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Mari, Ahmad und Tarik wissen nicht weiter. Alle drei sind auf der Suche nach Trost und Errettung und finden sie nicht. Ahmad ist vor dem Krieg in seiner Heimat geflohen, stieß in den Niederlanden jedoch auf neue Hindernisse. Mari wollte ihn beschützen und lieben, aber es gelang ihr nicht. Und der ehemalige Soldat Tarik hat sich in ein abgelegenes Grenzgebiet zurückgezogen, doch sein Gewissen nagt an ihm. Dort trifft er nun auf Mari, die mittlerweile ihr Zuhause hinter sich gelassen hat, nachdem ihr idealistisches Projekt katastrophal gescheitert ist. Die drei Leben sind auf fatale Weise miteinander verflochten, die Geschichte droht sich zu wiederholen – und dennoch gibt es Hoffnung. Wytske Versteeg verfügt über eine besondere Menschenkenntnis, große Empathie und Scharfsinn. So schafft sie es, in äußerst prägnanten Bildern und Dialogen die Konflikte unserer Zeit in einen reichen, vieldeutigen Roman zu verwandeln. Ein lange nachhallendes Leseerlebnis.
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Seitenzahl: 307
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Wytske Versteegs eindringlicher und poetischer Roman umkreist die Herausforderung, das Richtige zu tun, auch wenn es allen Erwartungen widerspricht. Wie viel Mut braucht man, um Mensch zu sein? Und wenn man nichts mehr tun kann – was tun?
Wytske Versteeg
Die goldene Stunde
Roman
Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
»Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«
Friedrich Hölderlin
Das hier ist das Gegenteil von Zuhause. Das Land hier ist in sich gekehrt, der Boden hart und ausgezehrt. Namenlose Straßen, unnummerierte Häuser. Aus dem Lautsprecher der Moschee hallt fünfmal am Tag der Gebetsruf durch ganz Sarakina. Das Licht ist nachmittags so intensiv, wie du es kanntest, die Luft so trocken, wie du sie vermutlich gewohnt warst. Die Nacht ist schwärzer, die Dunkelheit dunkler, die Weite über mir überwältigend. Tagsüber suchen Tarik und ich nach Spuren von Menschen, die längst nicht mehr existieren, nach einer früheren Version der Erde, nach einem Moment, an dem noch alles möglich war, begierig verliere ich mich in einem Meer aus Zeit. Nicht weit von hier gibt es einen Tagebau, erst gestern sind wir daran vorbeigefahren. Einer der Berge wird von Baggern systematisch ausgehöhlt, sodass seine Flanke nicht mehr steil in bizarren Linien abfällt, sondern sich nach und nach in einen altmodischen Tetris-Turm verwandelt. Fein säuberliche Schneisen wurden in das Gestein gefräst; eine aufgeräumte Leere bedroht den Berg, eines Tages wird nichts mehr von ihm übrig sein. Schon bald wird niemand mehr erahnen, dass hier Jahrmillionen dieser Berg stand, und innerhalb weniger Jahrzehnte wird selbst die Erinnerung an die Erinnerung verschwunden sein.
Ich hätte eigentlich gedacht, dass uns mehr Tage, Wochen, Monate bleiben würden – vielleicht sogar Jahre. Der Abend, bevor du gegangen bist, hat sich angefühlt, wie alle anderen auch, erst im Nachhinein wurde er zu dem Abend, bevor ich alles verlor. Deshalb überraschte es mich, dass du sanft meine Hand drücktest, als wäre ich ein kleines Kind oder eine uralte Frau oder hätte etwas Schlimmes erlebt. Ich versuchte deinen Gesichtsausdruck zu entziffern, aber du sahst an mir vorbei durchs Fenster, hinaus in die Dunkelheit. Noch einmal hast du meine Hand gedrückt, und ich musste lachen über diese altmodische, aufmunternde Geste – leicht verlegen, weil sie mich zu jemandem machte, der nicht für sich selbst sorgen kann, der Trost braucht.
»Was ist denn?«, fragte ich.
Du hast gelächelt. Wenn du lächelst, zeigst du nichts von dir, im Gegenteil. Du lächelst wie ein Schulkind, das seine Lösungen verdeckt, damit der Banknachbar nicht abschreiben kann. Du hast gelächelt, als müsstest du an einen Witz denken, den ich nicht verstehen würde.
»Was ist denn?«, wiederholte ich.
»Was ist, was ist?« Du ließest meine Hand los, standst auf und gingst zum Fenster, pflücktest ein Blatt von der kümmerlichen Basilikumpflanze auf der Fensterbank und kautest nachdenklich darauf herum. Jetzt sah ich nur noch deinen Rücken, die schmalen Schultern unter deinem Lieblings- T-Shirt, Weiß auf Schwarz der Text: FOR THE LOVE OF BASS. (Du hattest die Angewohnheit, dich ans Fenster zu stellen, wenn es draußen zwar noch kalt war, aber die Sonne bereits schien: die Arme um den Oberkörper geschlungen, zur Scheibe gebeugt, vor lauter Sehnsucht nach ein bisschen Wärme.)
Von Anfang an haben alle nur gedacht, dass du was von mir willst, dass du mich bloß benutzt, um zu bekommen, was nur ich dir geben kann: das Bleiberecht oder einfach Geld. Aber da täuschen sie sich. Du hattest etwas, wonach ich mich gesehnt habe – etwas, was ich nicht in Worte hätte fassen können. Kein Wunder, dass du mich verlassen hast, ohne dich auch nur ein einziges Mal umzuschauen, während ich bei meiner halbherzigen Suche nach dir Hunderte von Kilometern zurückgelegt habe.
Bei meiner Suche nach dir oder dem Zerrbild, mit dem ich dich verwechselt habe.
Dabei ist das hier nicht mal deine Heimat, dort ist es nach wie vor zu gefährlich. Wenn du wüsstest, dass ich gerade hier bin, in dieser Grenzregion, in diesem Kaff, das Daresh so gar nicht ähnelt – du würdest mich auslachen. Aber wenn ich mich richtig erinnere, hast du Verwandte in den Bergen, vielleicht hast du sie ja regelmäßig dort besucht, hast nachts auf dem Hausdach geschlafen wie viele junge Männer hier und Maulbeeren gepflückt – was weiß ich schon von dir? Wenn du mal was erzählt hast, dann immer nur anfallsartig: stockend, hervorgesprudelte Sätze mit langen Pausen dazwischen. Dein Körper hat sein Gedächtnis ausgetrieben, es regelrecht ausgespuckt. Du hast nur Fragmente von früher in der Hand gehalten, Scherben eines zerbrochenen Spiegels: das ausgelassene Gelächter deiner kleinen Nichte; die Mosaiksteinchen im Innenhof, ganz rau an deinen Füßen; der Schaukelstuhl, in dem deine Mutter gerne saß. So gesehen, dürfte dieser Ort, dieser kahle Felsen, genauso gut geeignet sein wie jeder andere, um dich kennenzulernen.
Am liebsten wäre ich in eines von diesen alten Natursteinhäusern gezogen, die halb in den Berg gebaut sind und aussehen, als hätte jemand die Steine sorgfältig zusammengepuzzelt. Aber weil ich eine Fremde bin, die mit den richtigen Papieren aus der richtigen Weltgegend kommt, haben sie mir das Beste gegeben, was sie haben: einen Betonklotz mit vergitterten Fenstern, einen Tisch mit Plastiktischdecke und darüber eine Neonröhre, die ständig brennt, weil die Fenster so klein sind, um die Sonne fernzuhalten.
Bei früheren Ausgrabungen wich die Langeweile irgendwann immer einer Konzentration, die fast an Gleichgültigkeit grenzte. Das abgeteilte Stück Boden, über das ich vorsichtig mit meiner kleinen Schaufel strich, wurde zu einer eigenen Welt: Ob ich noch etwas finden würde, war mir längst gleichgültig. Diese Gleichgültigkeit löste sich sofort in Luft auf, wenn doch etwas zum Vorschein kam, war aber unverzichtbar, um die Stunden, Tage, Wochen zu ertragen, in denen nichts geschah. Das Einzige, was zählte, waren die Sandkörner, ein Grau, das sich kaum merklich vom übrigen Grau unterschied. Wenn ich wieder aufschaute, waren Stunden vergangen. So eine Trägheit erlebe ich auch jetzt. Mit Tarik drehe ich meine Runden, ohne jede Hoffnung, auf den von mir genauestens untersuchten Felsen doch noch etwas Interessantes zu entdecken.
Hier weiß ich nichts und kenne niemanden, nur die Namen der hiesigen Pflanzen habe ich nachgeschaut. Anfangs habe ich Tarik danach gefragt, doch der hat bloß mit den Schultern gezuckt und irgendwas Unverständliches gemurmelt. Das interessiert ihn kein bisschen. Jetzt sage ich ihre Namen im Stillen auf. Die zartrosa Blüten der Tamariske. Polei-Minze, die hier an Bächen mannshoch gedeiht und intensiv duftet. Mönchspfeffer mit seinen filzig behaarten Fingerblättchen, auch Keuschbaum genannt, um dessen violette Blüten Schmetterlinge flattern. Stacheliger Christusdorn, Gamander, Knorpelmöhre. Ich bin mir nicht sicher, ob das überhaupt die richtigen Namen sind, aber es gibt mir Halt, wenigstens ein paar Arten benennen, etwas begrüßen zu können, dem ich begegne.
Neulich hat Tarik eine alte Volksweise gesummt, und als ich wissen wollte, worum es da geht, hat er den Text für mich übersetzt. The houses have moved to the oasis. Erst dachte ich, ich hätte mich verhört, aber er blieb dabei: Die Häuser sind zur Oase gezogen. Seitdem sehe ich die Häuser am Tag ihres Aufbruchs vor mir, wie sie einfach so die Mauern lichten, sich kurz schütteln wie träge, aus dem Tiefschlaf erwachte Tiere. Wie sie sich nacheinander auf den Weg machen, Leere hinterlassen, wo sie einst gestanden haben – Spuren eines Lebens, das von nun an Geschichte ist. Auf einmal fiel mir wieder ein, wie ich als Kind auf einer Brache in unserem Viertel gespielt habe, die Halme hart und scharfkantig an meinen Beinen. Rücklings ließ ich mich ins hohe Gras fallen und bewegte die Arme hin und her. Dort, wo mein Körper alles plattgedrückt hatte, waren neue Räume entstanden. Räume, in denen ich ein neues, abenteuerliches Leben führen und jemand ganz anderes sein würde.
Schon bald nach meiner Ankunft merkte ich, wie absurd mein Vorhaben war. Der Bezirksleiter, der mich an der Bushaltestelle abholte und nach Sarakina fuhr, wies unaufhörlich darauf hin, welche Bedeutung dieses Projekt habe, welche Chancen es biete und was für eine Ehre es sei, dass eine so herausragende Wissenschaftlerin wie ich daran mitwirke. »Aber Sie sind jetzt bestimmt müde, ich lasse Sie dann mal allein«, wiederholte er immer wieder, um mir sogleich einen neuen Vortrag zu halten. Es grenzte an ein Wunder, dass er irgendwann tatsächlich in sein Auto stieg und davonfuhr.
Lange blieb ich noch draußen vor dem Haus stehen, das in nächster Zeit mein Zuhause sein würde. Vor meiner Abreise hatte ich der Universität gemailt, die Sarakina am nächsten lag, Hunderte Kilometer davon entfernt. Ich bekam eine höfliche, äußerst umständliche Antwort, die mir wortreich zu verstehen gab, dass die Prähistorie die Herren Professoren wenig interessierte. Die Felsmalereien sind vor ungefähr viertausend Jahren entstanden, in der Bergregion, die eine Grenze zwischen zwei Ländern bildet. In dieser Gegend wimmelt es nur so von Überresten alter Kulturen, aber ob Hethiter, Thraker, Byzantiner und vor gar nicht allzu langer Zeit das Osmanische Reich: Hier interessiert sich mehr oder weniger keiner für Felsmalerei. Es gibt andere, dringendere Dinge, und das Geld reicht schon hinten und vorne nicht, um die Kunstwerke zu restaurieren, die uns viel näher und historisch deutlich wertvoller sind. Wen interessiert da schon, was vor Jahrtausenden auf ein paar Steine gekritzelt wurde? Auch die Leute von Tourism for Life hatten keinerlei Erwartungen: Sie waren schon zufrieden, wenn ich mit ein paar Anekdoten und vielleicht noch mit einigen Fotos und Markierungen auf der Landkarte zurückkehrte. Mehr als ein paar Touristeninformationen waren ihrer Meinung nach nicht nötig. Ich hingegen war deutlich ehrgeiziger. Weil man mit Archäologie kein Geld verdienen kann, hatte ich mich vor einiger Zeit zur Sozialarbeiterin umschulen lassen. Meine Sommerferien verbrachte ich zwar nach wie vor gern mit Ausgrabungen, aber mein Arbeitsalltag bestand schon seit Jahren darin, Maßnahmen zu empfehlen und mich auf der sozialen Landkarte zurechtzufinden. Was nicht weiter schlimm war, wie ich mir einredete, die großen Archäologen der Vergangenheit waren schließlich auch bloß Amateure gewesen. Die Höhle von Lascaux wurde nur entdeckt, weil ein Hund in eine Felsspalte gefallen war. Wer weiß, worauf ich noch stoßen würde! Ich suchte nach einem neuen Betätigungsfeld, nach etwas, worin ich aufgehen konnte. Jetzt, wo ich auch als Sozialarbeiterin gescheitert war, gewann mein ursprünglicher Beruf wieder an Attraktivität. Erst im Rückblick erkenne ich, wie irrational meine Hoffnungen waren, die ich damals für selbstverständlich hielt.
Die ersten Tage nach meiner Ankunft waren verschwommen, unstrukturiert. Ich hatte gehofft, auf das lokale Gedächtnis zurückgreifen zu können, auf Wissen, das die Älteren noch hatten; auf Routen, die sie als Kinder zurückgelegt, auf Zeichnungen, die sie vielleicht gesehen hatten, ohne sie als das zu erkennen, was sie waren. Aber ich konnte mich nur mit Händen und Füßen verständigen, und die Hitze setzte mir zu. Ich schlief viel, weil ich mich nicht wachhalten konnte, schlief, um Teil des Landes zu werden. Die Hitze machte es nahezu überflüssig, etwas zu essen. Meist halbierte ich gegen Abend ein paar Tomaten, deren Saft auf den staubigen Boden tropfte. Sofort fanden sich Ameisen bei den feuchten Flecken ein, marschierten schnurgerade herbei. Wenn ich mich hinauswagte, dann nur, um in den kleinen Supermarkt zu gehen. Zu mehr war ich nicht in der Lage, und ich hatte das ungute Gefühl, es auch in Zukunft nicht zu schaffen. Im Vorbeigehen berührte ich verdorrte Grashalme, die Samenfussel verblühter Disteln, die erstaunlich zart sind für so eine dornige Pflanze, viel weicher als die schmutzigen Büschel Schafwolle, die hier und da hängen geblieben waren. In dem winzigen Supermarkt bewachte ein schnurrbärtiger Mann ein seltsames Sortiment aus Toilettenpapier, Werkzeug und Lebensmitteln. Auf seinem Taschenrechner zeigte er mir, wie viel ich zahlen musste, was jedes Mal erstaunlich wenig war, während mich seine beiden Töchter aus sicherer Entfernung kichernd anstarrten. Näheren Kontakt zu Dorfbewohnern bekam ich nicht, auch wenn ich grinste wie eine Geisteskranke, sobald ich durchs Dorf lief. Manchmal unternahm ich den Versuch zu winken, ließ meine Hand aber schnell wieder sinken, ehe es jemand gesehen hatte. Ein paar Frauen erwiderten mein Lächeln, während die meisten Männer den Kopf abwandten oder wenn überhaupt, halbherzig grinsten. All die Zeichen, deren Bedeutung ich nicht kannte, all die Menschen, von denen ich abhängig war. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, deine Ratlosigkeit ansatzweise verstehen zu können.
Am Abend des fünften Tages klopfte es. Ein großer unrasierter Mann in Badelatschen stand vor der Tür. Zuhause hätte ich ihn für einen Obdachlosen gehalten, doch hier fiel seine Kleidung nicht weiter auf. Sein Alter war schwer zu schätzen: Ende fünfzig, vielleicht auch älter.
»Hi«, sagte er. »Welcome to Sarakina.«
Aus seinen Händen formte er ein Gefäß, streckte es mir entgegen. Ich dachte, er würde etwas Lebendiges, etwas Zerbrechliches halten, einen Vogel vielleicht, aber es waren vier Pflaumen mit violett glänzender Schale.
»Thank you«, sagte ich. »I’m Mari.«
Ich sprach ihn Englisch aus: Mary, diesen seltsam altmodischen Namen, der nicht so richtig zu mir passte und mich zu Schulzeiten um Weihnachten herum stets zum Gespött gemacht hatte. Oft dachten die Leute, ich käme aus einer katholischen Familie, aber mein Name hatte höchstens indirekt etwas mit Religion zu tun: Das Hellblau von Marias Mantel auf frühmittelalterlichen Gemälden hatte meine Eltern auf die Idee gebracht.
»Mary«, wiederholte der Mann vor mir und hielt mir die Hände so unter die Nase, dass ich die Pflaumen notgedrungen annehmen musste.
»They’re beautiful, wie schön.« Keine Ahnung, was er von mir erwartete, warum er mir die Pflaumen anbot; wollte er sie mir zeigen, verkaufen, schenken? Dieses Land machte mich wieder zu einem Kind, ohne einen Führer war ich hilflos.
»Tarik«, sagte er und blieb abwartend stehen. Es dauerte, bis ich auf die Idee kam, ihn hereinzubitten. Das hatte ich mir in den letzten Jahren abgewöhnt: Leute, Freunde zu mir einzuladen.
»A drink?«, fragte ich. »Coffee, tea? Perhaps we can share your lovely plums?«
Ich hörte das Echo meiner Worte, die übertriebene Höflichkeit, die sich in meine Stimme schleicht, wenn ich verunsichert bin. Bei meinem zweiten Vorschlag schüttelte er den Kopf und zeigte auf mich: »For you, die sind für dich.«
Drinnen war es kühler als draußen. Ich füllte den Wasserkessel, entzündete das Gas. Die kleine Küche mit der langen steinernen Arbeitsplatte und dem an eine Gasflasche angeschlossenen Herd befand sich auf der Rückseite des Hauses. Ich hatte keine Angst vor dem Mann, aber umso mehr vor dem Schweigen, das sich zwischen uns einstellen würde. Ich war froh, ihm den Rücken zukehren zu können. Er ließ sich auf einen der Stühle fallen und machte sich klein. Ich stellte den Kaffee vor uns hin und trotz seines Protests auch die Pflaumen, die er sofort ostentativ zu mir schob.
»Was willst du hier?«, fragte er. Er schaute mich nicht direkt an, sondern fixierte einen Punkt neben meinem Kopf, so als müsste er sich anstrengen, aufmerksam zu bleiben. »Hier ist doch nichts.«
»Die Malereien. Auf den Felsen?« Keine Ahnung, was ich ihm sonst noch von meinem Projekt erzählen konnte.
»Ja«, erwiderte er dermaßen gleichgültig, dass ich mich fragte, ob er nicht längst wusste, weshalb ich hier war und eigentlich etwas ganz anderes, Wesentlicheres erfahren wollte, nämlich was mich hierher, an diesen gottverlassenen Ort, geführt hatte. Während wir Kaffee tranken, blieb es still, dann sagte er: »Ich helfe dir.«
Das war keine Frage und auch kein Angebot, sondern eine Feststellung. Nicht weiter schlimm: Allein würde ich ohnehin nichts auf die Reihe kriegen.
»Kennst du die Region gut, bist du hier aufgewachsen?«
»Nein.«
Ich wartete, aber er erklärte nichts weiter, fragte bloß, wie lange ich bleiben wolle. »Ich habe Zeit«, antwortete ich, »und zwar mehr als genug.« Es gab nichts, wozu ich hätte zurückkehren können, meine Stelle hatte sich in Luft aufgelöst, meinen Wohnungsmietvertrag hatte ich gekündigt und meine Sachen verkauft und verschenkt, bis nur noch so viel übrig war, dass es in wenigen Kartons Platz fand. »Ich habe Zeit«, wiederholte ich, ohne zu wissen, wofür genau.
Ich wollte nirgendwohin, als ich ins Flugzeug stieg, ich wollte nur noch weg. Ich wusste nicht, wie ich in dieser leeren Wohnung weiterleben sollte. Lange hatte ich ausschließlich gewartet. Wenn ich raus musste, mied ich das Paradies beziehungsweise das, was noch davon übrig war. Die Kleingartensiedlung hatte sich in eine schwarz verkohlte Müllhalde verwandelt: Die kahlen, staksigen Äste erinnerten an flehend ausgestreckte Arme, überall verbogenes Metall und halb karbonisiertes Holz. Natürlich hatte keine einzige Pflanze überlebt: keiner der Ableger, die wir bei Momo gezogen hatten, nichts von Johans Ernte und nichts von Ritas exotischen Pflanzen, die sie Herbst für Herbst ins Haus holte, um sie im Spätfrühling wieder nach draußen zu stellen, wobei sie mit jeder Pflanze sprach wie mit einem Kind. Nach einigen Wochen kamen Männer mit Kettensägen, um die Bäume abzuholzen und abzutransportieren. Bagger planierten die Trümmer und anschließend wurden Hochglanzschilder voller Verheißungen für die Zukunft aufgestellt. Ich machte extra einen Umweg mit dem Rad, um sie nicht sehen zu müssen. Ich hasste dich, vermisste dich, wartete darauf, dass du zurückkehren und mir alles erklären würdest. Ich veränderte nichts an meiner Wohnung und nichts an mir, sodass du das Leben, das du zurückgelassen hattest, nahtlos hättest wieder aufnehmen können … wozu es jedoch nie kam. Abends starrte ich auf die flimmernde Mattscheibe meiner Nachbarn und machte mir nicht mal mehr die Mühe, das Licht einzuschalten. Im Baum hinter meinem Haus saßen zwei Turteltauben, stets eng aneinandergeschmiegt. Ich schaute mir Filme über Wildschweine in den Straßen an, über Ziegenherden mitten in der Stadt, über Delfine in Häfen. Es gab Berichte von Wirtschaftseinbrüchen, gefolgt von der Nachricht, dass es eigentlich gar nicht so schlimm sei, zumindest nicht fürs Erste. Niemand schien sich entscheiden zu können, ob das nun eine Katastrophe oder eine neue Chance für die Menschheit war, sofort hieß es, das sei die Rache der Natur, die Wiederherstellung eines verlorenen Gleichgewichts. Eine Familie mit drei Kindern ertrank bei dem Versuch, den Ärmelkanal in einem Schlauchboot zu überqueren. Grenzen, die für uns seit Langem nur noch eine bloße Formalität waren, wurden wieder geschlossen, auch für uns. Und eine Ausgangssperre war nicht länger nur noch etwas aus dem Zweiten Weltkrieg.
Doch all das spielte keine Rolle mehr, ich betrachtete es wie aus weiter Ferne. Du warst verschwunden, Momo war in Schutt und Asche gelegt, nichts hielt mich noch hier. Momo, benannt nach meinem Lieblingskinderbuch, hätte eigentlich ein sicherer Hafen für unsere Gäste sein sollen – in den langen, leeren Stunden, in denen ihre Schlafunterkünfte geschlossen waren. Jetzt, wo von diesem Hafen nichts mehr übrig war, hatte auch ich jegliches Zeitgefühl verloren. Um irgendwas zu tun zu haben, ging ich in den Botanischen Garten und zog mich in die alten hohen Gewächshäuser zurück. Botanische Gärten haben etwas beruhigend Vorhersehbares: diese brav angeordneten Pflanzen neben kleinen Informationsschildern, dazu das Summen der Wärmelampen, das Tropfen von Wasser. Zunächst hoffte ich noch, etwas von dir zu hören, nein, ich war mir sogar sicher, dass du von dir hören lassen würdest. Vielleicht würdest du auch einfach wieder auftauchen, als wäre nichts passiert. Es war ja auch nichts passiert, zumindest nicht für dich, der du nichts mit dem Brand zu tun hattest. Bestimmt warst du einfach Freunde besuchen gegangen, hattest dein Handy irgendwo liegengelassen, meine Textnachrichten nicht gelesen, von dem Brand gar nichts mitbekommen. Aber je mehr Zeit verging, desto schwieriger wurde es, das noch zu glauben und auszublenden, dass du ausgerechnet in dieser Nacht verschwunden warst. Hinzu kamen die Blicke von Freundinnen, ihr lautes Schweigen, nachdem meine Lügen über deinen Aufenthaltsort längst alle Glaubwürdigkeit verloren hatten. Wie kann man nur so naiv sein, hörte ich zwei von ihnen murmeln, die dachten, ich wäre nicht mehr im Zimmer.
Momo war ein Experiment gewesen, ein improvisiertes Projekt, chronisch unterfinanziert, sogar für unsere Verhältnisse. Meine Vorgesetzte hatte mich dafür ausgewählt, weil das eine gute Wiedereingliederungsmaßnahme zu sein schien, nachdem ich monatelang ausgefallen war. Hierher kam allerdings eine ganz andere Klientel als die, die ich gewohnt war, und wir konnten ihnen bei Momo auch keine wirkliche Betreuung bieten. Ich hätte Glück, betonte sie: Es gebe so viele Leute mit Burn-out, und sie würde es allen gönnen, ein bisschen in einem Kleingarten rumzupusseln. Wir wussten beide, dass das mit Gönnen nichts zu tun hatte. Hier konnte ich nicht viel anrichten, hier war mein Überengagement kein Problem. Aber das machte nichts, denn kaum, dass ich Momo betrat, fühlte ich mich wie zuhause.
Das Paradies war 1935 errichtet worden und bisher von der allseits grassierenden Bauwut verschont geblieben: ein fragiles Wunder. Ständig drohte hier ein Neubauviertel zu entstehen, ein Projektentwickler hatte bereits Interesse an dem Grundstück angemeldet. Von den Kleingärtnern erfuhr ich, dass man das als eine Art Tauschhandel betrachtete. Mit der Beherbergung Momos glaubten sie die Gemeinde für sich einzunehmen, die sonst eher profitieren dürfte, wenn die Schrebergärten Wohnungen wichen. Es waren keinerlei Verträge geschlossen worden, es gab nichts Schriftliches, vielleicht war das Ganze bloß ein Missverständnis. Auf jeden Fall hofften viele Kleingärtner, dieses Entgegenkommen könnte weitreichendere Veränderungen verhindern und unsere Anwesenheit das Paradies retten. Aber der Rundbrief, der unsere Ankunft ankündigte, klang nicht gerade begeistert: Momos Gäste haben sich an die Regeln vom Paradies zu halten wie alle anderen auch. Dazu gehört, die Privatsphäre Dritter zu respektieren. Das Paradies erklärt sich bereit, Momo eine bislang ungenutzte Parzelle vorübergehend zur Verfügung zu stellen. Aber wie so oft dürfte »vorübergehend« auch in diesem Fall bedeuten, dass die Sache länger dauert. Hoffen wir also, dass Momos Gäste unser Entgegenkommen zu schätzen wissen, es keinen Streit gibt und sich das Umfeld nicht an diesen vorübergehenden Bewohnern stört. Leider habe ich anderswo schon gegenteilige Erfahrungen machen müssen. Das Ganze war mit »Johan« unterschrieben.
Der vollständige Vereinsname »Paradies durch Arbeit« war im Lauf der Jahre in Vergessenheit geraten, was keinesfalls bedeutete, dass hier nicht gearbeitet wurde. Im Frühling schaufelte der eine lehmige Erde, während ein Stück weiter ein anderer alte Farbe von seinem Gartenhaus abschliff und wieder jemand anders zufrieden seine Töpfe mit Blumenzwiebeln betrachtete, die sprießenden Stängel fein säuberlich angeordnet. Die mehr als hundert Parzellen vom Paradies waren durch schmale, asphaltierte Wege miteinander verbunden und wurden von niedrigen Buchsbaumhecken gesäumt. Größere Wege hatten Namen, die in bunten Mosaiksteinen zu lesen waren: Waldweg, Fliederweg, Morgenrotallee. An größeren Bäumen waren Tafeln aus glasiertem Ton befestigt, in die jemand den Artnamen geritzt hatte. Anfangs habe ich unendlich viel Zeit damit verbracht, von einem Baum zum anderen zu gehen und all die Tafeln zu lesen: Wassertanne, Robinie. Die Hecken beidseits der Wege sorgten für ein wenig Privatsphäre, aber zu viel durfte es dann bitte auch nicht sein! Jedes Frühjahr wurde freundlich, aber bestimmt darum gebeten, die Hecken zurückzuschneiden. Wir würden schließlich alle Wert auf eine gepflegte Kleingartensiedlung legen, wie es in dem Rundbrief hieß (ich konnte Johans Stimme förmlich hören). Einige Gärtner hatten einen Teil ihres Grundstücks eingezäunt, doch der Vorstand versuchte solchen Eingriffen entgegenzuwirken. Johan war auch Vorsitzender der Kommission, die jährlich die Gärten inspizierte. Offiziell sollte sie nur schauen, wer Probleme mit der Gartenpflege hatte, aber natürlich war es auch ein Kontrollgang, eine jährliche Prüfung, der ich immer schon Tage im Voraus mit Bauchschmerzen entgegensah.
Unsere Parzelle lag ganz am Ende des Wegs, an den Außengrenzen vom Paradies. Je nachdem, woher der Wind kam, war eine nahe Autobahn mehr oder weniger gut zu hören, außerdem führten in höchstens hundert Metern Bahngleise vorbei. Diese Gleise verschwanden allerdings in der Nähe unter der Erde, in einem von Schilf abgeschirmten Tunnel, was die Illusion einer weitläufigeren, unverbauteren Landschaft erzeugte. Im Paradies lebten viel mehr Vögel als sonstwo in der Stadt, aber das merkte ich nicht auf Anhieb, erst nach einer Weile fiel mir ihr Gesang plötzlich auf. Hier, wo die Hektik verstummte, nahm ich meine unmittelbare Umgebung viel besser wahr, und selbst die nahegelegenen Hochhäuser fielen nicht mehr so auf und verloren ihre Brutalität. Ich sah nur noch vage Formen, die bläulich im frühen Morgenlicht flirrten. Alles ist schöner, wenn man es aus der perfekten Entfernung betrachtet.
Die Kleingärtner lebten in einer Art Zwischenzeit. In den Fenstern sämtlicher Gartenhäuser hingen Plakate mit dem hoffnungsvollen Aufruf, das Paradies zu retten, dabei war die Siedlung längst dem Untergang geweiht. Es gab weiterhin eine Warteliste mit Leuten, die einen Kleingarten suchten, aber fast alle, die ausgewählt wurden, schreckten vor den aktualisierten Bedingungen zurück. Alle Liebe, alle Sorgfalt, die sie in ihre Parzelle steckten, konnten von einem Moment auf den anderen umsonst gewesen sein, sobald der Vermieter den Pachtvertrag kündigte. Es bestand die Gefahr, keinen Tag entspannt im Garten sitzen zu können, ohne Planierraupen zu fürchten. Das behauptete zumindest Johan, der als einer der alteingesessenen Kleingärtner für die Bewerber zuständig war. Er selbst besaß schon seit Jahrzehnten eine Parzelle gleich rechts vom Eingang, direkt hinter dem gemeinschaftlichen Insektengarten, gegen den er sich anscheinend heftig gewehrt hatte. Sein Gartenhaus stammte noch aus den Fünfzigerjahren, bestand aus ordentlichen, hellen Ziegeln und hatte ein kleines Solarpaneel auf dem Dach, dessen Leistung er genau notierte. Daneben befand sich eine Satellitenschüssel, mit der sich mehr Sender empfangen ließen. Vorn stand ein Strauch, der genau den Teil des Fensters abschirmte, vor dem keine Gardine hing. In seinem Gärtchen stand alles Gemüse in Reih und Glied. Es war eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Johan, der vermutlich das älteste Haus im Paradies besaß, Neulingen gegenüber vor allem dessen Endlichkeit betonte. Letztlich erreichte er damit das Gegenteil von dem, was er wollte, denn eben, weil so wenig neue Mitglieder nachkamen, hatte Momo überhaupt die Möglichkeit, sich im Paradies niederzulassen – »so lange, bis die Situation geklärt ist«.
Es war nie viel los bei Momo, der Platz war begrenzt und wirkte schon voll, wenn ein paar freiwillige Mitarbeiter und Gäste zusammensaßen. Die Freiwilligen waren unverzichtbar, machten aber größtenteils ihr eigenes Ding. Olav war ein Künstler, der vom autarken Leben träumte und Momo als Übungsterrain betrachtete, während Dolores mit ihren kurzen, grauen Haaren und ihrer Dreiviertelhose die Vormittage bei Momo gerade noch zwischen ihrem Literaturkreis, ihrem ehrenamtlichen Engagement bei der Kirche und diversen Besuchsdiensten unterbringen konnte. Sie ergötzte sich fast schon am traurigen Schicksal unserer Besucher und hörte nicht auf zu wiederholen, wie schrecklich das alles sei, diese armen Menschen! Dies wollte ich so schnell wie möglich abstellen. Einige Studenten halfen bei Finanz- und Rechtsberatung aus. Wir erklärten unseren Gästen, wo man günstig Lebensmittel bekam, und halfen ihnen beim Kampf gegen den Papierdschungel, mit Briefen, deren Inhalt sie nicht verstanden, und mit den Behörden, die aus lauter unverständlichen Abkürzungen bestanden. Manchmal ließen wir sie in unserer kleinen Küche etwas kochen. Sie bestand aus einem Mini-Ofen, einem Campingkocher und einer Granitplatte, die Olav aus einem Abrisshaus geholt hatte. Wir backten Kuchen, den wir für wenig Geld verkauften – der Apfelkuchen war vor allem bei dem jungen Ghanaer beliebt, der sich Valentino nannte, weil sein richtiger Name allen zu kompliziert war. Er kannte den Anfang aller europäischen Nationalhymnen und sämtliche Strophen der unsrigen. Auf seiner Flucht hatte er sich ständig nach der Geschichte der anderen erkundigt, nach der Stadt, in der sie gelebt, nach dem Beruf, den sie ausgeübt, nach den Menschen, die sie dort gekannt hatten. Diese Angewohnheit hatte er hier beibehalten, sodass man nie etwas über ihn erfuhr, aber trotzdem das Gefühl hatte, sich gut mit ihm unterhalten zu haben. Er redete wie ein Wasserfall und lachte viel. Seltsamerweise war er der Einzige, der wirklich glücklich wirkte – wobei ich nie wusste, ob es tatsächlich aufrichtiges Glück war oder nicht. Während seiner Anwesenheit ließ es sich jedenfalls nicht leugnen. Laut Valentino war es nicht weiter schlimm, einen anderen Namen zu bekommen: Namen seien nicht wichtig, so viele hätten ihren abgelegt, zurückgelassen wie einen zu eng gewordenen Kokon, es sei ein Luxus, seinen Namen behalten zu können. Keine Ahnung, ob er glaubte, was er da sagte, oder ob er log, um es uns leichter zu machen.
So wie die Kleingärtner um uns herum ihre Parzellen immer weiter perfektionierten, arbeiteten Olav, Dolores und ich mit unseren Gästen an Momo. Wir hatten die Wände himmelblau gestrichen und alte Stiche von Wolken aufgehängt. In den Ecken des Raumes hatten wir Zimmerpflanzen aufgestellt, die ausnahmslos vom Kompost gerettet worden waren, aber dank Olavs grünem Daumen jetzt üppig wucherten. Zwischen den Tischen huschten Saar und Jonathan umher, zwei von uns adoptierte Straßenkatzen. Unsere Gäste bemühten sich nach Kräften, die Zeit totzuschlagen, versuchten sich abzulenken von dem, was sie verloren hatten; manchmal von geliebten Menschen, aber noch häufiger von sich selbst, von dem, was sie einmal hatten werden wollen oder einst gewesen waren. Wer sich mit ihnen unterhielt, wurde mit einer Einsamkeit konfrontiert, die brannte wie eine offene Wunde. Manche verloren kaum ein Wort, während andere pausenlos von sich erzählten und uns nur als eine Art Echokammer benutzten. Während ich ihnen mit halbem Ohr zuhörte, stellte ich mir manchmal vor, wie der erzwungene Abschied von Momo aussehen würde, die halbherzige Leere vor dem Abriss, die lange Phase von Anpassung und Trauer.
In Wahrheit war dann von heute auf morgen rein gar nichts mehr da. Gemeinsam lief ich mit Dolores zwischen dem Schutt hin und her, rief nach Saar und Jonathan, die sich nicht blicken ließen. Dolores’ Gesichtszüge waren erstarrt. Vereinzelt liefen ihr Tränen über die Wangen, die sie gereizt wegwischte. Als Valentino auftauchte, der noch nichts von dem Brand mitbekommen hatte, zog sie ihn an ihren üppigen Busen und tätschelte ihm tröstend den Rücken, als wäre er noch ein Kind.
Während des Feuers hatte uns die Polizei in sicherer Entfernung gehalten. Es wehte ein heftiger Wind, und die Flammen griffen von Momo auf die umstehenden Gartenhäuser über, die dann ebenfalls lichterloh brannten. Die Feuerwehr löschte aus meiner Sicht eher halbherzig. Funken stoben in den Himmel, und ich versprach einem nicht-existierenden Gott alles Mögliche – Hauptsache, sie fanden dich nicht. Dann ein plötzlicher Knall von einer Explosion, vermutlich eine Gasflasche. Noch ein Knall, anschließend hastiges Beratschlagen der Feuerwehr, die sich bald darauf zurückzog. Fortan bewachte sie nur noch die Ränder des Feuers, um zu verhindern, dass es vom Paradies auf die umliegenden Häuser übergriff. Innerhalb dieser Grenzen tobte das Feuer wie etwas aus einem Horrorfilm, das zu lang unterdrückt worden und jetzt nicht mehr zu kontrollieren war. Es sollte nichts vom Paradies übrigbleiben. Hättest du in dieser Nacht im Momo geschlafen, was nicht das erste Mal gewesen wäre, hättest du keine Chance gehabt. Krimibilder von verkohlten Leichen suchten mich heim, ich hatte Magenkrämpfe, und mein Kiefer verspannte sich, weil meine Zähne gar nicht mehr aufhörten, gegeneinanderzuschlagen. Wieder versuchte ich dich auf dem Handy zu erreichen, wieder ohne Erfolg. Kränklich-blasses Licht kroch über den Horizont, langsam wurde es Tag.
Anfangs hatten die Kleingärtner vom Paradies einen großen Bogen um Momo gemacht. Vor allem die Älteren fanden unsere Gartengestaltung schrecklich. Von Gestaltung konnte eigentlich keine Rede sein, denn eben weil alles andere so abgezirkelt war, ließen wir die Kornblumen, den Klatschmohn und die Glockenblumen richtig wuchern. Aber Grenzen waren das A und O der Kleingartensiedlung. Der schmiedeeiserne Zaun, der sie umgab, maß an der höchsten Stelle mehr als zwei Meter, was Vandalismus verhindern sollte. An seinen Gitterstäben hingen Blumenkästen, was ihn allerdings kein bisschen weniger feindselig wirken ließ. Innerhalb der Umzäunung war jedes Fleckchen Eigentum das Ergebnis von Jahren auf der Warteliste und liebevoller Zuwendung, die es zum Blühen brachte. Jedes Fleckchen Boden ein eigenes Königreich, säuberlich voneinander abgetrennt. Die Neumitglieder der Siedlung betrachteten ihren Garten als willkommenen Erholungsraum, als Fleckchen Grün, das anderswo in der Stadt unbezahlbar geworden war. Die älteren Kleingärtner, sprich Johan und seine Truppe, sahen das vollkommen anders: Ein anständiger Garten brachte Ertrag; und Unkraut, wie sie es nannten, stand diesem Ertrag im Weg. Deshalb verlief ein breiter Graben durchs Paradies, und genau dieser Graben führte Rita erstmals zu uns. Sie schaue kurz auf einen Kaffee vorbei, sagte sie grinsend, sie wolle mal gucken, wer wir eigentlich seien. »Denn ihr habt die Leute hier ganz schön reingelegt.« Sie trug schwarze Leggins und ein T-Shirt mit Leopardenmuster, war so Ende sechzig, Anfang siebzig und hatte ihr Haar unnatürlich grell blondiert. »Die wollen nichts mit euch zu tun haben, oder?«, sagte sie zu mir und gleich darauf: »Egal, habt ihr einen Kaffee für mich?«
Sie trug eine Goldkette, nach der sie während unseres Gesprächs ständig griff, als wäre sie ein Rosenkranz. Auf dem Handy zeigte sie Fotos von ihren Enkeln. »Ich hab noch mehr«, sagte sie, nachdem ich das erste Bild bewundert hatte, und scrollte weiter. »Schau nur, was für kleine Schätze.« Sie hielt mir das Handy hin und wartete auf Bestätigung. Zwei schwarz gelockte Kinder auf einer Fleecedecke in Ritas Garten, die sich wahlweise über eine Gipskatze bückten, über einer Riesentüte Pommes lachten oder gemeinsam Autoscooter fuhren. »Vergesst nicht, wie wichtig diese Kleingärten für die Leute hier sind, das sind nicht bloß irgendwelche Parzellen. Johan hat seinen immerhin schon seit vierzig Jahren. Seit vierzig Jahren, das muss man sich mal vorstellen!«
Ich ließ Stille einkehren, aus Respekt vor Johans vierzig Gartenjahren, aber ohne mir die Mühe zu machen, mir tatsächlich vorzustellen, was das bedeutete, wie langsam die Zeit verstrichen war, während Johans Bohnen und Tomaten Jahr um Jahr brav gediehen.
Johan schien allgegenwärtig zu sein, man konnte ihm nicht entkommen. Er sprach mich immer mit »Hallo Sie« an. Das war nicht böse gemeint, gab mir aber das Gefühl, uralt und gleichzeitig noch ein Kind zu sein, das etwas falsch gemacht hat und nun zur Ordnung gerufen wird. »Hallo Sie«, pflegte er ernst zu sagen, »diese jungen Männer, die gehören einfach nicht hierher. Ich bin kein Rassist, denn genau in diese Schublade sollen wir gesteckt werden. Ich hab nichts gegen sie, aber sie gehören einfach nicht hierher.« Er machte eine kurze Pause. »Man kann hier schließlich auch nicht einen Orangenbaum pflanzen und davon ausgehen, dass er gedeiht, stimmt’s oder hab ich recht?«
Wir standen vor dem Vereinshaus, wo Johan einen neuen Arbeitsplan ausgehängt hatte. Im Teich drehten Goldfische träge ihre Runden, ihr Goldorange fast schon obszön vor dem grauen Beton, darüber ein Netz zum Schutz vor Reihern. »Hier ist einfach zu wenig Platz«, fuhr er fort, »zu wenig Platz für eure Ideen.«
Ich bejahte alles und begriff nichts. Wir waren von unseren guten Absichten überzeugt und nicht mal zum einfachsten Gespräch in der Lage. Unsere Stimmen waren zu hoch, unsere Worte unpassend. Um gleich Verständnis zu zeigen und um zu beweisen, wie gut wir es meinten, vergaßen wir Kleingärtner wie Johan zu fragen, was denn hier seiner Meinung nach so kostbar war und jetzt zu verschwinden drohte. Bestimmt hatten sie gemerkt, von Anfang an gespürt, wie sehr wir auf sie herabschauten. Aber das erkannte ich erst viel später, als es bereits zu spät war.
Wochen nach dem Brand begegnete ich Rita auf der Straße, sie saß in einem Elektromobil, das sie vorher noch nicht gehabt hatte. Ihr Hund Lodewijk hechelte zwischen ihren Füßen. Kurz überlegte ich, so zu tun, als hätte ich sie nicht gesehen, aber Rita hielt direkt vor mir auf dem Bürgersteig. »Was für ein Zufall, dass ich dich treffe!« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, wagte kein Wort über das zu verlieren, woran wir beide zweifellos dachten, nämlich an die schwarzverkohlten, noch qualmenden Ruinen und die versteinerten Gesichter der Kleingärtner im kalten Morgenlicht. Ritas rotes Gartenhaus fiel mir wieder ein, an dessen Tür ein Riesenaufkleber in Form eines Verbotsschilds geprangt hatte: eine Gestalt in einer Hängematte, darunter in Großbuchstaben HOHEITLICHE RENTNERSCHUTZZONE. Um diese Tür zu erreichen, musste man erst durch ein Gartentor, möglichst ohne über den Betonhund zu stolpern, der mit raushängender Zunge daneben saß, eine steinerne Kopie von Lodewijk mit einem Willkommensschild um den Hals –, um sich dann einen Weg zwischen Gartenzwergen, Katzen, Eichhörnchen und anderen Gipstieren hindurch zu bahnen, die von riesigen Tropenpflanzen umgeben waren. Von alldem war jetzt nichts mehr übrig. Rita wirkte deutlich älter, als ich sie in Erinnerung hatte, und das lag nicht nur am Seniorenmobil. Sie trug die Kriegsbemalung, die ich von ihr kannte, knallrote Lippen und Rouge, als stünde sie kurz vor einem Auftritt. Sie hatte mir mal erzählt, dass sie einen Aktkalender in ein Fenster ihrer Wohnung gehängt habe. Und als sich eine Nachbarin darüber beschwerte, habe sie ihn umgedreht, sodass die nackten Leiber jetzt nur noch durchs Papier schimmerten. Daneben ein Zettel: Wenn Sie mehr sehen wollen – hereinspaziert! Die Leute hätten sogar Gebrauch davon gemacht, erzählte sie, bevor sie ihr heiseres Raucherinnenlachen ausstieß, das stets in Husten überging. Äußerte man sich besorgt, winkte sie sofort ab.
Jetzt entdeckte ich eine Sauerstoffflasche an ihrem Seniorenmobil. Auf einmal bekamen ihre glänzenden Lippen und angeklebten Wimpern etwas Angestrengtes und wirkten wie eine misslungene Verkleidung.
»Johan ist tot«, sagte sie plötzlich vorwurfsvoll. »Hast du das gewusst? Das Herz.«
Sie starrte mich eine Weile an, ihre Hände mit den knallrot lackierten Fingernägeln umklammerten das Lenkrad. Ich murmelte, ich hätte es eilig.
»Na gut«, meinte sie, »na gut, dann will ich dich nicht länger aufhalten.«
Mit dem Gefühl, eine Gelegenheit verpasst zu haben, schaute ich, wie sie über den unebenen Bürgersteig holperte.
Erst nach monatelangem Warten begriff ich, dass du nicht mehr zurückkommen würdest. Den ersten warmen Frühlingstag gab es bereits im Februar, ein Jahr nach unserem Kennenlernen. Im Botanischen Garten döste ein älteres Ehepaar Seite an Seite in der Sonne, der Kopf des Mannes sackte langsam nach vorn. Die Ruhe wurde gestört, weil ein Ruderboot mit Studierenden vorbeizog. Ihre Stimmen hallten noch nach, als sie längst schon aus dem Blickfeld verschwunden waren. Scheiße, sangen sie. Scheiße, Scheiße, Scheiße.