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Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg in Wien: ein spannungsgeladener, psychologisch scharfer und detailliert recherchierter Roman."Eisflüstern" besticht durch die Intensität und Genauigkeit der historischen Details: einerseits das Wien der frühen 20er Jahre, wo die gerade abgeschaffte Monarchie noch ebenso in den Köpfen spukt wie ein sich langsam radikalisierender Antisemitismus, andererseits die Welt der Lager weit im Osten, die Gefechte und Schlachten in den russischen Steppen, das alles vereint sich in Balàkas distanzierter Betrachtung zu einem enorm kunstvollen Gesellschaftspanorama.Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg in Wien: ein spannungsgeladener, psychologisch scharfer und detailliert recherchierter Roman.
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Seitenzahl: 528
Bettina Balàka
Eisflüstern
Roman
© Literaturverlag Droschl Graz – Wien 2006
3. Auflage 2008
Umschlag: & Co
Herstellung: CPI Moravia
eISBN: 978-3-85420-850-1
Von diesem Buch gibt es 10 numerierte und mit einem Autograph der Autorin versehene Vorzugsausgaben, Informationen dazu beim Verlag.
Literaturverlag Droschl A-8043 Graz Stenggstraße 33
www.droschl.com
Once, I remember, we came upon a man-of-war anchored off the coast. There wasn’t even a shed there, and she was shelling the bush. It appears the French had one of their wars going on thereabouts. Her ensign dropped limp like a rag; the muzzles of the long eight-inch guns stuck out all over the low hull; the greasy, slimy swell swung her up lazily and let her down, swaying her thin masts. In the empty immensity of earth, sky and water, there she was, incomprehensible, firing into a continent.
Joseph Conrad
Und in dem Augenblick, da ich die Waffe gegen meine Schläfe hob, in diesem Augenblick erschien am Himmel ein ungeheures Meer von Glut, das loderte und brannte in einer Farbe, die ich nie zuvor gesehen hatte, und ich kannte ihren Namen, Drommetenrot hieß sie, meine Augen waren geblendet von dem Orkan der grauenvollen Farbe, Drommetenrot war ihr Name, und sie leuchtete dem Ende aller Dinge.
Leo Perutz
…Immerhin lege ich spielerischen Wert auf das Faktum daß ich gestorben bin. Dies fiel mit der Morgenröte der großen Zeit zusammen. Somit sieht man sich hier allerdings einem Spuk gegenüber. Aber solche Phänomene sind häufig, jedes ehrliche Gespenst schreibt seine mémoires d’outre-tombe, und alles kommt nur auf die Vitalität der Abgeschiedenen an.
Ferdinand Hardekopf
Man soll sich nicht scheuen, das Süße so zu nennen.
Joseph Roth
Ende September 1922
DÉJÀ-VU
Als Inspektor Julius Ritschl zum »Tatort« kam und die »Leiche« sah, musste er lachen.
»Das ist ja beinahe ein Kunstwerk«, sagte Dr. Prager.
Er sah sie von der Seite an, das Morgenlicht, das durch einen Spalt zwischen den Häusern in den Hinterhof schien, ließ an ihrer Schläfe winzige farblose Härchen aufleuchten, und er fand es sehr bedauerlich, dass sie wohl niemals heiraten würde. Tote waren ihr ganzes Glück. Mit Vornamen hieß sie Anna, aber den sprachen wohl nur ihre Eltern aus, mit denen sie lebte. Ritschl behandelte sie wie einen männlichen Polizeiarzt, mit dem Unterschied, dass er ab und an eine Tür für sie aufhielt. Das war nicht immer so gewesen, anfangs war er irritiert gewesen von den Röcken und hatte sie »Kindchen« genannt. Dann hatte sie oft gar nichts mehr gesagt, und es stellte sich später heraus, dass das, was sie nicht gesagt hatte, von äußerster Wichtigkeit gewesen war. Das heißt, sie hatte ihm, Ritschl, nichts mehr gesagt, sondern direkt mit seinem Vorgesetzten, Karl Moldawa, gesprochen. Und Moldawa war ein Duzfreund ihres Vaters, des alten Dr. Prager, des berühmten Chirurgen. »Wie ein Sohn« sei Moldawa für ihn, hieß es, so dass Anna Prager quasi als Moldawas kleine Schwester anzusehen war.
Das Skelett lag mitten im Coloniarium schön aufgebreitet auf einem Stück grünen Filzes, wie man ihn auf Schreibtischen oder Billardtischen verwendete. Eine Eberesche, deren Wurzeln die Steinplatten in allerlei schiefen Winkeln nach oben drückten, stand still darübergebeugt. Kiselak und drei andere Polizisten waren damit beschäftigt, die Hausbewohner zu den Stiegen 1 und 2 zurückzudrängen.
»Es gibt hier nichts zu sehen!« hörte Ritschl sie sagen, was natürlich ein kapitaler Unsinn war. Das Skelett zwischen den Coloniakübeln bot einen überaus interessanten Anblick. Die beiden Finderinnen standen etwas abseits, von einem weiteren Polizisten bewacht, und warteten darauf, von Ritschl vernommen zu werden. Als er zu ihnen hinging, versuchte er, wie immer, wenn Dr. Prager anwesend war, sein Hinken so gut als möglich zu verringern. Er wusste, dass es nicht zu verbergen war, er wusste auch, dass man ihn hinter seinem Rücken den »Hinke-Bischof« nannte. Sein Hinken hatte er von einem Kindheitsunfall davongetragen und »Bischof« wurde er genannt, weil er in seiner Schreibtischlade die Bibel, einen Katechismus und ein Psalmenbuch liegen hatte – in denen er angeblich während des Aktenschreibens bisweilen las, als würde er daraus Hinweise zur Klärung von Mordfällen erhalten.
Die eine Finderin war etwa vierzig Jahre alt, trug eine fleckenlose, gebügelte Schürze und war eine Hausbewohnerin. Die andere war etwa gleichaltrig, hatte das Haar zu bizarr abstehenden Knödeln verfilzt und sprach einen schwer verständlichen Dialekt, den Ritschl nicht einordnen konnte – offenbar eine Strotterin. Wie es schien, hatte es die Hausbewohnerin wie jeden Morgen auf sich genommen, noch bevor irgend jemand anderer auf den Beinen war, die Strotterin davon abzuhalten, in den Coloniakübeln nach Ess- oder Brauchbarem zu suchen. Seit es keinen Hausmeister mehr gab, weil niemand einen solchen bezahlen mochte, erzählte die Frau, kamen immer wieder »hausfremde« Personen ungeniert in den Innenhof und ins Haus. Ritschl warf einen schnellen Blick zu den Fenstern hinauf und schätzte das L-förmige Eckhaus als ehemals gutbürgerlich, aber in den Kriegsjahren heruntergekommen ein. Wahrscheinlich waren viele Bewohner weggezogen, Wohnungen waren geteilt und nochmals geteilt worden, Aftermieter waren eingezogen.
»Wie lange wohnen Sie schon hier?« fragte Ritschl die Frau mit der Schürze.
»Vier Jahre!« antwortete sie stolz. »Und vom ersten Tag an habe ich mit dieser hier Begegnung gemacht.« Sie deutete auf die Strotterin, die grinste. »Ist ja eh nix drin in den Kübeln! Manchmal hab ich ihr schon einen Teller mit Kartoffelschalen herausgebracht, damit sie irgendwas hat!«
Ritschl musste daran denken, dass seine Mutter früher immer hinausgegangen war, um die Katzen mit Essensresten zu füttern.
»Und heute morgen?« fragte er. Sie sei gleichzeitig mit der Strotterin im Innenhof angekommen, sagte die Frau, man hatte sich offenbar mittlerweile synchronisiert, aber bevor noch eine Debatte über Abfälle und unbefugtes Betreten einsetzen konnte, habe man die merkwürdige »Leiche« gesehen. Nun fiel ihr die Strotterin ins Wort und erzählte, sie habe Angst bekommen, man würde ihr etwas anhängen wollen, und so schnell wäre sie noch nie bereit gewesen, sich aus dem Innenhof zu verdrücken. Aber jetzt wollte die Frau, die sie Tag für Tag verjagt hatte, nicht mit der »Leiche« alleine bleiben und zwang sie hierzubleiben! War das nicht verrückt?
Keine der beiden hatte einen Dritten gesehen, jede bürgte für die andere, dass diese niemals imstande wäre, eine »Leiche« hier auf grünem Filz aufzubahren. Ritschl zweifelte daran nicht. In so einem Wiener Wohnhaus standen viele Leute schon mit oder sogar vor der Morgendämmerung auf, das Kunstwerk musste also in der Nacht mithilfe einer Lampe geschaffen worden sein. Ein Risiko, wenn auch der »Aufbahrungsort« vor einem guten Teil der oberen Fenster durch die Krone der Eberesche verborgen war.
Ritschl entließ die beiden Frauen und beauftragte Kiselak, die zurückgedrängten Hausbewohner kursorisch danach zu befragen, ob etwas gesehen oder gehört worden war. Kurz kehrte Ordnung ein, Stirnen runzelten sich, man legte eine Reihenfolge der zur Aussage Vortretenden fest. Doch es hielt nicht, immer mehr Leute kamen hinzu, Ärger, Rempeleien und Tohuwabohu brachen aus. Ein abgemagerter Choleriker wollte sich vordrängen und behauptete, er sei »Polizist«, wurde aber sofort wieder von der Menge in den Hintergrund geschoben. Was die Hausbewohner nicht wussten, war, dass Ritschl der Sache wenig Bedeutung zumaß, seinem Gefühl nach hatte er es weniger mit einer Leiche als mit einem archäologischen Fund zu tun.
Er ging zurück zu Dr. Prager, die neben dem Skelett kniete und einzelne Knochen aufhob, um an ihnen zu riechen und sie unter dem Vergrößerungsglas zu betrachten. Sie war in den letzten Wochen dazu übergegangen, weite, pyjamaartige Hosen unter ihrem weißen Kittel zu tragen, was zweifellos praktisch war. Manchmal, um die Routine aufzulockern, scherzten sie über die seltsamen Namen der Modefarben, über die Prager ihn auf dem Laufenden hielt.
»Was ist das für eine Farbe?« fragte Ritschl auch jetzt und deutete auf Pragers Hosenbein.
»Das war einmal ›beurre‹, bevor ich mich hier hingekniet habe.«
»Und wann war das einmal eine Leiche?«
»Vor dreißig Jahren, würde ich vermuten. Muss aus irgendeiner Gruft herausgeholt worden sein. Kleinere Teile wie einzelne Hand- oder Fußknochen fehlen, aber der Rest ist recht ordentlich arrangiert. Anatomisch korrekt.« Sie hielt Ritschl eine Skizze hin, die sie von dem Skelett gemacht hatte. Auch recht ordentlich, dachte Ritschl, aber wohl eine unnötige Fleißaufgabe. Er hockte sich hin, begutachtete den Beckenknochen und sagte: »Ein Mann.« Die Chancen standen gut, dass es sich um einen Mann handelte. Ritschl war sich nicht ganz sicher, die Öffnungen, Winkel und Abstände am Becken richtig gedeutet zu haben, so oft hatte er schließlich auch nicht mit Knochen zu tun, aber er hatte den Eindruck, diese Knochen wären von typisch robuster, geradliniger, männlicher Art.
»Ja«, sagte Dr. Prager, »an den Ossa pubica ganz deutlich.« Mit dem Zeigefinger fuhr sie die Wirbelsäule entlang: »Schwere Skoliose«, sagte sie fasziniert.
»Gewalteinwirkung?« Ritschl wurde ungeduldig.
»Nichts zu sehen.«
»Ich glaube, das hier ist nichts für uns. Jemand hat sich einen Scherz erlaubt. Dumme Buben.«
»Wahrscheinlich«, sagte Dr. Prager. »Was mich nicht loslässt«, fügte sie nachdenklich hinzu, »ist die Tatsache, dass ein Oberschenkelknochen fehlt.«
Das war ihm auch schon aufgefallen, allerdings hatte es ihn sofort wieder losgelassen.
»Das macht aus dem Kerl auch keine Leiche«, sagte Ritschl und hob den grünen Filz an seinen vier Zipfeln auf, so dass die Knochen in die herabhängende Mitte hineinschepperten. Er schüttelte sie, bis sie so gut lagen, dass man sie wie in einem Beutel forttragen konnte.
Als sie gingen, erzählte ihm Kiselak, er stünde unter dem Eindruck eines merkwürdigen Déjà-vu: er sei sich ziemlich sicher, er hätte den Choleriker, der Polizist sein wollte, vor ein paar Tagen bei Moldawa gesehen.
TEIGRAUSCH
Oberleutnant Balthasar Beck war schon seit drei Tagen in Wien, ohne seine Frau und sein Kind aufgesucht zu haben. Er saß im Türkenschanzpark und beobachtete ein Eichhörnchen, das Bucheckern herumtrug, ohne sie aufzuknacken und die winzigen, nussig schmeckenden Körner darin zu verzehren. Wie verwirrt rannte es Baumstämme hinunter und hinauf, durch das Gras hin und her zwischen den Bäumen, legte auch bisweilen eine Buchecker, die es lange im Mäulchen mit sich getragen hatte, wieder auf den Boden, um eine andere, offenbar schönere aufzunehmen und damit hastig davonzuhaken, als würde es von jemandem verfolgt, der ihm die Beute abjagen wollte. Beck konnte nicht feststellen, ob das Eichhörnchen die Buchenfrüchte tatsächlich sammelte, ob es zahllose Verstecke anfüllte, die es sofort wieder vergaß, ob tatsächlich irgendwo ein räuberischer Vogel lauerte, vor dem es auf der Flucht war, ob es planlos herumhüpfte oder gemäß einem eigenen, nur für Beck undurchschaubaren Plan. Manchmal hielt es sekundenlang inne, ließ die Buchecker auf die Vorderpfoten nieder und starrte vor sich hin, zitternd, durch die ganze Flanke pochte das Herz.
Nach einer Weile stand Beck auf, so dass das Eichhörnchen in langen Sätzen davonschoss, und begann die Taschen seines Waffenrocks mit Bucheckern zu füllen. Auch er suchte sich die schönsten aus, es waren ja genug da, im Geist teilte er den Boden in Streifen ein, die er schrittweise absuchte, als würde er Patronenhülsen suchen. Als seine Taschen voll waren, setzte er sich wieder auf die Bank, saß lange in der Herbstsonne, brach die haarigen Kapseln auf und zerdrückte die Kerne mit den Zähnen.
Nachts schlief er auf der Bank und genoss es, dass keine Wanzen da waren, die ihm das Gesicht zerbissen. Er lag auf dem Rücken, den Kopf angenehm erhöht durch den Tornister mit seinen Habseligkeiten, und sah zu den Sternen und den von den Stadtlichtern violett angeleuchteten Wolken hinauf. Links von ihm rauschte und knackte der Buchenhain, die Bucheckern tropften mit sanftem Aufschlag auf die Erde. Beck schlief und saß gerne auf einem Hügel, Steigungen zogen ihn instinktiv an, und auch Bäume zogen ihn an, je höher, desto besser. Manchmal dachte er daran, dass sich auf diesem Hügel einst das osmanische Heer verschanzt hatte. Der Polenkönig Sobieski hatte mit seinem Entsatzheer die Wienerwaldberge vom Leopoldsberg bis zur Sofienalpe besetzt. Die Befreiung Wiens war geglückt, und der Kaiser war in die Stadt zurückgekehrt, das war lange her. Früher hatte Beck eine sehr malerische Vorstellung von den Türkenkriegen gehabt, er hatte Prozessionen in bunten Märchengewändern, mit glänzenden Requisiten vor Augen gehabt, auch das war lange her.
Wenn er hinunterging von seinem Hügel und hinaus aus dem Türkenschanzpark auf die Straßen, interessierten ihn vor allem die Hunde und Pferde. Er sah den Droschken nach und den Fiakern und den vielen Wägen, die Lasten transportierten – einspännige, zweispännige, manchmal sogar vierspännige Gefährte –, den kleinen Wägelchen, die von stämmigen Hunden gezogen wurden, er bewunderte die schönen Jagdhunde, die präzise in gleichbleibendem Abstand neben ihrem Herrn herliefen, ebenso wie die Streuner, die schlau darin waren, irgendwo einen Bissen zu stehlen, und blitzschnell zurückwichen, wenn jemand versuchte, ihnen einen Tritt zu versetzen.
Einmal erregte eine schwarze Stute seine Aufmerksamkeit, die vor einen leeren Lastkarren gespannt war und am Straßenrand geduldig wartete. Wie Pferde, die lange stehen müssen, es zu tun pflegen, hatte sie ein Hinterbein entlastet und auf der Hufspitze aufgestellt, was ihr etwas Leichtes, Tänzerisches gab. Beck umkreiste sie ein paar Mal und sah dabei, dass der Karren in einfachen bunten Mustern bemalt war. Die Reihen von grünen Halbkreisen und roten Dreiecken und weißen Umrandungen wurden einmal schmäler, einmal breiter, einmal schief, dann wieder gerade, als hätte vor langer Zeit einmal ein fröhlicher Knecht sich an diesem Kunstwerk versucht, jemand, der genug Freude in sich hatte, sich die Zeit mit einem plumpen Pinsel zu vertreiben, doch nun war die Farbe fast gänzlich ins Holz zurückgewichen und von den Witterungen zerschabt.
Nach einer Weile, als der Kutscher noch immer nicht zurückgekehrt war und Beck annahm, dass dieser in einem der umliegenden Läden oder Wirtshäuser aufgehalten wurde, näherte er sich dem Pferd, wie es Pferden gebührt, vorsichtig von vorne, murmelte in jenem tiefen, beruhigenden Ton, mit dem man sich Pferde zu Freunden macht, begrüßende Worte, ho, ganz ruhig, so eine Schöne, so eine Brave, musst hier warten, und die Stute spielte mit ihren Ohren und senkte freundschaftlich den Kopf. Auf ihrer Kruppe lockte die Sonne kastanienfarbene Reflexe hervor. Ein ungarisches Halbblut, vermutete Beck, es hatte die wendige Eleganz der besten Reitpferde, überlagert von der muskulösen Statur eines baumstämmeschleppenden Försterrosses, und schwarze, rehartige Augen wie das Lieblingspferd eines arabischen Sultans. Um seine Nüstern wuchsen in größeren Abständen harte, lange Barthaare, über die Stirn hing ein dicker, geflochtener Zopf. Hinter den Ohren war ein Teil der Mähne zu einem weiteren Zopf geflochten, der an der rechten Schulter herabhing – als hätte derselbe zur Asymmetrie neigende Knecht, der den Wagen bemalt hatte, sich als Coiffeur dieser Stute versucht. Immer wieder fühlte sie mit vorsichtigen Lippen über Becks Handfläche, er wusste, dass es sie nach einer Rübe, einer Brotkruste verlangte, immer wieder hielt er ihr die leere Hand hin, um sie immer wieder zu enttäuschen. Er sah, dass sie frei von Ungeziefer, nicht zuschanden gehetzt und sorgfältig gepflegt war.
Er dachte an die prachtvollen, wie Prinzessinnen umsorgten Pferde in der k.u.k. Reit- und Fahranstalt in Schloss Hof mit seinem von zwei steinernen Löwen bewachten Exerzierplatz, und an den barocken Sandsteinbrunnen auf der anderen Seite des Schlosses, von dem aus man auf ein unendliches Österreich-Ungarn sah. Er dachte daran, wie er an windigen Sommertagen an der Ostseite des Springbrunnens gestanden war, um sich in dem zerstäubten Wasser zu kühlen. Er dachte daran, dass es lange Jahre in seinem Erwachsenenleben gegeben hatte, in denen er nicht geritten war, nicht reiten konnte, und versuchte sofort, diesen Gedanken zu vertreiben. Er versuchte sich vorzustellen, dass von demselben Brunnen in Schloss Hof, das auf einem Hügel lag, der Blick nun in ein fremdes Land fiel, das Tschechoslowakische Republik hieß, und versuchte den Gedanken zu vertreiben. Plötzlich hatte er Früchte vor Augen, die bunt im Blattwerk saßen wie Karfunkelsteine im Geröll, Zwetschken und Äpfel, Birnen und Marillen, das Obst war in großen Eimern gesammelt und an die Pferde verfüttert worden. Man hatte nach Übergabe des Lustschlosses an die k.u.k. Armee all die gestutzten Zierbäumchen in der barocken Gartenanlage gefällt und dicht an dicht Obstbäume gepflanzt, man hatte Obst angebaut eigens als Nascherei für die Pferde. In der angeschlossenen Meierei wurde der Rohstoff für die menschliche Speisekarte gehegt, es gab Ziegen und Kühe, Gänse und Schweine und glänzende Federwische von Kapaunen, die den ganzen Tag Kukuruzkörner pickten und goldenes Fett ansetzten dabei. Es war ein Ort, an dem Milch und Honig flossen und die Pferde auf die leiseste Fersenberührung, ein unsichtbares Zügelsignal reagierten, ganz ohne Peitsche und Sporen. Beck versuchte, auch diesen Gedanken zu vertreiben. Er dachte daran, dass er einmal einen Hund besessen hatte, der Simjon hieß und der vermutlich aufgegessen worden war. Beck hatte versucht, die Schlachtung des Hundes zu verhindern, passt mir auf auf den Simjon, hatte er gesagt, bis Simjon eines Tages verschwunden war und wohl nur mehr ein Haufen Knochen und etwas Fleisch auf den Knochen von Menschen, die ohnehin bald danach starben oder sich umbrachten, es sei denn, sie hatten die kühle Durchhaltelogik von Beck, der überlebt hatte für etwas, von dem er nicht wusste, was es war.
Er versuchte, sein Gesicht an die Wange der schwarzen Stute zu legen, aber sie hielt ihren Kopf nicht still. Ihm fiel auf, dass sie heftig an ihrer Trense kaute, da das Geschirr zu fest angelegt worden war. Er sah sich noch einmal um, ob sich der Kutscher blicken ließ, lockerte mit geübtem Handgriff die Schnallen und ging dann davon.
Einmal betrat er eine Bäckerei & Zuckerbäckerei mit der Absicht, einen einfachen Laib Brot zu kaufen. Von außen hatte das Geschäft sehr bescheiden ausgesehen – zumindest sagte sich Beck das immer wieder: von außen hat es sehr bescheiden ausgesehen – doch kaum stand er in dem Ladenraum, hatte er das Gefühl, in einer orientalischen Pfefferkammer zu sein. Es war früh am Morgen und der Duft der gerade erst erzeugten Mehlspeisen, des Milchbrotes und des mit geriebenen Kümmel- und Korianderkörnern gewürzten Schwarzbrotes fesselte ihn auf der Stelle wie der Flüsteratem eines Inkubus. Becks Auge glitt erschreckt über all die sich wölbenden, goldbraunen Formen, die zarten fünfspaltigen Rundsemmeln und die saftigen zweispaltigen Langsemmeln, die gewickelten Kipferln und geflochtenen Flösserln, er fühlte in seiner Vorstellung seine beiden Hände in so eine knusprige Kruste hineindrücken, bis sie splitterte und das flaumige Innere preisgab. »Kaisersemmeln« hatte man die großen, runden Semmeln immer genannt – ob sie jetzt »Republiksemmeln« hießen? Er mühte sich, über all das Lockende hinwegzusehen, wie bei schrecklichen Dingen nur einen ihn nicht betreffenden Schleier zu sehen, dabei stolperte sein Auge immer wieder über ein breites Blech mit Kuchen, aus dem geschälte Apfelhälften ragten, und der Duft des karamellisierten Staubzuckers, der auf ihnen glänzte, machte ihn schwach und schwindelig, wie kein Entsetzen und Alptraum es seit langem vermocht hatten. Plötzlich war Beck davon überzeugt zu halluzinieren, er hatte von Hungersnot und Hungerschlangen und Hungeraufständen gehört, er hatte gehört, dass die Brotlaibe geachtelt worden waren und selbst dann für die letzten in der Schlange nicht reichten. Im Hinterland des Großen Krieges sei ebenso gehungert worden wie dort, wo er gehungert hatte, in jener baumlosen, berglosen Kältesteppe an der Grenze zur Mandschurei – die ja, von russischer Seite besehen, ebenfalls Hinterland war. Er war überzeugt gewesen, dass die Hungersnot ein Leben lang dauern müsse. Sein Leben lang und das Leben aller, die nach ihm noch lebten.
Außer ihm war niemand im Ladenraum, auch kein Bäcker ließ sich blicken, seine Finger glitten immer schweißiger werdend über das Päckchen Geldscheine in seiner Hand. Er fühlte sich wie in einem Serail, betäubt von Düften und Anblicken, und, sollte er dieser Trunkenheit nachgeben, ins sichere Verderben geführt: am Morgen danach würde er gefesselt erwachen und einen Dolch an seiner Kehle spüren. Er wollte dieser Trunkenheit nachgeben, er spürte ihren Sog, so wie man gerade in der tödlichsten Kälte den Wunsch spürt, einzuschlafen und zu träumen, langsam zu erstarren und dabei im Kopf gleißende Bilder anwachsen zu sehen, anstatt immer wieder aufzuspringen, die Hände zusammenzuschlagen, den Tod zu verjagen, der seinen Sirenengesang angestimmt hatte und Trost versprach, der Erschöpften und Aufgegebenen Paradies. Doch Beck hatte sich selbst abgeschnitten von jeglichem Wahn. Er wusste, wenn er dem Wahn nachgeben würde, würde er alles hier hinunterschlingen in einem Zucker- und Fett- und Topfen- und Teigrausch, einen vollen Tag lang würde er alles wieder erbrechen, wahnsinnig werden und das Erbrochene wieder aufessen wollen, er würde im Erbrochenen nach Marillenstückchen und Karamellklümpchen suchen und sie verschlingen, er würde letztlich seinen eigenen Mund nicht wiedererkennen und in einem Rausch von Magensäure ewig erbrechen, er hätte alles vertan und würde sich ausbluten vor Ekel und Gier.
Als der Bäckersbursche endlich kam und ihn nach seinen Wünschen fragte, wählte Beck einen Laib Brot, der auf einem hinteren, dunklen Regal lag, der ganz flach war und grau und billig aussah. Fünftausendsiebenhundert Kronen hatte er zu bezahlen für einen Laib, der vor dem Krieg vielleicht sechsundvierzig Heller gekostet hätte. »Unser wohlfeilstes Brot«, sagte der Bursche. Vor dem Krieg hatte Beck zweihundertzweiunddreißig Kronen und achtundachzig Heller für Mariannes Brautgeschenk ausgegeben, ein goldenes Armband mit vielen bunten Steinen darauf, deren Namen er vergessen hatte. Rodolit? Citrin? Die Steine waren zu kleinen Blüten zusammengesetzt, die auf einem Relief von goldenen Blättchen und Ranken saßen, Beck fand diesen Schmuck zu kindlich, zu spielzeughaft für eine Dame, aber Marianne liebte ihn, sie liebte alles »Florale«.
Auf seiner Bank im Türkenschanzpark packte Beck ein feines leinenes Taschentuch aus, in dessen Ecke zwei kyrillische Buchstaben gestickt worden waren von einer Frau, die im Übrigen weder lesen noch schreiben konnte, sie hatte die Anfangsbuchstaben ihres Namens für Beck an Tagen abgepaust und eingestickt, an denen weiß Gott keine Zeit für derlei Sentimentalitäten und Kinkerlitzchen bestand, und wann immer Beck aß, breitete er sich dieses unsinnige Tuch über die Knie und legte jegliche Speise darauf. Er aß das wohlfeile graue Brot und dachte dabei »Roggen, Salz, Kümmel«, er aß sehr schnell, als könnte ihn jemand überfallen und ihm die Roggenbeute entreißen, er konnte nichts übriglassen und pickte zuletzt die Krümel sogfältig von seinem Tuch.
War das gerecht? War das anständig? Er hatte das Tuch von einer Russin geschenkt bekommen, der er Gründe gegeben hatte, ihn so zu bedenken, und nun war er nach sieben Jahren wieder in Wien und noch immer nicht daheim bei seiner Frau. Bei Marianne, deren Fotografie er in einem Frühjahr im Lager von S. begraben hatte, als der Frostboden aufgetaut war und die Leichen beerdigt wurden, er hatte einfach die Fotografie seiner Frau unter ungezählten Leichen mitbegraben, nachdem er gesehen hatte, wie all die verendet waren, die an Fotografien und Frauen und Sehnsüchten hingen.
Er hatte gewusst, dass er nur überleben konnte, indem er sich ganz und gar in eine innere Eiswelt zurückzog, in der ein Tag so bedeutungslos wie der andere verging, jeden Morgen fand er sich festgefroren an seiner Pritsche in einem Erdbunker, er hatte Mariannes Bildnis begraben in einem grauenvollen Leichenhaufen von Kameraden, ungezählte, die von den Pritschen herabgestürzt waren, die monatelang im Hof aufgestapelt lagen wie Scheiter, und die er mit anderen grauen Menschen im Frühjahr begrub.
Seit er sich vor etlichen Tagen von Fischer und Koutensky am Nordbahnhof getrennt hatte, war etwas mit Beck geschehen. Als hätte ihn die Gegenwart der Männer zum Offizier gemacht und als wäre er ohne sie nichts mehr, geschichtsloser Knochenmüll. Oder: Als hätten sie ihn festgehalten und er würde nun wegschweben, mit Heißluft gefüllt. Beck wusste nicht einmal, ob seine Frau noch lebte, und ob sein Kind noch lebte, von dem er überdies nicht wusste, ob es ein Bub oder ein Mädchen war. Er hatte keinen Plan übrig für etwas, das außerhalb seiner Kaiserwelt lag, an der er sich festgehalten hatte, und die es nach allgemeiner Zeitungsaussage schon lange nicht mehr gab. Alles Kaiserliche war des Landes verwiesen worden, und das Land nur mehr der Schrumpfkopf von einem Land.
VARIÉTÉ-WITZCHEN
Dass Sesta sich noch im letzten Moment das Rückgrat brechen hatte müssen, ließ Beck keine Ruhe. Er hatte Sesta erst in dem Lager an der Grenze zur Mandschurei kennengelernt und nicht wie Fischer schon in S. oder wie Koutensky noch früher, im Gefangenenlazarett. Er war also mit Sesta nicht durch S. hindurchgegangen wie mit Fischer und Koutensky, war mit ihm nicht im Güterwaggon am Baikalsee entlanggefahren, auf der Bahnstrecke, von der es hieß, dass unter jeder Schwelle die Leiche eines verdursteten oder erfrorenen Arbeiters lag, von denen sich viele unfreiwillig am Bau der Bahnlinie beteiligt haben sollten. Immer weiter nach Osten waren sie transportiert worden, durch endlose Zwischenlager, in denen Beck stets neues Expertenwissen in der Rattenvernichtung erwarb. Er erinnerte sich an riesige Blumenfelder als etwas Verrücktes, bis zum Horizont gelbe und feuerrote und rosafarbene Flächen von Blumen, die kein Mensch essen konnte und die nicht einmal der Zar und sämtliche Grafen bis hinauf ins Baltikum je an ihre Damen würden heften können, eine lodernde Blumenorgie bis zum Horizont, in der winzige graubraune Menschen sich bückten, und dann der Baikalsee, der groß wie ein Meer war und doch ganz und gar nicht beruhigend wie ein Meer. Mit jeder Schwelle, die sie überfuhren, gelangten sie einen halben Meter weiter nach Osten, Beck hatte jeden halben Meter schmerzhaft unter sich hinweggleiten gespürt, eine einzige Tagesreise konnte unendlich viele Schwellen und halbe Meter in Richtung Osten verschlingen, die genau die falsche Richtung war, immer weiter weg von Heim und Heimat und Heimkehr, Beck hatte im Güterwaggon Schwelle für Schwelle die furchtbarste Panik unterdrückt, obwohl er nie beim Anblick der furchtbarsten Waffe oder des furchtbarsten Feindes je Panik empfunden hatte. Er wollte sich in den süßlichen Blumengeruch hineinstürzen und Schwelle für Schwelle zurückkriechen nach Westen, die Toten unter den Schwellen kümmerten ihn nicht, er hätte liebend gerne jede Nacht nur durch wenige Zentimeter Erde von einem Toten getrennt geruht. Er wäre liebend gerne über tausende Tote hinweg nach Westen gekrochen, hätte tausende Schwellen und Tote umklammert und wäre im süßlichen Blumengeruch halb erstickt, anstatt diese tatenlose Panik ersticken zu müssen, nach dieser tatenlosen Panik auszuholen wie mit einer Fliegenklatsche und sie doch nie zu treffen. Es war das Schlimmste, das er je erlebt hatte, innerlich, obwohl er mit Fug und Recht sagen konnte, dass er über acht Jahre hinweg beinahe täglich hätte sagen können, er hätte das Schlimmste, das er je erlebt hatte, erlebt.
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