Die Göttermythen der Edda - Uwe Ecker - E-Book

Die Göttermythen der Edda E-Book

Uwe Ecker

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Beschreibung

Die Göttermythen der Edda, verständlich erklärt. Vollständig überarbeitete und ergänzte Neuauflage.

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Seitenzahl: 558

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Dieses Buch schreibe ich als Unterstützung ihrer eigenen Überlegungen für alle, die sich aufmachen,die alte Kultur Europas wieder zu entdecken.

Der Mensch wird am Menschen weise, allein bleibt er blöde.

Edda, Havamál 57

Inhaltsverzeichnis

Eine Einleitung zur Mythologie Nordeuropas

Die Wikinger und ihre Kultur

Snorri Sturlusons Werke

Die Entstehung der Mythen und die religiöse Kultur des vorchristlichen Europa

Was heißt hier heidnisch?

Die römische Germanen-Barbaren-Propaganda und das heutige Heidentum

Die Herkunft des Begriffs ”Germanen”

Die Entwicklung des Germanenbegriffs in der Neuzeit

Die Folgen der römischen Germanenbilder in der Moderne

Konsequenzen für die nord- und mitteleuropäische Naturreligion

Die Wiederentdeckung des des nord- und mitteleuropäischen Heidentums

Der grundlegende Aufbau der Stifterreligionen (Sekundären Religionen

)

Der grundlegende Aufbau der Naturreligionen (Primären Religionen

)

Was ist Ásatrú?

Einleitung zur jüngeren Edda

Zur naturmythologischen Deutung der Mythen

Zur Gestalt Gylfis

Zum Prolog zu Snorris Edda Edda

Vorrede (Formáli

)

Gylfaginning (Die Vision des Gylfi

)

Bragaroedur, Die Reden des Bragi (Anführer/Dichter

)

3. Skaldskaparmál Lehrwerk der Dichtkunst (Skalda

)

Thors Kampf mit Hrungnir

Thors Fahrt nach Geirrödsgard

Lokis Wette mit den Zwergen

Die Niflungen und Giukungen

Fenja und Menja

Entstehung und Verfasser der Heimskringla

Der Inhalt der Heimskringla nach Kapiteln

Die Heimskringla als religiöse und als geschichtliche Quelle

Heimskringla (Weltenkreis

)

Noregs Konunga so un af Snorri Sturluson

Norwegens Könige nach Snorri Sturluson

Formali (Vorwort), Snorri Sturlusons Vorrede

Der Priester Ari der Kluge

1. Die Erdteile

2. Odin

3. Odin und seine Brüder

4. Der Vanenkrieg

5. Gefion

6. Odins Fertigkeiten

7. Odins Zauberkünste

8. Odins Gesetzgebung

9. Odins Tod

10. Freys Tod

11. Der Tod König Fjölnirs

12. Sveigdir

13. Vanlandi

14. Visburgs Tod

15. Dromalis Tod

16. Dromars Tod

17. Der Tod Dyggvis

18. Dag der Kluge

19. Agni

25. Der Tod König Auns

34. Ingjald der Arglistige

35. Önunds Tod

36. Die Brandlegung in Upsala

37. Hjörvards Heirat

38. Der Kampf Ingjalds und Granmars

46. Der Tod Eysteins

Die Bezeichnungen der Gottheiten nach der Skaldskapparmál

Sörla thattr eda Medins saga ok Haugna (Flateyabok

)

2. Von Odin und Loki

3. Überleitung

4. Über Halfdan

5. Als Göndul auf Hegin traf

6. Das Treffen zwischen Hethin und Haugni

7. Die Ermordung der Königin

8. Der Kampf Hethins und Haugnis

9. Ivar entscheidet die Schlacht der Heiden

Zur Völsi-Sage

Die Völsi-Saga

Erklärungen zur Völsi-Saga

Snorris Sicht der wikingerzeitlichen Religion

Nachtrag zur naturmythologischen und astralmythologischen Deutung

Verzeichnis der Abkürzungen

Über den Autor

Literaturverzeichnis

Index

Über dieses Buch

Auf die Eddas und Sagas stieß ich um das Jahr 1977 in der Stadtbibliothek Duisburg. Vielleicht gab es die Thulereihe dort, weil Duisburg im Jahr 881 von Wikingern besetzt war. Und obgleich eine ziemliche Faszination davon ausging, gelang es mir damals nicht, tiefer darin einzudringen. Allerdings reichte meine Berührung damit aus, mich zum Bau eines kleinen Hausaltars in meinem Zimmer anzuregen. Meine Begegnung mit dem Kernschamanismus des amerikanischen Anthropologen M. Harner reicht ins Jahr 1986 zurück. Schon allein die Vorstellung mehrerer Welten und ihrer Bewohner, wie wir sie auch in der skandinavischen Mythologie vorfinden, legte mir nah, dass es sich um eine zutiefst schamanisch geprägte Überlieferung handelt1. Was ja auch bedeutet, dass die grundlegenden Annahmen hinter dieser spirituellen Technologie auch den Hintergrund bilden, vor dem man die altskandinavische Überlieferung betrachten kann. Eigentlich hatte ich damals schon alle wesentlichen Bestandteile zu einem Verständnis des Heidentums zusammen. Es dauerte nur recht lange und bedurfte einiger Unterstützung, diese Grundlagen miteinander abzugleichen. Dieses Buch ist der erste von zwei Bänden, wobei der erste die Prosa und der zweite die Lieder der Edda behandelt. Diese, wie auch meine beiden nachfolgenden Bücher, beruhen auf Material, die ich in den Jahren ab dem Jahr 1987, als ich in Berlin auf Gleichgesinnte traf, sammelte oder selbst entwickelte. Hier lernte ich, die Eddas und die Sagas nicht einfach nur zu lesen, sondern Fragen an den Text heran zu tragen und so eine Beschreibung des geistigen und religiösen Lebens im hohen Norden vor der Annahme des christlichen Glaubens zu erstellen. Diese Fragen betrafen vor allem die spirituellen Welten oder Heime, und deren Beziehung zur stofflichen Welt sowie die Ritualistik, die eine Verbindung zu diesen Bereichen herstellt. Das sind eigentlich ganz einfache Sachen. Bei verschiedenen Gruppen bot sich mir die Gelegenheit, tief darin vorzudringen und auch die entsprechende Prüfung abzulegen und 1991 durch drei Ritualleitern zum Ritualleiter initiiert zu werden. Dieses Buch ist also insofern kein wissenschaftliches Werk, als es von einem religiösen Praktiker erstellt wurde und ich nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Distanz zum Gegenstand erhebe. Es geht mir auch nicht darum, einfach zu sagen, „so ist es“ oder „so ist es nicht.“ Vielmehr handelt es sich um den Bericht eines Menschen, der sich aufrichtig um ein Verständnis der alten Mythen bemüht, aus dem Gefühl heraus, dass darin sehr vieles von außerordentlichem Wert entdeckt und geborgen werden kann. Tatsächlich entdeckte ich vieles, was für mich und, wie ich bei meinen Freunden und Bekannten sehen konnte, auch für andere wertvoll und bereichernd ist.

Im Jahr 2007 habe ich mir auf der Suche nach einer neuen geistigen Heimat die verschiedenen hiesigen Gruppen im Bereich europäisches Heidentum/Ásatrú angeschaut. Soweit ich das nach dieser Sichtung zu sagen vermag, gibt es zumindest im deutschsprachigen Raum zahlreiche die Vereinigung, die in Theorie und Praxis, im Verständnis der Quellen wie in der rituellen Praxis gründlich und tief in die altskandinavische und altmitteleuropäische Naturreligion vorgedrungen sind. Als der Gedanke reifte, meine Text- und Kommentarsammlung nicht als Heftereihe, sondern als Bücher zu veröffentlichen, ergab eine erste Sichtung Material für wenigstens vier thematisch unterschiedlich gelagerte Werke. Das erste ist dieses, also die spirituellen Texte der Eddas samt deren Auslegung, gefolgt vom 2. Band über die Lieder der Edda und dann von einem praxisnahem Buch über die Feste der nord- und mitteleuropäischen Heiden, dann ein Werk über den skandinavischen Schamanismus und endlich eines über den Gebrauch und die Magie der Runen. Soweit meine Planung.

Für dieses Buch, meine Erläuterungen und Betrachtungen zur eddischen Überlieferung lege ich die Übertragung von Karl Simrock zugrunde, weil sie unter den inzwischen urheberechtlich freien meines Erachtens die beste ist. Diese Übertragung vergleiche ich mit den Abschriften der isländischen Originale, um inhaltlich und vom Stabreim her, sowie bei der Liederedda auch vom Versmaß her und bezüglich der Sangbarkeit möglichst nah ans Original heran zu reichen. Meinen Freunden und Gefährten in den verschiedenen Gruppierungen verdanke ich die Anregungen dazu, jene Texte zusammenzustellen, die hinsichtlich der alten Naturreligion wichtige Aussagen ermöglichen. Aus diesem Ansatz ergeben sich dann auch schon die Fragen, die ich an die Texte heran trug. Nämlich ”Was wird hier dargestellt?”, ”Welches spirituelle Verständnis setzt das voraus? “Welches macht es möglich?” ”Enthält das eine Aussage über religiöse Handlungen?” Meine Absicht ist also, dem Leser zu erschließen, welche spirituellen Inhalte die alten Schriften erkennen lassen, wie man sie heute auffassen kann und wie dieser Glaube wohl gelebt wurde. Ich lade meine Leser auf eine Reise ein, die Wurzeln der eigenen Kultur zu entdecken. Einer Kultur, der wir nur recht oberflächlich entfremdet wurden. Und das führt zu einem ganz merkwürdigen Phänomen, nämlich, dass die ersten Berührungen mit dieser Kultur beinahe unendlich befremdlich, ja exotisch wirken. Hat man jedoch einmal entschieden an der Oberfläche gekratzt, findet man mit jedem weiteren Vorstoß ein wenig mehr von sich selbst darin. Den Leser dabei zu unterstützen zeige ich eine große Zahl an Hintergrundinformationen zum damaligen Leben und zur Gesellschaft auf und entfalte eine Vorstellung dazu, wie die Mythen entwickelt und weitergegeben wurden.

Die Theorie der andauernden Redaktion naturreligiöser Mythen wird hier erstmals veröffentlicht und ich bin auf die Reaktionen darauf gespannt. Die Bezeichnung des neuzeitlichen Menschen, Homo sapiens sapiens, meint den doppelt weisen Menschen. Das ist nicht der Vernunftmenschen, der Rationalist, sondern einer, der ein Gleichgewicht zwischen seiner rationalen und seiner intuitiven Seite einzurichten vermag.

Berlin 12.1.2012

Uwe Ecker

1 Als Schamanismus bezeichnet die Ethnologie einen Satz an Vorgehensweisen zur Kommunikation mit dem Geistigen, bei der neben der Menschenwelt Ober- und Unterwelten angenommen werden, zu deren Bewohner man reisen oder die man herbeirufen kann.

Vorwort zur Neuauflage

In den Jahren seit der ersten Auflage dieses Buches hat sich einiges getan. Im deutschsprachigen Raum und auch in Berlin haben sich einige Ásatrú-Gruppen gebildet. Einige davon leisten ganz ausgezeichnete Arbeit, und ziehen z.B. philosophische, archäologische und ethnologische Erkenntnisse heran. Daher bin ich davon abgekommen, eine spezielle Gruppierung zu empfehlen. Auch in meine persönliche Auffassung sind Arbeiten solcher Gruppe eingeflossen. Besonders die Bücher „Aufgeklärtes Heidentum“ von Andreas Mang und „Ásatrú“ von Kvedúlf Gundarson in der Bearbeitung von Kurt Oertel finde ich sehr lesenswert und bereichernd.

Unentbehrlich waren mir auch die Rückmeldungen meiner Leser und aus meinem Freundes und Bekanntenkreis, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Ihnen verdanke ich vor allem Hinweise, an welchen Stellen ich grundlegende Gedanken deutlicher heraus stellen sollte und wo ich kürzen kann, um ein besseres Verständnis zu ermöglichen.

Wichtige neue Betrachtungen stammen auch aus den Recherchen zu meinem Buch „Feiern wie die Wikinger,- Bodh und Blóts in Eddas und Sagas“. Es bleibt bei einer solchen Arbeit nicht aus, dass man auf Einsichten stößt, die in dem Buch, an dem man arbeitet, keinen Platz finden. Viele davon habe ich hier anfügen können.

Die vorherige Auflage war noch in alter Rechtschreibung abgefasst, was einige Leser als orthografisch fehlerhaft auslegten, weshalb ich nun die aktuelle Rechtschreibung nutze. Inhaltlich bietet mir die Neuauflage die Gelegenheit, neuere Erkenntnisse und Betrachtungen in dieses Buch aufzunehmen. So hat sich der Unterschied zwischen dem christlich geprägten Begriffs des Priesters und des Ritualisten primärer Religionen durchgesetzt. Was insofern hilfreich ist, als sich damit nicht nur Goden, sondern ebenso ihre Vorläufer, die Jarle und auch andere spirituelle Spezialisten wie Völven und Thule fassen lassen.

Mir selbst hat die Überarbeitung meines Buches, der Arbeit ungeachtet, viel Freude bereitet, und ich hoffe, dass es dem Leser ebenso geht.

Berlin, 9. 3.2015

Uwe Ecker

Eine Einleitung zur Mythologie Nordeuropas

Mythen sind nichtwissenschaftliches Wissen, aber darum nicht Irrtümer.

Irrtümer sind widerlegtes wissenschaftliches Wissen, aber darum noch keine Mythen. Jan Assmann 2003, S. 27

Wie obiges Zitat zeigt, geht es bei Mythologie um Wissen. Mythologien sind eine Möglichkeit, Erkenntnisse zu tradieren. Dabei vermitteln Mythen weniger objektive Erkenntnisse als vielmehr subjektive Einsichten. Gerade die Übermittlung dieser subjektiven Haltung eröffnet die Möglichkeit, die Wesensart der Kultur, die diese Mythen hervorbrachte, wieder und auch weiter zu geben.

Die Mathematik dient dem Verstand als begriffliches Gerüst. So ist sie Hilfsmittel um logische Beziehungen zu erkennen. Die Mythologie hilft auf ähnliche Weise dem Gefühl und der Intuition. Erst die Symbolsprache der Mythen ermöglicht es uns, tiefe emotionale Beziehungen zu erkennen und Sinn in unserem Leben zu stiften. Das erreichen die Mythen, indem sie eine Sprache vieldeutiger Sinnbilder zur Verfügung stellt. Solche Sinnbilder verbinden die sprachlichen Funktionen unseres Geistes, wie sie bei den meisten von uns in der linken Hirnhälfte lokalisiert sind mit den Bildern, Klängen, Empfindungen und Mustern der rechten Hälfte des Gehirns. Sehr schön unterstreicht das die einfache Tatsache, dass die altskandinavischen Mythen der älteren Edda aus Liedern besteht, die zu bis heute bekannten Melodien rezitiert wurden. Lieder, als Kombination aus Text und Melodie, werden in beiden Hirnhälften bearbeitet und gespeichert.

Durch die Vieldeutigkeit der Sinnbilder werden Dinge miteinander verbunden, welche oberflächlich betrachtet, nicht miteinander in Beziehung zu stehen scheinen. Sie sind jedoch entweder in der äußeren Realität tatsächlich indirekt miteinander verbunden. Oder sie sind für den Menschen meist gleichzeitig von Bedeutung, haben also aus der subjektiven Erfahrung heraus etwas miteinander zu tun. Mythen bilden so Vernetzungen ab, und zwar einmal die tatsächliche Vernetzungen in der Natur und zum anderen die subjektive, archetypische Vernetzung, wie sie aus der Perspektive des Menschen heraus wichtig ist.

Stellen wir einmal ganz allgemeine Überlegungen dazu an, wie man den Prozess des Lebens überhaupt beschreiben kann.

Eine Möglichkeit besteht darin, die physikalischen und chemischen Zusammenhänge zu ergründen und darzustellen. Das geschieht heute durch die Biologie. Die Biologen beschreiben das Wunder des Lebens jedoch auf eine völlig mechanische, sterile, für die meisten Menschen lebensferne und damit bedeutungslose Art und Weise. Hier wird Leben, stark vereinfacht gesagt, als Kaskade physikalisch fassbarer Energie vom Kosmos zur Erde und umgekehrt verstanden.

Lebewesen sind hier praktisch Stufen, welche die physikalische Kraft der Sonne durchläuft, um vom Himmel zur Erde und von der Erde wieder ins All zu gelangen, dem Kältetod des expandierenden und dabei energieärmer werdenden Universum entgegen. So zumindest das aktuelle wissenschaftliche Standartmodell.

Eine völlig andere Möglichkeit der Darstellung des Lebens ist die als Fluss spiritueller Kraft. Auch hier geht man vom Fluss der geistigen Energie vom Himmel zur Erde und von der Erde zum Himmel aus. Auch dieses Modell ist vergleichsweise unanschaulich.

Eine weitere Alternative finden wir in der grundsätzlichen Auffassung des Lebensprozesses als Informationsaustausch. Hier erscheint Leben als Strom sich ändernder Datenstrukturen durch die Materie. Das ist wohl die bislang abstrakteste Auffassung des Lebens.

Die altskandinavischen naturreligiösen Mythen ermöglicht uns Heutigen, die Kerne jeder dieser Ansichten des Lebens zugleich darzustellen. Die dabei genutzte Sprache ist die der Metaphern, der Gleichnisse. Es wird nie gesagt: "Leben ist eigentlich bloß dies oder nur jenes." Vielmehr werden verschiedene Aspekte des Lebens beschrieben als etwas, das so ähnlich ist wie eine andere, bekannte und anschauliche Sache. Diese andere Sache wird durch Geschichten in allen wesentlichen Details dargestellt, und das so, dass zugleich eine Bedeutung für das eigene persönliche Leben darin enthalten ist.

Mythologien stellen uns eine Sprache zur Verfügung, um mystische Erfahrungen auszudrücken. Wo keine Tiefe, keine mystische Erfahrung da ist, da streiten sich die Menschen um die richtige Sprache. Wo hingegen Menschen mit mythischen Erfahrungen einander begegnen, verstehen sie einander, gleich welcher Sprache sie sich bedienen.

Die von Isländern aufgezeichneten wikingerzeitlichen Mythen vereinigen unterschiedliche Einflüsse miteinander. Die vorchristlichen Mythen von den Gebieten des heutigen Norwegen, Dänemark und Schweden wurden von jenen Menschen, die vor der neuen Religions- und Herrschaftsform nach Island geflohen sind, gelebt, bewahrt und in den isländischen Redaktionsprozess eingebracht. Der altskandinavische Einfluss macht wahrscheinlich den größten Teil aus. Aus Ausgrabungen auf Island wissen wir heute, dass zugleich eine Besiedlung aus Irland und dem slawischen Bereich erfolgte, vermutlich durch Menschen, die ebenfalls eine Möglichkeit suchten, weiter nach dem alten Brauch, nach der alten Sitte, wie das Heidentum zu dieser Zeit hieß, zu leben. Man fand jedenfalls Häuser, die in deren Stil gebaut waren. Wir müssen also davon ausgehen, dass nicht etwa Gefangene und Knechte, sondern freie Iren und Slawen auf Island siedelten und sich in die Kultur der Wikinger einbrachten. Daher ist eine scharfe Abgrenzung gegen die non-literaten europäischen Kulturen der Kelten und der Slaven nicht möglich. Schon fast ein Jahrtausend früher flohen die keltischen Druiden, als ihnen durch Julius Cäsar die Lehre auf dem keltischen Festland verboten wurde, in die wilden Länder des Nordostens. Das belegt z.B. die Bezeichnung des isländischen Hohepriesters noch heute. Der hieß dort Drottnar und die sprachliche Verwandtschaft zum Druiden ist für jeden leicht nach zu vollziehen.

Es handelt sich also bei der altskandinavischen Überlieferung von vorn herein um eine Mischung religiösen und kulturellen Wissens, das aus verschiedenen Gegenden des vorchristlichen Europa her stammt, von Stammesgruppen, die nach der römisch geprägten Benennung als keltisch, slawischen und germanisch gelten. Das Mischungsverhältnis der Einflüsse ist nicht wirklich zu bestimmen, Schichten der unterschiedlichen Mythologien lassen sich jedoch nachweisen. Ein Beispiel dafür ist die als gallischer Zentralmythos identifizierte serielle Ehe der Erdgöttin mit den jeweiligen Himmelsgöttern der drei gallischen Jahreszeiten. Der findet seine Entsprechung im altskandinavischen, wo die Königin der Asen, Frigg, Odins Gemahlin, während dessen beiden Verbannungen mit seinen Brüdern verheiratet ist.

Wahrscheinlich lassen sich bei einem gründlichen Vergleich der europäischen Mythologien noch viele gemeinsame mythologische Motive auffinden. Was aber den Rahmen dieses Buches sprengt, denn hier will ich ja einen Einblick in die altskandinavischen Mythen geben. Die Mythen wurden in Form von Liedern verbreitet. Die grundlegenden Inhalte und die dichterische Form wurde an Schulen wie dem Hof Oddi auf Island gelehrt.

Schwangere Göttin in gebährender Haltung. Die Schlangen in ihren Händen weisen auf einen unterweltlichen Charakter hin. Das Triskel über ihr zeigt einen Schlangen-, einen Eber- und einen Vogelkopf. Es stellt vielleicht die drei Hauptgötter dar, die nacheinander mit ihr vermählt sind. Bildstein aus Gotland, Schweden, 5. Jh.

Die Wikinger und ihre Kultur

Denken wir heute an die Wikinger, so fallen vielen die Comic-Figuren wie Hägar der Schreckliche, Thor oder Wicki und die starken Männer ein. Das ist Wikinger-Fantasie, und das finde ich auch in Ordnung. Schwieriger finde ich z.B. Verfilmungen von Missionsberichten, wie des arabischen Kundschafters Ibn Fadhlan oder auf den Berichten des mehrfach aus seinem Bischofsitz vertriebenen Adam von Bremen beruhenden Menschenopfer-Berichtes über den Tempel in Uppsala. Man muss sich nur klar darüber sein, dass diese Darstellungen mit den Wikingern ebenso wenig zu tun haben wie Richard Wagners Bühnen-Germanen mit den Waldbauern-Stämmen, die es tatsächlich gab.

Natürlich kann ich hier die wikingerzeitliche Kultur nicht erschöpfend darstellen. Sondern ich muss mich darauf beschränken, einen Eindruck davon zu geben, um was für Menschen etwa es sich handelte und darüber hinaus relevante Aspekte hervor zu heben.

Die Wikinger sind sicher die faszinierendste Widerstandsbewegung der Geschichte, schon allein deshalb, weil sie ohne steuernde Zentralgewalt mehr als drei Jahrhunderte lang erfolgreich waren. Herkunft und Bedeutung des Worts Wikinger ist unklar. Meist versucht man es von ”Vik”, d.h. Bucht abzuleiten. Ich werde in diesem Buch noch eine viel gewagtere Ableitung vorschlagen.

Die Wikingerzeit als historischer Begriff wird zeitlich durch zwei prägnante Daten eingegrenzt. Das ist naheliegender Weise der Beginn der Raubzüge gegen die vordringenden feudalistischen Christenreiche mit dem Überfall auf das englische Kloster Lindesfarne im Jahr 793. Das Ende wird merkwürdiger Weise nicht in den letzen Wikingerzügen gesehen. Sondern als Ende der Wikingerzeit, und damit das des Frühmittelalters, gilt die Niederlage der beiden letzten Wikingerfürsten im Jahr 1066. Diese Eingrenzung ist in der Fachwelt nicht unumstritten, denn die Wikingerzüge gingen noch eineinhalb Jahrhunderte weiter. Wir werden noch sehen, dass gerade der Endpunkt recht willkürlich gewählt wurde. Das hat dann auch Folgen für die Bewertung der altskandinavischen Literatur, was daher für unsere Betrachtungen erheblich ist. Denn hier geht es um die Frage, ob diese noch dem heidnischen Früh- oder schon dem christlichen Hochmittelalter zuzurechnen ist? Doch davon später.

Nach dem Zug gegen das Kloster im Jahr 793 jedenfalls wandten sich die Wikinger 799 gegen das Franken-Kaiserreich, der wesentlichen Triebkraft hinter der Christianisierung. Zunächst mit gutem Erfolg, sie konnten sogar Winterlager auf fränkischem Hoheitsgebiet halten. Dem folgten die Vertreibung des Bischof Ansgar aus Hamburg und der Missionare aus dem Handelszentrum Birka, Schweden (845). Um das Jahr 881 drangen die Wikinger gar den Rhein über Köln und Duisburg bis nach Trier vor. Auch am Rhein konnten die Wikinger überwintern. Es war damals so, dass Kriege durch Plünderungen finanziert wurden. Und daher brachten die Wikinger die Mittel für ihren Kampf gegen das vordringende Christentum durch Überfälle auf christliche Zentren auf. Das sehe ich als den Grund für den Beginn der Wikingerzüge an.

Schon ab etwa 870 flohen Asentreue aus Norwegen vor der Errichtung eines christlichen Gottesstaates nach Island, das damals bereits von Irland aus besiedelt wurde. Es handelte sich also keineswegs um eine Armuts-Emigration benachteiligter Häuptlinge. Wir müssen von einem bewussten Akt der Auflehnung ausgehen, in dem der asentreue Teil der religiös und politisch gespaltenen Stämme auswanderte. Wie Slaven nach Island kamen, ist unklar, man fand jedenfalls ihre typischen Häuser, was zeigt, dass sie dort als freie Menschen bauten und lebten. Die isländischen Wikinger waren daher ein multiethnischer Zusammenschluss. Ihre Identität wurde durch ihre heidnische Lebensart und nicht durch ihre ethnische Abstammung bestimmt.

Überhaupt waren die Isländer basisdemokratisch organisiert. Dabei lag die Leitung von Blóts und Thingversammlungen in den Händen der Goden, wie zuvor auf dem Kontinent bei den Jarlen. Das waren, ursprünglich, im heidnischen Sinne, fromme Männer und Frauen. 930 jedenfalls versammelten sich Isländer zum ersten Mal zum Allthing, dem heute mit fast 1100 Jahren ältesten Parlament der Welt. Unter diesen Bedingungen müssen wir davon ausgehen, dass die Mythologien der beteiligten Völker praktisch entsprechend des jeweiligen Bevölkerungsanteils zusammenflossen.

986 führten Jarl Hakon in Norwegen und Sven Gabelbart in Dänemark heidnische Erneuerungsbewegungen an. Wobei es vor allem um Macht und politische Unabhängigkeit ging, in einer Zeit, wo Politik und Religion noch nicht getrennt waren.

Island nahm im Jahr 1000 unter der wirtschaftlichen und militärischen Bedrohung durch Norwegen das Christentum als offizielle Staatsreligion unter Duldung des Heidentums an. Schon früher sind Heiden vom Handel mit christlichen Königreichen ausgeschlossen worden, was einen erheblichen wirtschaftlichen Druck ausübte. Mit Annahme des Christentums wurde, zumindest vordergründig, aus der Godenschaft ein Richteramt.

Heidnische Dänen überfielen immer wieder England, bis Sven Gabelbart 1013 dabei fällt. Danach befahren christliche Wikinger vor allem als Händler die Meere, die Überfälle gehen drastisch zurück. In den Schlachten zu Stamfordbridge und zu Hastings 1066 werden die letzten Häuptlinge, jetzt christliche Wikingerfürsten, besiegt. Dieses Datum gilt allgemein als Ende der Wikingerzeit und Beginn des Hochmittelalters.

Natürlich verschwanden die Wikinger damit nicht schlagartig von den Meeren. Magnus Berrgött führte noch zwischen 1098 und 1103 Kriege gegen die Orkneys, die Insel Man und gegen Irland. Sveinn Ásleifarson, von dem die Orkneyinga Saga berichtet, fiel 1172 bei einem Wikingerzug. Noch 1209 zogen die Birkebeiner als Wikinger nach Schottland. Die Wikingerzeit hat also noch lange im christlichen Hochmittelalter heftige Nachwehen. So dass man hier berechtigterweise fragen kann, ob man für den hohen Norden die Wikingerzeit und damit das Frühmittelalter nicht doch noch bis ins frühe 13. Jahrhundert fortdauern lassen muss. Darauf komme ich noch zurück.

Die Wikinger waren Bauern, Viehzüchter, Fischer, Jäger, Handwerker, Künstler und Händler. Seefahrt und Piraterie waren in der gesamten Antike eins. Wer wehrhaft schien, war Kunde, wer nicht, Beute.

Das wikingerzeitliche Heidentum war, wie die Antike überhaupt, farbenfroh. Die Bild-und Runensteine waren mehrfarbig bemalt. Die Steine künden auch von der prachtvolle Ornamentik, die auf stilisierte Tiere in Knotenmustern beruht. Sie ist für ganz Nordwesteuropa typisch und wird als germanischer Tierstil bezeichnet.

Ab dem 7. Jahrhundert lässt sich die Integration fremder Motive nachweisen, die vollständig in diesem Stil aufgehen. Die Ähnlichkeit zu keltischen Mustern ist deutlich. Man verzierte Gegenstände des täglichen Gebrauchs, vor allem Waffen und Schmuck damit.

Die Kleidung würden wir heute als bunt und lebensfroh empfinden. Man war nicht prüde, zeigte sich durchaus unbekleidet, im Freien jedoch nicht ohne Kopfbedeckung. Das änderte sich mit der Christianisierung, seit der Nacktheit als unsittlich und dunkle Farben als ”edel” angesehen werden.

Die Kultur war einfach und sinnvoll. Brunnen und Abwasserentsorgung waren getrennt, was ja z.T. in großen Kulturen, wie z.B. der indischen, bis heute nicht überall der Fall ist. Man kannte Lehmkuppelöfen, die Vorläufer der Kachelöfen. Bemalte Birkenrinden dienten als Bildtapeten. Auch Wandteppiche mit eingewebten Bildmotiven zierten die Wände. Von den Warägern wissen wir, dass Birkenrinden auch als Briefpapier dienten. Man schrieb in Runen. Die Böden der Häuser bestanden aus gestampftem Lehm und Stroh. Man briet über Feuern und kochte in Kesseln, deren Feuerstellen in den Boden eingelassen waren. Beim Essen saß jeder auf seinem Sitz an seinem Beistelltisch rings um die Feuerstelle. Man speiste sozusagen zentral beheizt.

Es gab eine Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen. Die war allerdings nicht zwingend, zumindest konnten sich Frauen für einen eher männlichen Lebensstil entscheiden. Etwa 20% der Gedenksteine künden von hervorstechenden Frauen und annähernd ebenso viele Namen von Gehöften weisen Frauen als deren Gründerinnen aus. In einigen Sagen sind es ganz deutlich die Frauen, die die Dinge voran treiben.

Die Gesellschaft wurde durch die Prinzipien der Familienverbände, der Sippe (Sif) einerseits und der Gefolgschaft (felagaR) andererseits zusammengehalten. Junge Menschen schlossen sich einem Erprobten, Erfahrenen in einem Treueverhältnis als Gefolge (felagi, d.h. Bankgenossen, Freunde) an. Diese sozialen Beziehungsmuster wurden auch auf die spirituellen Bereiche, auf Geister, Götter und dem Verhältnis der Menschen zu ihnen übertragen. Das geben Begriffe wie Fylgia, d.h. Gefolgschaftsgeist, oder Fulltrui, d.h. Gottheit, der man voll vertraut, wieder.

Auch der Zusammenhang des Einzelnen mit den Ahnen spielte eine besondere Rolle. Die Toten gehörten weiter zur Sippe. Die Vorfahren oder ihre Folgegeister kümmerten sich auch um ihre lebenden Nachkommen, zum Beispiel durch warnende Traumbilder. So etwas finden wir in der Vatnsdoela saga, wo dem Thorstein eine Ahnin im Traum erscheint und warnt, an einem Gastmahl teilzunehmen. Das rettete ihm das Leben.

Dennoch dürften die Lebenseinstellungen, wie in allen Umbruchzeiten, nicht einheitlich gewesen sein. Die Sagas zeigen, dass die allgemein verbreitete Auffassung eine Vorherbestimmtheit des Lebens in seinen wichtigsten Zügen sei und durchaus mystische Kräfte darauf einwirken. Menschen, die areligiös und diesseitsbetonend, jedem Übersinnlichen abhold waren, lassen sich in den Sagas nicht finden.

Ein Hof hatte stets eine Halle, in der man sich versammelte. An einer Seite der Halle befand sich der Götterwinkel, der Hochsitz des Haushaltsvorstands, der ja die häuslichen Riten leitete. Je näher man dem saß, desto bedeutender war die Position, die man in der Familie inne hatte. Gäste wurden meist nach dem gleichen Schema dem gegenüber gesetzt, so dass sich Besuchte und Besucher entlang der Ost-West-Achse der Halle spiegelten. Das Gastrecht schützte den Gast vor Angriffen durch den Gastgeber. Zur Kultur gehörte auch die große Bedeutung der persönlichen Beziehung, die durch Austausch von Geschenken zum Ausdruck kam. Das wechselseitige Beschenken war ein zentraler Bestandteil der sozialen Kommunikation. Wir dürfen daher davon ausgehen, dass Festteilnehmer und Gottheiten sich nach dem gleichen Schema von Gabe und Gegengabe begegneten. Und das ist ein wichtiger Hintergrund für das Verständnis von Opferhandlungen.

Was als Tugenden galt, das ist uns auf Bautasteinen, Gedenksteinen, in Runen erhalten geblieben. Da lobt man Freigiebigkeit, Tüchtigkeit als Hausherr oder als Bauer, Geschicklichkeit, Wendigkeit, Aufrichtigkeit (“ohne Falsch”), Milde mit Worten, Weisheit der Rede. Letzteres bezieht sich wahrscheinlich aufs Thing. Sogar Begierig auf Rache kommt vor. Das muss man vor dem Hintergrund sehen, dass es praktisch keine Staatsgewalt gab. Die Sippe schützte den Einzelnen, indem von Vornherein klar war, dass sie selbst die Tötung eines Angehörigen ahndete. Einen anderen Schutz für den Einzelnen gab es nicht. So erklärt sich auch, dass es mit Widar einen Gott der Rache gibt. Insgesamt ist das ein gutes Beispiel dafür, dass es immer die Umstände sind, die bestimmen, was in einer Zeit als Tugend gilt.

Wir sollten auch nicht übersehen, dass es sich um eine ausgesprochen künstlerische Kultur handelte. Davon zeugen zahlreiche mit bildlichen Darstellungen und Knotenmustern verzierte Gegenstände genauso, wie die Liederedda, welche ja die alte Dichtung im Stabreim enthält. Als Skalde berühmt zu werden, indem man die Taten eines anderen vortragbar und damit unvergesslich macht, das war ein zweiter Weg zu Ruhm neben dem Kriegertum. Wobei die meisten Skalden auch selber Krieger waren. Wie gesagt, das war eine Kultur, die sich sehr der Kunst widmete.

Hier möchte ich eine Anmerkung zu den Abbildungen in diesem Buch machen. Manche von ihnen wirken eher kindlich als künstlerisch. Das hat mehr damit zu tun, dass es sich um Reliefs handelt, die ich selbst anhand von Abbildungen von Bild- und Runensteinen anfertigte. Viele dieser Steine überfordern einfach meine Fähigkeit, sie mit Papier und Stift nachzuzeichnen. Daher beschränkt sich meine Auswahl auf die einfachsten von ihnen. Die Wikinger und ihre Vorfahren ritzten in Stein Kunstwerke, die ich mit meinen begrenzten Fähigkeiten mit modernen Mitteln kaum wiederzugeben vermag.

Unübertroffen in ihrer Zeit sind auch die berühmten Drachenboote und die Navigation der Wikinger. Der namensgebende Drachensteven hatte apotropäische Bedeutung und musste abgenommen werden, wenn Land in Sicht kam, um die Geister des Landes nicht zu erschrecken.

Drachenboot in voller Takelage, Stein von Hammar, Gotland, Schweden, 8. Jh.

Es gab unterschiedliche Schiffstypen, wie z.B. das schlanke Kriegsschiff oder das breitere und kürzere Handelsschiff, die Knorr. Dennoch scheinen die Boote ohne schriftlichen Plan gebaut worden zu sein. Die Planken wurden nicht auf Stoß, sondern überlappend gearbeitet und ergaben so einen flexibleren Schiffsrumpf. Nachbauten mit wikingerzeitlichen Mitteln, wie der Seehengst, eines Kriegsschiff, dauerten ganze vier Jahre. Das Segel des Seehengst hat eine Fläche von 104 Quadratmeter. Die Segel der Drachenboote bestanden aus aneinander genähten Bahnen von Leinen oder Wolle. Der Mast war umlegbar und in Flüssen oder bei Windstille wurde gerudert. Der geringe Tiefgang von nur einem Meter macht so ein Schiff auch für Flussfahrten geeignet.

Alles Leben spielte sich an Deck ab, wo allenfalls Zelte vor dem Wetter Schutz boten. Pro Mann stand etwa ein Quadratmeter Platz zur Verfügung. Ladung konnte im Ballastraum unter Deck verstaut werden. Rekonstruktionen zeigen, dass die Schiffe ungemein seetüchtig und selbst bei starker Dünung stabil waren. Begriffe in der Seemannsprache wie „Steuerbord“ für die rechte Schiffsseite erinnern daran, dass das Steuerruder auf der rechten Seite dieser Schiffe befestigt wurde.

Wahrscheinlich konnten die Nordmänner auch bei bedecktem Himmel den Sonnenstand und damit die Richtung, mit dem Sonnenstein, einen im Licht polarisierenden Calcitkristall, bestimmen2. Für die Navigation entlang eines Breitengrades, z.B. zum amerikanischen Kontinent, verwendete man sehr wahrscheinlich einen Schattenwerfer ähnlich einer tragbaren Sonnenuhr.

Solange der Schatten einer bestimmten Linie folgt, befindet man sich auf 60-61° nördlicher Breite. Und damit auf dem richtigen Weg. Den Magnetkompass dagegen nutzte man nicht, einfach weil Island so nah am Nordpol liegt, dass die Anzeige zu ungenau ist. Von Wikingern wie dem bekannten Stern-Oddi wird berichtet, dass sie wussten, dass die Erde rund ist und für jeden Ort auf der Welt Ebbe und Flut berechnen konnten. Noch Snorris Heimskringla verrät ihren erheblichen geographischen Horizont.

Es gibt gut ein Dutzend Thesen, um das Auftreten der Wikingerzüge insgesamt zu erklären. Ich möchte sie hier nur kurz aufzählen. Die politisch-sozialgeschichtliche These geht davon aus, dass der Gefolgsherr nur durch Raubzüge seine Gefolgschaft mit Gütern und gesellschaftlicher Anerkennung versorgen konnte.

Eine Kombination aus kultureller Entwurzelung, Ruhmgier, Kampfeslust und Gewinnsucht unterstellt die sogenannte psychologische These.

Die pädagogische These meint, dass die Wikinger- und Normannenzüge als eine Art Lebensschule betrachtet wurden. Diese Thesen werden heute allesamt nicht mehr vertreten.

Aktueller ist die Drei-Phasen-Theorie, die zwischen Plünderungsphase, Übergang zur Landeroberung und anschließende Besiedelung unterscheidet. Sie legt diesen Phasen auch unterschiedliche Motive zu Grunde, die letztlich aber alle auf Aneignung fremden

Besitzes hinaus laufen (vgl. psychologische These).

Die Völkerwanderungsthese stellt einen Zusammenhang zwischen der Völkerwanderung zwischen dem 3. und dem 6. Jahrhundert und den Normannenzügen im 8. und 9. Jahrhundert her und spricht von einer Völkerwanderung zur See.

Die These der Umweltbedingungen geht von einer zunehmenden Überbevölkerung bei schlechten Bodenverhältnissen aus. Die Archäologie bestätigt diese Auffassungen aber nicht, und die zeitgenössischen Quellen zeigen keine verarmte Bauernschaft.

Die Theorie der Komplexen Darstellung von Fritz Askeberg hebt die heute verbreitete Unterscheidung zwischen privaten Raubzügen im Gegensatz zu staatlich organisierten Operationen und den Kolonialisierungsunternehmungen hervor. Diese Unterscheidung halte ich für wertvoll, weil meine Auffassung sich ja vor allem auf heidnische Unternehmungen bezieht.

Meiner Auffassung am nächsten kommt die These von Herausforderung und Antwort. Nach ihr sollen die Aktivitäten der Nordmänner eine Antwort auf die Herausforderung des christlichen Westens und Südens gewesen sein. Die Herausforderung habe in der Niederwerfung der Sachsen durch Karl den Großen bestanden. Diese These der Verbitterung der Skandinavier über die Sachsenkriege wurde auch später immer wieder angeführt. Die christlich-fränkische Schwäche nach dem Tode Karls des Großen habe die Nordmänner ermuntert, den Kampf gegen das westliche Europa aufzunehmen, und das zurückgedrängte Heidentum habe noch einmal alle Kräfte gebündelt. Diese These vertraten bereits David Hume sowie L. v. Ranke. An diesen Ansätzen wird kritisiert, die Wikinger als eine mehr oder weniger homogene Einheit zu behandeln, ja, es wird eine Art Kreuzzugsgedanke unterstellt. Ein solcher gemeinsamer Gedanke ist aber dann nicht notwendig, wenn man ein verbreitetes Bedrohtheitsgefühl als gemeinsames Motiv unterstellt.

Auf der Suche nach neuen Rückzugsgebieten, angetrieben vom Wunsch, ihre kulturelle Eigenart zu bewahren, haben die Wikinger große Entdeckungen gemacht. Um weiter frei zu leben, kamen sie nicht bloß wie Erik der Rote bis Grönland, das sie vorübergehend besiedelten.

Archäologische Funde in Nord-Neufundland sowie Saga-Berichte belegen, dass sie sicher bis dorthin, wahrscheinlich bis nach New York, vielleicht sogar bis Florida oder sogar weiter kamen. Allerdings reichte der Schiffsbau ihrer Zeit nicht aus, um genug Menschen für eine dauerhafte Besiedlung nach Amerika zu schaffen. Die Saga um Erik den Roten zeigt auch, dass die Wikinger, solange sie Heiden waren, offen und interessiert an den Kulturtechniken der Inuit und der Indianer waren,- und umgekehrt.

Gemäß Skelettuntersuchungen wurden im Durchschnitt Männer über vierzig, Frauen über fünfzig Jahre als. Dabei muss man berücksichtigen, dass einerseits eine hohe Kindersterblichkeit, andererseits der Tod von Männern auf Kriegszügen den Durchschnitt erheblich nach unten drückt. War man erst Erwachsen, konnte man gut über 60 Jahre alt werden. Arme Wikinger wurden etwa 1,65 Meter groß, Wohlhabende aufgrund der besseren Ernährung auch über 1,85 Meter. Dazu trugen bestimmt auch Heilkundige bei, die sogar eine Art Hippokratischen Eid ablegten3. Die Gräber zeigen in ihren Beigaben auch eine klare Schichtung der Gesellschaft: Führende Persönlichkeiten, eine breite Mittelschicht, die je nach Vermögen mehr oder weniger kostbare Grabbeigaben hatte und Mittellose ohne Grabbeigaben. Dennoch gibt es Reiseberichte, nach denen die Unterscheide nicht auf dem ersten Blick zu erkennen waren. So wird eine übermäßige Sorge, den Rocksaum zu beschmutzen oder Nahrung nicht zu vergeuden, als Hinweis auf einen ärmlichen Stand gedeutet. Es scheint sich also eine Kultur gehandelt zu haben, in der die Ärmeren den Reicheren in Äußerlichkeiten nacheiferten, was oberflächliche Unterschiede eher verwischt. Das spricht für einen großen Ehrgeiz auch in der Unterschicht. Das ist etwas, das man nur dort findet, wo es auch Aufstiegsmöglichkeiten gibt. Sonst entwickelt die Unterschicht eher ein eigenes Standesbewusstsein, wie wir es z.B. aus dem römischen und dem frühindustriellen Proletariat kennen. Unter Wikingern war es offenbar so, dass gute Abstammung etwas galt, grundsätzlich jedoch jeder zu Besitz und Ansehen kommen konnte. Nicht unbedingt eine egalitäre, aber durchaus eine durchlässige Gesellschaft.

Und gerade für das alte Island müssen wir annehmen, dass der krasse Gegensatz zum christlichen Reich deutlich wahrgenommen wurde, wo ein Gott einen Kaiser, dieser wiederum seine Vasallen und Lehnsmänner gegen eine leibeigene Bevölkerung stützte. Dieser Gegensatz zwischen freiheitlichem Heidentum und der Bedrohung durch den faschistischen Gottesstaat und dessen Ausläufer wird das Bewusstsein gebildeter Heiden in jenen Jahrhunderten geprägt haben. Und damit auch deren Mythologie, was diesen Umstand für uns erheblich macht.

Als ein gutes Beispiel dafür kann die Darstellung der Ragnaröck, wörtlich, ”Der Götter Schicksal” gelten:Alles geht in Krieg und Brand unter, die Götter sterben, um dann verjüngt und erneuert wieder zu erstehen. Das gibt deutlich das Gefühl wieder, einen unvermeidlichen und praktisch alles vernichtenden Kampf zu kämpfen. Allerdings verbunden mit dem Versprechen eines Neuanfangs danach. Gibt das nicht sehr gut die Perspektive der letzten alten Heiden wieder?

Klar erkennbar ist, dass die Wikinger, als heidnische Widerstandsbewegung, eine gut zwei Jahrhunderte währende Blütezeit hatten und mit ihrer formalen Missionierung in der Bedeutungslosigkeit verschwanden. Ebenso klar ist, dass sich gerade auf Island eine Flüchtlingskultur entwickelte, in der die altskandinavische Kultur noch eine erneute Blüte hervorbrachte, aber eben aus den Trümmern einer hinüber geretteten Kultur. Eben diese Blütezeit dürfen wir als die Zeit betrachten, in der die altskandinavische Mythologie zwar nicht entstand, jedoch die Form erhielt, in der sie schließlich abgefasst wurde. Davon künden verschiedene Eigenheiten der isländischen Mythen. Islands Landschaft ist ganz anders als die südlichere Heimat der Siedler. So ging auf Island verloren, dass die Mistel auf einem Baum wächst. Im Mythos um Baldurs Tod wird die Mistel als kleiner Strauch beschrieben. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie die neuen Lebensumstände in die Mythen einfließen. Daher es ist wichtig zu verstehen, dass die Bedrohung durch christliche Feudalfürsten, die das basisdemokratische Thingsystem durch Lehenswesen und Leibeigenschaft zu ersetzen trachteten, die Ausgestaltung und auch die Redaktion der Mythologie beeinflusste.

3 Oddrunargratr 11: „Ich gelobte, und leiste mein Gelübde jetzt, Beistand zu leisten allen Leidenden …“

Gerade bei Snorri Sturlusons Werken ist deutlich zu erkennen, wie er versuchte, die altskandinavischen Mythen gegen den Christenglauben zu stärken. Wenn aber schon Veränderungen in den uns erhaltenen Mythen nachweisbar sind, und seien sie noch so klein, dann wird sich das auch auf den Auswahlprozess bei der Redaktion ausgewirkt haben. Und das wirkt sich auf das Bild aus, das wir heute vom altskandinavischen Heidentum haben.

Wie lange der alte Brauch noch weiter wirkte, das zeigt der Umstand, dass sich alle skandinavischen Königshäuser auf die alten Gottheiten als Vorfahren zurückführen. Das belegt deutlich, dass eine Legitimation durch christliches Gottesgnadentum noch lange Jahrhunderte als nicht ausreichend angesehen wurde.

Die Wikingerzeit hat nicht allein in der skandinavischen Literatur Spuren hinterlassen. Shakespeares Hamlet z.B. beruht auf der Geschichte eines Wikingerkönigs.

2 Die Olafs Saga helga berichtet, dass Olaf die Sonne auch bei bedecktem Himmel sehen konnte, eine Verwendung des Islandspat zu diesem Zweck wird neuerdings nicht ausgeschlossen.

Snorri Sturlusons Werke

Wir kennen heute die ältere Edda, auch Liederedda genannt. Sie heißt so, weil sie aus Versen, die zum melodischen Rezitieren gedacht sind, besteht. Und wir kennen die jüngere Edda, die auch Prosaedda heißt. Bei dieser handelt es sich im Grunde um den ältesten Kommentar zur Liederedda. Er wendet sich ausdrücklich an Menschen, die mit den alten Liedern nicht mehr vertraut sind.

Dieser Kommentar, die jüngere Edda, wurde von Snorri Sturluson aufzeichnet. Snorri Sturluson wurde 1178 oder 1179 geboren, sein Vater war Sturla, der Held der Sturlusaga Saga und der Stammvater des Sturlungen-Geschlechtes. Snorri wurde in eine Zeit geboren, in der die Wikinger ihre letzten Züge durchführten.

Mit drei Jahren kam Snorri auf den Hof Oddi und wurde dort von Jon Loptsson aufgezogen. Dieser war väterlicherseits ein Enkel von Saemundr Sigfusson hinn frodhi, Sämund dem Weisen. Sämund gilt in der isländischen Volksüberlieferung als Sammler die Lieder der älteren Edda. Das wird tatsächlich dadurch gestützt, das Snorri die ältere Edda gekannt haben muss, denn er zitiert zahlreiche Verse aus ihr.

Snorri stammte von berühmten isländischen Skalden wie Egill Skallagrimsson, Markus Skeggjason und Einarr Skulason ab und war selbst schon in seiner Jugend für seine Dichtungen bekannt. Die isländische Überlieferung will, dass Snorri aus einer alten Godenfamilie, also von vorchristlichen Ritualisten abstammte.

Im Alter von etwa 20 Jahren heiratete Snorri eine reiche Erbin und zog mit ihr 1202 nach Borg, wo er bald die Godenwürde erlangte, was zu dieser Zeit einen Richter bezeichnete. Seine Ehe war wohl nicht sehr glücklich; er hatte mit einer anderen Frau Kinder.

Um 1206 übersiedelte er nach Reykjaholt, wo er sein weiteres Leben wohnte. Laut Skaldatal verfasste er ein Gedicht auf den 1202 verstorbenen König Sverrir. Ebenfalls nach dem Skaldatal und der Islendinga Saga, schrieb er wohl um 1212, ein Gedicht auf Jarl Hakon galinn, das er diesem sandte und dafür Geschenke als Gegenleistung bekam. Der Jarl bat ihn auch um ein Gedicht auf seine Frau, und dieses Gedicht, welches er Andvaka nannte, brachte Snorri ihr vermutlich um 1219 bei einem Besuch in West-Gautaland. Alle diese Gedichte sind jedoch nicht erhalten. Mit zunehmender Macht und Wohlhabenheit verstrickte er sich zusehends in politische Fehden, die von seinem Neffen Sturla in der Islendinga saga beschrieben wurden. Zu den inneren Fehden in Island kam der wachsende Konflikt mit den Anschlussbestrebungen des norwegischen Königs.

Snorri war ein entschiedener Gegner der Unterwerfung unter die christliche norwegische Herrschaft. In dieser Sache reiste er zweimal nach Norwegen. Während sein erster Besuch 1218 bis 1220 beim erst vierzehnjährigen König Hakon und dem Regenten Jarl Skuli noch problemlos verlief, wurden ihm bei seiner zweiten Reise 1237 bis 1239 seine Sympathien für Skuli - den Hakon 1240 erschlagen ließ - und sein Eintreten für die isländische Unabhängigkeit zum Verhängnis. Hakon verweigerte ihm die Abreiseerlaubnis, aber Snorri fuhr dennoch nach Island zurück. Als direkte Folge davon wurde Snorri in der Nacht vom 23. 9. 1241 auf Anstiftung König Hakons in Reykjaholt ermordet.

Snorri Sturluson schrieb einige der altüberlieferten heiligen Mythen seiner Heimat auf. Sie sind uns als Gylfaginning, Skaldskaparmál und Heimskringla bis heute erhalten, die ich in diesem ersten Band bearbeite.

Ich hatte im Kapitel über die Wikinger schon angesprochen, dass nicht wirklich klar ist, wann man die Wikingerzeit und damit das heidnische Frühmittelalter als beendet und das christliche Hochmittelalter als begonnen ansehen kann.

Hier geht es um die Frage, wie man die altskandinavische Literatur, also auch die Eddas, Snorris Werke und die Sagas einordnet. Lässt man die Wikingerzeit mit den Schlachten von Stamfordbridge und von Hastings 1066 enden, dann sind das alles Reflexionen aus dem christlichen Hochmittelalter über die heidnischen Wikinger des Frühmittelalters. Das suggeriert dann, dass z.B. Snorri nichts davon selbst erlebt haben kann. Vertreter dieser Auffassung müssen dann aber auch erklären, wieso eine Epoche, die sich ausdrücklich gegen die Einführung des Königtums richtete, ausgerechnet mit den letzten großen Seekönigen enden soll? Und wieso Menschen, die danach wikingerten, sich auch selbst als Wikinger bezeichneten und sogar von Zeitgenossen als solche erkannt wurden, trotz alle dem keine Wikinger gewesen sein sollen?

Viel konsequenter scheint mir, die Wikingerzeit mit den ersten Wikingerzügen beginnen und auch mit den letzten Wikingerzügen,- und damit erst am Anfang des 13. Jahrhundert,- enden zu lassen. Dann allerdings wäre die altskandinavische Literatur als wikingerzeitliche Berichte zu werten. Snorri z.B. wäre dann ein frühmittelalterlicher Schriftsteller, der, freilich am Ende seiner Epoche, über die Ereignisse derselben berichtet. Das allerdings suggeriert eine weitgehende Authentizität seiner Darstellungen. Und genau darum geht es in dieser Debatte, nämlich ob es sich um christliche Fantasien über Vergangenes oder aber um authentische Berichte über noch oder zumindest noch bis vor kurzem Bestehendes handelt. Es geht damit also um die Einstellung, die der Leser an seine Lektüre heranträgt.

Die Entstehung der Mythen und die religiöse Kultur des vorchristlichen Europa

Die von Snorri in Prosa beschriebenen Mythen blicken auf eine sehr lange und alte Tradition zurück. Ihre Themen und Typen entstanden in dunkler Vorzeit, als die Göttergeschlechter der Asen und der Vanen noch nicht vereint waren. Archäologen finden diese Zeit 1500 Jahre vor der Blütezeit Roms. Die Babylonier waren untergegangen und die Ägypter bildeten ihre Zivilisation.

Die gesamten Küsten Europas, also die europäischen Mittelmeer, Ostsee, Nordsee und Atlantikküsten einschließlich derer britischen, irischen und schottischen Inseln einerseits und der griechischen Inseln und auch Malta waren von der megalithischen Kultur besiedelt. Das war eine, zumindest stellenweise, vom Kult der Göttinnen dominierte Kultur. Diese hinterließ an unseren Küsten Trichterbecher und z.B. auf Malta und Gozo Tempel, deren Grundriss die Gestalt einer sehr wohlgenährten Frau zeigen.

Neuere Forschungen weisen auf eine Mythologie, die um drei Göttinnen herum aufgebaut war, hin. Bei den meisten Völkern der Antike in diesem Raum lassen sich Göttinnen-Dreiheiten als Repräsentanten der Zeit nachweisen. Bei den Römern sind das später die Parzen, bei den Griechen die Moiren, bei den Nachfahren der Festlandkelten die Bethen und bei den Skandinaviern die Nornen.

Sie werden als eine junge, eine reife und als eine alte Frau dargestellt. In der römischen Zeit werden sie als weibliches Triumvirat, als Matronen, dargestellt.

Ein ganz zentraler Gedanke dieser Kultur war die ewige Wiederkehr aus dem Schoß der allnährenden großen Muttergöttin. Ihre Farbe ist Rot. Diese stellt nicht die Erde als materiellen Globus oder dessen lebende Biosphäre, sondern den liebenden Geist der Erde dar. Die Griechen kannten sie als Hera, die Skandinavier als Frigg, die Iren nannten sie Epona oder identifizierten sie mit der weiblichen Lokalgottheit einer Gegend. Ihr Gatte ist stets der jeweilige Vatergott, der Verteidiger und Erhalter.

Die zweite dieser Göttinnen ist die jugendliche, liebende, selbstbestimmte weiße Göttin. Sie galt auch später als Göttin der Leidenschaft, als Göttin der Liebe, der Lust und des Krieges.

Artemis nannten sie die Hellenen, Diana die Römer, Freya die Skandinavier und Dana die Inselkelten. Ihr Gatte ist der Fruchtbarkeitsgott, der Geliebte, der Erzeuger.

Die alte Göttin wurde als die Verkörperung des Totenreiches angesehen. In ihren Schoß kehrt, mit Einschränkungen, alles zurück, was in der Welt stirbt. Ihr Gatte ist der Totengott, der Herr der Unterwelt, der Jäger der Welt.

Die Wege zu ihnen führt durch den Leib der Göttin, durch die Tempel und schließlich die Grabhügel. Die frühen Kulturen kannten Städte, Handel und Seefahrt, ja Handel und Ackerbau waren die Grundlagen dieser Zivilisation.

Alle drei Gottheiten wurden auch mit dem Himmel und hier besonders mit Sonne und Mond assoziiert. Daher sind die megalithischen Tempel wie z.B. Stonehenge in England, nach den beiden großen Lichtern des Himmels ausgerichtet. Die Vorstellung von drei Urgöttern hat sich bei den Galliern als die Hauptgötter Esus, Teutates und Taranis, bei den Skandinaviern in den drei Urgöttern Odin, Lodur und Hönir erhalten. Auch in der Gylfaginning treten uns diese, wie wir noch sehen werden, entgegen.

Vor etwa 3500 Jahren wanderten berittene und nomadisierende Hirten aus den Steppen Kaukasiens ins fast menschenleere Landesinnere Europas ein. Sie brachten Wagen und Streitäxten mit sich. Ihre Götter findet man sowohl in den Veden Indiens als auch in den Mythen der Griechen, der Römer und der Nordleute. Diese Viehzüchter schaffen Weiden durch Brandrodung der Wälder.

Ihre Vorstellungen vom Göttlichen waren von Himmelserscheinungen geprägt. Sie verehrten den Gott, der Himmel und Erde auseinander und die Ordnung aufrecht erhält, den Herrn der Himmelsachse, den wir als Zeus, Tyr oder Teutates kennen.

Sie brachten den Pferdegott, der als Merkur, Ogma oder Odin der erste Schamane und der Gott der Schamanen war mit sich. Die Schrift ist seine Erfindung und seine Gabe an die Menschen. Die Runen- oder die Ogam-Reihen stellen Einweihungswege für Schamanen dar.

Sowohl die griechischen Dichter als auch die Druiden der Kelten und die Völven und Thule der Nordleute schamanisierten, sie besuchten die Anderswelt, die Welten der Götter, Geister und der Toten, oder sie riefen diese zu sich.

Lebensfeindliche Kräfte hielt ihr Keulen-, Axt- oder Hammergott, der Herr der im Blitz symbolisierten universellen Lebenskraft in Schach. Diesen kennen die Griechen als Zeus, die Römer als Jupiter, die Mitteleuropäer als Donar und die Skandinavier als Thor, die Festlandkelten als Sucellos oder als Dagda die Inselkelten.

Die erste Welle der Einwanderung von Osten in Europa brachte in der Verschmelzung der Megalithkultur mit den Streitaxtleuten die Kelten hervor. Diese lassen sich als vitalistische und animistische Kultur mit ausgeprägtem Schicksals- und Wiedergeburtsglauben beschreiben. Sie lebten in einem Raum, der vom Baltikum bis auf die iberische Halbinsel, von Skandinavien bis an die Küsten und sogar Inseln des Mittelmeeres reichten. Die Erinnerung an die Vereinigung dieser Stämme schlug sich in den Mythen als die unterschiedlichen Versionen des Kriegs der Götter nieder. Das ist bei den Inselkelten als die Schlacht zwischen den Thuata de Danann, dem Volk der Göttin Dana und den Fomoren. Noch die, freilich viel später lebenden, Stämmen Skandinaviens kennen das als den Krieg zwischen Asen und Vanen. Die frühe keltische Kultur war auf dem Festland zunächst feudalistisch aufgebaut. Wohl von den britischen Inseln ausgehend breitete sich dann im 7. Jahrhundert vor Zeitenwende eine Theokratie aus, die bis zu den Altskandinaviern Wirkung entfalten und legendär werden sollte: Das Druidentum.

Zu dieser Zeit war im Osten schon längst die zweite Welle nomadisierender Hirten eingetroffen. Diese verschmolzen wiederum mit dem keltischen Amalgam aus den Megalithleuten und der Nachhut der ersten Welle.

Diese Viehzüchter stellten sich binnen weniger Jahrhunderte auf das Leben mit den Wäldern ein. So lebten sie als Vieh haltende Waldbauern und fischende Küstenbewohner im Einklang mit der Natur.

Im Gegensatz zum indischen Subkontinent, in dem sie auch siedelten, organisierten diese Einwanderer in Europa keine Kastengesellschaften, sondern lebten in demokratisch geführte Dörfer und Stadtstaaten.

Das von ihnen getragene religiöse System kennt wie alle Religionen dieser Zeit keine Religions-Stifter. Die Mythen entstehen, wandeln sich, werden gespielt, gesungen und werden vergessen in der Auseinandersetzung des einzelnen Schamanen mit den Angehörigen seines Stammes und der Welt, in der sie leben.

Im Prinzip findet über Jahrtausende hinweg ein theologischer Diskurs statt, der beide Hirnhälften, die musisch-intuitive und die sprachlich-rationale einbezieht und der seinen Niederschlag in den Mythen findet. Die wesentlichste kosmogenetische Metapher ist die von der Entstehung der Welt aus zwei sich vereinigenden Urwelten. Die wichtigste kosmologische Idee ist die von der Welt als lebender und beseelter Baum, der im Dunkel der Unterwelten wurzelt und ins Licht der Oberwelten wächst.

Ein zentrales Thema dieser Kultur war die Beziehung des Einzelnen zu dem Gott oder der Göttin, dem er vollständig vertraut, was die Altskandinavier Fulltrui nennen.

Dem entspricht die Beziehung der Familie zu den Vorfahren sowie der Gruppe zur von ihr am meisten verehrten Gottheit, letztlich des Stammesgottes. Was heute noch Spuren in den alten Stammesnamen der Thüringer, Sachsen, Hessen usw. hinterlassen hat.

Der Niedergang der europäischen Naturreligionen begann mit den Eroberungszügen der Römer. Caesar füllte die maroden römischen Staatskassen mit geraubtem Gold aus den gallischen Nemetons. Er versklavte etwa 1 Million von den schätzungsweise 4 Millionen damals lebenden Kelten und brachte dazu wohl eine weitere Million um. Um die keltische Kultur zu brechen verbot er den Druiden die Lehre. Wir können sicher davon ausgehen, dass die Druiden in die freien Länder des Nordens und des Ostens flohen. Ich nehme an, dass sie unter den dort einheimischen Ritualisten aufgehen und das religiöse System der mittel-, ost- und auch der nordeuropäerischen Stämme beeinflussten. Unter dem Eindruck des Schicksals der Kelten durch Rom hielten die verbleibenden Mitteleuropäer, von den Römern als Germanen propagandistisch barbarisiert, das römische Imperium 500 Jahre lang am Limes, der durch die Porta Westfalica geht, auf. Der Generationen währende Kampf, erst gegen Rom und dann gegen die römischen Missionare, schlägt sich daher selbstverständlich auch in den vorchristlichen Mythen nieder.

Was heißt hier heidnisch?

Um die Frage gleich zu Beginn zu beantworten: Ich verwende den Begriff „heidnisch“ im Sinne von „auf eine vorchristliche Religion bezogen“. Informationen über das heidnische Europa stammen ganz überwiegend aus schriftlichen Quellen. Das bringt für uns heute zwei Aufgaben mit sich. Zum Einen müssen wir entscheiden, welchen Stellenwert diesen Quellen für uns haben. Der Entscheidungsspielraum reicht von „Wir müssen alles komplett so machen, und dürfen nur den Quellen entsprechendes umsetzen“ bis zu „Die Quellen sind für uns bedeutungslos“. Bei letzterem fragt sich, wieso man sich da nicht gleich etwas ganz Neues ausdenkt, sondern die alten Götternamen nutzen muss? Bei ersteren fehlt für mich ein Bewusstsein dafür, dass die alte Sitte, wie ich noch zeigen werde, nicht ewig unverändert umgesetzt wurde. Sie erfuhr in jeder Zeit stets in eine andere, den jeweiligen Umständen angemessene besondere Ausformung. Und uns angemessene Formen solcher Ausformungen müssen wir Heutigen für die Überlieferung in unserer Zeit sicher auch finden.

Daraus ergibt sich die andere Aufgabe, nämlich, einen angemessenen Weg zum Verständnis alter Texte zu finden. Nur dann können wir den Schatz, als den diese Quellen auf uns gekommen sind, wirklich heben, annehmen und für uns in unserer Zeit fruchtbar machen.

Hier fällt mir die Frage meiner Freundin, die dieses Buch Korrektur las, ein, warum sie denn die Intertextuelle Theorie und die Auseinandersetzung mit dem Unterschied zwischen Primären und Sekundären Religionen lesen müsse. Oder sie sich mit der Herkunft des Germanenbegriffs auseinander setzen soll. Die Antwort ist, dass ohne den ein Verständnis der bald ein Jahrtausend alten und vor einen gewaltsamen kulturellen Bruch entstandenen Texte einfach nicht angemessen möglich ist. Ich bin mir da über die Anforderung an den Leser ziemlich im Klaren. Natürlich bleibt es Ihnen, lieber Leser, über dessen Interesse ich mich freue, unbenommen, diese theoretische Hinführung einfach zu überblättern. Vielleicht kommen Sie ja darauf zurück, wenn es Sie nach einem tieferen Verständnis der Hintergründe drängt.

Ein Kompromiss ist möglicherweise, erst einmal nur den Abschnitt über den Aufbau Primärer Religionen zu lesen, denn das ist sozusagen der Setzkasten, in den sich die den Quellen entnommenen Details einsortieren lassen.

Die heidnische Religion wurde von ihren Mitgliedern in Abgrenzung zu dem damals neuen Christenglauben ”die alte Sitte” oder ”der alte Brauch” genannt.

Die Anerkennung der altskandinavischen Eddas und Sagas als Niederschlag der alten Religion ist, wie gesagt, nicht unbestritten. Das liegt hauptsächlich daran, dass die Inhaber akademischer Lehrstühle in der christlichen Kultur sozialisiert sind und die entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen immer noch auf engen Schulterschluss und Anwendung bestimmter Methoden der Interpretation achten. Ein schönes Beispiel ist die Anwendung der Intertextuellen Theorie auf die altskandinavische Überlieferung. Diese Theorie wurde in den 1980er Jahren in den entsprechenden Fachdisziplinen durchgesetzt. Dahinter steht die Idee, dass man einen alten Text nicht einfach naiv lesen und verstehen kann. Schließlich hat sich die Sprache und der Sprachgebrauch verändert, die Konnotation von Begriffen, also das, was bei ihrem Gebrauch an Begriffshof mitschwingt, kann sich gar völlig umgekehrt haben. Nehmen wir z.B. den Begriff ”Weib”, der vor einem Jahrtausend die normale Bezeichnung für einen weiblichen Menschen war, wohingegen ”Frau” eine positive Konnotation trug. Die ist heute auf die ”Dame” übergegangen, ”Frau” ist neutral geworden und ”Weib” hat nun einen negativen, ins liederliche gehenden Begriffshof erhalten. Und solche Verschiebungen betreffen nicht allein Worte und Redewendungen. Die Intertextuelle Theorie verlangt daher, dass zur Interpretation alter Texte zum Vergleich andere alte Texte herangezogen werden, um ein Verständnis zu erschließen.

Ein Text lebt also von seinen Bezügen zu anderen Texten seiner Zeit. Da wird abgeschrieben, Erklärungen aus anderen Schriften werden herangezogen, Anspielungen auf bekannte Werke sind zwischen den Zeilen versteckt - und das meist ohne Zitat- und Quellenangaben.

Die Intertextuellen Theorien konzentrieren sich bei geschriebenen Texten auf ihre Form, nicht auf deren Inhalt. Diese Vorgehensweise kann man auf das intellektuelle Milieu, in dem sie sich entwickelte, zurück führen. Hier wurde dem Text jeder erschließbare Inhalt abgesprochen, so dass zur Analyse des Textes nunmehr die Betrachtung der Form über blieb. Postmoderne Philosophen wie Foucault, Barthes und Derrida analysieren die Denkstrukturen eines Diskurses. Sie konzentrierten sich auf die Wortwahl, die Metaphern und die Stilmittel des Textes. Daher wurden sie bald kritisiert, die Form über den Inhalt zu stellen und damit wissenschaftliches Vorgehen durch eine ebenso endlose wie fruchtlose Debatte über Stilfragen zu ersetzen. Im Bereich der Kulturwissenschaften hatten sie jedoch einen großen Einfluss.

Was das für eine Einordnung und Auswertung der alten Quellen über die Religion der Nordleute praktisch bedeutet, das erkennt man bald, wenn man in der Zeit zurückgehend Schriftquellen auflistet. Da sind zuerst mittelalterliche Texte, überwiegend christlicher Autoren, dann kommen antike und neutestamentarische und dann alttestamentarische Quellen.

Ganz gleich, wie sehr jemand in der alten Sitte verwurzelt war,- indem er die lateinische Schrift erlernte, kam er mit christlichen Inhalten und Formulierungen in Berührung. Indem sie aufgeschrieben wurden, traten die Mythen der non-literaten vorchristlichen Kultur in das Universum der Texte und werden in dessen Bezugsystem verankert. Und dieses Bezugssystem ist ganz überwiegend das der Bibel. Im Falle Snorris ist es ja so, dass er das Christentum ganz ausdrücklich kannte und sich offiziell auch dazu bekannte. Ebenso ausdrücklich kehrte er zum alten Brauch zurück. Bei anderen Quellen wie z.B. Saxo Grammaticus sind es gar christliche Chronisten, die Berichte über Vorchristliches verfassten.

”Belebt man” altskandinavische Quellen mit andern Textstellen aus dem Mittelalter, so sind das oft genug Texte aus der Bibel, die aus den Schriften der Epoche widerhallen. Beschreibungen des Tempels von Jerusalem, Bibelstellen über den "Götzenkult" der Philister oder Vorstellungen vom kommenden Reich Gottes haben in der europäischen Textwelt Spuren hinterlassen4. Und wenn man nur nachdrücklich genug danach sucht, dann scheint es einem, als ließen sich sogar in den alten skandinavischen Quellen Verweise auf Bibelstellen finden. Es gibt schließlich kaum andere als christlich durchsetzte Texte, die man zum Vergleich heranziehen kann. Wer lange genug im Sinne der Intertextualität solche Texte an das altskandinavische Material heranträgt, der muss, bedingt durch die Methode, zu dem Schluss kommen, dass die alten nordischen Texte Teil der christlichen mittelalterlichen Literatur und kein Niederschlag aus heidnischer Zeit seien. Einfach gesagt, gehe ich mit der Bibel im Kopf an Texte von jemand, dem die Bibel gleichgültig ist, dann räsonieren all jene Textstellen, die zufällig biblische Bezüge aufzuweisen scheinen.

Dabei ist die Idee des Aufeinander-Beziehens von Texten sicher ausgesprochen sinnvoll. Nur darf man eben nicht eine Hand voll Schriften über die altskandinavische Kultur und Religion mit einer Bücherei voll christlicher Texte abgleichen. Hier verzerrt dann die schiere Menge mit so voraussehbarer Sicherheit den Blick, dass man sich nach der Absicht hinter solcher Forschung fragen muss. Ein Textabgleich muss natürlich zuerst unter den Quellen einer Region und einer Zeit erfolgen. Und dabei muss man sich Inhalte erschließen und darf nicht in bloßen Formalien stecken bleiben.

Andererseits tut manch einer gern so, als seien die Eddas die einzigen verfügbaren Texte. Das ist natürlich nicht so. Es gibt im skandinavischen Raum und darüber hinaus zahlreiche Bautasteine, Denkmäler, teils mit Runeninschriften, teils mit Reliefs und sogar mit Bild und Text. Viele dieser Steine sind weit älter als die Aufzeichnung der Eddas. Und sie geben eindeutig Anspielungen und Szenen aus den Mythen wieder. Bekannt ist z.B. der einäugige Reiter auf dem achtbeinigen Ross, der leicht als Odin zu identifizieren ist. Oder Thors Fischzug, wo der Riese Hymir mit einem hammerschwingenden Thor im Boot zu sehen ist, eben in dem Augenblick, wo die Midgardschlange anbeißt. Es lassen sich zahlreiche Belege finden, die eindeutig mythische Motive wiedergeben und diesen damit ein hohes Alter verbürgen. Beispiele wie Thors Fischzug sind so detailiert, dass man einen Zusammenhang mit dem Mythos der jüngeren Edda nicht von der Hand weisen kann. Schon allein dieses Beispiel zeigt aber, dass Snorri eben der Redakteur und nicht der Erfinder der eddischen Mythen ist. Einfach weil die Mythen nachweislich schon vor Snorri bekannt waren. Aber auch, wenn man Texte tatsächlich einmal aufeinander bezieht, zeigt sich deutlich, dass die Mythen älter als die Aufzeichnung sind. So zitiert Snorri in der Gylfaginning immer wieder aus der Liederedda. Er muss eine ältere Version zumindest einiger Lieder gekannt haben.

Viele der von ihm zitierten Strophen weichen aber in Details von ihren Entsprechungen in der Liederedda ab. Eine Erklärung dafür ist, dass Snorri nicht auf den Codex regius, sondern auf eine andere Quelle der Liederedda zugriff hatte. Das kann auch, wie die isländischen Berichte über Snorri nahelegen, noch eine mündliche Traditionslinie gewesen sein. Dann aber gab es mindestens zwei orale Traditionslinien, nämlich jene, die in die Prosaedda einfloss und diejenige, die als Codex regius aufgezeichnet wurde. Und die müssen natürlich auch schon vor der Aufzeichnung bestanden haben.

Und als drittes bleibt darauf hinzuweisen, dass die Mythentradition der Eddas eingebettet ist in die isländische Sagatradition, welche Details der Ritualausführung und damit auch der Mythologie als Volksgut dieser Zeit bestätigen. Ebenso natürlich die Berichte christlicher Chronisten. Denn, so verzerrt diese gegnerische Propaganda auch ist, sie bestätigt Bräuche und Mythen als in der damaligen Bevölkerung weit verbreitet. Bedenkt man all das, so ist der Versuch, die altisländischen Göttermythen als Erfindung Snorris praktisch zu einer mittelalterlichen Fantasie-Literatur zu entwerten, nicht nur als tendenziös, sondern zudem auch als schlichtweg als wiederlegt zu betrachten. Die altskandinavischen Mythen sind zweifelsfrei und nachweislich authentisch. Auch wenn man sich nun streiten kann, bis zu welchem Grad.

Abgesehen von den Tücken und Tendenzen der Textinterpretation gibt es ein weiteres Problem. Wir alle sind, ob wir das mögen oder nicht, in einer christlich geprägten Kultur aufgewachsen. Sogar die Philosophie der Aufklärung entwickelte sich in Abgrenzung zum Christentum und ist somit christlich geprägt. Das soll nun in keiner Weise gegen Aufklärung und Humanismus gehen, die ich persönlich sehr schätze.

Jedoch ist die Vorstellung, die der einzelne über die christliche Kultur in sich trägt eher eine diffuse. Tatsächlich tritt ihre Kontur besonders dann schärfer hervor, wenn wir Kulturen anderer Prägung begegnen und wir deren Exotik erleben.

Noch diffuser ist die Vorstellung von polytheistischen Kulturen, denn denen begegnen wir, außer in biblischen Darstellungen, im Hinduismus, im japanischen Shinto und neuerdings in schamanisch geprägten Stammesreligionen und damit insgesamt eher selten. Nach wie vor gilt, das Christliche ist das Vertraute, es hat in unserer heutigen Kultur einen höheren Wiedererkennungswert. Diese Ungleiche Erfahrung mit den gegensätzlichen Ritual- und Kulturformen wirkt sich so aus, als hätten wir für Christlich-Monotheistisches geradezu einen Detektor und sind für Heidnisches-Polytheistisches fast taub und blind. Die Schwierigkeit besteht darin, dass es keine bündige und neutrale Darstellung des grundsätzlichen Aufbaus und der Werte heidnischer Religionen gab. Doch da hat sich in den letzten Jahrzehnten von religionswissenschaftlicher Seite einiges getan.

4 Wer im Internet die deutsche Einheitsübersetzung der Bibel aufruft und in die Suchmaske „Heide“ eingibt, dem werden rund 150 Textstellen angezeigt, in denen dieser Begriff vorkommt.

Die römische Germanen-Barbaren-Propaganda und das heutige Heidentum

Im Folgenden möchte ich einige Denkanstöße geben, was die Begriffe “Germanen” und “germanisch” im Zusammenhang mit der nord- und mitteleuropäischen Naturreligion für Folgen hatten. Dazu werde ich zuerst die Herkunft des Germanenbegriffs beleuchten. Dann betrachte ich die Entwicklung dieses Begriffes unter dem beginnenden europäischen Nationalismus. Darauf folgt eine Darstellung der heutigen die Germanen-Bilder und was sie bei modernen Menschen auslösen. Dann gehe ich darauf ein, wie die Kirchen den Germanenbegriff benutzen und das zum Teil heute noch machen.

Die Herkunft des Begriffs ”Germanen”

Der Germanenbegriff ist eine völkerkundliche Einteilung in römischer Tradition für eine Großgruppe von Stämmen zwischen den Kelten im Westen und den Skyten im Osten.

Er ist, wenn man die