Die Gräfin - Irma Nelles - E-Book

Die Gräfin E-Book

Irma Nelles

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Beschreibung

Ein atmosphärischer Roman über eine Gräfin auf der Hallig, deren Welt durch den Absturz eines Piloten ins Wanken gerät

Die Begegnung mit einem feindlichen Piloten, der 1944 vor der Hallig Südfall abstürzt, löst in der dort zurückgezogen lebenden, achtzigjährigen »Hallig-Gräfin« verzweiflungsvoll-ambivalente Gefühle aus. Zwischen den beiden entsteht allen Widerständen zum Trotz ein zerbrechliches Band.
Atmosphärisch und voll untergründiger Spannung erzählt Irma Nelles in ihrem späten Romandebüt die Geschichte der historisch verbrieften Gräfin, um die sich heute noch Mythen und Geheimnisse ranken.

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Das ist das Cover des Buches »Die Gräfin« von Irma Nelles

Über das Buch

Ein atmosphärischer Roman über eine Gräfin auf der Hallig, deren Welt durch den Absturz eines Piloten ins Wanken gerätDie Begegnung mit einem feindlichen Piloten, der 1944 vor der Hallig Südfall abstürzt, löst in der dort zurückgezogen lebenden, achtzigjährigen »Hallig-Gräfin« verzweiflungsvoll-ambivalente Gefühle aus. Zwischen den beiden entsteht allen Widerständen zum Trotz ein zerbrechliches Band.Atmosphärisch und voll untergründiger Spannung erzählt Irma Nelles in ihrem späten Romandebüt die Geschichte der historisch verbrieften Gräfin, um die sich heute noch Mythen und Geheimnisse ranken.

Irma Nelles

Die Gräfin

Roman

hanserblau

… das Fluchtgefühl ergriff mich abermals.

Ich möchte dies ein umgekehrtes Heimweh nennen, eine Sehnsucht ins Weite, statt ins Enge.

Johann Wolfgang von Goethe, Kampagne in Frankreich 1792

Prolog

Manchmal sehe ich sie vor mir an der Hallig von Südfall mit einer glänzenden, dunkelbraunen Pilotenkappe auf dem Kopf

Weiße Haarsträhnen wehen unter den bereits brüchigen Lederriemen des Verschlusses hervor und umrahmen ihr wettergegerbtes Gesicht

Ihr Umhang aus leichtem, dunkelblauem Samt bläht sich im Wind

Sie hebt beide Arme um uns nachzuwinken und sieht dabei aus als wolle sie einen Anlauf nehmen und vom Boden abheben.

Als wolle sie uns im Schwarm der aufgescheuchten Silbermöwen der mit lautem Kijau über unseren Köpfen kreist noch eine Weile begleiten.

1. Tag

An einem der letzten Tage im August des Kriegsjahres 1944, kurz nach Mitternacht, bestieg John Philip Gunter das fabrikneue einmotorige Beobachtungsflugzeug Taylorcraft Auster V. Die wendige Maschine, sieben Meter lang und zweieinhalb Meter hoch, mit einer Spannweite von fast elf Metern, stand startbereit für den Pilot Officer der Royal Air Force auf dem Militärflugplatz Mildenhall in Südwestengland. Den jungen Mann begeisterte der technische Fortschritt, die Zukunft moderner Flugtechnik. Auch deshalb hatte er seine Militärlaufbahn begonnen und war bald in die Einheit der Kampfpiloten aufgerückt. In dieser Nacht würde er allein — ohne Kontakt zum Kontrollturm der heimischen Militärbasis — mit etwa zweihundert Stundenkilometern den Ärmelkanal in Richtung Schleswig-Holstein überfliegen, um den Zustand der deutschen Verteidigungslinien zu erkunden. Es galt herauszufinden, ob die Deutschen ihren in letzter Minute geplanten Bau des sogenannten Friesenwalls inzwischen womöglich wieder aufgegeben hatten. Dann nämlich würde es den Briten ein Leichtes sein, den deutschen Fliegerhorst im Osten Schleswig-Holsteins einzunehmen.

Das Flugwetter schien das riskante Aufklärungsmanöver zu erlauben. Gunter hoffte, die dichte nächtliche Wolkendecke über der Nordsee würde ihn vor Spähern schützen. Ihm war klar, dass er in der Nähe der schleswig-holsteinischen Küste in die Suchscheinwerfer von Flakstellungen oder Maschinengewehr-Nestern geraten könnte. Hinter Sandsäcken, Baumstümpfen, Tarnnetzen und kleinen Erdwällen verborgen, würden sich meist blutjunge Wehrmachtssoldaten in ihren Schützengräben gegen vorstürmende Bodentruppen und Luftangriffe der Alliierten verteidigen.

Er war stolz darauf, dass seine Vorgesetzten ihn für diesen geheimen Auftrag ausgesucht hatten. Sie schienen dem fabrikneuen Aufklärungsflugzeug zu vertrauen. Und seiner Nervenstärke. Offensichtlich hielten sie ihn für kaltblütig genug, den gefährlichen Alleinflug durchzustehen.

Du bist schon aus riskanteren Einsätzen wieder lebend zurückgekehrt, schoss es ihm durch den Kopf, als er sich ins enge Cockpit der Maschine zwängte. Es wird auch dieses Mal klappen, dachte er, wohl wissend, dass das Überfliegen der bewachten Küste schwer einzuschätzen war. Sollten sich bei Sonnenaufgang die Wolken zu schnell verziehen und die Deutschen ihn entdecken, würde er selbst bei Rückenwind nicht berechnen können, wie viel Treibstoff er für den Rückflug brauchte. Die Unterseite der Maschine war gepanzert, daher schwerer als andere Flugzeuge dieses Typs.

Was ist los mit dir? Warum bist du so unruhig? Behalte einen klaren Kopf!, schalt er sich, atmete tief durch und legte seinen Sicherheitsgurt an. Bleiern graue Wolken umhüllten ihn gleich nach dem Start. Gespannt beobachtete John Philip Gunter alle Blindfluganzeigen, die vor ihm in der Instrumententafel aufleuchteten: Kompass, Höhen- und Geschwindigkeitsmesser funktionierten einwandfrei.

Er entspannte sich und spürte, wie ihn während des Abhebens Leichtigkeit überkam. Gefühle von Freiheit und Stärke, wie er sie nur während des Fliegens erlebte.

*

Zwölf Stunden später, in ihrem Haus auf der kleinen nordfriesischen Hallig Südfall, lehnte sich Diana Henriette Adelaide Charlotte Gräfin von Reventlow-Criminil am Mittagstisch in ihrem Stuhl zurück. Sie faltete sorgsam ihre Damastserviette zusammen und steckte sie in den silbernen Serviettenring. Gedankenverloren strich sie mit Mittel- und Zeigefinger über ein winziges Eichhörnchen in der Mitte des eingravierten, uralten Familienwappens. Dieses kurze, ihr kaum bewusste Ritual nach jeder Mahlzeit hatte sie aus jener Zeit herübergerettet, die ihr Leben ausmachte. Eine Zeit, aus der ihr außer Erinnerungen kaum etwas geblieben war. In dieses Leben gehörte auch der weiche Baumwollstoff des graublauen Kleides, das sie heute trug. Damals sollten daraus die Schürzen der Köchin und der beiden Hausmädchen genäht werden, die auf dem elterlichen schleswig-holsteinischen Gut Emkendorf nahe Rendsburg die Hausarbeit unter sich aufteilten.

Inzwischen lebte sie seit über dreißig Jahren an der nordfriesischen Küste. Die Sommermonate verbrachte sie auf der kleinen Hallig Südfall südwestlich der Insel Nordstrand gelegen, die stürmischen Wintermonate auf ihrem 1910 gleichzeitig erworbenen Püttenhof in der Trendermarsch am Außendeich von Nordstrand.

Im Frühjahr, als die ersten wärmeren Tage die Vorfreude auf den Sommer weckten, hatte sie den leichten Baumwollstoff zur Schneiderin in Husum gebracht. Ob sie ihr daraus wohl zwei Kleider für den Alltag nähen könnte? Ohne Firlefanz, Rüschen oder sonstiges modisches Zeug. Praktisch sollte ihr Gewand und für die Arbeit in Stall und Halliggarten geeignet sein. Nur dieses Mal nicht aus dunklem, winterlich warmem Samt wie der Umhang und das Kleid, die sie im Herbst, noch vor dem Großen Krieg, für sie genäht hatte. Der Rocksaum sollte zwei Handbreit über dem Knöchel enden. Und in tiefe, seitlich eingesetzte Taschen müssten Schnüre, Scheren, auch Schlüssel und handliches Werkzeug passen.

Nicht nur weil sie nach dem Tod ihres Vaters die meiste Zeit auf einer einsamen Hallig verbrachte, verzichtete Diana von Reventlow-Criminil darauf, sich zu kleiden wie damals, als ihr älterer Bruder Adolf Cécil weithin bekannte, glanzvolle Abendgesellschaften auf Schloss Emkendorf gab, auf denen sich der europäische Hochadel zusammenfand. Ihr lag nichts daran, sich durch elegante, teure Kleidung von anderen Gesellschaftsschichten abzuheben. Sie hatte sich längst einer anderen, schlichten Lebensweise zugewandt und ihr vorheriges Leben aufgegeben. Dass ihresgleichen sie deshalb für einen exzentrischen, vom Leben enttäuschten Blaustrumpf hielten, störte sie nicht. Im Gegenteil.

Zurückgezogen von allen ihr widerstrebenden Einflüssen und Machenschaften, fern von Rücksichtslosigkeit und Demütigung, die Menschen einander zufügen konnten, kam sie in Ruhe ihren täglichen Pflichten nach. Dass sie bereits die achtzig überschritten hatte, sah ihr niemand an. Ihr ebenmäßiges, stets leicht gebräuntes Gesicht, ihr kluger, melancholischer Blick aus tief liegenden dunklen Augen, ihr volles kaum ergrautes Haar zeugten von ungewöhnlicher Schönheit junger Jahre.

Es ist zu heiß. Ich werde meinen Mittagsschlaf abkürzen, dachte sie. Ihr Jagdhund, der im kühlen Hausflur liegend ihre Stube bewachte, sprang knurrend auf und rannte hinaus auf die Veranda. Sie folgte ihm und legte, geblendet vom grellen Licht, schützend die Hand über die Augen.

Hunter ist so unruhig. Er ist bestimmt durstig. Es ist wirklich ungewöhnlich heiß, sagte sie sich und beobachtete den kohlschwarzen Gordon Setter, der seine Ohren bewegte, als witterte er Gefahr. Beruhigend strich sie ihm über den Kopf und die weiche Schnauze.

Der Hund sprang auf, rannte kläffend die Außentreppe hinab und mit langen Sprüngen über die Warft bis an die Halligkante. Dort blieb er stehen und sah angespannt übers hitzeflimmernde Watt.

Was war denn los? Was war bloß in diesen Hund gefahren?

Mit dem Fernglas suchte sie die blendend helle Weite ab: die nur wenige Zentimeter mit Wasser bedeckte Meeresfläche, in der sich der Himmel spiegelte, als wären sie eins. Nordstrand im Osten erschien nur noch als auf und ab tanzende zerfließende Linie. Selbst die Halbinsel Eiderstedt, südwestlich gelegen, deren Kirchtürme sonst bei klarem Wetter gut zu sehen waren, konnte sie durch ihr Fernglas kaum noch erkennen.

Bis zum silbern flirrenden Horizont hinüber gab es nichts, das Hunter hätte beunruhigen können.

Beim Blick ins gleißende Blau des Himmels spürte Diana, wie müde sie war. Ich muss mich ausruhen, dachte sie. Bald haben wir Hohlebbe. Bald ist Stille zwischen den Gezeiten. Kein Laut, kein Möwenruf.

Trotzdem folgte sie ihrem Hund, der nach wie vor laut kläffend am Halligufer hin und her rannte.

»Was hörst du denn nur? Da ist doch gar nichts«, versuchte sie, das aufgeregte Tier zu besänftigen.

Hunter antwortete mit dunklem Knurren.

Auf Hunters Witterung konnte sie sich verlassen. Er war ein guter Spürhund und hatte ein feines Gehör.

Ich werde Maschmann fragen, überlegte sie. Vielleicht ist ihm da draußen im Watt etwas aufgefallen. Sie wandte sich um und griff nach ihrem Hund, als sie plötzlich leise verwehende Töne zu hören meinte. Wenige Töne einer Melodie, die sie aus Kindertagen kannte.

»Du hast ja recht«, murmelte sie, zog Hunter an seinem Halsband nah an ihre Seite und tätschelte seinen Hals. Man kann kaum noch klar denken, wenn es so heiß ist. Da bildet man sich gleich alles Mögliche ein.

»Komm, wir gehen Maschmann suchen!«

Seit den frühesten Morgenstunden besserte ihr Kutscher und Hausmeister Maschmann die Halligkante mit Basaltsteinen aus, damit Sturmfluten, die in Herbst und Winter die Hallig überschwemmten, den weichen Schlick nicht noch weiter abtrugen.

*

Hinter der Korblahnung im Osten der Hallig tauchte Maschmanns dichter blonder Haarschopf auf.

»Wat is los?«, rief er und schwenkte seine Mütze.

»Der Hund ist so unruhig. Ist jemand im Watt unterwegs?«

»Nee, bestimmt ni! Hüüt, bi dee Hitz? Do is dor buten bestimmt keen Mensch! Un de Breefträger kümmt je og ers in twee Dag wedder!«

Maschmann stieg über einen schmalen Wassergraben und kam mit gemächlich wiegendem Gang auf sie zu. Er war jahrelang zur See gefahren. Es war ihm anzumerken, dass ihn kaum etwas aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Er pfiff, und Hunter setzte sich neben ihm auf den Hinterbeinen ab, sprang aber sofort wieder auf und horchte aufmerksam in die Stille hinein.

»Dem ist wohl die Hitze zu Kopf gestiegen«, meinte Maschmann.

»Das dachte ich zuerst auch«, sagte Gräfin Diana matt. »Aber so verrückt ist Hunter nicht. Er hört irgendetwas, da bin ich mir sicher.«

»Ik hör nix …«

»Ich schon«, sagte die Gräfin.

Maschmann kniff die Augen zusammen und musterte sie. Nachdenklich beobachteten beide den Hund, der immer noch im Watt draußen eine Beute zu wittern schien.

Nur das Saugen und Gluckern des Schlicks war zu hören. Die Hitze schien selbst die Seevögel zu vertreiben. Es war bedrückend still. Weder ein Kreischen noch ein Pfeifen oder Gurren in der Luft.

»Der Hund hat bis vorhin geschlafen. Vielleicht träumt er noch«, meinte Diana. Und ich auch. Obwohl ich nicht geschlafen habe.

»De drömt ni«, versicherte Maschmann und pfiff dem Hund hinterher, der auf dem nassen Wattboden herumfegte, kurz stehen blieb und in die Ferne lauschte.

»Sonst schlafen Sie doch um diese Uhrzeit?« Maschmann tätschelte Hunter, der sich hechelnd wieder zu ihnen gesellte.

»Ich wollte mich gerade hinlegen. Der Hund hat mich nicht in Ruhe gelassen. Ich werde mal nachsehen, was ihn so aufregt. Ich reite raus ins Watt.«

»Wäre es nicht besser, sich im Haus aufzuhalten? Sie sollten sich ausruhen. Diese Hitze sind Sie nicht gewohnt …«

Maschmann wusste, wie sehr die Gräfin es verabscheute, bevormundet oder auf ihre Befindlichkeit angesprochen zu werden. Ob sie erschöpft oder ausgeruht war, ging nur sie selbst etwas an. Die Bewohner der Nachbarinseln erzählten sich gern, die Comtesse — oder Hallig-Gräfin, wie sie von den meisten genannt wurde — müsse bereits ein hohes Alter erreicht haben. Genaueres wusste aber niemand.

Knut Maschmann war es völlig gleichgültig, wie alt seine Arbeitgeberin war. Aufrecht und stattlich erschien sie ihm kräftiger als mancher Mann, und mutiger ohnehin. Seit mehr als zwanzig Jahren war er nun bei der Gräfin angestellt und zufrieden mit seiner Arbeit. Im Winter auf dem Marschhof hinterm Deich und im Sommer auf der Hallig, die man übers Meer hinweg vom Außendeich der Trendermarsch sogar bei schlechtem Wetter mit bloßem Auge sehen konnte.

Während seiner Zeit als Jungspund auf See hatte er versäumt, ein Mädchen zu finden, das er hätte heiraten können. Eine Frau zu umschmeicheln und Gefühle zu zeigen, lag ihm aber ohnehin nicht. Geschweige denn Derartiges mit Worten auszudrücken. In Diana von Reventlow-Criminils Nähe fühlte er sich wohl. So umsichtig, wie sie alle Arbeiten — selbst die schwersten — verrichtete, passte sie ihm gut in den Kram. Am besten gefiel ihm, wie geschickt sie darin war, langatmige Klönschnacks mit einem auf die Schnacker passgenauen Satz abzukürzen. Jeder, der sich mit ihr länger als nötig unterhielt, bekam es mit ihrer Schlagfertigkeit zu tun. Ganz abgesehen von ihrem feinen, ironischen Lächeln, das ihn dann besonders freute. Er mochte auch ihre dunkle, raue Stimme, mit der sie geduldig, doch entschieden Menschen wie Tiere beeindruckte, ohne ihnen ihren Willen aufzuzwingen. Vor allem aber sprach sie Plattdeutsch, als wäre sie mit ihm in die Dorfschule gegangen.

Maschmann war in der Geest, im winzigen Dörfchen Haßmoor, geboren und aufgewachsen. Unweit des Emkendorfer Gutes, auf dem die Gräfin in ihrer Kindheit von Gouvernanten unterrichtet worden war. Damals hatte er von der Comtesse wohl gehört. Vor allem von deren Vater, dem alten Grafen Carl Adelbert Felix von Reventlow-Criminil. Zu Gesicht bekommen hatte er sie seinerzeit nie.

Das Schiff, auf dem Maschmann vor mehr als zwanzig Jahren angeheuert hatte, lag in den Sommermonaten manchmal am Kaiser-Wilhelm-Kanal auf Reede. Während eines Landgangs half er in seinem Dorf bei der Ernte aus, als die Comtesse nach einem Helfer suchte, der ihr auf ihrem Hof auf der Insel Nordstrand zur Seite stehen könnte. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg war das. Er war gerade siebenundzwanzig Jahre alt geworden.

Die Gräfin schien umgänglicher zu sein als ihr eigenbrötlerischer Vater. Besser, für sie arbeiten als für irgendeinen sturen Bauern. Auf jeden Fall besser, als auf einem Schiff wochenlang eingesperrt zu sein. Und schließlich — auch dort oben in der Marsch sprach man Platt. Richtig Hochdeutsch zu sprechen, hatte Maschmann nie lernen wollen. Dann hätte er mit Leuten womöglich mehr reden müssen, als ihm lieb war.

Es gab selten Sätze, für die er mehr als fünf Worte brauchte. Ohnehin stellte er nur Fragen, auf die er eine möglichst kurze Antwort bekam. In Zeiten wie diesen, fand er, wurde, egal ob hoch- oder plattdeutsch, ohnehin viel zu viel und viel zu laut gesprochen. Von Leuten, die früher rein gar nichts zu sagen hatten und nun auf einmal das große Wort führten. Mit Wörtern um sich warfen, die kein Mensch hören wollte. Er jedenfalls nicht. Die Hallig-Gräfin verstand ihn auch, wenn er gar nichts sagte. Sie verstand jede Art von Schweigen. Also schwieg Knut Maschmann. Meistens jedenfalls.

»Ich reite schnell hinaus zur Sandbank. Hunter gibt sonst keine Ruhe«, sagte Gräfin Diana.

Maschmann überlegte kurz, ob es nicht sinnvoller sei, er selbst sähe draußen im Watt nach dem Rechten.

Hat gar keinen Zweck, sie umzustimmen. Sie lässt sich nichts vorschreiben. Darin ist sie eigen. Sie findet dort sowieso nichts, dachte er dann.

»Schall ik Liese opsatteln?« Er sah zur Gräfin hinüber und wartete darauf, dass sie Nein sagen würde.

»O ja, Liese. Danke. Und bring bitte mein Gewehr und Wasser für den Hund mit. Und für mich.«

*

Gräfin Diana und keine Mittagsruhe? Was ist passiert, fragte sich Meta Olsen, die junge Haustochter der Gräfin, erstaunt. Während sie das Mittagsgeschirr abwusch, beobachtete sie durchs offen stehende Küchenfenster, wie Maschmann eins der beiden Haflinger-Pferde sattelte und Gräfin Diana ihm kurz darauf mit raschen Schritten an die südliche Halligkante folgte. Sie hatte ihre Kleidung gewechselt und trug jetzt eine weiße Leinenbluse und den unverwüstlichen Hosenrock. Dazu derbe halbhohe Schaftstiefel, die sie vor Jahren bereits auf Jagden in der Umgebung von Gut Emkendorf getragen hatte. In dieser Reitkleidung wirkte sie kraftvoll und unverwundbar. Auch jünger, als sie tatsächlich war.

Sie sieht aus wie eine Herrin, die ihr Land verteidigen will, dachte Meta. So unnachgiebig, wie sie dort jetzt vor Maschmann steht. Der würde ihr doch sonst so einen Ritt in dieser Mittagshitze ausreden!

Heute, in der Frühe, konnte man den Heverstrom vor lauter dichtem, zähem Morgennebel kaum noch sehen. Vielleicht hat sich jemand im Watt verirrt? Vielleicht hat die Gräfin irgendetwas gehört oder entdeckt? Aber warum schickt sie dann nicht besser Maschmann hinaus, um nachzusehen? Warum reitet sie bei dieser Hitze selbst ins Watt? Kopfschüttelnd wusch Meta weiter das Essgeschirr ab.

Gräfin Diana ruhte sich nach dem Mittagessen eigentlich immer auf dem Sofa aus. Sogar wenn Besuch da war. Und immer mit einem Buch in der Hand, obwohl sie darüber meistens einschlief. Auch Meta genoss die Mittagsstunden. Sie zog sich dann gern in ihre Stube im Erdgeschoss zurück, die trotz hochsommerlicher Temperaturen noch kühl und etwas feucht war, rückte ihre Staffelei vor das große Nordfenster und malte.

Erstaunt beobachtete Meta nun aber, wie die Gräfin zügig das Pferd bestieg und sich von Maschmann Jagdgewehr und Rucksack reichen ließ. Sie nickte ihm dankend zu, und er legte kurz grüßend den Finger an die Mütze. Dann verschwanden die Reiterin und der Hund im Dunst wie hinter einem Vorhang.

*

Diana folgte ihrem Jagdhund in leichtem Trab. Hin und wieder kehrte er zu ihr zurück, um gleich mit langen Sprüngen weiter voranzupreschen. Er rannte tatsächlich auf die Sandbank zu. Dass sie dort jetzt zahlreiche Seehunde aufscheuchen würden, missfiel ihr. Wieder hob sie das Fernglas vor die Augen.

Der nur wenige Kilometer entfernte Wall Niedam aus angeschwemmtem Kies und Sand südlich der Hallig wurde vom Flimmern des Wattbodens verschluckt. Sie horchte in die Stille hinein, ob sie die vorhin an der Halligkante vernommenen Töne noch einmal hören würde.

Hunter schlug einen Haken und rannte über die Wattfläche, die im frühen Mittelalter Edomsharde genannt und damals von sogenannten Königsfriesen bewohnt wurde.

Vielleicht rannte Hunter zur Ausgrabungsstelle Utlande, wo der Heimatforscher Andreas Busch schon vor Jahren Überreste der mittelalterlichen Stadt Rungholt gefunden hatte, überlegte Diana. Vielleicht war er es, den der Hund witterte. Durchaus möglich, dass Andreas Busch auch heute wieder nach Fundstücken suchte.

Den Nordstrander Tüftler und Uhrmacher kannte sie gut. Bei seinem Antrittsbesuch auf der Hallig hatte er ihr einige archäologische Tonscherben gezeigt und erklärt, sie würden wahrscheinlich von den mittelalterlichen Siedlungen Grote Rungholt und Lütke Rungholt stammen. Im Watt hatte er zahlreiche Überreste alter Ortschaften gefunden. Pfähle einer Schleuse oder Ziegelsteine von Brunnen einstmals bewohnter, untergegangener Warften. Anfang der Zwanzigerjahre hatte er sogar eine tönerne Okarina mit nach Hause gebracht, um die sich bei den Inselbewohnern alle möglichen Spökereien und abenteuerliche Geschichten rankten.

Diana zog die Zügel zu sich heran und brachte das Pferd zum Stehen. Vernahm sie nicht wieder die klagenden Töne? Die gleichen, die sie vorhin auf der Hallig gehört hatte? Manchmal, raunten sich die Leute an der Küste zu, Ende Juni bei ruhigem Wetter, sei am Johannistag im Watt das Läuten der Glocken von Rungholts Kirchen zu hören, und ihr kam die Ballade Trutz, blanke Hans in den Sinn. Ein Gedicht, das Detlev von Liliencron in den 1880er-Jahren als Hardesvogt auf Pellworm der Rungholt-Sage nachempfunden hatte.

Unsinn, schalt sie sich und wischte energisch die Schweißperlen von Stirn und Wangen. Das flirrende Licht über dem Wattboden spielte ihr einen Streich. Ihr stiegen die vielen Geschichten zu Kopf, die sie im Laufe der Jahre in dieser abgelegenen Weltgegend gehört hatte. Sie war froh, dass Maschmann nicht in der Nähe war, der sie sofort für spleenig halten würde.

Diana kannte die wahre Gefahr der Umgebung: wenn die Flut höher und höher stieg und meterhohe Wellen über das flache Land hinwegtobten. Noch heute erinnerte sie sich nur widerwillig und mit Grauen an jene Sturmnacht, in der sie gefräßigen, übermächtigen Wellen hilflos ausgeliefert war. Vergeblich versuchte sie, die Todesangst zu vergessen, die sie in jener Nacht ergriffen hatte. Die endlosen Stunden, in denen sie um ihr Überleben kämpfte und ihre Pferde vor dem Ertrinken zu retten versuchte. Irgendwann hatte sie aufgehört zu zählen, wie oft Südfall und die Warft samt Hallighaus überflutet worden waren. Irgendwann gehörten die regelmäßig wiederkehrenden Sturmfluten und das zähe Ringen um jeden Meter entrissenes Land zu ihrem Leben. Genau wie das Flicken und die Instandsetzung des Hauses, der Ställe, der Zäune und Holzstege nach jedem »Land unter«.

Unvermittelt stoppte Diana ihren Ritt und ließ die Zügel auf den Hals des Pferdes sinken. Die heiße Luft erschien ihr zäh wie der feuchte Schlick, der die Hufe ihres Haflingers einsaugte. Die Stille ist unerträglich, dachte sie beunruhigt. Warum nur hatte sie unbedingt allein durch diese Leere, diese schier endlose Einsamkeit reiten wollen? Was wollte sie beweisen? Dass sie immer noch stark genug war? Nach wie vor ohne jede Hilfe auskommen könnte?

Das Meer hatte im Schlick ein gleichmäßiges Wellenmuster hinterlassen. Als wollte es daran erinnern, dass es schon bald zurückkehren würde. Der Boden war jetzt trittfester, und das Pferd kam schneller vorwärts. Diana hob das Fernglas und beobachtete, wie Hunter sich vorsichtig einem dunkel schimmernden Gebilde näherte.

Vielleicht hatte die Flut Teile eines gesunkenen Fischkutters ans Tageslicht gespült, versuchte sie, sich das merkwürdig eckig aufragende Etwas mitten im Watt zu erklären. Oder es waren Trugbilder, Luftspiegelungen, die ihr etwas gar nicht Vorhandenes vorgaukelten. Konnte es sich um eine Bombe handeln? Von britischen Tieffliegern abgeworfen, bevor sie, von überflüssig gewordener Last befreit, nach England zurückkehrten. Es war wirklich zu gefährlich, sich derzeit im Watt aufzuhalten. Maschmann hatte vor Kurzem erst berichtet, die Luftabwehr auf Sylt habe Abschüsse britischer Bombenflugzeuge gemeldet.