Die gläserne Stadt - Klaus Möckel - E-Book

Die gläserne Stadt E-Book

Klaus Möckel

4,5

Beschreibung

Eine Stadt aus Glas gibt es im Land Xenturion, mit Häusern, in denen sich wieder und wieder die Sonnenstrahlen brechen, Bögen, Kuppeln, Flüsse, ganze Gebirge aus Licht schaffen. Die Menschen in dieser Stadt – eine Führungsschicht – sind stolz auf ihr Auserwähltsein und lassen nur den Verstand gelten. Aus gutem Grund, denn schon die kleinste Gefühlsregung kann Risse an ihrem schönen, doch zugleich zerbrechlichen Gebäuden hervorrufen und sie letztlich zum Einsturz bringen. Diese Erzählung, 1980 zum ersten Mal veröffentlicht, wurde vom Leser schnell als Hinweis auf die Brüchigkeit des bestehenden Systems verstanden, aber auch die anderen im Band enthaltenen Geschichten setzen sich nachdrücklich mit verknöcherten Verhaltensweisen und erstarrten Anschauungen auseinander. Da schickt ein Erfinder einen Fürsten aus dem 18. Jahrhundert in die Gegenwart, um zu beobachten, wie er sich ohne seine Vorrechte bewährt – er erlebt eine Überraschung; da gerät ein ach so ernsthafter Mann in eine Zukunft voller Possen – seine festgefügten Ansichten bekommen Sprünge; da ersteht ein Literaturkritiker eine neue Brille – er lernt Kunst völlig anders einschätzen; da wird in einem Land das Träumen verboten – groteske Verrenkungen sind die Folge. Mit poetischem Gespür und humoriger Hinterlist geschrieben, haben diese Texte nichts von ihrer Sprengkraft verloren. Das beweist auch ihr großer Publikumserfolg, ihr Erscheinen in verschiedenen Anthologien des In- und Auslands. INHALT: Der Irrtum Das Märchen vom Träumen Flusspferde eingetroffen Der Ernst des Lebens Die gläserne Stadt Die Brille Siebenquant oder der Stern des Glücks

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Impressum

Klaus Möckel

Die gläserne Stadt

Fantastische Erzählungen

ISBN 978-3-86394-169-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1980 im Verlag Das Neue Berlin. Die Roboterweisheiten und Planetensprüche wurden dem Buch "Wer zu Mörders essen geht..." von Klaus Möckel, erschienen 1993 bei Frieling & Partner GmbH Berlin, entnommen.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Der Irrtum

1.

Ich schicke ihn zurück, ja, mein Entschluss steht fest, ich werde ihn zurückschicken! Jetzt, wo ich die Möglichkeit vor mir sehe, wo ich, bildlich gesprochen, nur noch das letzte Relais anbringen muss. Heute war Regina da, und das hat den Rest meiner Bedenken hinweggefegt. Sie sah abgespannt aus, gelb im Gesicht, krank. "Er schafft mich", sagte sie, und in ihren schönen grauen Augen tanzten zwei irre Punkte. "Er ist so hinterhältig, so gerissen, du kannst es dir gar nicht vorstellen."

Ihre Stimme flatterte, ihre sonst ruhigen Hände krampften sich nervös ineinander, das linke Augenlid zuckte. Da wusste ich, dass ich nicht länger warten darf. Ein paar Tage noch, und ich bin soweit, die Versuche sind so gut wie abgeschlossen. Ich gebe zu, es war ein Irrtum, ein großer Irrtum sogar, aber wer hätte das auch ahnen können. Nun werde ich die Scharte auswetzen. Er wird zurückkehren, ihnen in die Hände fallen, und sie werden kurzen Prozess mit ihm machen. Die Eiche vorn am Schlossplatz, ein Fass, ein gutes Hanfseil, und vorbei. Er hatte die Chance, er hat sie nicht genutzt - mir bleibt keine andere Wahl. Ich glaubte die Geschichte ein wenig betrügen, sie in diesem winzigen Detail verändern zu können; es ist nicht geglückt. Fast zweihundert Jahre Unterschied, dachte ich, keine Titel und Vorrechte mehr, das wird ihm zur Lehre dienen. Aber nein, nein, nein! Solche Menschen sind überflüssig, ach was, überflüssig, gefährlich sind sie und höchstens von ihresgleichen zu ertragen. Wenn ihnen dann noch gewisse Umstände entgegenkommen, meinen sie, ihnen sei alles erlaubt. Graf Ernst-August von Frankenfeld-Birnbach wie damals oder einfach E.-A. Frankenfeld wie heute - der Name tut's nicht. Ich hatte trotz allem noch ein wenig Sympathie für ihn übrig, es war nicht nur das große wissenschaftliche Experiment, das mich reizte, es war auch der Gedanke: Dies könnte die härtere und damit wirksamere Strafe sein. Eine hilfreiche Strafe, die ihn im Innern treffen sollte. Und er wand sich ja, er wehrte sich mit Händen und Füßen. Doch wie schnell er sich dann umstellte, wie er sich anpasste, wie er ein anderer wurde und dennoch ganz der alte blieb, fast könnte es einem imponieren, wäre es nicht so von Übel. So niederträchtig und verworfen; mein Fehler, aber zum Glück kann ich ihn korrigieren.

2.

Er war schon als Kind hoffärtig, kein Wunder, bei seiner Ahnentafel und Erziehung. Ich kann mich nur an wenige Einzelheiten erinnern, zu lange ist das her, und ich hatte ja genug mit mir zu tun. Aber das eine und andere fallt mir doch ein, zum Beispiel die Sache mit den Sonnenrädern, Das muss so um 1770 herum gewesen sein, ich war damals vierzehn, er zwölf oder dreizehn. Sein Vater, der alte Graf, ein Hüne von Gestalt, knorrig und knurrig in einem, hatte meinem Vater, dem Schlossgärtner, irgendwelche Aufträge zu erteilen. Sie marschierten durch den Park, und in der Zwischenzeit inspizierte der junge Herr mein Reich, das sich im Geräteschuppen befand. In einem extra abgeteilten Verschlag, er beherbergte allerlei Gerümpel: Töpfe, Tonkrüge, eiserne Röhren, Glasbehälter, Spiegel. Vor allem Spiegel; in jener Zeit hatte ich auf die Kraft der Sonne gesetzt, und nichts anderes interessierte mich. Ich hoffte durch gebündelte Sonnenstrahlen nicht nur Wärme, sondern auch Energie erzeugen zu können (freilich gebrauchte ich damals einfachere Bezeichnungen). Vor allem hatte ich ein paar Spiegelräder erdacht, die sich gleich den Flügeln einer Weihnachtspyramide drehen und so eine Kutsche fortbewegen sollten. Ein unsinniges Projekt, ich gebe es zu, doch ich stand noch am Anfang, und es war mein ganzer Stolz.

Aber auf Gefühle haben die Frankenfelds noch nie Rücksicht genommen. Meine Sonnenräder forderten nur den Spott von Ernst-August junior heraus. Was bedeuteten ihm schon Erfindung und Erfindergeist, was verstand er davon - seine Welt waren die Pferde und das leichte Jagdgewehr, das er zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Von seinem Diener begleitet, streifte er durch die herrlichen tief grünen Laubwälder hinter dem Schloss, schoss auf Wildtauben und Kaninchen. Das füllte ihn aus, das war seine ganze Leidenschaft.

"Mit diesem Firlefanz will Er eine Kutsche zum Rollen bringen, Nickelas", sagte er zu mir, denn er redete schon als Kind mit der Zunge der Erwachsenen, "das ist ja lächerlich. Für Kutschen braucht's Pferde, das weiß der dümmste Bauer. Ich werde mit Seinem Vater reden, dass der Ihn mir als Zutreiber schickt. Dann verbringt Er seine Zeit wenigstens mit was Nützlichem."

"Für Kutschen wird's nicht immer Pferde brauchen, Prinz", erwiderte ich bescheiden, aber fest. "So wie's zum Schießen auch längst was anderes gibt als Pfeil und Bogen. Nur nachdenken muss man und experimentieren. Das nenn' ich die Zeit durchaus mit was Nützlichem verbringen."

Doch es passte ihm nicht, wenn man ihm widersprach, so wie es ihm heute, im Jahr 1977, nach einem so langen Zeitraum, noch immer nicht passt. Er duldete keine eigene Meinung und konnte von einem Augenblick auf den andern außerordentlich wütend werden. Er besaß eine kleine Reitpeitsche, mit der schlug er zuerst zornig gegen seine Stiefel und dann, als ich mich davon nicht beeindrucken ließ, sondern mich wieder der Arbeit zuwandte, unvermittelt auf meine Spiegel und Röhren ein, auf meine Räder, dass sie zersprangen und durch den Raum flogen.

"Da hat Er sein Nachdenken, seine Experimente, Nickelas."

Und weil in diesem Augenblick mein Vater dazukam, durfte ich noch nicht einmal aufbegehren, musste mich vielmehr entschuldigen und so tun, als ob ich tatsächlich im Unrecht wäre.

Ernst-August IV., er wusste schon als Kind, wie man es den Leuten gibt, besonders solchen wie mir, obwohl er nicht etwa ein Unhold war, ein Raubritter, ein Saufaus und Lodrian, ein Blutsauger, nein, er war nicht der Schlimmste seiner Kaste, besaß in gewissen Augenblicken sogar Charme (was sich bei den Frauen auszahlte, an denen er einen großen Verschleiß hatte). Vor allem aber besaß er etwas, das ich von heutiger Warte aus als Organisations- und Managertalent bezeichnen möchte, als die Fähigkeit, sich mit den Leuten zu arrangieren, die er für seine Zwecke auszunutzen gedachte. Damals zerschlug er meine Brennspiegel, später, als sich sein Vater bei einer seiner wilden Jagden durch den Birnbacher Tann das Genick gebrochen hatte und er vor Schulden nicht mehr ein noch aus wusste, ging er mir um den Bart. Eine Stelle an der Kurfürstlichen Universität hätte er mir verschafft, wäre ich ihm nur um eine Winzigkeit entgegengekommen. Er verlangte gar nicht, dass ich ihm Gold schmolz, er war aufgeklärt genug, um zu wissen, die Zeit der Alchimie war vorbei, selbst die Androhung härtester Strafen konnte das Wunder nicht zustande bringen (wenigstens das hatten ihm die Hohlköpfe von Pseudogelehrten, die er sich an die Tafel holte, seine Sterndeuter und sein Leibarzt, beigebogen). Nein, Gold verlangte er nicht, er wäre mit ein wenig Porzellan, mit glitzernden Steinen, künstlichen Brillanten oder Smaragden zufrieden gewesen, die er mir zutraute, aus dem Nichts zu erschaffen. Er wollte mir ein Labor einrichten, eine große Werkstatt, schon immer, behauptete er, hätte er mein Talent bewundert, was ich auch zustande brächte, es wäre ihm recht, wenn es sich nur zu Geld machen ließe.

Hoffärtig war er und oft geradezu, aber auch klug, wenn es um seinen persönlichen Vorteil ging, dumm natürlich im historischen Sinn, er kannte kein Nachgeben gegenüber den Bauern in seinem Herrschaftsbereich, auch nicht, als es jenseits der Landesgrenzen bereits grollte und in Frankreich die Große Revolution mit Blitz und Donner über den Adel hereinbrach. Er war klassenbeschränkt, das ja, aber sehr elastisch, wo er glaubte, Geschäfte machen zu können. Nur, dass er sie mit mir nicht machte. Was interessierten mich seine Edelsteine, was reizte mich schon die Kurfürstliche Universität.

In jenen Jahren arbeitete ich bereits an meiner ENTDECKUNG. Ich hatte das Problem noch nicht voll gepackt, aber ich näherte mich ihm auf spiralförmiger Bahn. Die Sonnenräder und Brennspiegel lagerten in den hintersten Kästen meines zum Experimentier- und Forschungslabor ausgebauten Kellers; die Sonne als Kraftquelle, gewiss, das war gleichfalls wichtig, dennoch hatte ich diese Arbeit zurückgestellt. Meine gesamten Bemühungen, mein Fleiß, meine Besessenheit, meine bohrenden, unermüdlichen Untersuchungen, Berechnungen und Versuche galten nur ihr, der großen, alles beherrschenden, alles überlagernden, alles durchdringenden Lebenskomponente: der Zeit!

Es waren glückliche Augenblicke. Ich war nahe am Ziel, sah bereits den Punkt, wo ich den Hebel ansetzen konnte, hatte die Einstiegsluke entdeckt. Mehr als ein Jahrzehnt hatte ich mich abgeplagt; nach dem Besuch der Kurfürstlichen Knabenschule und des Evangelisch-Lutherischen Kollegs von Birnbach, wo ich immerhin mit den neuen mathematischen Lehren Eulers und d'Alemberts in Berührung kam, hatte ich das kleine Erbe, das mir von meinem Vater verblieben war, nur zu diesem Zweck genutzt: zu finden, was noch keiner gefunden hatte, den Schlüssel zur Zeit. Sie hielten mich für einen Narren und zeigten mir's auch. Die Wasserköpfe am kurfürstlichen Hof. Die Bibliotheksgelehrten, mit denen der Graf Freundschaft hielt. "Da kommt honoris tempus", sagten sie, wenn sie mich sahen und glaubten sehr witzig zu sein. Wie heutzutage Dr. Grebusch, einer der Chefingenieure im Betrieb, der mich gern den kleinen Erfinder nennt, aber keine Ahnung hat, wie fern und zugleich nah er damit der Wahrheit ist. Dieser Grebusch ist dermaßen von seinem Wissen überzeugt, dass er es für eine Zumutung hält, noch etwas hinzuzulernen. Zwar würde er das nie zugeben, er behauptet eher das Gegenteil von sich, doch wehe, es kommt einer und sagt: "Die Konstruktion Eurer Keramiköfen ist längst überholt." Wie ich es ihm kürzlich klarzumachen suchte. Er stößt auf eine Mauer überheblicher Ablehnung

Insofern rechnete ich's Ernst-August damals eigentlich hoch an, dass er mit seinen Wünschen gerade an meine Tür klopfte.

Einen Augenblick lang lockte mich sogar der Gedanke, den Studenten das wahre Wissen zu vermitteln, sei's auch über den Umweg der Porzellanherstellung. Aber es ging nicht, ich durfte mich nicht verzetteln. Die Formel war's, die mich faszinierte und der ich mein Leben verschrieben hatte. Ich war kurz davor, die entscheidende Bresche zu schlagen.

Ich versuchte es ihm zu erklären, wohl wissend, dass er kein Wort begreifen würde, aber sein Vertrauen in meine Fähigkeiten schien mir dieses Entgegenkommen wert. Lächerliche Sentimentalität, ich hätte mich an die Sonnenräder und an seine Reitpeitsche erinnern sollen. Ich seh' ihn noch vor mir an jenem Tag, er hatte geruht, mich persönlich in meinem Haus aufzusuchen. Lässig saß er in meinem besten, mit grauem Plüsch bespannten Sessel, er hatte einen blauen, silberbestickten Rock an, und die mit kostbaren Ringen geschmückte Hand ruhte auf der gedrechselten Sessellehne. Er war ein schöner Mann, Ernst-August, ist es heute noch. Mit seinen breiten, etwas eckigen Schultern, seinem Cäsarenkopf und der vollen, dunklen Mähne, die inzwischen freilich stark ins Grau spielt. Ein schöner Mann, damals wie heute, im Gegensatz zu mir, der ich klein bin, flachbrüstig, unscheinbar. Der ich dünnes, strähniges Haar habe und ein Allerweltsgesicht. Lebendige, dunkelblaue Augen, gut, die hab' ich, hätte er mir nur einmal richtig in die Augen geschaut, er hätte mich wieder erkannt, trotz des gewaltigen Sprungs durch die Zeit. Aber das gehört ja gleichfalls zu solchen Leuten: Sie geben ihre Anordnungen, marschieren durch den Raum und palavern, nur in die Augen blicken sie dir nicht. Sie schauen über dich hinweg, durch dich hindurch, doch wer du im Innern bist, kümmert sie nicht. Selbst wenn sie äußerlich Interesse zeigen... Na, mir kam das sehr entgegen.

Damals war das auch schon so, ich versuchte ihm einen Begriff von den großartigen Erscheinungen zu geben, denen ich auf der Spur war, ihn die Zukunft wenigstens schnuppern zu lassen - er saß da in lässiger Eleganz, tat, als höre er mir interessiert zu, und war doch in Gedanken nur bei seinen Geschäften. Krämerseele, er erahnte den Genius nicht, der durch den Raum schwebte. Er verstand lediglich, dass er mit seinem Porzellan und seinen Steinen kein Glück bei mir hatte. Und wie bei den Sonnenrädern packte ihn auch diesmal die Wut. Seine Miene verdüsterte sich, er sprang auf und schob mit einem Ruck den Sessel zurück.

"Er sagt nein, Nickelas?"

•Der Herr Graf mögen verzeihen, ich hab' es zu erklären versucht, mir bleibt keine Zeit für diese Dinge."

" Keine Zeit, keine Zeit, ich habe eine Bitte an Ihn, und Er kommt mir mit billigen Ausreden. Sein Schacht durch die Jahrhunderte, welch ein hanebüchener Unfug! Aber so leicht kommt Er mir nicht davon. Er wird sich's überlegen. Sein Vater hat dem meinen gedient. Er dient mir. Er hat eine Frist von vierundzwanzig Stunden, keine Minute länger. Morgen Mittag gibt Er mir seine Zustimmung, sagt mir, was Er zur Arbeit braucht. Und keine Ausflüchte mehr, ich lasse mich nicht zum Narren halten. Meine Geduld hat ihre Grenzen." Hoheitsvoll-zornig rauschte er hinaus.

Was sollte ich tun? Ich kannte ihn, mir blieb nur die Wahl zwischen einem Lakaiendasein und der Flucht. Nach langem Nachdenken entschied ich mich für die zweite Möglichkeit. Es fiel mir nicht leicht. In der Nacht brachte ich meine Forschungsunterlagen, die wichtigsten Geräte und Tabellen zu einem unverdächtigen Freund, gegen Morgen überschritt ich die Frankenfeld-Birnbachsche Grenze nach Sachsen. Ich ließ die Gassen und Winkel zurück, die mir von Kindheit an vertraut waren, die Felder und Wiesen, die ich so oft in langen grüblerischen Spaziergängen durchstreift hatte, meinen Garten, mein Haus, die zum Glück wenigen Freunde und Bekannten und - was mich am meisten schmerzte - auch die Frau, zu der ich mich in letzter Zeit mehr und mehr hingezogen gefühlt hatte. Kathrin, die Küsterstochter aus dem Dorf Kleinbirnbach - ich werde später noch von ihr sprechen. Ich ging, ich zog die Leidenszeit im Exil der Sklaverei im eignen Land vor. Vielleicht war es trotz allem ein Fehler, aber wer will das immer so genau wissen. Jedenfalls konnte ich erst nach Jahren in die Heimat zurückkehren. Die Schwierigkeiten in der Fremde, die Not, die ich zumindest in der ersten Zeit litt, warfen mich in meinen Experimenten weit zurück. Auf fremdem Boden wollte die Arbeit nicht gedeihen.

3.

Nach alldem mag es erstaunen, dass ich gerade Ernst-August jene Chance einräumte, um die sich heutzutage jeder Bursche und jedes Mädchen mit nur fünf Gran Fantasie, jeder einigermaßen jung gebliebene Wissenschaftler reißen würde. Wir haben nichts, aber auch gar nichts gemeinsam, stehen auf diametral entgegengesetzten Positionen. Er diktatorisch, ich Demokrat, er dem äußeren Schein lebend, ich auf die Substanz der Dinge bedacht, er laut tönend in seinen Worten, ich zurückhaltend, er kleinkariert im Denken, ich... doch das könnte gar zu sehr als Eigenlob herauskommen. Er ist egoistisch, E.-A., obwohl er sich den Umständen der neuen Zeit angepasst hat und immer das Wort vom gesellschaftlichen Nutzen im Munde führt.

Er liebt es, sich wie ehedem mit einem Hofstaat zu umgeben, mit dienstbeflissenen Lakaien, er sieht auf sie herab, nutzt sie aus und regiert durch sie. Damals gehörte das zum System, doch jetzt? Ich erinnere mich an seinen Ersten Ratgeber, einen hageren Kerl mit spitzer Nase und dicken Augenwülsten, der versuchte, die zerrütteten Finanzen der Grafschaft in Ordnung zu bringen, und dem dabei jedes Mittel recht war. Er ersann ständig neue Steuern und liebte nichts mehr als Bürger, denen er wegen unrespektierlicher Äußerungen eine hohe Geldstrafe aufbrummen konnte. Hier hat es E.-A. tatsächlich geschafft, den gleichen Typ vor seinen Karren zu spannen. Er, der Betriebsleiter, entwickelt die hochfliegenden Projekte - Birke, sein ökonomischer Direktor, der Mann mit den Augenwülsten, bemüht sich um die notwendigen Mittel. Wie ähnlich die Bilder sind. Birke ist ein serviler Kerl, der eingestellt wurde, als der alte Ökonom in Rente ging. Drei Bewerber standen zur Auswahl, E.-A. hat den durchgesetzt, der ihm für seine Zwecke am genehmsten schien. Von dem er wusste, dass er ihm den Steigbügel halten würde. Die Arbeitsbedingungen in der Kunsttischlerei sind schlecht, jeder weiß es, die nötigen Gelder aber werden nicht bewilligt. Stattdessen wurden die Räume der Betriebsleitung innerhalb kurzer Zeit zweimal renoviert und umgestaltet. E.-A. hielt das aus Repräsentationsgründen für unbedingt notwendig, Birke stellte die finanziellen Mittel bereit. Oder die selbstherrliche Entscheidung des Betriebsleiters, Briefbeschwerer in Form des Frankenfeld-Birnbachschen Schlosses zu produzieren. Die von Hand bemalt und vergoldet werden mussten und die zu dem hohen Herstellungspreis keiner kaufen wollte. Die Leute in der Kalkulation waren von Anfang an dagegen, aber der Chef-Ökonom, der natürlich ebenso gut Bescheid wusste wie sie, behauptete, dass die Tradition gewahrt werden müsste. Ein Argument, das immer auftaucht, wenn andere Beweisgründe versagen. Später bekam dann die Abteilung Andenkenherstellung den Schwarzen Peter zugeschoben. Sie hatte im entscheidenden Augenblick nicht energisch genug protestiert.

Birke ist aber nicht der einzige, den E.-A. auserwählt und den er sich gezogen hat. Da gibt es Klaus Benjamin, Abteilungsleiter bei den Gestaltern und des Chefs Sprachrohr in der Gewerkschaftsleitung. Er gleicht, in diesem Fall weniger äußerlich als vom Charakter her, dem Fürsten von Klein, der seinerzeit gräflicher Kammerherr war. Das gleiche untertänige Gehabe, die gleichen leeren Reden, die dem Munde des Herrn abgelauscht sind. Benjamin ist der erste, der dem Betriebsleiter applaudiert, der letzte, der ihm widerspricht. Nur einmal, als es um die Jahresendprämie ging, war er anderer Meinung. Da war nach seiner Ansicht die Leistung seiner Abteilung nicht genügend gewürdigt worden. Selbstverständlich machte der Chef hier seinen Einfluss geltend, und die Sache wurde korrigiert.

Oder Manja Klotz, die Werbeleiterin, die seinen Ruhm in alle Presse- und Rundfunkbüros trägt. Jeder Erfolg, den die Belegschaft ermöglicht hat (vor allem unsere Imitationen von historischen Jagdwaffen sind Exportschlager), ist seinem persönlichen Verdienst zuzuschreiben. So kommt es wenigstens bei ihr heraus, wenn sie auch nie vergisst, allgemein auf die Leistungen der Arbeiterklasse hinzuweisen. Nun gut, Manja Klotz ist die Geliebte E.-A.s, warum denn nicht, die beiden geben ein ansehnliches Paar ab, sie ist fast so groß wie er und mit vielen äußerlichen Vorzügen ausgestattet, eine stramme rothaarige Person von gepflegtem Aussehen, stets elegant gekleidet, aber das ist noch lange kein Grund für diese ständigen Lobeshymnen. Wieder drängen sich mir Vergleiche auf. Ich brauche E.-A. und Manja Klotz nur auf einer Pressekonferenz zu beobachten und sehe vor meinem inneren Auge sofort das Bild jener Empfänge oder Festlichkeiten, da noch die Komtess von Rudow seine bevorzugte Mätresse war. Die "Diplomatin mit dem Schleier", wie sie im Volksmund genannt wurde, denn sie zeigte sich gern mit einem hellblauen Seidenschleier vor dem Gesicht und wurde vom Grafen immer dann zum Kurfürsten oder zum König von Sachsen geschickt, wenn seine Aktien nicht eben günstig standen.

Sie war ein wenig kleiner als Manja Klotz, die Komtess, zierlicher, wenn ich mich recht entsinne, doch gleichfalls gut proportioniert, rothaarig und vor allem - ebenso redegewandt. Was für jene Zeit etwas heißen wollte. Sie hatte ein Interesse, überall Ernst-Augusts Erhabenheit zu rühmen, denn nur auf diese Weise konnte sie ihre einflussreiche Position auf die Dauer behaupten. Gab es doch genügend Anfeindungen durch neidische Höflinge und die gekränkte, eifersüchtige Gräfin. Für Manja Klotz freilich existieren solche Gründe nicht. E.-A. hat nicht wieder geheiratet, er hat in dieser Hinsicht aus der Vergangenheit gelernt und sich die Hände frei gehalten. Ich glaube, die Werbeleiterin ist ehrlich von seiner Größe überzeugt. Mit seinem Auftreten, seinen großen Reden und Gesten hat er sie geblendet und nahezu hörig gemacht.

4.

Doch den Frauen habe ich noch am wenigsten vorzuwerfen. Die Liebe - das kann ich erst richtig beurteilen, seit ich Regina kenne - ist eine eigenartig verwirrende Kraft, die je nach dem Objekt ihrer Wünsche sehend oder blind macht. Wenn man jung ist wie Manja Klotz und es mit einem Mann zu tun hat, der sich stets bewusst in den Mittelpunkt stellt, aber auch von anderen in den Mittelpunkt gerückt wird, kann man schon dem äußeren Schein verfallen. Abgesehen davon, dass er ihr natürlich Urlaubsreisen nach Jugoslawien oder Bulgarien und seine Achtzigtausendmark-Finnhütte mit allen Extras zu bieten hat. So wie er der Komtess den alljährlichen Aufenthalt in sächsischen Bädern bot und das Lustschloss "Au soleil". Nur lagen die Dinge damals eben ein wenig anders.

Der Komtess hatte ich, wenn ich ehrlich sein will, sogar meine Rückkehr in die Heimat zu verdanken. Im Jahre 1786 war das, ich erinnere mich genau. An den Fürstenhöfen Europas war es nach dem Vorbild Frankreichs schon seit einiger Zeit Mode, mit der Aufklärung zu kokettieren. In Frankenfeld-Birnbach bemühte sich die Rudow um eine gewisse Weltoffenheit. Eine kleine Pompadour, wenn auch mit einigen Jahrzehnten Verspätung. Sie korrespondierte mit deutschen und französischen Philosophen, eine Zeitlang wohl sogar mit Diderot. Sie führte einen literarischen Salon, in dem freilich solche Narren wie der Pseudoastronom Kern und der Doktor von Rebus den Ton angaben. Der den Aderlass zum Allheilmittel für jede Krankheit erhob und auf diese Weise Patienten vom Leben zum Tod beförderte, denen mit ein paar feuchten Umschlägen hätte geholfen werden können. Doch über diese profanen Dinge sprach man bei den Gesellschaften selbstverständlich nicht.

In jener Zeit also war ich in Dresden und begann mir nach Jahren der Kargheit mit meinen Brennspiegeln endlich einen bescheidenen Ruf zu erwerben. Mein Leben hatte ich mir bis dahin recht und schlecht als Schleifer von Lorgnongläsern verdient. Eines Tages tauchte ein Bote der Komtess in meiner bescheidenen Behausung auf und überbrachte mir ihre Bitte, doch in die Grafschaft zurückzukehren. Ihre Bitte - dazu wäre Manja Klotz nie fähig! Sie appellierte an mein nationales Gefühl und versprach mir in verschlüsselten Worten, dass ich künftig unbehelligt meinen Forschungen nachgehen könnte. Ernst-August, so teilte mir der Bote vertraulich mit, hätte einen Chemikus gefunden, der ihm seine künstlichen Steine aus Ton erschaffen wollte.

Ein Scharlatan oder ein Verrückter, ich bedauerte ihn schon im Voraus. Und in der Tat, er brachte nie etwas zustande, steckte nur hohe Honorare ein und endete einige Jahre später folgerichtig im Turm.

Wie dem auch war, ich zögerte, ihr Angebot anzunehmen. Schließlich war ich im Begriff, in Sachsen eine Position und Freunde zu gewinnen, und besaß kaum noch Bekannte in Birnbach. Selbst Kathrin, die von mir erwähnte Küsterstochter, war verloren, sie hatte einen braven Fleischermeister geehelicht. Doch dann siegte trotz allem das Heimweh. Und die Überzeugung, mit meinem großen Versuch in der Fremde auf der Stelle zu treten. Es mag albern klingen, aber ich spürte: Nur der Ort, wo ich aufgewachsen war, der Heimatboden, der Raum, wo ich meine ersten Entdeckungen gemacht hatte, konnten mich inspirieren, mir die entscheidenden Anstöße für meine letzten wichtigen Experimente geben.

5.

Freilich, ich war klüger geworden; nach Birnbach zurückgekehrt, führte ich eine Art doppelter Existenz. An Ruhm lag mir nichts, ich war zu schwerfällig, mich in spitzfindigen Diskussionen oder gelehrtem Schriftwechsel zu behaupten. Ich tat das Notwendige: zeigte mich ab und an im Salon der Komtess, verfasste einige geschraubte, nichts sagende Artikel zu physikalischen Problemen, meist auf dem Gebiet der Optik, was mir ebenso nichts sagendes Lob durch die Hohlköpfe an der Kurfürstlichen Universität einbrachte. Die Komtess von Rudow war's zufrieden. Sie hatte einen verschrobenen Gelehrten mehr in ihrer Raritätensammlung, und hätte es nicht den im Stillen noch immer vorhandenen Groll ihres Geliebten gegeben, ich wäre zum "Gräflichen Erfinder Zweiten Grades" ernannt worden. Diese Würde wurde mir nicht zuteil, doch durfte ich zur Entschädigung die Lorgnons für Fräulein von Rudow und ihren gesamten Bekanntenkreis fertigen. Ich nahm gepfefferte Preise, lebte aber bescheiden - ich brauchte das Geld zu wichtigerem Zweck. Keinen Menschen ließ ich wissen, woran ich heimlich arbeitete. Sollten sich die so genannten Gelehrten ruhig über die Existenz oder Nichtexistenz der alles veredelnden Seele streiten, ihre Gottesbeweise entwickeln oder sie anfechten. Ich hatte wie früher in meinem Keller ein Labor eingerichtet, hielt es jedoch geheim. Die Tür war fugenlos in den Boden eingelassen und mit einem dicken Teppich bedeckt. Übrigens hätte ich, selbst wenn das weniger gefährlich gewesen wäre, kaum jemanden eingeweiht. Die Versuche, die ich dort unten durchführte, wichen zu weit vom Üblichen ab, als dass die Menschen um mich her sie verstanden hätten. Es ging mir um die Relativität der Zeit, ich wollte die Tage derart auseinander ziehen oder zusammenpressen, dass Sprünge über Jahrhunderte und Jahrtausende möglich wurden.

Dem Laien ist das schwer zu erklären. Wenn man davon ausgeht, dass für die Eintagsfliege eine Minute ebenso lange dauert wie für den Menschen, sagen wir ein Jahr, macht man sich vielleicht noch am ehesten verständlich. Für den Menschen bleibt das Jahr der Eintagsfliege eine Minute. Gelänge es nun, ihn für kurze Zeit psychisch und physisch so einzurichten, dass er hundert oder zweihundert Jahre als eine Stunde empfände und erlebte, wäre der Sprung geschafft. Die Zeit würde dann rasend schnell an ihm vorüberziehen, er aber fände das normal, würde kaum altern. Allerdings müsste, damit der Mensch in der Gemeinschaft von seinesgleichen weiterleben könnte, nach dieser Stunde (oder, wenn man so will, nach diesen zweihundert Jahren) ein Stopp erfolgen. Der Mensch müsste in sein Eintagsfliegendasein zurückkehren. Im Wesentlichen bestand mein Problem darin, das Hirn und den Körper des Menschen so vorzubereiten, dass er für eine Stunde, aber nur eben für eine Stunde, aus der Rolle der Eintagsfliege heraustreten konnte. Auch musste ich eine oder mehrere Zellen (tief in der Erde verborgen) konstruieren, die das Versuchsobjekt gegen schädliche Außeneinflüsse schützten und es beim "Erwachen" gewissermaßen automatisch in die veränderte Umwelt entließen.

Es war ungeheuer kompliziert, aber ich spürte, wie ich an Boden gewann. Chemie, Physik, Anatomie, ich musste mir Spezialkenntnisse auf vielen Gebieten aneignen. Vor allem in der Zoologie, denn mit wem sollte ich meine Experimente durchführen, wenn nicht mit Insekten und kleinen Tieren. Welch ein Triumph, als es mir zum ersten Mal gelang, besagte Eintagsfliege um achtundvierzig Stunden, also um etwa hundert Jahre, in die Zukunft zu schicken. Leider hatte ich damals noch nicht die Möglichkeit, ihre Rückkehr in die Vergangenheit zu gewährleisten und zu steuern.

6.

Ernst-August IV. begegnete ich in den ersten Jahren nach meiner Rückkehr in die Grafschaft nur selten, und wenn es geschah, wurden höfliche, belanglose Worte gewechselt. Es war eine Situation, die der jetzigen gleicht: Damals betrachtete er mich als einen im Grunde überflüssigen Narren, der ihm noch dazu einen Dienst verweigert hatte, heute sieht er einen kleinen, verschrobenen Arbeiter seines Betriebes in mir, der ein paar Neuerervorschläge gemacht hat, ihm aber wegen seiner Freundschaft mit der Querulantin Regina Flenz verdächtig ist.

Ich hüte mich übrigens, ihm allzu oft unter die Augen zu kommen, am Ende würde er sich noch erinnern. Wesentlich an meinem Experiment mit ihm war ja, dass die alten Bilder aus seinem Hirn gelöscht wurden. Einige Vorstellungen würden bleiben, das war mir schon damals klar, schemenhaft muss ihm wohl noch so manches aus der alten Zeit vorschweben, sonst hätte er sich nicht sofort der Antiquitätenherstellung verschrieben. Und auch das "von" hat er ja nur äußerlich abgestoßen. Vom Schuldgefühl dagegen, das ich ihm einpflanzen wollte, ist nichts mehr zu spüren, charakterlich stellt er noch genau das dar, was er einst war.

Doch wenn wir 1786 und in den folgenden Jahren auch kaum miteinander zu tun hatten, wenn er mich auch nicht beachtete - ich war schon gezwungen, ihn im Auge zu behalten. Schließlich konnte sich ein Stimmungsumschwung, ein erneutes Aufflammen seines Zorns sehr negativ auf meine weitere Arbeit auswirken. Außerdem war er nun einmal die Hauptperson der Grafschaft, weshalb jeder seiner Schritte, jede seiner Handlungen in der Stadt und den Dörfern ringsum Gesprächsstoff für eine ganze Woche boten. Ob ich es also wollte oder nicht, ich musste mich mit ihm beschäftigen. Und ich gebe zu, es war etwas dran an seiner Person. Wie es ihm gelang, Frankenfeld-Birnbach, diesem Zwergstaat, eine Stimme im Konzert der größeren Länder ringsum zu verschaffen, das imponierte mir. Der Mann besaß diplomatisches Geschick, und er wählte Leute zu Gesandten, die in Sachsen, Thüringen oder beim Kurfürsten beredte Vertreter seiner Interessen waren. Keiner der Anliegerstaaten konnte es wagen, gegen die Grafschaft vorzugehen, ohne zugleich die anderen Nachbarn zum Waffengang zu fordern. Wenn der Appetit auch groß war, Ernst-August band ihnen den Maulkorb vor. Er hatte sich abgesichert, bei Gefahr spielte er einen Nachbarn gegen den anderen aus.

Ja, er verstand es, seine Stellung zu behaupten, sich den Schein des Unabkömmlichen zu geben. So wie er es heute wieder versteht. Er schlug sich im richtigen Augenblick auf die Seite des Stärkeren, verbündete sich einmal mit den Katholiken, ein andermal mit den Lutheranern und scheute sich auch nicht, die ganz Großen zu Hilfe zu rufen, den König von Preußen, die österreichische Kaiserin. Das geschah allerdings nur, wenn er befürchten musste, seine mittelgroßen Nachbarn könnten ihn gemeinsam verspeisen. In unserer Zeit hat er weniger Spielraum, doch ich beobachte ihn bei den gleichen Manövern. Wie er den Kreis gegen den Bezirk auszuspielen versucht, den Binnenhandel gegen das Transportwesen. Mal spannt er die Gewerkschaftsleitung für seine Interessen ein, mal die Partei, und die Versorgung der Bevölkerung ist ihm nur so lange wichtig, wie sie in den offiziellen Berichten vor dem Export zu rangieren scheint. Ob bei seinem Vorgehen Lücken im Angebot entstehen, ob die Stimmung der Arbeiter wegen der vielen Überstunden auf den Nullpunkt absinkt, kümmert ihn nicht. War das ein Theater, als die Birnbacher Bierseidel mit dem Jagdfalken auf dem Deckel plötzlich in Kanada Anklang fanden. Der ganze Betrieb wurde umgemodelt, selbst die Kunsttischler und Bildrestauratoren mussten an die Keramiköfen. In den Läden der Stadt und des Kreises war monatelang kein einziger Bierkrug mehr zu entdecken, aber auch unsere gefragten einbeinigen Mahagonitischchen und die Birnbachschen Historiengemälde fehlten. Ein ganzes Jahr brauchte der Betrieb, um den gewohnten Rhythmus wieder zu finden. Zwei Kunsttischler hatten gekündigt, einer der besten Maler nahm seinen Hut. E.-A. freilich hatte seine Presse gehabt. Und seinen großen Erfolg. Obwohl der Betrieb anschließend in die Kreide geriet, war seine, des Herrschers, Position gefestigter denn je.