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Das II. Vaticanum hat das Selbstverständnis der Katholischen Kirche und ihr Verhältnis zur "Welt von heute" neu bestimmt. Dabei hat es unterschiedliche Metaphern und Bilder geprägt, die breit rezipiert wurden, u.a.: Volk Gottes, Zeichen der Zeit, Hierarchie der Wahrheiten, Kirche der Armen, Sakrament des Heils. Renommierte Fachleute stellen diese "Konzilsmetaphern" vor und fragen nach deren Potential, auch in Gegenwart und Zukunft Orientierung zu geben.
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Seitenzahl: 696
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Die großen Metaphern desZweiten Vatikanischen Konzils
Ihre Bedeutung für heute
Herausgegeben vonMariano Delgado und Michael Sievernich
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
ISBN (E-Book) 978-3-451-80035-1
ISBN (Buch) 978-3-451-34051-2
Inhalt
Vorwort
Mariano Delgado / Michael Sievernich
Abkürzungsverzeichnis
Zur Rezeption und Interpretation des Konzils der Metaphern
Mariano Delgado / Michael Sievernich
I. Zur Hermeneutik des Konzils
Die „Pastoralität“ des Zweiten Vatikanischen Konzils
Michael Sievernich SJ
Aggiornamento
Michael Bredeck
Aufrichtiger und geduldiger Dialog
Peter Walter
Zeichen der Zeit
Hans Waldenfels SJ
Hierarchie der Wahrheiten
Markus Enders
II. Kirche und Liturgie
Sakrament des Heils für die Welt.Annäherungen an einen ekklesiologischen Leitbegriff des Konzils
Jan-Heiner Tück
Volk Gottes
Eva-Maria Faber
Kollegiale Einheit
Santiago Madrigal SJ
Kirche der Armen
Margit Eckholt
Mutter Christi und Mutter der Menschen
Erzbischof Gerhard Ludwig Müller
„Tätige Teilnahme“ an der Liturgie als „Quelle und Höhepunkt“ – Kernbegriffe der Liturgiekonstitution neu gelesen
Benedikt Kranemann
III. Welt und Kultur
Zur Bereicherung sowohl der Kirche wie der verschiedenen Kulturen
Robert Schreiter
Autonomie der irdischen Wirklichkeiten.Reflexionen zu einer komplexen Konzilsmetapher
Ingeborg Gabriel
Metaphern, in denen wir (nicht) glauben.Das 2. Vatikanische Konzil und der Atheismus
Benedikt Gilich / Gregor Maria Hoff
Die Ehe als „innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe“
Christoph Kaiser
Die Welt mit der hervorragenden Würde des Menschen mehr in Einklang bringen.Die Friedensbotschaft des II. Vatikanischen Konzils
Heinz-Gerhard Justenhoven
Bildung und Erziehung
Werner Simon
IV. Evangelisierung, Religionen, Spiritualität
Evangelisierung aus der „quellhaften Liebe“ heraus
Kurt Kardinal Koch
Was der Kirche „heilig“ ist. Religionstheologische Perspektiven des Zweiten Vatikanischen Konzils
Franz Gmainer-Pranzl
Mehr als ein Dekret.Zur Bedeutung der Erklärung über die Religionsfreiheit
Roman A. Siebenrock
Die Spiritualität des Konzilsereignisses
Gustavo Gutiérrez
Die Menschheitsfamilie oder Die Mystik des Konzils
Mariano Delgado
Autorenverzeichnis
Bibelstellenregister
Namensregister
Fünfzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wächst international die Zahl der Publikationen, die das große Ereignis neu vorstellen, in seinem Ablauf darstellen und in den historischen Kontext hineinstellen. Weitere Veröffentlichungen kommentieren alle oder einzelne der sechzehn Dokumente, die das Konzil in Form von Konstitutionen, Dekreten und Erklärungen mit großen Mehrheiten und nicht selten nach heftigen Diskussionen verabschiedet hat. Ein besonders verdienstvolles Unternehmen war Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, den Peter Hünermann und Bernd Jochen Hilberath in fünf Bänden (2004–2006) herausgegeben haben. Wieder andere Veröffentlichungen greifen einzelne Sachthemen heraus oder befassen sich mit der Hermeneutik oder der Rezeption des Konzils. Jedenfalls ist das Konzil kein bloß historischer Gegenstand der Forschung für alternde Zeitzeugen, sondern regt gerade jüngere Generationen an, die fragmentarische Rezeption weiterzuführen und mit den Problemstellungen des 21. Jahrhunderts so zu konfrontieren, dass Funken schlagen und das spirituelle, theologische und pastorale Feuer neu entfachen oder wenigstens am Glimmen halten. Wenn die von uns vorgeschlagene „Hermeneutik der Evangelisierung“ auf fruchtbaren Boden fällt und damit die Identitätswahrung auf der Zeitschiene („Kontinuität“) sich mit der Relevanzgewinnung im Raum einer globalisierten Menschheit verbindet, dann könnte das Paradigma einer diakonischen Evangelisierung, das Papst Franziskus durch sein Pontifikat einbringt, das Ende des Konzilsjubiläums im Jahr 2015 zu einem neuen Anfang der Konzilsrezeption werden lassen, die ökumenische, interkulturelle und religionsdialogische Dimensionen stark macht.
Diesem neuen Anfang, den man mit der naturalen Metapher des Sprungs, der kulturalen Metapher des Kompasses oder der agonalen der Fackel veranschaulichen kann, soll der vorliegende Band über die „großen Metaphern des Zweiten Vatikanischen Konzils“ dienen. Er bereichert das bisherige Spektrum um originelle Aspekte, welche die Rezeptionsgeschichte geprägt haben und dieses Potential auch für eine nachhaltige Gestaltung fruchtbar machen können, die künftigen Generationen in Kirche und Gesellschaft zugute kommt. Angesichts des Umfangs und der Vielfalt der angesprochenen Themen, können diese Aspekte nur exemplarischer Art sein. Die einzelnen Aspekte sind insgesamt vier Abteilungen zugeordnet: (1) Hermeneutik des Konzils, (2) Kirche und Liturgie, (3) Welt und Kultur und (4) Evangelisierung, Religionen und Spiritualität. Daraus ergibt sich die Dynamik des Bandes, der zunächst Perspektiven der Hermeneutik zusammenführt, dann im Sinn der Raummetapher Innen- und Außenräume besichtigt, um mit dieser Kenntnis operativ den Fragen nachzugehen, die sich spirituell und missionarisch für das Verhältnis zu den Anderen stellen.
Im einzelnen thematisiert die erste Abteilung zur konziliaren Hermeneutik die zentrale Bedeutung der Pastoralität (Michael Sievernich) und die Öffnungsbewegung des Aggiornamento (Michael Bredeck). Weitere hermeneutisch bedeutsame Aspekte sind der Dialog, der das Anathem ablöst (Peter Walter), die Zeichen der Zeit, die einen Perspektivenwechsel einleiten (Hans Waldenfels) und die Hierarchie der Wahrheiten, die auf Rangfolge abhebt (Markus Enders). Die zweite Abteilung zu Kirche und Liturgie betrachtet exemplarisch die Kirche als allumfassendes Heilssakrament (Jan-Heiner Tück) und als das mit allen Völkern verwobene Volk Gottes (Eva-Maria Faber). Aus der Communio-Ekklesiologie erwachsen bischöfliche Kollegialität (Santiago Madrigal) und eine solidarische Kirche der Armen (Margit Eckholt), aber auch die Bedeutung der Mutter Jesu für die Menschheit (Gerhard Ludwig Müller) und die dynamische Rolle der Liturgie in der Kirche und der pluralen Gesellschaft (Benedikt Kranemann). Die Abteilung der Beiträge zu Welt und Kultur behandelt zum einen die wechselseitige Bereicherung von Kirche und Kultur durch Inkulturation und Austausch (Robert Schreiter), zum anderen die Autonomie menschlichen Wirkens und die ethischtheologischen Folgen (Ingeborg Gabriel), aber auch den zeitgenössischen Atheismus und seine Position im metaphorischen Verfahren des Konzils (Benedikt Gilich / Gregor Maria Hoff). Weitere Aspekte sind die bleibend diskutierten Thematiken des konziliar erneuerten Eheverständnisses (Christoph Kaiser), der christlichen Friedensethik als Kontrapunkt zum sicherheitspolitischen common sense (Hans-Gerd Justenhoven) und der Rolle von Bildung und Erziehung als Menschenrecht und kulturelle Aufgabe (Werner Simon). Die vierte Abteilung schließlich behandelt den Paradigmenwechsel von der Sakramentalisierung zur neuen Evangelisierung (Kurt Cardinal Koch), die Aufmerksamkeit und Antwortbereitschaft für andere Religionen (Franz Gmainer-Pranzl), das kirchliche Novum der Religionsfreiheit als Recht der Person (Roman A. Siebenrock). Abschließend ist von der Spiritualität des Konzilsereignisses die Rede, die in Jesu Spur den Weg zur Proximität und zu einer samaritanischen Kirche eröffnet (Gustavo Gutiérrez) und von der Mystik des Konzils, die in der engen Verbundenheit der Kirche mit der Menschheit zum Ausdruck kommt (Mariano Delgado).
Die Herausgeber danken allen, die sich auf das Projekt der konziliaren Metaphern eingelassen und es mit ihren Beiträgen zu diesem Band bereichert haben. Dank gilt auch dem Verlag Herder für die Annahme des Buchprojekts und Herrn Dr. Stephan Weber für die verlegerische Begleitung. Nicht zuletzt danken wir Herrn Dr. David Neuhold für die redaktionelle Mitarbeit und Frau Lic. theol. Séverine Décaillet für die Arbeit am Register.
Frankfurt a. M. / Freiburg i. Ü.Am Fest der Apostel Petrus und Paulus29. Juni 2013Mariano Delgado und Michael Sievernich SJ
Die Konzilstexte werden nach den international üblichen Abkürzungen zitiert
AA
Apostolicam actuositatem (Dekret über das Laienapostolat)
AG
Ad gentes (Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche)
CD
Christus Dominus (Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe)
DH
Dignitatis humanae (Erklärung über die Religionsfreiheit)
DV
Dei Verbum (Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung)
GE
Gravissimum educationis (Erklärung über die christliche Erziehung)
GS
Gaudium et spes (Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute)
IM
Inter mirifica (Dekret über die sozialen Kommunikationsmittel)
LG
Lumen gentium (Dogmatische Konstitution über die Kirche)
NA
Nostra aetate (Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen)
OE
Orientalium Ecclesiarum (Dekret über die katholischen Ostkirchen)
OT
Optatam totius (Dekret über die Ausbildung der Priester)
PC
Perfectae caritatis (Dekret über die zeitgemässe Erneuerung des Ordenslebens)
PO
Presbyterorum ordinis (Dekret über den Dienst und Leben der Priester)
SC
Sacrosanctum Concilium (Konstituion über die heilige Liturgie)
UR
Unitatis redintegratio (Dekret über den Ökumenismus)
Weitere Abkürzungen
HThKVatII
Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, hg. von Peter Hünermann und Bernd Jochen Hilberath, 5 Bde., Freiburg 2004–2006 (Sonderausgabe 2009)
Die üblichen Abkürzungen folgen dem Abkürzungsverzeichnis im „Lexikon für Theologie und Kirche“ (3. Auflage).
Mariano Delgado / Michael Sievernich
Das Zweite Vatikanische Konzil gilt als das bedeutsamste religiöse Ereignis des 20. Jahrhunderts. Mit ihm hat die katholische Kirche eine enorme – in der Religionsgeschichte beispiellose – Anstrengung unternommen, ihre Identität und ihre Sendung unter den Bedingungen der Moderne zu definieren und zu erklären. Religionssoziologen wie Franz-Xaver Kaufmann betonen die Singularität des Konzils: „Keine andere Weltreligion hat eine vergleichbare kollektive Auseinandersetzung mit der Moderne auch nur versucht, geschweige denn ein vergleichbar eindrückliches Ergebnis erzielt“.1 Das will aber auch heissen: Keine andere Religionsgemeinschaft hat sich einem solchen fundamentalen Wandel ausgesetzt.
Die Unterscheidung von drei Phasen in der bisherigen Rezeption dürfte in der Konzilsforschung konsensfähig sein. Die Phase des Überschwangs war geprägt durch eine kritische Absetzbewegung von der so genannten „pianischen“ Epoche. Einigen erschien das Konzil als „ein absoluter Neubeginn; sie verloren aus dem Blick, dass das Konzil in einer Kontinuität steht und dieselbe auch wollte“2.
Es ist nicht leicht zu sagen, wann die Phase der Enttäuschung begann. Wahrscheinlich zwischen 1968 und 1971, als einige namhafte Theologen sich gegen die Absetzbewegung der ersten Phase und das Verständnis des Konzils als Neubeginn in der Kirchengeschichte positionierten. Die Gründung der Internationalen Katholischen Zeitschrift Communio 1971 gehört zu den markantesten Ereignissen dieser Zeit. Der Leitartikel von Hans Urs von Balthasar im ersten Heft derselben gibt Auskunft über die Kehre und die Bemühung um Kontinuität, die für diese Phase prägend ist. Diese Zeit ist auch markiert durch wiederholte Schreiben des Lehramtes gegen Tendenzen in der Konzilsrezeption, die Gefahr liefen, das Kind mit dem Bade auszuschütten: angefangen mit dem Apostolischen Schreiben Pauls VI. Über die Versöhnung in der Kirche (1974), das ein Mahnwort über die Notwendigkeit und Grenzen des Pluralismus in der Kirche ist, während das Apostolische Schreiben Evangelii nuntiandi (1975) sich gegen den missionarischen Defätismus wehrt und das Apostolische Schreiben Catechesi tradendae (1979), das auch eine Folge des Pontifikats Pauls VI. ist und auf die Krise der Glaubensweitergabe aufmerksam macht.
Es folgt eine dritte Phase, die mit der außerordentlichen Bischofssynode von 1985 eröffnet wurde. Die Synode stellte hermeneutische Regeln zu einer „vertieften Rezeption des Konzils“ auf (s. u.) und lud ein, „das Zweite Vatikanische Konzil besser und vollständiger kennenzulernen, es eingehender und tiefer zu studieren, die Einheit aller Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen weiter zu durchdringen und ihre Schätze zu heben“. Sie erinnerte auch daran, dass das Konzil ja gerade deshalb einberufen wurde, „eine Erneuerung der Kirche besonders im Hinblick auf die Verkündigung in einer veränderten Welt zu ermöglichen“.3 Seitdem ist die Konzilsrezeption durch eine intensive Konzilsforschung und ein wissenschaftliches Ringen um die Interpretation des Konzils gekennzeichnet, aber auch durch ein eher defensiv eingestelltes römisches Lehramt, wie die Instruktionen über die Theologie der Befreiung (1984, 1986) und über die Mitarbeit der Laien am Dienst der Priester (1997) oder die Erklärung Dominus Iesus über die Einzigkeit der Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche (2000) zeigen.
Man kann in dieser dritten Phase, in der wir uns befinden, auch von einer Gefahr der Rezeptionsverweigerung sprechen. Dies betrifft nicht nur diejenigen, die entweder beim ultramontanen Kirchen- und Traditionsverständnis bleiben möchten oder ein Drittes Vatikanisches Konzil fordern, weil das 2. Vaticanum ihnen zu weit oder nicht weit genug gegangen ist. Es betrifft auch die Haltung der römischen Kurie. Rezeptionsverweigerung von oben wäre kein Novum in der Kirchengeschichte: am 1. November 1610 wurde Karl Borromäus, der in seinem Mailänder Bistum für eine beispielhafte Umsetzung der Trienter Reformdekrete gesorgt hatte (Visitationen, Hebung des theologischen und sittlichen Niveaus des Klerus, rege synodale Tätigkeit, Verkörperung des neuen Bischofsideals als „pastor“, der dem Beispiel des guten Hirten nacheifert, und nicht als „dominus“, der seine Schafe unterdrückt und von deren Wolle lebt), heilig gesprochen. Doch darauf folgte in Rom nicht ein Jahrhundert der Umsetzung der Trienter Kirchenreform, sondern eher eines, in dem die Übel des Renaissance-Papsttums, das Höfische und der Nepotismus, weitere Höhepunkte erlebten.
Das singuläre Ereignis, die diversen Dokumente und die weltweite Wirkungsgeschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils fordern ein halbes Jahrhundert post festum zu einer Interpretation heraus, die der Inspiration Johannes XXIII. und der Intention der Konzilsväter gerecht wird, aber auch der Kirche in Gegenwart und Zukunft dienlich ist. Die Deutungen sind pluraler Art und gehen teilweise weit auseinander. Das Spektrum beginnt auf der einen Seite bei der providentiellen Sicht des Konzils als eines Ereignisses des Heiligen Geistes. Sie hebt darauf ab, dass die Kirche schon vor dem einschneidenden Kulturwandel der 60er und 70er Jahre durch Beratung und Abstimmung in einer konziliaren Versammlung zum Konsens und zu Kategorien für ein neues Selbstverständnis und für eine neue Zeitgenossenschaft gefunden hat. Auf der anderen Seite verliert sich das Spektrum in einer partiell negativen oder total ablehnenden Sicht des Konzils, die bestimmte Dokumente in ihrer Geltung herunterstufen möchte oder konziliare Entscheidungen wie die zu den nichtchristlichen Religionen oder zur Religionsfreiheit nicht anzuerkennen bereit ist.
Zwischen diesen Positionen gibt es zahlreiche weitere Einstellungen zum Konzil, die jedoch meistens von einer positiven Grundstimmung geprägt sind und auf eine weitere, intensivierte Rezeption drängen, damit die Kirche als Volk Gottes „für das ganze Menschengeschlecht die stärkste Keimzelle (germen) der Einheit, der Hoffnung und des Heils“ werde (LG 9). Die mehrheitlich positive Grundsicht wird oftmals von der Hoffnung auf weitere Reformschritte begleitet; sie hofft darauf, dass die Kirche „unter dem Wirken des Heiligen Geistes nicht aufhöre, sich selbst zu erneuern“ (LG 9). Die Erwartungen an das Konzil sind nach wie vor sehr groß und erfordern ein verstärktes Studium der Dokumente und ihre weitere Rezeption im zeitgenössischen Kontext. Vor allem setzt sich die Einsicht durch, dass die Reformschritte nicht erst dort beginnen, wo die großen Institutionen und deren Verantwortliche ins Spiel kommen, sondern dass die abgestufte Verantwortung im Sinn des Konzils schon bei den einzelnen Gläubigen und ihrem glaubwürdigen Zeugnis in säkularen Zeiten beginnt.
Dass es bei grundsätzlicher Akzeptanz und Wertschätzung des Konzils durchaus unterschiedliche Interpretationen geben kann, liegt auf der Hand. Denn die sechzehn Dokumente bieten ein breites Spektrum von Thematiken, die sich einerseits mit der Kirche und ihren inneren Vollzügen befassen und andererseits mit ihren Bezügen nach außen, sei es zur „Welt von heute“, zu den Religionen oder zum Atheismus. Sicher sind die Einzelthemen im Gesamt der Konzilsaussagen zu interpretieren, doch wecken sie unterschiedliches Interesse, sei es bei Kirchenmitgliedern oder bei Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Zudem spielen bei der Interpretation die jeweilige Perspektive und der kontextuelle Standort eine entscheidende Rolle. Wie Frauen und Männer unterschiedliche Sichtweisen einnehmen, so auch Nordamerikaner und Südamerikaner, chinesische und afrikanische Pfarrangehörige, deutsche Bischöfe und ihre brasilianischen Kollegen, spanische und indische Theologen, deutsche Gemeindereferentinnen und ozeanische Katechetinnen. Diese Pluralität der Sichtweisen bringt Perspektiven auf dasselbe Konzil hervor, welche die Kirche als Weltkirche bereichern.
Freilich bedürfen das Konzil und seine Dokumente einer Hermeneutik, die sowohl den mehrheitlich verabschiedeten Texten als auch den zeitgenössischen Kontexten gerecht wird. Für eine solche Auslegung haben sich hermeneutische Regeln herausgebildet, wie sie allgemein auch für andere normative Textcorpora gelten, von den biblischen Schriften, über Konzilsentscheidungen bis hin zum Kodex des kanonischen Rechts. Regeln der Konzilsinterpretation hat die außerordentliche Bischofssynode von 1985 in ihrem Schlussdokument4 formuliert, wenn auch nicht in systematischer Form begründet. Solche Kriterien sind für eine vertiefte Rezeption des Konzils von Belang, um zu angemessenen Interpretationen zu gelangen. Die damals entwickelten Kriterien bedürfen der je neuen Anwendung, aber auch der weiteren Entwicklung. So lautet eine erste Auslegungsregel, dass jedes einzelne Dokument in Verbindung mit den anderen gesehen werden müsse, um den „Gesamtsinn“ der untereinander verflochtenen Konzilsaussagen darzustellen; dabei bilden die vier großen Konstitutionen des Konzils (SC, DV, LG, GS) zusammen den Verständnisschlüssel für die anderen Dokumente. Der zweiten Regel zufolge darf man den pastoralen Charakter der Dokumente nicht von ihrer lehrmäßigen Kraft trennen, besteht doch der pastorale Charakter darin, die Lehre auf die jeweilige Gegenwart zu beziehen und dort verstehbar zur Geltung zu bringen. Weiterhin dürfe man, so die dritte Regel, nicht Geist und Buchstabe des Konzils gegeneinander ausspielen; bilden sie doch eine zu bewahrende Einheit. Die vierte Regel besagt, dass man das Konzil in Kontinuität mit der langen Tradition der Kirche verstehen müsse; das gilt auch für die vorangegangenen Konzilien, die in und aus ihrer Zeit zu verstehen sind. Schließlich gelte es, so die fünfte Regel, im Licht der konziliaren Lehre die heutige Kirche und die Menschen unserer Zeit zu sehen; damit gilt das Konzil nicht nur punktuell für die damalige Zeit, sondern mutatis mutandis generell für jede Zeit. Zur Hermeneutik des Konzils dürfte überdies die einzige Verurteilung der Kirchenversammlung gehören; verurteilt wird die „Spaltung bei vielen zwischen dem Glauben, den man bekennt, und dem täglichen Leben“ (GS 43), da sie zu den „schweren Verirrungen unserer Zeit“ zähle; in der Tat be- oder verhindert sie als Anti-Zeugnis jene Synthese oder Symphonie, die zur Authentizität christlichen Lebens gehört.
Die erste der genannten Regeln sieht in den vier Konstitutionen des Konzils gleichsam den Generalschlüssel zum Verständnis des Konzils. Daher gibt es zahlreiche Reflexionen über die theologische Zuordnung der vier Konstitutionen, die das Herzstück des Konzils bilden. Hierbei sind gewiss verschiedene Wege möglich, die einander nicht ausschließen, sondern eher den Reichtum, bisweilen aber auch den Konflikt der Interpretationen zeigen. Eine mögliche Interpretation besteht darin, die Konstitutionen des Konzils gleichsam avant la lettre den drei unabdingbaren Grundvollzügen der Kirche zuzuordnen, deren dreidimensionale Struktur und Terminologie sich erst nach dem Konzil ausgebildet hat, aber schon im Konzil angelegt war. Als man sich ein Jahrzehnt nach dem Konzil mit der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland an eine regionale Rezeption heranwagte und über die Verwirklichung der kirchlichen Sendung nachdachte, sprach man der Sache nach von einer Trias der Verkündigung des Wortes, des Vollzugs der Sakramente und des Dienstes der christlichen Liebe,5 die dann in den Synodentexten als Trias von Verkündigung, Gottesdienst und Bruderliebe auftaucht.6 Diese Trias, die der Sache nach schon in der dogmatischen Kirchenkonstitution anklingt (LG 26), sollte später zu den viel rezipierten und reflektierten Grundvollzügen von Martyria, Leiturgia und Diakonia werden, die auch weit über die Katholische Kirche ausstrahlen. Diese Grundvollzüge entsprechen sinngemäß der dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung (Dei verbum), der Konstitution über die heilige Liturgie (Sacrosanctum concilium) und der pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute (Gaudium et spes). Wenn und insofern diese Formen der christlichen Sendung Verwirklichung finden, bildet sich jene Gemeinschaft der Kirche (koinonia, communio) heraus, über welche die dogmatische Konstitution über die Kirche reflektiert (Lumen gentium), wie auch umgekehrt überall dort, wo Kirche in ihrem Vollsinn existiert, die drei Grundvollzüge untrügliche Kriterien ihrer Authentizität darstellen. Ohne Kirche keine Grundvollzüge, ohne Grundvollzüge keine Kirche. Das Wesen der Kirche drückt sich in dieser dreifachen Aufgabe aus, wie die Enzyklika Benedikts XVI. Deus caritas est (Nr. 25) festhält. Ein Text des Konzils selbst, das Dekret über Dienst und Leben der Presbyter, stellt diesen Zusammenhang in aller Deutlichkeit heraus, auch wenn die Terminologie noch nicht definitiv ausgeprägt ist. Dort heißt es, dass eine christliche Gemeinde (communitas) nur dann erbaut werde, wenn sie „Wurzel und Angelpunkt in der Feier der heiligsten Eucharistie“ habe, von der die Erziehung zum Geist der Gemeinschaft ihren Anfang nehmen müsse. „Damit diese Feier aber aufrichtig und vollkommen wird, muss sie sowohl zu vielfältigen Werken der Liebe (caritas) und zu gegenseitiger Hilfe (adjutorium) als auch zu missionarischer Tätigkeit und zu vielfältigen Formen de christlichen Zeugnisses (testimonium) führen.“ (PO 6)
Die fünfte der oben genannten Regeln der Konzilshermeneutik erwähnt den Bezug zur heutigen Kirche und zu den Menschen unserer Zeit, mithin zum zeitgenössischen Kontext. Dieses Kriterium ist so bedeutsam, dass es schon im Konzil selbst auftaucht, und zwar in der ersten Fußnote der Pastoralkonstitution, die sich zwar ausdrücklich auf Gaudium et spes bezieht, doch generelle Geltung beanspruchen kann, da es um das „pastorale“ Prinzip geht. Damit sind nicht die pastoralen Praktiken gemeint, sondern der Bezug auf den historisch variablen Kontext der jeweiligen Gesellschaft, der dementsprechend „veränderliche Umstände“ aufweist; dies zeigt sich deutlich im zweiten Teil der Pastoralkonstitution, die gesellschaftliche Fragen wie Ehe, Kultur, Wirtschaft, Krieg und Frieden, internationale Gemeinschaft erörtert. Ein solcher Bezug zum Kontext erfordert die Verhältnisbestimmung von „bleibenden“ und „bedingten“ Elementen (GS 1), die im Raum der Konzilshermeneutik das Verhältnis von Text und Kontext bezeichnet. Zwar bezieht sich die Pastoralkonstitution zeitlich auf den Kontext ihres Entstehens, der sich seitdem gewiss in vielfacher Weise verändert hat, doch gilt hier die Analogie, dass der Textsinn nicht nur in rekonstruktiver Hermeneutik zu erschließen ist, sondern auch in applikativer Hermeneutik im Hinblick auf den jeweiligen Kontext. Der Sitz im Leben bezieht sich folglich nicht nur auf die Entstehungszeit der Texte, sondern auch auf das zeitgenössische Leben.
Am Anfang des Konzils hatte Johannes XXIII. für seine Eröffnungsansprache Gaudet mater Ecclesia vom 11. Oktober 1962 eine wirkmächtige Metapher vorgesehen. Kurz bevor er auf das Desiderat eines Lehramts von „vorrangig pastoralem Charakter“ zu sprechen kommt, gebraucht der Papst in der italienischen Urfassung der Ansprache die Metapher vom „Sprung“. Der „springende Punkt“ (lat. punctum saliens) sei nicht die erneute Diskussion von grundlegenden Glaubensartikeln; dafür brauche man kein Konzil, da diese vertraut und bekannt seien. Vielmehr erwarteten die Katholiken von der umfassenden Lehrtradition der Kirche, wie sie im Tridentinum und dem Ersten Vatikanum erkennbar sei, einen „Sprung nach vorn“ (italien. balzo innanzi), der „einem vertieften Glaubensverständnis und der Gewissensbildung zugute“ komme.7 Diese springende Metapher erfuhr jedoch ein eigenes Schicksal, da sie im Verlauf der Redaktion aus der lateinischen Version der päpstlichen Ansprache verschwand. Die offizielle lateinische Version erfuhr eine derartige „Glättung“, dass die Metaphern vom „springenden Punkt“ und vom „Sprung nach vorn“ nicht mehr auftauchten und daher auch in den Übersetzungen (aus der lateinischen Version) in andere Sprachen fehlten. Der Text erlebte also eine Entmetaphorisierung, die ein Sprachbild traf, das besonders geeignet erschien, der Intention des Textes gerecht zu werden.
Am Ende des Heiligen Jahres 2000 und zu Beginn des neuen Jahrtausends machte Papst Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben Novo Millenio ineunte vom 6. Januar 2001 (Nr. 57) mit einer nicht weniger einprägsamen und wegweisenden Metapher auf das Konzil aufmerksam. Er fühlte sich zum Abschluss des Großen Jubiläums dazu verpflichtet, „auf das Konzil als die große Gnade hinzuweisen, in deren Genuss die Kirche im 20. Jahrhundert gekommen ist. In ihm ist uns ein sicherer Kompass (sicura bussola) geboten worden, um uns auf dem Weg des jetzt beginnenden Jahrhunderts zu orientieren.“ In der Tat ist die nautische Metapher höchst angemessen, um dem Schifflein Petri die richtige Richtung anzuzeigen, zumal dieses technische Instrument mit der nach Norden weisenden Nadel als eine frühneuzeitliche Erfindung in jene Epoche gehört, mit dem die Globalisierung begann und die Orientierung dringlicher wurde, nicht nur auf den Ozeanen. Bezeichnet die Metapher des Sprungs den Aufbruch, so die Metapher des Kompasses die Richtung. Das Konzil steht nach diesen päpstlichen Metaphern für beides, für Aufbruch und für Orientierung.
Den Texten des Konzils sind Metaphern natürlich nicht fremd. Vielmehr weist es eine dichtere metaphorische Sprache auf als die vorangegangenen Konzilien, die mehr dem scholastischen oder neuscholastischen Sprach- und Denkstil verpflichtet waren. Damit aber war eine gewisse Entmetaphorisierung verbunden, da man auf begrifflich präzise Aussagen und Definitionen Wert legte, die „forensischen“ Ansprüchen genügen mussten, da die konziliaren canones ja strafbewehrt waren. Der Preis solcher Präzision war freilich der schleichende Verlust einer metaphorischen Sprache. Diesen Verlust scheint die konziliare Sprache des Zweiten Vatikanischen Konzils wieder auszugleichen, indem sie eine metaphernreichere Sprache verwendet. Dabei handelt es sich nicht bloß um die Anwendung rhetorischer Stilmittel des Redeschmucks, sondern um eine gesteigerte Erkenntnisleistung eigener Art, die in der Logik der Bilder begründet ist. Dass die Texte des Konzils vergleichsweise metaphernreicher geworden sind, hängt mit der Grundentscheidung zusammen, sich von der Heiligen Schrift „nähren und leiten“ zu lassen (DV 21) und stärker an die biblische und die biblisch geprägte patristische Sprache anzuknüpfen. Damit hat das Konzil auf der Ebene der Sprachbilder faktisch und praktisch vollzogen, was im „iconic turn“ der letzten beiden Jahrzehnte reflektiert wird. Mit der Rückkehr der Bilder stellt sich eine verstärkte Aufmerksamkeit für die erkenntnistheoretische Bedeutung der Metaphern ein, auch im theologischen Bereich.8
In den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils gibt es eine Fülle von Bildern, welche die propositionalen Aussagen umspielen. Die dogmatische Kirchenkonstitution zum Beispiel umgibt den Terminus technicus „Kirche“, der begrifflich und dogmatisch klar und eindeutig definiert ist, zusätzlich mit zahlreichen Metaphern biblischer und patristischer Provenienz. Metaphern führen offensichtlich einen semantischen Mehrwert mit sich, der begrifflich nicht einzuholen ist und die sprachliche Logik durch die bildliche Logik ergänzt. Mit der Begründung, dass sich das innerste Wesen der Kirche „in verschiedenen Bildern“ (variis imaginibus) erschließe, die sächlich vom Hirtenleben, Ackerbau und Hausbau oder personal von der Familie, dem Verlöbnis oder dem Körper genommen sind, führt die dogmatische Kirchenkonstitution zahlreiche Metaphern auf (LG 6 und 7). Dazu gehört der „Schafstall“ (ovile), der ins Bildfeld des Hirten und des „Hirten der Hirten“ (pastor pastorum) gehört; das „Ackerfeld“ (agricultura), auf dem der alte Ölbaum und der Weinstock wachsen; das „Bauwerk Gottes“ (aedificatio), ein Bild, dem sich weitere Bilder anschließen wie Haus, Familie und Zelt Gottes; die „Braut“ (sponsa) des Lammes und der „Leib“ (corpus) des Herrn. Diese Beispiele des Metapherngebrauchs in konziliaren Dokumenten zeigen den Wandel von der vornehmlich begrifflichen Sprache zu einer Sprache, die sich verstärkt auch in Metaphern Ausdruck verschafft und in Bildern redet, die zu denken geben.
Über solche kleinen Metaphern hinaus, die jeweils einen Zusammenhang bildlich veranschaulichen und einen semantischen Hof um den scharfen Begriff bilden, hat das Zweite Vatikanische Konzil auch große Metaphern ausgebildet. Ihre „Größe“, selbst wieder ein metaphorischer Ausdruck, bemisst sich an der nachhaltigen Wirkungsgeschichte eines konziliaren Ausdrucks, ob metaphorisch oder nicht. Denn einerseits finden sich in der Fülle der konziliaren Metaphern solche, die eine durchgehende und allgemeine Rezeption erfahren haben. Dazu gehört zum Beispiel die Raum-Metapher ad intra und ad extra, die Léon-Joseph Suenens für die thematische Strukturierung des Konzils vorgeschlagen hatte. Dazu gehört die Metapher des „Pastoralen“, die für das Lehramt, eine konziliare Konstitution und das gesamte Konzil prägend wurde. Dazu kommen Metaphern wie „Volk Gottes“ zur Charakterisierung der Kirche, „Zeichen der Zeit“ für eine theologische Analyse der Gegenwart, „Quelle und Höhepunkt“ für die Eucharistie in der sakramentalen Verfassung, „Zeichen und Werkzeug“ für die Sakramentalität der Kirche, „Hierarchie der Wahrheiten“ zur Kennzeichnung einer Rangordnung, „Menschheitsfamilie“ zur Bezeichnung der Einheit der Menschheit, „Aggiornamento“ zur Bezeichnung der Modernisierung als Eingehen auf den zeitgenössischen Kontext.
Doch über diese und ähnliche Metaphern aus dem Umfeld konziliarer Texte hinaus, finden sich in der Rezeptionsgeschichte auch Begriffe, die im Sprachgebrauch ihrerseits zu Metaphern kirchlichen Selbstverständnisses wurden, weil sie über ihren begrifflichen Gehalt hinaus wie in einem Spiegel paradigmatische Entwicklungen oder Erwartungen bündeln und ein semantisches Feld repräsentieren, das über den einzelnen Begriff hinausgeht. Dazu gehören zweifelsohne Begriffe wie „Dialog“, „Kollegialität“, „Religionsfreiheit“, „Armut“, „Mission“, „gemeinsames Priestertum“, „Ökumene“, „Evangelisierung“, um nur einige zu nennen. Es mag wie ein hölzernes Eisen klingen, von begrifflichen Metaphern zu sprechen; sie zeichnen sich jedoch dadurch aus, dass sie wie Metaphern wirken, weil sie ein attraktives semantisches Umfeld aufladen und eine Wirkungsgeschichte aufweisen, die den Erfahrungs- und Sprachraum der Kirche prägt und erweitert.
Bibel, Tradition und Konzil bedienen sich bestimmter Metaphern, die auch in anderen als kirchlichen oder konziliaren Kontexten eine bedeutende Rolle spielen. Dazu gehört die kulturell ubiquitäre Metapher des Lichts,9 die in theologischen Kontexten insbesondere auf die johanneische Lichtmetaphorik referiert (vgl. Joh 12,46). Das Konzil spricht an prominenter Stelle von Christus als dem Licht der Völker (lumen gentium), das auf dem Antlitz der Kirche widerscheint (LG 1). Die erste Enzyklika (29. Juni 2013) von Papst Franziskus (Lumen fidei), die weitgehend auf dem Entwurf seines Amtsvorgängers fußt, bedient sich ebenfalls der Lichtmetaphorik und spielt auf die Dialektik des Lichts an.10 Denn „Licht“ ist auch das Programmwort der Aufklärung und wird zur Bezeichnung einer Epoche; die Lichtmetaphorik wird im Französischen (siècle des lumières), im Englischen (Enlightenment) und im Spanischen (siglo de las luces) besonders augenfällig. Die Metapher des Lichts bringt den Sieg der Vernunft über die Finsternis der Irrationalität zum Ausdruck, ein Sieg, den Kant auf den Mut zurückführt, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Aufklärung wird zum konkurrierenden Schöpfungsakt, in dem ja das Licht von der Finsternis geschieden wurde (vgl. Gen 1,3f). Das Licht der Offenbarung und das Licht der Vernunft scheinen sich gegenüberzustehen, manchmal wie feindliche Brüder, bisweilen irenisch wie Freunde, jedoch bleibend antagonistisch. Bemerkenswert scheint hierbei der Vorgang, dass „Aufklärung“ als Denkstil und Epochenbezeichnung nicht auf die harte rationale begriffliche Schärfe zurückgreift, sondern just auf eine „weiche“ Metapher, um sich attraktiv zu machen, von der Dunkelheit (anders Denkender) abzusetzen und den Fortschritt zu signalisieren. Dieser feierte in der Elektrizität des 19. Jahrhunderts fröhliche Urständ, führte jedoch im 20. Jahrhundert zum naturwissenschaftlich erzeugten Lichtblitz der ersten über Hiroshima abgeworfenen Atombombe, der seine eigene Finsternis erhellte.
Es liegen also Metaphern im Streit, auf der einen Seite das am Schöpfungsmorgen und in der Osternacht besungene Licht Christi, auf der anderen Seite das Licht der Aufklärung und des ambivalenten Fortschritts. Ob das Licht des Glaubens und das Licht der Vernunft in unserer Zeit besser zusammenfinden und zum Wohl der Menschheit ihre gemeinsame Aufgabe entdecken und so kooperieren, dass weder Glaube noch Vernunft fundamentalistisch entgleisen, dürfte nicht zuletzt an den jeweiligen Gemeinschaften liegen, an den Plausibilitäten ihrer Praktiken und der Orientierungsfähigkeit ihres jeweiligen Lichtes. Dabei ist freilich eine Asymmetrie zu beachten: der christliche Glaube und die Kirche können nur dann auf das Licht verweisen, wenn es das Licht Christi widerspiegelt, gemäß der patristischen Metapher vom „mysterium lunae“. Tropisches Potential hat die Lichtmetaphorik jedenfalls allemal, und daher sollen Christen ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern „vor den Menschen leuchten lassen“ (Mt 5,16).
In seinen Reflexionen über die Praktiken im Raum erzählt der französische Theologe und Semiotiker Michel de Certeau davon, dass die kommunalen Verkehrsmittel im heutigen Athen „metaphorai“ heißen. Man nimmt also eine „Metapher“, um sich im Raum zu bewegen, um zur Arbeit oder nach Hause zu fahren. „Auch die Geschichten könnten diesen schönen Namen tragen: jeden Tag durchqueren oder organisieren sie die Orte; sie wählen bestimmte Orte aus und verbinden sie miteinander; sie machen aus ihnen Sätze und Wegstrecken. Sie sind Durchquerungen des Raums.“11 Metaphern als Verkehrsmittel, auch diese Metapher aus dem zeitgenössischen Alltagsleben vermag die Aufgabe und Reichweite der Metapher anschaulich darzustellen. Denn Metaphern überschreiten die Grenzen der scharfen Begriffe, präzisen Definitionen und logischen Argumentationen. Sie übersetzen Sprachen ineinander und zugleich setzen sie über, überwinden Grenzen. Sie durchqueren systemische Räume mit ihren Orten fixierter Begrifflichkeit und verbinden diese. Sie holen die Sprache, auch die theologische, vom hohen Kothurn einer Begrifflichkeit, die sich zeitlos und ortlos gibt, und machen sie wieder landläufig. Sie zeigen, welche Sprache im doppelten Sinn des Wortes an der Zeit ist. Metaphern sind primär weder Ornament noch uneigentliche Rede, sondern innovative Wendungen, die einen Reichtum an Spannungen und Bezügen entfalten, der wiederum der Anstrengung des Begriffs bedarf.
Die kleinen und großen Metaphern des Konzils haben einzeln und im Gesamt erheblich zu seiner nachhaltigen Rezeption beigetragen; aufgrund ihres Potentials dürften die Texte, zumal wenn in neuen Kontexten gelesen, noch keineswegs ausgeschöpft sein, sondern neue Dynamiken auslösen. Der Konzilstheologe Karl Rahner hat in seiner theologischen Grundinterpretation nicht nur herausgehoben, dass das Zweite Vatikanische Konzil anfanghaft „der erste amtliche Selbstvollzug der Kirche als Weltkirche“ gewesen sei, sondern auch betont, dass sich dadurch „so etwas wie ein qualitativer Sprung ereignet“ habe.12 Der Sprung zur Weltkirche werde etwa deutlich am Gebrauch der Muttersprachen in der Liturgie, an der Bewusstwerdung der kirchlichen Verantwortung „für die kommende Geschichte der Menschheit“, aber auch an der positiven Würdigung der Weltreligionen und der Religionsfreiheit, zur Konzilszeit ein kirchliches Novum. Da dieser Sprung den Übergang von der Westkirche zur Weltkirche mit sich bringe, bedürfe es einer neuen Pluralität in den Bereichen der Verkündigung, der Liturgie, der Moral, einer Neuinterpretation des christlichen Glaubens im Kontext einer sich globalisierenden Gegenwart. Deren Verdichtung von Raum und Zeit läßt die Katholische Kirche nicht auseinanderdriften, sondern erfordert ein Modell der inneren Einheit im Glauben, das Platz läßt für verschiedene Ausdrucksgestalten, die als Reichtum der Katholizität anzusehen sind. Die großen und kleinen Metaphern des Konzils können wie innerkirchliche Verkehrsmittel fungieren und die Texte des Konzils semantisch so miteinander verknüpfen, dass sie den zeitgenössischen kirchlichen Entwicklungen dienen. Aber sie können auch Verkehrsmittel zu den zeitgenössischen Kontexten sein, die mithelfen, den Selbstanspruch eines „pastoralen“ Konzils angemessen einzulösen, der die Kirche mehr und mehr in die Menschheit einbettet. Dieser qualitative Sprung findet ein halbes Jahrhundert nach der erwähnten Eröffnungsansprache Johannes XXIII. ein Pendant in der minutenkurzen Brandrede, die Kardinal Jorge Mario Bergoglio im Vorkonklave (März 2013) hielt und deren Programmatik seinem Pontifikat als Papst Franziskus das Profil geben dürfte. Denn dort fordert er eine Kirche, die aus sich heraustritt, also einen Sprung aus der Autoreferentialität hin zu den existentiellen Peripherien wagt und so den Wandel von einer mundanen zu einer evangelisierenden Kirche vollzieht.13 Damit aber dürfte auch ein konziliares Desiderat Wirklichkeit werden: nämlich die „Aufgabe der Kirche, Gott, den Vater, und seinen fleischgewordenen Sohn gegenwärtig und gleichsam sichtbar zu machen, indem sie sich unter Führung des Heiligen Geistes unaufhörlich erneuert und reinigt.“ (GS 21)
Wir sprachen oben von der Sprungmetapher in der Eröffnungsansprache Johannes XXIII. und von der Lichtmetaphorik des Konzils. Johannes XXIII. griff auch zu einer weiteren bedenkenswerten Metapher, nämlich der der „Fackel“ (fiaccola, lat. fax) der religiösen Wahrheit, die das Konzil erhebe. In mancher deutschen Übersetzung wird dies als „Leuchte der Glaubenswahrheit“ bezeichnet.14 Aber die Fackel-Metapher enthält auch die Konnotationen der vorangetragenen Fackel und deren Weitergabe im Staffellauf, also der Glaubensweitergabe, der Evangelisierung. Und gerade dies ist das Grundthema und der Zweck des Konzils: die kirchliche Erneuerung soll der besseren Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute dienen. Dies verbindet das Konzil mit einer dezidierten, heilsoptimistischen Betonung des universalen Heilswillens, der aus der „ ‚quellhaften Liebe‘ (ex fontali amore), dem Liebeswollen Gottes des Vaters“ (AG 2) entspringt. Die Offenbarung, in der der unsichtbare Gott die Menschen wie Freunde anredet und mit ihnen verkehrt, „um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen“, geschieht „aus überströmender Liebe (ex abundantia caritatis)“ (DV 2). Ebenso ist an anderen Stellen, in einer eher biblisch-patristischen und mystischen als neuscholastischen Sprache, von der Erschaffung und Erhaltung des Menschen aus Liebe (ex amore, GS 19, auch 2) die Rede, oder dem Hervorgehen der Kirche aus ebensolcher Liebe (ex amore, GS 40).15 Das Konzil versucht, das Glaubensnarrativ (Heilsplan Gottes mit der Menschheit, Sinn und Sendung der Kirche) angesichts der heutigen Evangelisierungsaufgabe in einer Sprache der liebevollen Zuwendung Gottes zur Welt und im Zeichen einer dienenden, barmherzigen Kirche, wie es dem Beispiel des Guten Hirten entspricht, so klar und einladend wie möglich zu präsentieren: „Dabei bestimmt die Kirche kein irdischer Machtwille, sondern nur dies eine: unter Führung des Geistes, des Trösters, das Werk Christi selbst weiterzuführen, der in die Welt kam, um der Wahrheit Zeugnis zu geben; zu retten, nicht zu richten; zu dienen, nicht sich bedienen zu lassen“. (GS 3)
Die Reduzierung der Konzilsinterpretation auf die Konfrontation zwischen einer Hermeneutik der Kontinuität und einer der Diskontinuität oder des Bruches wäre eine grobe Verkennung des wissenschaftlichen Ernstes, mit dem Forscher und Forscherteams verschiedener Länder in den letzten Jahrzehnten um die angemessene Konzilshermeneutik rangen. Eine mögliche Vermittlung hat Papst Benedikt XVI. selbst in seiner berühmten Ansprache vom 22. Dezember 2005 versucht, indem er nunmehr von einer „Hermeneutik der Reform“ spricht und sich dabei auf die Eröffnungsansprache Johannes XXIII. beruft. Darunter wird eine Hermeneutik verstanden, die von Kontinuität in den Grundsätzen ausgeht, aber kleine Diskontinuitäten im Bezug auf Vorübergehendes zulässt: „Genau in diesem Zusammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität auf verschiedenen Ebenen liegt die Natur der wahren Reform.“16
Darauf aufbauend möchten wir hier dennoch für eine „Hermeneutik der Evangelisierung“ als Konzilshermeneutik plädieren. Darunter verstehen wir eine Hermeneutik, wonach die Kirche zum Wohle der Evangelisierung, d. h. damit sie die „Fackel des Glaubens“ durch die Geschichte tragen und alle Völker und Menschen zur Annahme des „Evangeliums vom Reich“ (Mt 24,14) einladen kann, auch den Mut zu größeren Diskontinuitäten haben sollte, eben zu einem „Sprung nach vorn“. Um das hier Gemeinte zu verdeutlichen, genügt ein Blick auf das „erste“ Konzil der Kirchengeschichte, von dem die Apostelgeschichte berichtet (Apg 15,1–35). Die darin getroffenen Entscheidungen der Öffnung der Kirche für die Nicht-Juden unter Verzicht auf „wichtige“ Teile des jüdischen Gesetzes wie die Beschneidung und mit der konsequenten Entwicklung eines neuen Volk-Gottes-Begriffs, der ethnoreligiöse Schranken überwindet und aus den Heiden „Abrahams Nachkommen, Erben kraft der Verheißung“ (Gal 3,29) macht, aber auch die gleichberechtigte Aufnahme von bekehrten männlichen Heiden in das Apostelkollegs vorsieht, obwohl Jesus selbst beschnitten war, sich nur an die Juden wandte und nur jüdische Männer zu den zwölf Aposteln berief – stellt dies eine „Hermeneutik der Reform“ mit Kontinuität in den Grundsätzen und kleinen Diskontinuitäten im Wandelbaren dar, oder ist es vielmehr Ausdruck einer „Hermeneutik der Evangelisierung“, die sich angesichts der Zeichen der Zeit auch in sehr wichtigen Dingen die Freiheit nimmt, jene Entscheidungen zu treffen, die der Dynamik der Evangelisierung förderlich sind, ja als unumgänglich erscheinen, auch wenn dies „Abschaffungen und Unterbrechungen der heilsgeschichtlichen Kontinuität“17 zugunsten der nötigen Innovationen bedeuten sollte? Bemerkenswert beim Jerusalemer Konzil ist nicht nur die paulinische Kühnheit zugunsten der Evangelisierungsdynamik auf einschneidende Veränderungen zu drängen, sondern auch dass Petrus neben der Einheitsverantwortung auch die Fähigkeit erkennen lässt, Mentor oder Tutor des Wandels zu sein.
In der Predigt während der hl. Messe am 6. Juli 2013 in Santa Marta ließ Papst Franziskus erkennen, dass er seinen Dienst „petrinisch und paulinisch“ versteht, dass er also petrinische Einheitsverantwortung mit paulinischer Kühnheit verbinden möchte.18 Beides ist für eine Konzilshermeneutik als „Hermeneutik der Evangelisierung“ nötig. Während das Papsttum der letzten Jahrzehnte eher von der petrinischen Einheitsverantwortung und der Sorge um die Wahrung der Kontinuität in den Grundsätzen geprägt war, wäre es angesichts der Zeichen der Zeit heute nötig mehr paulinische Kühnheit walten zu lassen, bevor es zu spät ist.
Papst Franziskus erinnerte an Jesu Wort von den neuen Schläuchen, die man für den neuen Wein benötige (Mk 2,22), bevor er auf das Jerusalemer Konzil anspielte: „Im christlichen Leben, wie auch im Leben der Kirche, gibt es einfallende Strukturen. Es ist erforderlich, dass sie erneuert werden. Die Kirche hat stets auf den Dialog mit den Kulturen Rücksicht genommen und versuche, sich zu erneuern, um den unterschiedlichen Anforderungen zu genügen, die durch Ort, Zeit und Menschen an sie gestellt werden. Das sei eine Arbeit, die die Kirche immer gemacht hat, vom ersten Augenblick an. Erinnern wir uns an die erste theologische Auseinandersetzung: muss man, um Christ zu werden, alle religiösen jüdischen Gebote befolgen, oder nicht? Nein, sie haben nein gesagt“. Bereits in den Anfängen habe die Kirche gelehrt, „keine Angst vor der Neuheit des Evangeliums zu haben, keine Angst vor der Erneuerung zu haben, die der Heilige Geist in uns bewirkt, keine Angst vor der Erneuerung der Strukturen zu haben. Die Kirche ist frei. Der Heilige Geist treibt sie an“.
In Gaudium et spes, wo das Konzil von den „Zeichen der Zeit“ spricht, ist auch davon die Rede, dass die Menschheit heute „in einer neuen Epoche ihrer Geschichte“ steht, „in der tiefgehende und rasche Veränderungen Schritt um Schritt auf die ganze Welt übergreifen“ (GS 4). Eine Kirche, die die Konzilshermeneutik als „Hermeneutik der Evangelisierung“ versteht, wird sich frei fühlen, auf diesen epochalen Wandel nicht nur mit petrinischer Einheitsverantwortung, sondern auch mit paulinischer Kühnheit zu reagieren, um die nötigen neuen Entwicklungen in der Kirchengeschichte zu inaugurieren – auch wenn die heutigen Pharisäer im Namen der Tradition die Innovationen ablehnen (vgl. Apg 15,5).19
Michael Sievernich SJ
Die spirituelle und visuelle Inszenierung des Zweiten Vatikanischen Konzils fand dank des damals noch jungen Fernsehens eine enorme mediale Aufmerksamkeit in der Weltöffentlichkeit. Die feierliche Eröffnung am Morgen des 11. Oktober 1962 war daher nicht nur ein kircheninternes Ereignis, sondern richtete sich, wie später das Konzil an die Menschheit. Die von Radiotelevisione Italiana (RAI) ausgestrahlte Eurovisionssendung wurde von der ARD live übernommen, wofür die vorgesehene Sendung „Das Volk der leichten Füße“ entfallen musste…
Die zahlreichen Bildberichte vom Konzil sowie die Bildbände über das Konzil bilden eine relativ wenig beachtete Facette der Rezeptionsgeschichte. Wenigstens anfanghaft leistet dies die visual history mit ihrer Analyse der Bildberichte. Dabei treten vier visuelle Topoi zu Tage: Das Konzil erscheint (1) als „Fortführung der konziliaren Tradition“, da es bildlich in die Reihe der bisherigen (ökumenischen) Konzilien und ihrer bildlichen Darstellungen eingebettet wird; die Bildberichte zeigen das Konzil (2) „als Forum der kirchlichen Eliten“, da es auf die Bischöfe als Entscheidungsträger abhebt, die leicht am Distinktionsmerkmal der Mitren zu erkennen sind; die Bilder zeigen (3) das Konzil „als Bühne des feierlichen Ritus“, vor allem die Vogelperspektive beim feierlichen Einzug der Bischöfe zur Eröffnung; schließlich gilt (4) der Blick in die Konzilsaula „als Schlüsselbild des Konzils“, das durch die ins Hauptschiff von St. Peter eingebauten Tribünen ans britische Parlament und seine Redesituation gemahne.1
Man wird diesen Beobachtungen allerdings weitere visuelle Topoi hinzufügen müssen, die in den gesichteten, aber auch in unberücksichtigten Bildbänden zu finden sind. Dazu gehört zum einen die visuelle Einbettung des Konzils in moderne Kontexte wie Forschung und Technik, politische Kontexte wie Ost-West-Konflikt, Unruhen und Mauerbau, Armut und Reichtum;2 zum anderen gehört dazu der Topos des Individuellen und Gewöhnlichen, sichtbar in Porträts und Schnappschüssen, im Blick auf Berater und Beobachter, Journalisten und Helfer, Sitzungen, Mahlzeiten, Pressekonferenzen und Empfänge, welche die Totalaufnahmen der barocken Pracht- und Machtentfaltung durch den Blick auf Individuen und Einzelsituationen „erden“ und damit ergänzen.3 Das Bildereignis des Konzils verweist synchronisch auch post festum4 auf zeitgenössische Makro- oder Mikrokontexte. Die faktische Einbettung des Konzils in die zeitgenössischen Kontexte, man denke etwa an die Kubakrise zu Konzilsbeginn, verweist schon auf den neuen „pastoralen“ Stil des Konzils, zu dem programmatisch die Einbeziehung politischer und kultureller, sozialer und lebensweltlicher Kontexte gehört.
Im heutigen Sprachgebrauch nimmt das Wort „pastoral“ verschiedene Bedeutungen an, die sorgsam zu unterscheiden und dann ins Verhältnis zum konziliaren Verständnis zu setzen sind. Nach heutigem kirchlichen Verständnis umfasst Pastoral die Gesamtheit des professionellen, aber auch ehrenamtlichen Handelns in den verschiedenen pastoralen Bereichen. Dazu gehören die Sozialformen von Pfarrei, Gemeinde und Gemeinschaften, Orden, Bewegungen; das Spektrum der Formen der Seelsorge für Einzelne, Gruppen und Institutionen; die Gestaltung und Verwaltung der Sakramente im Lebenslauf; das unmittelbare und strukturelle caritative Handeln in den Nöten des Lebens; das christliche Zeugnis und die missionarischen Aktivitäten (Evangelisierung) sowie plurale Formen der Spiritualität und der Volksfrömmigkeit. Das innerkirchlich positiv konnotierte Verständnis von Pastoral geht letztlich auf das biblische Bild des Hirten zurück, alttestamentlich auf das Hirtesein Gottes (vgl. Ps 23), der sich um den einzelnen und das gesamte Volk sorgt. Im Neuen Testament spielt die Metapher vom Hirten in Gleichnissen (vgl. Lk 15,4–7) eine Rolle, vor allem aber in den Ich-Worten Jesu im Johannes-Evangelium: „Ich bin der gute /schöne (kalós) Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.“ (Joh 10,11). Dazu kommt das Bild des eschatologischen Hirten, der als Weltenrichter den Dienst an den Bedürftigen zum Kriterium macht (vgl. Mt 25,31–46).
Die biblische Metapher des Hirten ist eingebettet in das Bild des Hirten im Alten Orient und in der klassischen Antike, wo der gerechte König als Hirt seines Volkes vorgestellt wird, der schützt und leitet. Die Metaphorik entstammt mithin einem „politischen“ Zusammenhang, gehört in den homerischen Epen und der platonischen Staatsphilosophie (vgl. Politikos 275b) zur Herrschertitulatur. Sie geht also nicht primär auf die Bukolik zurück, die das Landleben als Idylle schildert, es sei denn die Bukolik wird zur prophetischen Allegorie des messianischen Friedensreiches (vgl. Jes 11,3–12). In der frühchristlichen Ikonographie wird der Schafträger zum Bild der Sorge und Rettung durch Christus.
Die Bildrede vom guten Hirten prägte schon im Neuen Testament im abgeleiteten Sinn das Bild der Amtsträger, deren Aufgabe es ist, als Hirten in Verantwortung vor dem „Erzhirten“ Christus für die anvertraute Herde Gottes zu sorgen (1 Petr 5,2–4; vgl. Apg 20,28f). Über die Jahrhunderte sollte der pastor bonus das Ideal des kirchlichen Amtsträgers werden. Papst Gregor I. der Große (540–604) beschreibt das Ideal in seiner Regula pastoralis, die nach der Qualität von Eignung, Leben und Lehre des Amtsträgers fragt. In Kontinuität mit dieser Tradition standen die neuzeitlichen Konzilien von Trient und das Erste Vatikanum. Auch das Zweite Vatikanische Konzil knüpft an das biblische und historische Bild des Hirten an und bindet das kirchliche Amt an dieses Ideal. Papst, Bischöfe und Priester sollen sich als Hirten des Volkes Gottes und Seelenhirten (pastor animarum) erweisen, wie denn auch das Kirchenrecht die Bischöfe und Priester als „Hirten“ (pastor) versteht (cc. 375 und 515 CIC) und Johannes Paul II. das nachsynodale Apostolische Schreiben über die Priesterausbildung (1992) unter den Titel Pastores dabo vobis (vgl. Jer 3,15) stellt.
Das positive Verständnis wird jedoch fraglich, wenn den „Hirtenbriefen“ der Bischöfe die „Herdenbriefe“ der Laien gegenübergestellt werden oder die Metaphorik von Hirt und Herde gegen ihren Sinn vom Herdenmotiv her aufgezäumt wird, so dass es leicht zum Missverständnis des Kollektivs dummer Schafe kommt. Ein negativ konnotiertes Verständnis des Pastoralen liegt auch vor, wenn man darunter einen übertrieben feierlichen, betulichen oder salbungsvollen Ton meint. Schließlich kann das Adjektiv „pastoral“ auch zum negativen Wertungswort und zur intellektuellen Waffe werden, wenn etwa der umtriebige Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk seinen ehemaligen Freiburger Kollegen Martin Heidegger wenig schmeichelhaft als „Pastoralphilosophen“ bezeichnet. Dabei bezieht er sich auf dessen „Humanismusbrief“ (1954), wo dem Menschen als Eksistenz angesonnen wird, die Wahrheit des Seins zu hüten und somit zum „Hirt des Seins“ zu werden.5
Tiefer als diese philosophische Sottise geht die Analyse der „Pastoralmacht“, die der französische Philosoph und Sozialtheoretiker Michel Foucault (1926–1984) vorgelegt hat. Im Rahmen einer Analytik der Macht prägte er den Begriff „Pastoralmacht“ oder des „Pastorats“, der für das Christentum typisch sei, da es um das Verhältnis von Hirt und Herde gehe. Es handele sich um ein „Machtdispositiv“ von Institutionen, Diskursen und Praktiken, das sich über viele Jahrhunderte hin entwickelt und die Geschichte des christlichen Abendlands bis zum 18. Jahrhundert tiefgreifend geprägt habe, auch wenn es durchaus Gegenbewegungen wie Askese und Mystik gegeben habe. Etymologisch handele es sich um die Macht des Hirten, der sich um alle und jeden einzelnen in seiner Herde kümmere. Unmetaphorisch ausgedrückt: „Die Techniken der christlichen Seelsorge in Bezug auf die Lenkung des Gewissens, die Sorge um die Seelen, die Behandlung der Seelen, all diese Praktiken, die von der Prüfung bis zur Beichte reichen, über das Geständnis, die verpflichtende Beziehung des Selbst zu sich selbst in Begriffen von Wahrheit und verpflichtendem Diskurs, dies ist wie mir scheint, einer der grundlegenden Punkte der Pastoralmacht, der sie zu einer individualisierenden Macht macht.“6
Näherhin bedeutet dies nach Foucault die Verantwortung des Hirten, für das Heil des Individuums zu sorgen, aber dieses auch zu kontrollieren und rechenschaftspflichtigen Gehorsam zu verlangen. In Kurzform beschreibt er die Pastoralmacht als Form, die (1) das Seelenheil des Einzelnen im Jenseits sichern soll; (2) als Macht, deren Inhaber bereit ist, sich für das Seelenheil seiner Herde zu opfern; (3) als Macht, die sich lebenslang nicht nur um die Gemeinschaft, sondern auch um den Einzelnen kümmere; schließlich (4) als eine Form von Macht, welche die Seele erforscht und zu Geständnissen zwingt. Nachdem die kirchliche Institutionalisierung der Pastoralmacht aber weitgehend verschwunden sei, habe sie im modernen Wohlfahrtsstaat (Daseinsfürsorge, Polizei, Schule, Krankenhaus, Gefängnis) und seiner administrativen Disziplinarmacht ihre säkulare Ausformung erfahren.7
Mit seiner Analyse der Pastoralmacht liefert Foucault eine in seinen Spätschriften oftmals hingeworfene Skizze, deren richtige Beobachtungen und kritisches Potential bei der Reflexion des Pastoralen und der Machtfrage in der Seelsorge zu berücksichtigen, aber auch kritisch auf ihre Plausibilität und Verallgemeinerbarkeit hin zu diskutieren sind. Unterbelichtet erscheinen vor allem der lange historische Prozess, die Empirie der Wahrnehmung und die systematische Rekonstruktion. Der stereotype Fokus auf die hypostasierte Machtproblematik lässt keine anderen Intentionen und Interpretationen zu. Individualisierungsprozesse und die damit verbundenen Momente der Selbstsorge bleiben eher negativ konnotiert, insbesondere das Beichtritual; doch gerade dieses kann man auch als Ritual der Subjektwerdung verstehen, in der sich das Ich in Selbstsorge modelliert. Die theologische Reflexion über das Pastorale kann diese kritische Stimme nicht ignorieren,8 muss sie aber ihrerseits einem kritischen Diskurs unterwerfen. Angesichts dieser Analyse einer gehärteten Verbindung von Pastoral und Macht vertritt der Theologe Hans-Joachim Sander eine Position, die beim Verständnis der Kirche auf Unterscheidung setzt; während Kirche als „Religionsgemeinschaft“ auch Machtmittel wie Zwang und Gewalt einsetze, tritt er für den Wandel zu einer Kirche als „Pastoralgemeinschaft“ ein, die sich mit der Ohnmacht verbinde und so zu einer Kirche werde, wie sie das Konzil entdeckt habe.9
Im Unterschied zu allen anderen Ökumenischen Konzilien, die vom Konzil von Nizäa (325) in der Spätantike bis zum Ersten Vatikanischen Konzil (1869/70) am Ende des 19. Jahrhunderts stattfanden und über Fragen des Glaubens, der Sitten und der Kirchenordnung berieten und entschieden, versteht sich das Zweite Vatikanische Konzil als Pastoralkonzil. Dass alle Konzilien in der Geschichte auch pastorale Zielsetzungen hatten, braucht nicht erst bewiesen zu werden. So stand zum Beispiel das Reformkonzil von Trient nicht nur in theologischer Auseinandersetzung mit der Reformation, sondern hat auch zahlreiche pastorale und disziplinäre Reformdekrete zur Kirchenreform erlassen und ein Bischofsideal des Hirten propagiert, das mit der Sicht des II. Vatikanum konvergiert. Das Zweite Vatikanische Konzil jedoch hat sich in Gänze als Pastoralkonzil verstanden und überdies eine „Pastorale Konstitution“ (Gaudium et spes) verabschiedet. Worin besteht deren pastorale Eigenart und wie kommt sie zum Tragen?
Einen ersten Hinweis gibt der Index verborum, der alle Wörter aus den Konzilsdokumenten aufführt.10 Wenn man an dieser Stelle die vielfältige konventionelle Erwähnung von „Hirt“ (pastor) oder „Hirten“ (pastores) unberücksichtigt lässt, dann listet der Index insgesamt 133 Wortverbindungen mit dem Adjektiv „pastoralis“ auf. Eine Sichtung des Wortgebrauchs zeigt, dass die konventionelle Verwendung in den Konzilsdekreten am häufigsten auftritt, wenn etwa von der Hirtenaufgabe der Bischöfe (CD) und vom Hirtenamt (regimen oder munus pastoralis) die Rede ist (vgl. CD 4 und 21); häufig tritt der Wortgebrauch auch in den Dokumenten über die Ausbildung der Priester (OT) und über Leben und Dienst der Priester (PO) auf. Sodann werden, wenn auch weniger häufig, pastorale Fragen angesprochen, zum Beispiel in pastoralliturgischen (vgl. SC 44) oder in dogmatischen Zusammenhängen, wenn pastorale Aufgaben zur Sprache kommen (vgl. LG 27). Auch in der Konstitution über die Offenbarung wird eine „seelsorgliche Verkündigung“ (pastoralis praedicatio) angemahnt (DV 24), und das Missionsdekret (AG) macht ebenfalls regen Gebrauch. Der Wortgebrauch entspricht also dem üblichen kirchlichen Verständnis; wortstatistisch signalisiert das Adjektiv „pastoral“ mithin das konventionelle Verständnis pastoralen Handelns der Amtsträger. Erstaunlicherweise jedoch benutzt ausgerechnet die Pastoralkonstitution (GS), bei der man eine Häufung vermuten würde, das Wort im konventionellen Sinn nur an zwei Stellen, wenn im Ehekapitel von „pastoralen Mitteln“ (GS 52) und im Kulturkapitel von der Seelsorge (cura pastoralis) die Rede ist (GS 62).
Zu dieser ersten konventionellen Bedeutung tritt also eine weitere Bedeutung hinzu, die im Titel der „Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute“ (Constitutio pastoralis de Ecclesia in mundo huius temporis) zum Ausdruck kommt. Deren Eigenart bestimmt sich zunächst aus der Tatsache, dass das Konzil zwei Kirchenkonstitutionen verabschiedet hat, eine dogmatische über die Kirche (LG) und eine pastorale über die Kirche in der Welt von heute (GS). Die beiden Schwesterdokumente ergeben sich aus der architektonischen Grundidee, die zu erarbeitenden Dokumente den zwei Perspektiven nach innen (ad intra) und nach außen (ad extra) zuzuordnen.
Auf einen Vorschlag von Kardinal Léon Joseph Suenens (1904– 1996) zurückgehend, orientierte sich dieser Konzilsplan an der Struktur des so genannten biblischen „Missionsbefehls“ (Mt 28,19– 20). Dessen erstem Teil entsprach die Sektion A über die „Ecclesia ad intra“: Ecclesia evangelizans (vel salvivicans) (Euntes ergo): Kirche, Bischöfe, Priester, Diakone, Ordensleute, Laie, Seelsorge; Ecclesia docens (Docete omnes gentes): Offenbarung, Katechismus, Medien; Ecclesia sancificans (baptizantes eos): Sakramente; Ecclesia orans (In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti): Liturgie, Volkssprachen.
Dem Gebot des Missionsbefehls entsprechend sollte die Sektion B die „Ecclesia ad extra“ behandeln: Ecclesia ad extra (docentes eos servare quaecumque mandavi vobis): Familie und Ehe; Kirche und Wirtschaft; Kirche und Zivilgesellschaft (auch Regionsfreiheit); Krieg und Frieden.11 Vergleicht man die vorläufigen Themenstellungen mit den endgültigen, sind einige Themen integriert und andere weggelassen worden, wieder andere neu hinzugekommen. Alle sechzehn konziliare Dokumente (Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen) jedoch lassen sich zwanglos und in etwa hälftig dem architektonischen Schema von ad intra und ad extra zuordnen.
Wollte man ein inhaltliches Vorzeichen vor die beiden Dokumentengruppen setzen, dann entspräche der Binnenperspektive die innere „Beteiligung“ aller Mitglieder in der Kirche und der Außenperspektive die „Anerkennung“ der anderen, die aber in der einen Menschheit zusammenfinden. Dies zeigt sich exemplarisch und programmatisch an den beiden Kirchenkonstitutionen, die jeweils zu Beginn von der „Menschheit“ (genus humanum) sprechen. Ist für Lumen gentium die Kirche „gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit des ganzen Menschengeschlechts“ (LG 1), so erfährt sich auch in Gaudium et spes die Kirche „mit dem ganzen Menschengeschlecht und seiner Geschichte wirklich innigst verbunden“ (GS 1).
Die Bezeichnung „Pastorale Konstitution“ war heftig umstritten, weil die begriffliche Verbindung wie ein hölzernes Eisen zeitlose Normen und zeitgebundene Praxis zusammenzuspannen schien. Denn nach kirchlicher Tradition sind „Konstitutionen“ kirchliche Erlasse, die in rechtlich bindender und dogmatisch verbindlicher Form Lehre und Disziplin regeln. In dieser Tradition stehen auch die vier Konstitutionen des Konzils, allerdings in unterschiedlicher Weise, da die Konstitutionen über die Offenbarung (DV) und über die Kirche (LG) mehr dogmatischen Inhalts und die Liturgiekonstitution (SC) mehr disziplinär ausgerichtet ist, während die Pastoralkonstitution (GS) ihre lehrhaften Teile mit einer Gegenwartsanalyse und mit konkreten Problemstellungen individual- und sozialethischer Art verknüpft.
Auf ihre konstitutionelle Problematik gibt die „Pastoralkonstitution“ in einer Metareflexion auf ihre Eigenart eine konzise Antwort. In der Sternchen-Fußnote zu Beginn heißt es: „Obwohl die Pastoralkonstitution ‚Über die Kirche in der Welt dieser Zeit‘ aus zwei Teilen besteht, bildet sie dennoch eine Einheit (unum). ‚Pastoral‘ aber wird die Konstitution deswegen genannt, weil sie, auf Lehrprinzipien gestützt, die Haltung (habitudo) der Kirche zur Welt und zu den Menschen von heute auszudrücken beabsichtigt. Deswegen fehlt weder im ersten Teil die pastorale Absicht (intentio pastoralis) noch aber im zweiten Teil die lehrhafte Absicht (intentio doctrinalis).“ Nicht wegen der materialen Themen, sondern wegen des formalen Verhältnisses, nämlich der Haltung der Kirche zur Welt und zu den heutigen Menschen wird die Konstitution „pastoral“ genannt. Es handelt sich um eine doppelte Relation sachlicher und personeller Art und zwar in der „heutigen“, d. h. der je aktuellen Situation. Insofern ist die Pastoralkonstitution weder auf den Entstehungskontext der 60er Jahre noch auf die europäische Situation fixiert. Vielmehr ist die damalige Situationsanalyse analog für die jeweilig heutige Zeit und die anderen Kulturräume fortzuschreiben. So betont die Fußnote weiterhin, dass die Kirche im ersten Teile ihre „Lehre vom Menschen“ (doctrina de homine) und dessen Weltverhältnis entfalte, während sie im zweiten Teile besonders dinglich erscheinende Probleme des heutigen Lebens behandle. Daher bleibe im zweiten Teil die Thematik den Prinzipien der Lehre unterstellt, enthalte aber nicht nur „unwandelbare (elementis permanentibus), sondern auch geschichtlich bedingte (contingentibus) Elemente“. Sodann erfolgt ein Hinweis, dass die Pastoralkonstitution nach den allgemeinen theologischen Interpretationsregeln zu deuten sei, „unter Berücksichtigung des Wechsels der Umstände (adiunctorum mutabilium), der mit den Gegenständen dieser Thematik verbunden ist.“ Die Fußnote ringt also mit dem klassischen theologischen Problem des geschichtlichen Wandels (mutabilitas) angesichts „unwandelbarer“ Lehre. Es geht also um das Verhältnis von Lehre und Leben. Nach Walter Kasper gehört dieses Verhältnis zu den Regeln einer Konzilshermeneutik: „Man darf den pastoralen Charakter der Konzilsdokumente nicht von deren lehrhafter Aussage trennen. Im Gegenteil, der lehrhafte Charakter besteht eben darin, die bleibend gültige Wahrheit in der jeweiligen Situation zu aktualisieren und zur Anwendung zu bringen.“12
Die zentrale Bedeutung des Verhältnisses von Dogma und Geschichte, von Lehre und Leben, von Doktrinal und Pastoral spiegelt sich nochmals in der hermeneutischen Leseanweisung des Schlussworts der Konstitution, das davon ausgeht, dass die Dinge „einer unablässigen Entwicklung (evolutio) unterworfen sind“, der vorgetragene Text aber eine starke Hilfe bieten könne, wenn „die Anpassung (adaptio) an die einzelnen Völker und Denkweisen (mentalitates)“ umgesetzt sein werde (GS 91). Damit wird diachronisch der geschichtlichen Entwicklung ebenso Raum eingeräumt wie synchronisch der interkulturellen Pluralität, also Kontexten, in deren Spannungsfeld sich das Konzil narrativ, explikativ und persuasiv bewegt. Diese kontextuelle Bezogenheit zeigt sich besonders in den Dokumenten, in der sich die Kirche ad extra an die Anderen wendet, anerkennend und nicht abwehrend oder gar verurteilend; sie zeigt sich aber auch in den Dokumenten ad intra, wenn etwa die Dogmatische Konstitution über die Kirche auf die „Verhältnisses dieser Zeit“ (condiciones huius temporis) verweist, die der Pflicht der Kirche „eine noch dringlichere Bedeutung“ verleihen (LG 1).
Die enge Verbindung von kontextueller Beschreibung, allgemeinen normativen Aussagen und konkreten Bereichsethiken macht die Besonderheit von Gaudium et spes aus, die sich auch im Aufbau dieses quantitativ längsten Konzilsdokuments widerspiegelt, das am 7. Dezember 1965 mit überwältigender Mehrheit (2309 placet, 75 non placet) angenommen wurde. Die vielfach kommentierte Pastoralkonstitution über die Kirche in der modernen Welt,13 die zusammen mit den anderen Konstitutionen über die göttliche Offenbarung (DV), über die Kirche (LG) und über die Liturgie (SC) den Kern der konziliaren Dokumente bildet, besteht, wie in der Fußnote avisiert, aus zwei gleichrangigen Hauptteilen, die jedoch eine Einheit bilden. Den beiden Hauptteilen sind jedoch ein Proöm und eine Einführung vorgeschaltet. Das Vorwort (GS 1 bis 3) betont die enge Verbindung der Kirche mit dem Menschengeschlecht und der Völkerfamilie (genus humanum, familia gentium), besonders mit den Armen, stellt sie also einander nicht gegenüber oder gar in Gegnerschaft, vielmehr erscheint die Kirche eingefügt (GS 1). Sodann nennt sie als Adressaten nicht nur die Katholiken und ökumenisch die Christen, sondern „alle Menschen“ (omnes homines), kennt also keine Exklusion, und bestimmt den Raum des „Welttheaters“ (mundum theatrum), in dem sich wie bei Calderón die Heilsgeschichte abspielt, von der Schöpfung bis zur Auferstehung, ohne das Böse und die Sünde auszuklammern (GS 2). Sodann betont der Text die Ambivalenz der Entwicklung zwischen Bewunderung und Angst und formuliert als Auftrag (ministerium) der Kirche den „Dialog“ (colloquium) mit der Menschheit, macht das Angebot des Evangeliums und seiner „Heilskräfte“ (salutares vires) und bestimmt in deutlicher Anthropozentrik als Ziel, die Person des Menschen zu „heilen (salvanda) und die menschliche Gesellschaft zu erneuern (instauranda)“ (GS 3).
Auf diesem programmatischen Hintergrund erfolgt eine Einleitung (expositio introductiva), die sich als theologische Gegenwartsanalyse darstellt (GS 4–10). Als hermeneutisches Vorzeichen vor allen einzelnen Aussagen erscheint die „Pflicht“ (officium), die „Zeichen der Zeit“ (signa temporum) zu erkennen und im „Licht des Evangeliums“ zu deuten. Was da wahrzunehmen und zu deuten ist, versammelt die Pastoralkonstitution unter dem Leitmotiv der Veränderung oder des „Wandels“ (mutatio, immutatio, transmutatio). Damit bleibt die klassische Frage der mutabilitas, der Geschichtlichkeit der Dinge das zentrale Thema, zumal die fluiden Zustände der Moderne und das aufkommende Neue mit den „ewigen Werten“ (valores perennes) zu einer Synthese gebracht werden sollen. Zur Bearbeitung des semiotischen Feldes tritt als drittes Moment die Unterscheidung (discernere) hinzu, denn es gilt zu unterscheiden, was „wahre Zeichen (vera signa) der Gegenwart oder des Ratschlusses Gottes“ sind (GS 11). Und als viertes Moment ist die „Umgestaltung“ (transformatio) zu nennen, welche Wahrnehmung, Deutung und Unterscheidung dann pastoral operativ werden lässt (GS 4). Im Einzelnen beschreibt die Einführung die Wandlungen und das sich daraus ergebende dynamische oder evolutive Verständnis; die Wandlungen in der Gesellschaft, darunter Urbanisierung, Medien, Migration und Entwicklung; die Wandlungen in Psychologie, Moral, Religion, Wissenschaft, Kunst und Recht; die Wandlungen durch Störung des Gleichgewichts (GS 4–8). All das aber führe zu einem umfassenden Verlangen der Menschheit, etwa wirtschaftliche Abhängigkeit zu überwinden oder die Gleichstellung der Frauen (paritas) zu fordern (GS 9), aber auch zu „tieferen Fragen der Menschheit“ (GS 10), die sich angesichts der heutigen Weltentwicklung stellen und die in der Frage „Quid est homo?“ münden; es ist nach Wissen, Sollen und Hoffen die vierte der anthropologischen Fragen Immanuel Kants: „Was ist der Mensch?“ (Logik-Vorlesung A 25) Eine erste Antwort darauf gibt die Pastoralkonstitution in christologischer Optik, da die Kirche in ihrem Herrn „Mittelpunkt und Ziel der ganzen menschlichen Geschichte“ sieht. Zugleich aber löst sie das Problem der mutabilitas ebenfalls christologisch, insofern sie allen Wandlungen (omnibus mutationibus) viel Unwandelbares (multa quae non mutantur) zugrunde liegen sieht, das wiederum sein letztes Fundament in Christus habe, „der derselbe gestern, heute und in Ewigkeit ist.“ (GS 10).