre Detailuntersuchungen. Um ein Beispiel zu geben: Karl Marx' Kapitalismustheorie konnte nur entstehen und ihre Plausibilität gewinnen, weil ihr Autor den zur damaligen Zeit stattfindenden radikalen ökonomischen Wandel sehr genau verfolgt hat. Seither, das heißt nachdem sie einmal in der Welt war, kann diese Kapitalismustheorie nun ihrerseits in großem Umfang empirische Forschung motivieren und rahmen. Generell gilt also: Die Gesellschaftstheorie beweist ihre Fruchtbarkeit darin, dass sie einerseits bestehende empirische Beobachtungen und Forschungen in sich aufnimmt und informativ verarbeitet und andererseits neue Beobachtungen theoretisch erhellt sowie künftige Forschungen ermutigt. Man kann also feststellen: Eine gute Gesellschaftstheorie bietet ein empirisches Forschungsprogramm, eine Agenda für die kommende Forschung. Sie ist hierin selbst heuristisches Werkzeug. Diese doppelte Empirizität der Gesellschaftstheorie betrifft ihr Verhältnis nicht nur zur Empirie der Soziologie, sondern auch zu den anderen Disziplinen. Auch die Gesellschaftstheorie ist immer ein interdisziplinäres Unterfangen und bedarf der Zuarbeit etwa aus der Geschichtswissenschaft und aus den anderen historischen Fächern (etwa der Literatur- und Kunstgeschichte). Auch Politik- und Wirtschaftswissenschaft, Sozial- und Kulturanthropologie, Kulturwissenschaft, Sozialpsychologie etc. leisten ihren Beitrag. Allerdings kommt der Soziologie, da sie alle Teilbereiche und Dimensionen der Gesellschaft umfasst, zwangsläufig eine Schlüsselbedeutung für die Gesellschaftstheorie zu.
Entscheidend ist: Über ihre Synthesefunktion hinaus wartet die Gesellschaftstheorie mit einem theoretischen Mehrwert auf. Sie entwickelt eigene Begriffe für übergreifende Strukturmerkmale des gesellschaftlichen Zusammenhangs, mit denen sich die einzelnen Phänomene aufschließen lassen. Sie arbeitet ganze Strukturdynamiken heraus, so dass sich Prozesse und Transformationen analytisch zergliedern und erklären lassen. Analyse und Erklä41rungsmuster greifen damit ineinander. Begriffe für übergreifende Strukturmerkmale können – um einige klassische Beispiele zu nennen – solche des Kapitalismus, der Rationalisierung, der Säkularisierung, der funktionalen Differenzierung, der Individualisierung, der Disziplinierung, der Risikopolitik oder des symbolischen Klassenkonfliktes sein. Es geht der Gesellschaftstheorie regelmäßig darum, diejenigen Ursachen aufzuzeigen, die in einer bestimmten (oder gar allen) historischen Phase(n) für die Reproduktion der Strukturen von Gesellschaft verantwortlich sind, und auch diejenigen, welche die Transformation dieser gesellschaftlichen Strukturen erklären.
Der theoretische Mehrwert der Gesellschaftstheorie bedeutet also einen konzeptuellen Überschuss, der begrifflich zuspitzend über die empirischen Befunde hinausgeht. Darin liegen im besten Fall ihre Originalität und ihre Kreativität. Die Gesellschaftstheorie hat dabei typischerweise die Qualität eines – synchronen – umfassenden Tableaus der Zusammenhänge sowie einer – diachronen – großen Erzählung von Prozesslogiken. Sie bedient sich narrativer Muster (des Aufstiegs, des Verfalls, des immerwährenden Konfliktes, der immer neuen Enttäuschung etc.), sie präpariert Terminologien und Metaphern, um Zusammenhänge auszudrücken (Gesellschaft als Organismus, System oder Antagonismus; Akteure als betrogene Betrüger; stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit; List der Vernunft; Herrschende und Beherrschte etc.). Gesellschaftstheorie als Gesellschaftstableau ist also immer auch Gesellschaftsnarrativ.[18]
Da die Gesellschaftstheorie keine Theorie mittlerer Reichweite ist, lässt sie sich zwar empirisch unterfüttern und plausibilisieren, aber niemals in einem strikten Sinne empirisch beweisen oder widerlegen. Gerade für die Gesellschaftstheorie in ihrem hohen Ab42straktionsgrad gilt nämlich das, was W. V. O. Quine in seiner postempiristischen Wissenschaftstheorie als »Unterbestimmtheit der Theorie durch die Fakten« umschrieben hat: Die Theorie bildet nicht bloß Fakten ab, sie geht in ihrer Interpretation und ihrer eigenen theoretischen Komplexität über diese hinaus. Ein und dasselbe »Faktum« lässt sich – ähnlich einer Kippfigur in den Experimenten der Wahrnehmungspsychologie – prinzipiell in unterschiedlichen Theorien sinnvoll begreifen.[19] Die Gesellschaftstheorie liefert also eine komplexe und systematische Interpretationsweise, um die chaotische Fülle der gesellschaftlichen Tatsachen in ihrer Gesamtheit zu begreifen. Als ein solches heuristisches Angebot ordnet sie die soziale Welt unter einem bestimmten, selektiven Blickwinkel, der zweifellos beeinflusst ist von den gesellschaftlichen Problemlagen, welche die Theoretiker jeweils in ihrer Zeit wahrnehmen und die sich zwangsläufig ihrerseits wandeln. Totalität