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Wenn heute die Finsternis abgeschafft wird … … wieso können wir dann im Staub nichts sehen? Wir befinden uns am Ende des Anthropozäns: Es ist die beste und die schlimmste aller Zeiten. Unter den Brücken der Selbstoptimierung haben Menschen Angst. Unter dem Vorwand der Liebe haben sie Hunger. Wir öffnen Türen, die ins Nichts führen. Locken Wölfe mit leeren Versprechen. Schwimmen im Meer ohne Anker. Bestreiten Irrfahrten, nie im Wissen, ob es die letzte ist. Suchen mit Fischernetzen in der Gischt nach Gerechtigkeit. Bettina Balàkas Lyrik setzt da an, wo wir schon aufgehört haben zu hoffen. Hier entstehen Verse, die unter die Oberfläche – durch die Zeit – dringen. The Kids Aren't Alright – aber waren sie das jemals? Sind die Phänomene, denen wir ausgeliefert sind, wirklich neue? Oder tragen sie nur ein anderes Kostüm? War es immer schon so? Wird es so bleiben? Mit den Menschen, die wie Gespenster ihre eigenen Biografien heimsuchen, reisen wir durch Portale in die Dimensionen und Gewalten unserer Gegenwart. Werfen neue Blicke auf alte Dinge, polieren blinde Spiegel. Bettina Balàka kommt ohne Plattitüden aus, fast schon knapp sind die Zeilen, die Schicht um Schicht abtragen. Am Ende bleibt der Kern, und die Autorin sammelt Zeilen, Früchte, Seelen. Schafft: Erinnerungen.
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Seitenzahl: 70
PFERDESTÄRKE
vergebens sprang ich auf die Züge
in großen Flächen und Gewändern
der Lesehunger führt uns durch Jahrhunderte
so kunstvoll waren die Sprachberge noch nie
Fische kratzen an meinem Bauch
man muss dem Körper dankbar sein
das Glück der Welt
rational betrachtet
an einem sonnigen Morgen im Traumland
ach ihr Welpen
der Werg und die Wegzehrung
zwanzig Jahre lang
der wortkarge Bauer
es gibt Heilung
Santa baby
das Christkind bringt
die Geschenke sind ausgepackt
CANDELA
betrunken habe ich mich
er putzt sein purifiziertes Lust-Ich
warum drehen sich die Kamine?
der Literaturvampyr
sie räumen mit gängigen Mythen auf
sie hat dieses Geschäftige
das Gefühl der Einsamkeit lässt sich
in der Verhöhnungshöhle
mir fällt mir fällt
sie wollen keine Schubladen
die Brücken der Selbstoptimierung
ich wollte, bevor ich sterbe
wenn jemand stirbt
nein ich bin nicht für euch da
die Sache ist die
sie fielen aus allen Wolken
FAHRENHEIT
Gewohnheiten, Gewohnheiten!
in Sussex, wo alle Bäume bemoost sind
ich hatte dich über die Maßen vermisst
ich habe mich daran satt gedacht
ich fühle mich schlecht
verkehrt herum hängen die Glocken
die Wolken sind wieder hübsch aufgefältelt
wenn ein Vogel so singt
die Noten haben Aromen
der Mond schleicht in die Steinstadt
Kaugummiflundern
die diebische Elster
mein Fledertier und ich
da bin ich nun auf dieser Erde
zwischen Universität und Landesgericht
die Sonne überschüttet dich mit Kalkmilch
der Loser ist so alt
SEEMEILE
silberne Tropfen klimpern
es war bestimmt der Wolf schuld daran
das Vermengen von Salz
die alte Sonnenwolke rollt heran
auf so einem Schiff
der Körper blubbert vor sich hin
alle Eltern sind Sommertiere
die Ruhe ist ein Segelboot
tief eingegraben in die eigene Höhle
die Geschäfte waren voll
niemand weiß es
als sich mir die Welt zu schnell drehte
in der finstersten Nacht in der finstersten
das Gewürfelte in ein Zentrum bringen
wie schön sich eines aus dem andern faltet
PHON
Wien, Schwedenplatz
Czernowitz 2018
Kreta 2022
Wife, Children and Friends
An meine Deutschlehrer (generisches Maskulinum)
Offen, bar
Familienfoto
Florians wundersame Reise über die Tapete
Der Rumpelstilz
Hafenstadt
Ohne viel Aufhebens
Lockdown
Welthandel
Der Hunger einer Ahnenfigur
Magic Moments in Major Motion Pictures
Abweichungen von Shakespeare
Die Stimme vom Minarett
Am Christtag Salzburg
Der Berg Batur
Die Wände
Zibetkatze
Über die Autorin
Weitere e-books aus dem Haymon Verlag
Impressum
VERGEBENS SPRANG ICH AUF DIE ZÜGE
und fuhr in achtzig Tagen um die Welt
ich kroch zum Mittelpunkt der Erde
und in das Herz der Finsternis hinein
Millionen hab ich schon umschlungen
und war doch immer nur allein
die Nachbarschaft kam täglich näher
und meine Wohnung wurde groß
vergebens lockte ich die Wölfe
die Schafe wurde ich nicht los
IN GROSSEN FLÄCHEN UND GEWÄNDERN
werden die Abendgeschichten hereingetragen
das Phantombrennen all
der abgetrennten Lieben
(die vor zehn Jahren verschwundene
bedarf genauso vieler Worte
wie die von letzter Woche)
das halbe Hirn sehnt sich nach Ergänzung
die linke Herzkammer
der falsche Fuß, mit dem man immer aufstehen muss
weil der andere fehlt
immer ist es das Größte und Wunderbarste
das auf den Stufen fernster Heiligtümer liegt
wenn sie nur erreichbar wären
mit ihren Teppichen, Harzen und Balsamen
wenn nur der Magen voll wäre
die Haut bestreichelt
das Ohr umsungen
dann könnte auch der Schlaf kommen
und das Sternfunkeln über der Wüste aufziehen
DER LESEHUNGER FÜHRT UNS DURCH JAHRHUNDERTE
Wale schnappen
schwarze Spinnen wuchern auf Wangen
blaue Blumen schwanken im verborgenen Gehölz
Menschen leben, lieben, leiden, sterben
und stehen wieder auf
aber wir werden nicht wieder aufstehen
wir werden rätselhafte versteinerte Knöchelchen sein
die Wale werden singen
die Spinnen weite Netze ziehen
und rote Blumen werden sich ergießen
über Ruinen und Rostkarosserien
SO KUNSTVOLL WAREN DIE SPRACHBERGE NOCH NIE
ziseliert, geschliffen, geschiefert, porös
man kann sie kaufen
in verschiedenen Ausführungen
gebrochen, gefräst, poliert
oder mit kleinen Zinnen
handlich sind sie
Bonsaigebirge für daheim
nur wenn man sie vergisst
und sich selbst überlässt
beginnen sie zu wachsen
sich an ihre innere Hitze zu erinnern
und werden wieder wild
FISCHE KRATZEN AN MEINEM BAUCH
machen Schrammen
doch es sind aufgeschnittene PET-Flaschen
in die eine Recycling-Fee
Sonnenblumen zu pflanzen versuchte
Plastikdrachen mit scharfen Rückenflossen
die sich zusammengefunden haben mit Kabelbindern
Wattestäbchen, USB-Sticks und Nummerntafeln
untergegangener Staaten
zu einem Superorganismus
mit Mündern, die an meinen Beinen knabbern
und Augen, die nichts sehen, nur schauen
während die alten Fische
zu den Stränden kommen
und an Land krabbeln wollen
sie bitten um Hilfe!
sagen die glücklichen Helfer
schneiden Netze ab, kappen Haken
und schieben die glitschigen Findlinge
zurück in die weiten, nassen Gewölbe
die ein Lärmnetz aus Bohrmaschinen
und Bootsmotoren zerdröhnt
MAN MUSS DEM KÖRPER DANKBAR SEIN
wenn er nichts krumm nimmt
und auf der direkten Route nach
Alaska verharrt
wenn er unterwegs keine Götter findet
die sagen: du hast einen Geist in der Bauchgrube
oder zumindest ein Gefühl
das dich in Zungen schluchzen lässt
wo die Robben spielen
hat man besser auch ein paar Spiele dabei
sonst kann es passieren
dass winzige Körperzellen auswandern
sich mit Bakterien verschwistern
und die Seele unter die
Eisdecke ziehen
DAS GLÜCK DER WELT
haben wir uns nicht nehmen lassen
acht Euro fünfzig sagt das Kassengeräusch
das Rascheln der Börse sagt null
neuerdings gibt es in der Stadt wieder Schlangen
anstehen um Essen
Bettler werden angebettelt
für andere Bettler zu spenden
und da stehen wir mit all unserer Bildung
Belastbarkeit, Dynamik und Flexibilität
wenn es kalt wird und rau
schlafen bei Freunden
die uns alles Glück der Welt wünschen
wenn es morgens wieder auf die Straße rausgeht
RATIONAL BETRACHTET
platzen die Wände
geborstene Rohre
kommen zum Vorschein
aus denen Gas, Wasser
Feuer und Stromschläge fließen
die Küchenzeile
gerät aus den Fugen
und Abfall, Abluft
Absonderliches quillt hoch
rational betrachtet
hält die Fliese nicht am Verputz
der Verputz nicht am Unterputz
der Unterputz nicht am Ziegel
in den Stroh hineingestopft wurde
alte Geldscheine, Kassiber
Erbbroschen und Zahngold
rational betrachtet
ist der Himmel ein Zimmer
und der Torwächterengel
ein leeres Gewand
AN EINEM SONNIGEN MORGEN IM TRAUMLAND
wenn die Otter im Tang auf dem Rücken treiben
Steine auf der Brust
gegen die sie mit Pelzfingern Muscheln schlagen
die verkrustet sind wie alte Bücher
(das Klack-Klack ein Steinbruchgeräusch
als ob Zwergenbildhauer Zwergenbüsten meißelten)
wenn die Wale in einem einzigen Ausschnauben
ganze Inseln in hundertjähriges Nieseln einhüllen
sodass den Bäumen Bärte wachsen
Zapfen, Schwämme und Eulennester
und ein Liebespaar versunken durch
den Sand stapft, gegen den Wind
gestemmt, Hand in Hand
öffnest du eine Tür
und stehst plötzlich
in einem Land voller Dürre
und Krater
und Menschenschlangen
die vorwärtsschlurfen
doch den Ausgang nicht finden
ACH IHR WELPEN
ich mach mir doch gar nichts aus euch
und auch die alten Holzhäuschen auf dem Hügel
die auf die denkbar unauffälligste Weise
renoviert werden sollen
und die Sprachgalvanik, mit der man seinen
Pfannenreis Pilaw nennt
und diese Reisen
auf denen man immer nur andere Reisende trifft
aus all dem mach ich mir auch nichts mehr
und ihr Vögel und Blumen und Verkehrsnachrichten
und Fußballspiele, Firmenfusionen
Sonnenuntergänge
im Sterben, sagt man, werden Chemikalien
im Gehirn ausgeschüttet
die wirken wie Drogen
schaltet die Geräte einfach ab
DER WERG UND DIE WEGZEHRUNG
der Berg und die Auszehrung
die Nacht und das stille Tal
das Fieber und der Krampfanfall
die langen Listen ohne Schrift
der Atem einer höhern Macht
die Arbeit und die Schrunden
das Spinnen, Singen, Kneten, Hauen
die alte gute Felsnase rinnt
die Graupelschauer dauern
von Hütte zu Hütte
ein Kind und noch ein und noch ein Kind
die Hochzeitstruhe wird verheizt
in Steinkleidung poltert man Tänze
Nacht und Stille im Erinnerungsstall
die kragenden Zacken
blinzelnden Spalten
alles in den Alpenfalten ist
wiedergängerisch, zwielichtig, kalt
keine Liebe gibt’s für euch
nur Nötigung und Not
damit die Sternlein prangen
und die Zibeben zuckrig sind
ZWANZIG JAHRE LANG
habe ich nun meinen Garten
nicht verlassen
jeden Tag nach getaner Arbeit
setze ich mich
auf irgendetwas, das schaukelt
und betrachte, was mit und ohne mein
Zutun gewachsen ist
die Sonne fließt noch einmal über den Horizont
als hätte ein großes Auge geblinzelt
und so eine Träne zerdrückt
Kirchenglocken äußern sich
mit formaler Strenge
die an den Rändern verwischt
kommt Marianne vorbei, sagt sie:
Lovelyn hat ein neues Erziehungsprojekt
ihr Mann soll „Schmutz sehen“
um ihn daraufhin entfernen zu können
es ist rührend
doch man sieht dem Ganzen
das Scheitern schon an
morgen kommen die Arbeiter
sage ich
um die periphären Unebenheiten
am hinteren Wildbach zu reparieren
der Troll, der im Schilf wohnt
pflanzt jede Nacht neue Unkräuter