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Ron ist achtzehn und versucht sich und ihre drei Geschwister über Wasser zu halten. Ihre Eltern sind gestorben und die Flucht hat sie in eine neue Gegend, fernab von der Heimat, verschlagen. Sie besitzen nichts und haben Mühe, den Alltag zu bewältigen. Doch Ron ist gesund und kräftig, und sie besitzt den Ehrgeiz, die Familie zu ernähren. Die anderen Geschwister sind noch zu jung, um beim Bauern auf dem Feld zu arbeiten. Eines Tages entdeckt Ron eine Ruine – eigentlich ein altes Zollhaus, das in Kampfzeiten zertrümmert wurde und nun als 'zerstört' eingestuft wird. Nahezu kein Stein liegt auf dem anderen, aber man erkennt noch den Grundriss. Ron wird ganz warm ums Herz beim Anblick. Das Haus hat sogar einen kleinen Garten, in dem kostbarer Mohn wächst. Zum ersten Mal überkommt ihr der Gedanke und die Hoffnung, dass es vielleicht doch nicht unmöglich ist, ein neues Zu Hause zu finden. DIE HAIMONSKINDER erzählt von den schwierigen Jahren der Nachkriegszeit. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, Deutschland liegt in Trümmern, die Menschen sind geflohen oder aus ihrer Heimat vertrieben. Es herrscht bittere Armut, doch der Lebensmut der Hinterbliebenen ist ungebrochen.-
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Seitenzahl: 286
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Lise Gast
Saga
Die Haimonskinder
© 1950 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711508978
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Paß auf, dort oben, wo die Chaussee einen Buckel macht, von dort aus sieht man schon die Bäume“, sagte Ron und nahm Wolf an die andere Hand. Der Rucksack war so schwer, daß sie immer wenigstens mit einer Hand hinter den Riemen greifen und ihn locker ziehen mußte, und an der anderen hing der Junge. Es war ja auch weit für seine kurzen Beine, immerhin, er war fünf. Und da mußte man endlich lernen, einmal die Zähne zusammenzubeißen.
Übrigens war es gar nicht klar, daß man von oben die Bäume schon sehen würde. Es war neblig heute und noch früh am Tage. Es wurde Herbst ... Ron fühlte eine quälende Ungeduld und legte unwillkürlich ein paar Schritte zu. Aber da jammerte Wolf sofort wieder, sie ziehe ihn so, und er sähe die Bäume ja immer noch nicht —
Sie mußte Geduld haben. Das ist, wenn man achtzehn Jahre alt und gesund und kräftig ist, sehr schwer, fast unmöglich. Zumal dann, wenn man etwas vor hat, was einen treibt wie die Peitsche das Pferd — wenn man sieht, spürt und riecht, daß der Herbst kommt, und man hat im Sommer noch so viel zu tun ... Sie hatten jetzt die Höhe der Chaussee erreicht und blieben einen Augenblick stehen. Hier bog die alte Straße ab, die ziemlich steil und gerade nach Langenbernsdorf hinunterführte, und die man später, wohl des steigenden Autoverkehrs wegen, umgeleitet und sanfter geführt hat. Der alte Teil der Straße war verwahrlost und verlottert, ausgefahren und überwachsen, und nicht einmal Obstbäume an seinen Seiten konnten einen verlocken, ihm zu folgen. Obstbäume standen an der neuen Straße, schon kräftig und gut gepflegt, an der alten aber gab es nur Birken, und auch diese nur an einer Seite. Trotzdem fühlte Ron ein seltsames, starkes und gleichzeitig schmerzhaftes Heimatgefühl ihr Herz weiten, während sie mit Wolf diesen Weg einschlug.
Heimat — es war keine Heimat hier. Obwohl die Landschaft immerhin in manchem ähnlich war wie zu Hause; obwohl sie nun schon über drei Jahre hier wohnten; obwohl sie, was einem in Büchern immer anempfohlen wurde, die erdnächste Arbeit tat, die es gab, die Arbeit des Bauern — es war keine Heimat. Aber heute, an diesem nebligen und schon kühlen, sehr frühen Augustmorgen fühlte Ron, daß es vielleicht einmal Heimat werden könnte. Und es ging eine Ahnung über ihr Herz, daß alles auf dieser Welt, was kostbar ist, sehr teuer bezahlt werden muß, alles — auf jeden Fall aber das Gefühl des Daheimseins. Daß dies unzählige Schweißtropfen und viele verschwiegene Tränen kostete, die, ob geweint oder verbissen, bitterlich brannten ...
„Siehst du, nun sind wir gleich da“, sagte sie hastig, als könnte sie mit ihren Worten dieses Bewußtsein zudecken, „nun ist es wirklich nicht mehr weit. Und dann kannst du dich schön ausruhen, bis Mittag, wenn du willst. Du kannst dich auf den Heusack legen. Aber ich glaube, die Sonne kommt doch noch raus, und da bleibst du draußen und sonnst dich wie ein Kater —“
Die Straße ging jetzt steil bergab und auf ein Wäldchen zu, das bei den Leuten „das Lindicht“ hieß und hinter dem eine neue Bodenwelle das Dorf verdeckte. Vor dem Lindicht, links von der Straße, stand das kleine Haus, das halbe Haus richtiger gesagt, das früher das Chaussee- oder Zollhaus gewesen war. Das halbe — die eine Hälfte war in der Kampfzeit zerschossen worden; ein Treffer hatte genügt. Das, was noch stand von dem Häuschen, war bis in Brusthöhe mit Trümmern und Steinen, Mörtel und Dreck gefüllt gewesen, und da das ganze Gebäude nie sehr groß gewesen war, hatte man es damals wohl kurz und bündig mit „zerstört“ bezeichnet. Der Holunder, der daneben wucherte, bedeckte das zerrissene Dach so sanft und mitleidig —
Ron fühlte wieder, wie jenes seltsam schmerzliche Gefühl über ihr Herz ging. Zu Hause — ach ja, hier würde sie das vielleicht einmal denken können. Zu Hause — sie lief die letzten Schritte im Trab, ohne es zu wissen, und blieb dann aufatmend stehen. Der Mohn war noch da, er war nicht gestohlen!
Rings um das Häuschen hatte einmal ein Gartenzaun gestanden; man sah es noch an den eingesunkenen und halbverfaulten Pfosten an den Ecken. Als Ron das erstemal hierherkam — sie war mit dem Rad unterwegs nach Langenbernsdorf gewesen, landete aber auf dem Plattfuß und mußte schieben, und da hatte sie die steile, aber kürzere Strecke gewählt, durch Zufall — da war der Garten ebenso voll wuchernden Unkrauts gewesen wie der einzige, halbwegs brauchbare Raum des Hauses voller Schutt. Jetzt war das nicht mehr so. Sie lachte und warf den Rucksack ab, aufatmend.
„Guck, unser Mohn. Da müssen wir aber sehr fleißig sein, mein Heini, damit wir damit fertig werden“, sagte sie mit demselben sorgenvollen Stolz, mit dem der Bauer die Dreschmaschine in einem guten Erntejahr für drei Tage statt für zwei bestellt — „und Weihnachten haben wir dann Mohnkuchen, richtigen, wie zu Hause — und an deinem Geburtstag auch —“ Der ganze kleine Garten stand dicht bei dicht voll der beinahe mannshohen, braunen Mohnstengel, die man hier in der Gegend fast noch gar nicht kannte. Hier wurde Mohn nicht feldmäßig angebaut. Ron dachte daran, wie wunderbar es ausgesehen hatte, als er blühte, weiß mit hellvioletten Streifen daran. Sie hatte gezittert in der Angst, ihr verborgener Garten könnte doch jemandem auffallen und in die Augen stechen. Jetzt war diese Angst vorbei, heute ging’s an die Ernte.
„Erst kommst du aber mal rein, und frühstücken mußt du auch, komm, komm. Siehst du, das hier wird mal das Wohnzimmer —“ sie zog einen Schlüssel vorn aus ihrer Bluse, wo er an einem um den Hals laufenden Bindfaden hing, und öffnete ein Vorlegeschloß, das die einzige, heilgebliebene Tür abschloß. Wolf trat mit ihr ein: ein kleiner, durch die geschlossenen Läden dunkler, niedriger Raum, aber sauber, von allem Schutt befreit und, als sie jetzt die Läden aufstieß, von blaßgrünem Licht durchflutet, doch sehr heimlich, anheimelnd, auch wenn man ihn zufällig betreten und nicht selber mit sauerem Schweiß gereinigt hätte.
An der einen Wand lagen zweimal vier Ziegelsteine aufeinander und darüber ein Brett, eine Bank. In der Ecke ein Haufen duftendes Heu. Ron ließ ihren Rucksack auf den Boden gleiten und schnürte ihn auf. Sie warf einen großen, groben Sack auf das Heu — „da, leg dich drauf und ruh dich aus!“ — und kramte nach Brot und Messer. „Komm, der Marsch hat dich bestimmt hungrig gemacht.“
Das stimmte, Wolf war überhaupt immer hungrig, er aß soviel wie sie selbst — und sie hatte weiß Gott einen unheimlichen Appetit — und manchmal das Doppelte wie Christine. Ron fühlte sich immer bedrückt, wenn sie sah, mit wie wenig Christine auskam. Und sie wußte doch, Christine sei der Ansicht, daß Ron mehr essen müsse als sie selbst, Ron sei doch der Verdiener und leiste die schwere Arbeit und sei den ganzen Tag an der Luft. Gewiß, aber ... Auch jetzt biß sie nur mit schlechtem Gewissen in die dicke, trockne Schnitte, nachdem sie Wolf eine ebensogroße gegeben hatte. Aber sie war schon wieder wie ausgeleert vor Hunger. Das würde bestimmt besser, wenn sie nun Mohn bekamen, Mohn, Fett, Öl — etwas, was wirklich vorhielt.
„Vor acht fangen wir nicht an auf dem Feld, jetzt, wo es doch schon etwas später hell wird“, sagte sie kauend, „und ich brauche, wenn ich durchs Lindicht lauf, kaum eine Viertelstunde. Da hab’ ich also noch etwas Zeit. Wirst du aber auch wirklich keine Dummheiten machen, Wolf?“ fragte sie gleich darauf, von neuer Unruhe befallen. „Am besten, du schläfst erst ein bißchen — ach nein, doch lieber nicht. Setz dich raus auf die Schwelle und ruh dich dort aus —“ Es konnte eben doch möglich sein, daß noch jemand kam und in den Mohn einfiel. Sie schluckte das letzte Stück Brot ungekaut hinunter und ging hinaus. Wenn sie sich sehr eilte — Mohn ist ja so schnell gebrochen ...
Sie knickte probeweise ein paar Stengel, gleich oben, unterhalb der Kapsel. Aber sie waren zäh von der nebligen Luft und widerstanden ihrer Mühe, sie mußte ein Messer holen und schneiden; das dauerte viel länger. Seufzend ließ sie davon ab.
„Wenn dich jemand fragt, dann sag, deine Schwester kommt gleich zurück“, gebot sie dem Jungen und lächelte ihn ermunternd an. Sie merkte, daß sie ihm nicht noch mehr gute Ratschläge geben dürfte, wenn sie ihn nicht völlig kopfscheu machen wollte. Den ganzen Weg her hatte sie ihm schon vorgeredet, was er alles tun und was er um Gottes und Himmels willen nicht tun dürfe. Er war so ein Unglückswurm, ein Pfeifenheini, wie Ulla einmal gesagt hatte; Ulla fand die treffendsten Namen für alle Welt, und sie hingen fest wie Kletten. So sehr sie sich mühten, Christine und sie, den alten schönen Namen Wolf durchzusetzen, der erstens Vaters Name und zweitens von zwei Eltern und drei Schwestern liebevoll ausgesucht worden war, als endlich der ersehnte Erbe eintraf, immer wieder kam „Heini“ durch, weil Wolf eben ein solch unmöglicher Kerl war. Jetzt wieder stand er vor ihr, blaß und ängstlich und unmutig, und es fehlte nur noch, daß er den Finger in den Mund steckte und natschte, wie man zu Hause sagte.
In diesem Augenblick ging ein Sonnenblitz über das Haus hin, der Nebel war zerrissen, und das Gras blinkte auf im Schmuck seiner bestrahlten Tautropfen. Ron reckte sich. Selbstverständlich konnte der Junge hier eine Weile allein sein, es gab doch keine kinderschlachtenden Räuber mehr im Wald. Wenn sie immer so entsetzlich ängstlich mit dem Jungen waren, würde er zeitlebens ein Waschlappen bleiben. „Drüben am Waldrand gibt’s Brombeeren“, sagte sie frisch, „du kannst davon essen, soviel du willst, und mittags komm ich wieder.“
Sie schüttelte eine große Mohnkapsel in der Hand, dicht vor ihrem Ohr — wie Silber rieselte es darin. Lauter Mohn, dunkelblauer, fetter und haltbarer Mohn, etwas für den Winter, etwas zum Schlecken, etwas zum wirklich Sattwerden ...
Wolf war zum Waldrand hinübergegangen — nicht gelaufen, wie andere Jungen laufen, sondern vorsichtig wie ein Storch im Salat, des nassen Grases wegen. Ron war schon wieder nahe daran, sich über ihn und diese seine Art zu ärgern; sie ging noch einmal in den Wohnraum und suchte etwas in ihrem Rucksack. Während sie so stand und kramte, verdunkelte sich das Zimmer, sie sah auf und nach dem Fenster, von dem her der Schatten kam. Gleich darauf fühlte sie ihr Herz anspringen, sie wußte nicht, ob aus Schreck oder aus Freude.
„Ach, Matthias, Sie sind also doch noch gekommen, ich dachte —“
Sie ging hinaus. In dem winzigen Flur, der hinter der Haustür zwischen den beiden ebenerdigen Zimmern gelegen hatte und jetzt zur Hälfte „Balkon“ war, trafen sie sich.
„Ich habe den Jungen mit, aber ein großer Schutz ist er wohl nicht — ich dachte deshalb, ich könnte lieber jetzt schon — nur, der Mohn ist noch ganz klamm, man bekommt ihn ohne Messer nicht ab“, sagte sie und merkte selbst, daß sie allzuviel sprach aus Verlegenheit und dummer Scheu. Aber das kam daher, daß er ihre Hand so lange festhielt; man gibt doch die Hand nur kurz, kurz und kräftig, wenn man sie überhaupt gibt. Mit ihren Arbeitskollegen tauschte sie nie einen Händedruck, das war doch nicht nötig ... „Schutz, wogegen?“ fragte Matthias und lächelte ein bißchen. Sein Lächeln war immer so, daß es einem weh tat. Bitter? Spöttisch? Sie wandte sich ab.
„Gegen Mohndiebe selbstverständlich“, sagte sie deshalb rasch. Sie wußte genau, worauf er anspielte, und daß er recht hatte mit seiner Anspielung. „Aber wenn Sie dablieben bis mittags — wir gehen heute nachmittag sicher nicht mehr aufs Feld, weil Sonnabend ist —, dann wäre ich beruhigt. Aber wenn Sie etwas anderes vorhatten —?“
„Ich habe doch nie etwas anderes vor“, sagte Matthias langsam. Ron schluckte.
„Um so besser“, sagte sie hastig und etwas munterer, als ihr zumute war. Ach, immer, immer die Muntere spielen! Bei Christine mußte sie es, bei Wolf, bei dem Bauern, dem sie half. Sie war abgestempelt und in diese Rolle gedrängt, ob sie mochte oder nicht. Wenn es ihr einmal schlecht ging und sie gab das zu, dann war die gesamte Umwelt beleidigt — „Sie und schlecht? Nein, aber das paßt doch gar nicht zu Ihnen!“ Gut denn, spielte sie eben ...
„Haben Sie etwas zu essen mit? Ich denke, ich bringe ein Kochgeschirr voll Suppe von meinem Bauern mit, er gibt mir immer ganz anständig. Jetzt, wo wir Frühkartoffeln herausmachen, braten wir uns zum Frühstück immer welche in der Asche. Da bin ich gar nicht ausgehungert ... Ich wollte überhaupt mit Wolf heute hier übernachten, um den Mohn fertig zu bekommen.“
Er hatte sich auf die Schwelle gesetzt und stopfte seine kurze Pfeife. Sie sah auf ihn herunter, gut sah er aus, wenn er so saß, lässig und trotzdem wie auf dem Sprung, trotz seiner Magerkeit gut und männlich. Und etwas erholt hatte er sich auch schon. Als sie ihn kennen lernte, gleich nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft, war er viel, viel elender gewesen.
Sie verstand selbst nicht, daß seine Gegenwart sie mitunter so verwirrte. Nicht immer. Manchmal fühlte sie nichts als eine warme und herzliche Zuneigung zu ihm, dem ganz Alleinstehenden. — Wie reich war sie dagegen, sie, die noch drei Geschwister besaß. Dann aber wieder machte er sie schrecklich unsicher und verlegen, wenn er sie so ansah oder eben wie vorhin ihre Hand nicht loslassen wollte. Dumm. „Komm, Heini, sag guten Tag — Ja, das ist Wolf, von dem ich Ihnen schon erzählte“, sagte sie, „und das ist Onkel Matthias. Er will mit dir unsern Mohn hüten, bis ich wiederkomme — lieb von ihm, nicht? Und dann bring ich schöne warme Suppe für uns alle drei. Ich muß aber jetzt schleunigst weg, werdet ihr euch auch vertragen, ihr beiden Männer?“
Sie lief quer durch den Wald; es war sicher später, als sie angenommen hatte. Daß ihre Uhr kaputt war ... Es war auch auf dem Feld sehr unangenehm, nie zu wissen, wie spät es war. Und sie mußte sich auch noch umziehen.
Sie erreichte den Hof des Siedlers, bei dem sie arbeitete, in letzter Minute. Der Wagen stand schon angespannt. Husch ins Haus und hinauf in die Kammer, wo ihre Arbeitssachen lagen; eine alte Militärhose und ein kurzärmeliger, quergestreifter Baumwollpullover, den einmal eins der selten eintreffenden, dann aber um so beglückter begrüßten Amerikapakete gespendet hatte. Dazu besaß sie noch eine dunkle Uniformjacke, die von der Luftwaffe stammte. In der ersten, wildesten Zeit im Straßengraben gefunden, gewaschen und seitdem täglich benutzt, erst beim Enttrümmern und jetzt bei der Landarbeit. Im Augenblick hatte sie das karierte Dirndl aus- und ihr Räuberzivil angezogen, dann fegte sie die Treppe wieder hinunter und sprang hinten auf den eben anrollenden Wagen.
„Was machen wir denn heute?“
„Tabak“, beschied sie ihre Arbeitskollegin halblaut; der Bauer sagte nichts. Es gehörte wohl zum Wesen des Bauern, den Mund nur im Notfall aufzumachen. Ron hatte sich oft darüber geärgert, wenn sie bei einer ihr bis dahin unbekannten Arbeit fragte, wie man sie denn anfinge, und erst dann eine Antwort erhielt, wenn sie, auf Schweigen stoßend, die Handgriffe auf eigne Faust, aber verkehrt, begonnen hatte. Tabak. Ach nein, schön war das nicht, jedenfalls lange nicht so lustig wie Kartoffeln buddeln, und man konnte außerdem nicht wissen, ob es nun nur vormittags oder ganztags werden würde. Wenn man mittags draußen blieb, konnte sie nicht ins Lindicht laufen. Aber es war ja Sonnabend! Da war doch vielleicht nachmittags frei. Und selbst wenn sie blieb — Matthias würde sicher warten, auch wenn sie erst abends kam, und sie brauchte sich um Wolf nicht zu sorgen. Dann aber bekamen die Männer kein warmes Mittagessen, und das hatte sie ihnen doch eigentlich versprochen —
Ron hatte verschiedene Eigenschaften, von denen sie nicht lassen konnte und auch nicht lassen würde, selbst wenn sie unter Eskimos oder Kannibalen gefallen wäre. Dazu gehörte, daß sie gegebene Versprechen hielt. Aber, wie oft konnte man sie einfach nicht halten, weil man nicht Herr seiner Zeit war!
Nun, man würde ja sehen. Der Tabak stand groß und stolz mit riesigen, breiten Blättern, Elefantenohren, die zu ernten eigentlich ein Vergnügen war. Nur bekam man dabei so seltsam harzige, kohlschwarze Finger, die überhaupt nicht wieder sauber werden wollten, wenn man kein Benzin hatte, sie zu reinigen, und das hatte man selbstverständlich nicht. Ron arbeitete schweigend in ihren zwei Reihen, während ihre Gedanken spazierenliefen. Zuweilen brach sie eine dicke, saftige Saudistel ab, die sich zwischen dem Tabak angesiedelt hatte und legte sie an den Rand des Feldes, um sie nachher wieder zu finden. Dabei fiel ihr ein, daß sie heute vergessen hatte, nach Hans, ihrem Karnickel, zu sehen. Unglaublich. Dabei hatte sie Wolf auf dem Weg davon erzählt. Nun, vielleicht kümmerte sich Matthias darum.
Dieser Gedanke war ihr gleichzeitig tröstlich und unangenehm. Tröstlich, weil dann Hans zu seinem Futter kam und Wolf ein bißchen vergnügt wurde, wenn er das Tier streicheln und füttern konnte, — unangenehm, weil es ihr nicht paßte, daß Matthias ihr half. Es war natürlich nicht der Rede wert, wenn er einmal nach dem Häschen sah, und Ron, die in den letzten drei Jahren wahrhaftig oft genug hatte danke sagen müssen, mehr als Leute in einer normalen Zeit ihr ganzes Leben lang, hatte es auch gelernt, gern und herzlich zu danken. Bei Matthias aber war es etwas anderes, etwas ganz Vertracktes, gerade weil er eigentlich freundlich half, wenn er half.
Er half nicht viel, eigentlich gar nicht. Sie kannte ihn jetzt ungefähr ein Vierteljahr. Ja, es war Ende Mai gewesen, als sie ihn das erstemal traf. Und zu Anfang hatten sie sich nur zufällig und oft nur im Abstand von vielen Tagen gesehen.
Ron schichtete die Tabakblätter sorgsam, wenn auch geistesabwesend aufeinander, während sie mit „Ja“ und „Nein, wirklich?“ auf die Fragen der neben ihr arbeitenden älteren Frau einzugehen schien. Erst als sie hörte, daß der Tabak noch heute aufgefädelt werden müsse, wurde sie ganz wach. Also nichts mit freiem Sonnabendnachmittag. Nun, etwas Mohn würde sie wohl auch noch nach Feierabend brechen können, und hinüberspringen mußte sie mittags, das war ganz unbedingt nötig.
In der Frühstückspause lief sie umher und sammelte noch mehr Futter, und dann legte sie sich in die Sonne, die linke Armbeuge über dem Gesicht als Schutz vor der jetzt warm und freundlich strahlenden Sonne, und schlief trotz aller Sorgen sofort und tief ein. Das war das Herrliche an der Landarbeit, daß man so im Gleichmaß blieb. Man aß, man schlief, und wenn man aufwachte, sah alles wieder anders und besser aus. Es mußten doch Kräfte im Boden stecken, die sich einem mitteilten, ohne daß man etwas dazuzutun brauchte. Ron glaubte ganz fest, daß dieses Schlafen in der Ackerfurche einen stark mache. Nie, nie war sie beim Enttrümmern so ruhig und beruhigt eingeschlafen wie hier jeden Tag, vormittags und nachmittags, wenn die ersehnte und nie ausbleibende Arbeitspause geboten wurde ...
Christine hatte noch einen Augenblick an der Haustür gestanden, nachdem die beiden sich verabschiedet hatten — nur einen Augenblick. Denn es war kalt und neblig; der Nebel bemächtigte sich auch sofort der beiden Gestalten, der großen und der kleinen, und hüllte sie ein, so daß es keinen Zweck hatte, ihnen nachzuwinken. Ja, es wurde Herbst; aber anders Herbst als zu Hause. Da war der Nebel silbern gewesen, und wenn er sich in der hervorbrechenden Sonne löste, schwamm das Land in einem zarten, matten Goldglanz.
Christine lief die Treppe hinauf und klinkte leise auf. Ulla schlief noch. Eigentlich wäre es ja besser, man bliebe wach — aber das zweite Bett, das, aus dem soeben Ron und Wolf gekrochen waren, stand da so allein und einladend. Wann hatte man schon einmal ein Bett für sich. Es winkte förmlich. Christine zog das Kleid über den Kopf und kuschelte sich unter das Deckbett, ach wunderbar, wunderbar. Nur einen Augenblick, nur, bis die Hände nicht mehr so klamm waren —
Sie schlief sofort und ohne Übergang ein. Und ebenso rasch und übergangslos stellte sich der Traum ein, den sie im Wachen angefangen hatte zu träumen — der ewig, immer wiederkehrende Traum: Es wäre alles nicht wahr und sie daheim. Christine schluchzte dumpf und erstickt im Traum, obwohl sie das mit dem letzten Schimmer des Bewußtseins, der ihr geblieben war, eigentlich dumm fand — man brauchte doch nicht zu weinen, wenn man zu Hause war ...
Sie war daheim auf dem Dachboden, und es mußte Herbst sein, genau wie jetzt in Wirklichkeit, aber eben Herbst daheim, schöner, strahlender, farbenkräftiger Herbst. Durch das schräge Dachfenster quoll ein Strom von Licht; das kam daher, daß die Sonne jetzt draußen auf den Kastanien lag, die bunt gefärbt waren in allen Schattierungen vom Schwefelgelb bis zum dunklen Rostrot. Und es roch so herrlich, es roch so weit, man atmete unwillkürlich tief und voller Genuß.
Christine stöhnte. Sie wollte das Dachfenster erreichen und konnte nicht bis dahin gelangen, so sehr sie sich auch reckte. Und sie wußte, wenn sie jetzt nicht hinkam, würde sie es nie erreichen.
Es war, als könnte man nicht einmal mehr im Traum glücklich sein. Zu oft hatte sie schon dasselbe geträumt und war dann wiederum aufgewacht, enttäuscht und verarmt.
Das war es wohl, worunter Christine am meisten litt, diese Enge hier, dies fürchterliche Zusammengepfropftsein, dieses Unentrinnbare in ihrem jetzigen Leben. Ron empfand das nicht so, sie war an sich acht, in Wirklichkeit meist elf Stunden am Tag draußen. Wenn sie dann glücklich eintrudelte, war sie erstens richtig durchweht von der frischen Luft und zweitens todmüde, so daß sie im Grunde nichts anderes mehr brauchte als eine Ecke, in die sie sich verkroch, um zu schlafen. Sie, Christine, hatte ihren Beruf, ihre Arbeit hier, in der winzigen Stube, die kaum die beiden Betten faßte, wo überall Klamotten lagen oder hingen oder in Schachteln verstaut unter den Betten standen und einen zur Verzweiflung brachten, wenn man fegte oder wischte. Und es roch so muffig, immer, zu jeder Tages- und Jahreszeit; es war, als lüftete keine von den siebzehn Mietsparteien in diesem schrecklichen Kasten von Haus jemals ihre Zimmer.
„Menschenskind, Tine, das klingt ja ganz erbärmlich“, hörte sie jetzt eine Stimme: Ullas Stimme. Sie griff um sich und faßte in Ullas Schopf. Erschrocken riß sie die Augen auf. Nun hatten sie wohl Ullas Schulzeit verschlafen?
Nein, zum Glück nicht, denn heute war Sonnabend und Ulla mußte nicht zur Schule. Erleichtert, aber gleichzeitig auch schwach und matt von der Angst im Traum und dem Erwachen in die freudlose Wirklichkeit hinein, ließ sie sich zurücksinken.
„Ich hatte von zu Hause geträumt ...“
„Deshalb brauchst du doch nicht so anzugeben, es klang gefährlich“, murmelte Ulla, schon wieder im andern Bett. Ihr Ton war so vergnügt, daß es Christine ein bißchen tröstete. Ulla war ein Nichtsnutz, ein Kind, das überhaupt keinen Daseinszweck zu haben schien als den, zu essen, Sachen schmutzig zu machen und zu zerreißen und daraufhin hochbefriedigt zu schlafen in der weitaus breiteren Hälfte des gemeinsamen Bettes. Aber sie war fast immer vergnügt.
„Ich hab’ auch von zu Hause geträumt“, sagte sie jetzt, „aber sowas Komisches! Vater stand im Wohnzimmer und sagte — ja, er sagte etwas fürchterlich Komisches, aber ich weiß nicht mehr, was ...“
„Besinnst du dich denn noch aufs Wohnzimmer?“ fragte Christine zaghaft und ein bißchen gerührt. Ulla war fünf Jahre alt gewesen, als sie flüchteten, jetzt war sie acht. Ulla und Wolf waren die zweite Auflage der Haimonskinder, wie Vater manchmal gesagt hatte, sie und Ron die erste.
„Natürlich. Über dem Sofa hing das Bild von der Großmutter, und das von der Urgroßmutter neben der Uhr — ich dachte immer, deshalb heißt sie so“, sagte Ulla. Christine lachte. Ach, auf einmal war alles fort, alle Bedrückung des Schlafens und Wachens, alle Angst vor dem Leben und den Menschen, alle Unbegreiflichkeit des „Niemalswieder“. Sie sah das Wohnzimmer vor sich, niedrig, aber weiträumig und von jener wunderbar quadratischen Form, die sich ganz von selbst einrichtet. Alle einigermaßen schönen Möbel wirken darin sofort traulich und gemütlich, ob viel oder wenige, nun, und ihre Möbel erst ... Christine hatte sich schon als kleines Kind so sehr für „Einrichten“ interessiert. Ihr liebstes Spiel war, Stuben zu bauen, ob nun im Garten, im Heu, oder im Winter in der Kinder- oder Wohnstube. Sie rückte Kisten und baute Sofas, sie stellte Blumentöpfe in gedachte Fenster und baute Eckbänke, und ihr, gerade ihr, mußte das Schicksal diese bittere Heimatlosigkeit auferlegen. So war sie jetzt warm angerührt, als sie merkte, daß Ulla im Geiste noch ganz zu Hause war. Daß sie und auch Wolf die Eltern nach den wenigen geretteten Fotos kannten, war klar. Aber die Stuben, die Räume, das Zuhause, das man eben nur im Herzen bewahren kann, ohne einen einzigen Anhaltspunkt von Bild oder Schrift ...
„Weißt du, wenn ich groß bin, gibt’s bei mir mal keine Couch“, sagte Christine jetzt, „bloß ein Sofa und einen runden Tisch davor. Einen polierten, und da leg ich dann eine Filetdecke drüber, weißt du, so eine, die aus lauter Fäden geknüpft ist, so daß man die Platte durchsieht — und darauf stell ich eine Vase mit einem einzigen Blütenstengel darin, keine dicken, bunten Sträuße. Und eine Eckvitrine muß ich haben, so wie die zu Hause rechts, wenn man hereinkam, die mit den dünnen Beinen, weißt du noch?“
„Ja, an der hab’ ich mich mal furchtbar geschlagen. Ron rannte hinter mir her und scheuchte mich, und da flog ich über die Teppichecke —“
„Ja, einen Teppich muß ich auch mal haben. Dielenscheuern ist scheußlich; man sieht nie, was man gemacht hat. Sofort sind sie wieder schmutzig. Linoleum und einen Teppich in der Mitte —“
Ulla war noch bei ihren Erinnerungen.
„Mutter schimpfte, Vater hatte gerade Besuch in seinem Zimmer und ich heulte so laut. Weißt du, ich hatte mich gar nicht so geschlagen, oder wenigstens, ich heulte nicht deshalb. Ich wollte bloß, daß Ron einen tüchtigen Schreck bekäme, so frech wie sie immer zu mir war.“
Christine lachte.
„Ach ja. Wegen so was heulte man damals —“ Sie sagte das mit einer gewollt ruhigen, ein bißchen spöttischen Stimme, aber es war, als brächen diese Worte einen Damm in ihr. Etwas Langangestautes, etwas Überwältigendes brach sich Bahn; sie versuchte es noch abzustoppen, aber es war schon zu spät. Mitten im letzten Wort zerbrach ihre Stimme, und der Kummer, die Sehnsucht und der fürchterliche Schmerz um das Verlorene kam in einem so wilden und gewaltigen Schluchzen zutage, daß Ulla, zu Tode erschrocken, hochfuhr. Sie starrte zu Christine hinüber und stammelte entsetzt und hilflos immer wieder:
„Aber Tine — aber Tine —“
Christine war selbst sehr erschrocken, vor allem Ullas wegen. Sie versuchte immer wieder, sich zu fassen; aber es war, als müsse sie jetzt mit einem Male all die Tränen nachholen, die sie in den letzten drei Jahren unterdrückt hatte. Es weinte einfach aus ihr heraus, es war wie eine Krankheit, die ausbricht, wie ein Blutsturz; Ulla war längst aus ihrem Bett getappt und streichelte und tröstete, aber Christine konnte nicht einmal antworten. Das erste Wort, das sie schließlich hervorwürgte, war:
„Entschuldige —“
„Ach, laß man“, murmelte Ulla, aber als Christine sie dann bettelnd ansah:
„Geh, Ullalein, lauf, und denk nicht mehr dran — ich werd’ schon wieder vernünftig“, da war sie doch sehr erleichtert. Sie war ja noch klein, ein Kind, ein dummes, das den Schmerz eines andern Menschen zwar sieht und bedauert, sich aber auch und in erster Linie davor graut.
Sie ging. Schnell in die Sachen geschlüpft und hinaus! Einen Augenblick stand sie in der nebligen Frühe unschlüssig und ein bißchen verloren, dann aber fiel ihr ein, daß ja heute Sonnabend sei. Sonnabend, welches Glück! Sogleich setzten sich ihre Beine in Bewegung und trabten die abschüssige Straße hinunter. Sonnabend, da hatte Frau Helmers im Hause zu tun, da kam sie nicht in die Gärtnerei. Großartig. Es würde einen wundervollen Vormittag geben.
Ulla bog in die Hauptstraße des Städtchens ein und folgte ihr, die noch still und verschlafen dalag und dadurch womöglich noch häßlicher wirkte, mit zertrümmerten Eckhäusern, glotzenden Fensterhöhlen und dazwischen schon wieder angesiedelten Geschäften. Ulla wußte nicht, sie konnte nicht wissen, daß diese Stadt auch in heilem Zustand nie schön gewesen war — jedenfalls nicht nach dem Brande, der sie vor einem halben Jahrhundert nahezu niedergelegt hatte und nach dem sie so häßlich wieder erstand — mit roten Brandmauern und billigen, raschgebauten Mietskasernen. Sie fühlte nur die Feindseligkeit, die sie umgab, zumal ihr heute Christinens ausbrechender Schmerz das Herz dafür geöffnet hatte. Sie war froh, als sie die Stadt hinter sich hatte. Nun traten die Häuser und Ruinen rechts und links von der Straße zurück, es gab Vorgärten, und schließlich sah sie das große weiße Schild, das auch ein bißchen seitwärts, gleichsam bescheiden, am Wegrand stand: Gärtnerei Christian Gottlieb Jesumann.
Es war zuerst der Name gewesen, der sie aufmerksam gemacht hatte, „Christian Gottlieb Jesumann“, das klang so anheimelnd fromm, eigentlich wie ein Vers aus dem Gesangbuch. Ulla hatte vor zwei Jahren, im ersten Jahr, da sie zur Schule ging, einen langen und häßlichen Gelenkrheumatismus gehabt, und damals hatte sie recht eigentlich das Lesen gelernt, einfach so aus Langeweile und dem Drang, bei dem Stilliegen irgend etwas vorzuhaben. Am Gesangbuch, dem einzigen Buch, das in ihrer Stube aufzutreiben war, lernte sie lesen. Ihre Wirtin hatte es, weil sie es wahrscheinlich doch nie aufschlug, auf der Kommode liegen lassen, es war ganz verstaubt gewesen. Ulla hatte es sich geholt und darin buchstabiert, gelesen und schließlich daraus gelernt. Damals war auch Christine fast immerfort weggewesen, um mit Ron zusammen das Allernotwendigste aufzutreiben, was sie zum Leben brauchten, und so war Ulla sehr viel allein gewesen. Und sie fand die Lieder schön, die sie las.
Gottlob, das Tor war schon offen. Sie schlüpfte hinein und lief auf das erste der Warmhäuser zu. Auch hier steckte der Schlüssel. Und gerade als sie hineinwollte, öffnete sich die Tür und Herr Jesumann kam heraus.
Sein rundes rotes Gesicht mit den fast weißen Augenbrauen und den hellblauen, ein bißchen blassen Augen strahlte auf, als er Ulla sah. Er nahm sie an der Hand und drehte sofort um, zog sie mit sich, während er verschmitzt lächelte.
„Gut gemacht, Ullalein, gut gemacht. Heute kommt sie nicht, da kannst du mir viel helfen —“
„Sie“ war Frau Helmers, seine Schwägerin, die seit dem Tode seiner Frau und seines kleinen Mädels bei ihm wohnte. Sie war sehr tüchtig, wie er immer wieder betonte, wenn er von ihr sprach. Er hatte sich angewöhnt, dies und das mit Ulla zu besprechen, wenn sie zusammen pikierten oder umsetzten oder sonst irgendwelche sich stets wiederholenden Handgriffe taten, aber er sagte es stets in einem so bekümmerten, gleichsam untröstlichen Ton: „Ach ja, Tüchtigkeit konnte auch seine Schattenseiten haben.“ Frau Helmers jedenfalls war tüchtig in einem Sinne, daß einen das Grauen ankommen konnte. Kein Staubkorn war vor ihr sicher, aber auch keine Pfeife, die ein Mann eben doch am Abend mal rauchen wollte, und Gemütlichkeit war ihr wohl von jeher ein Fremdwort gewesen. Sie hatte selbst zwei Kinder gehabt, die immer in gestärkten Schürzen und wasserfesten Scheiteln zur Schule gegangen waren, sehr artig, sehr adrett, immer pünktlich, und das größere Mädel den kleinen Jungen stets an der Hand hinter sich herziehend; nie ließ sie ihn los, ach nein. Aber fröhlich hatten diese Kinder wohl nie ausgesehen, und daß man nun, da diese Kinder groß und für sich selbst verantwortlich waren, an fremden Kindern Spaß haben sollte, noch dazu an solch einer stets zerzausten und zerwehten Ulla, das konnte kein Mensch erwarten, am wenigsten Herr Jesumann, am allerwenigsten bestimmt Ulla selbst.
Trotzdem war es schade. So schön war es gewesen diesen ersten Sommer lang, als Ulla noch jeden Tag in der Gärtnerei sein durfte; als Herr Jesumann noch allein hauste und überall seine Pfeife ausklopfen durfte, als man noch nicht nach dem Tor schielte, ob „sie“ etwa käme. Heute war es wieder ein bißchen so wie damals, aber die Sonnabende waren so selten in der Woche, und außerhalb der Ferien hatte man sie ja auch nur halb.
Während Ulla, eine große und dicke Klappschnitte in der einen, eine Tomate in der andern Hand, neben Herrn Jesumann herging, erklärte und zeigte er ihr alles, was sie seit dem vorigen Mal noch nicht gesehen hatte, neue Stecklinge und umgetopfte Blumen, und dann sagte er, sie wollten doch mal nach dem Pflaumenbaum gucken, er hätte bestimmt etwas abzugeben.
Seltsam, daß hier, in der Gärtnerei, solch ein nebliger Frühherbsttag gar nicht bedrückend wirkte wie in der Stadt, sondern vielmehr geheimnisvoll, verheißend, vielversprechend. Die Pflaumen waren so frisch und betaut, wie sie da hingen und im Grase lagen. Es war nicht nur, daß sie gut schmeckten, sondern sie waren wie lebendig, eine lebendige Frucht einer Jahresarbeit, Zeugen liebevoller Behandlung lebendiger Wesen.
„Bei uns zu Hause hatten wir auch —“, sagte Ulla, während sie eifrig sammelte; wie oft hatte sie Herrn Jesumann von ihrem Garten erzählt, und immer hatte er aufmerksam und teilnehmend gelauscht. Was für Christine die heimatliche Wohnung, war für Ulla der Garten gewesen; sie trug ihn im Herzen und sprach von ihm zu niemanden als zu Herrn Jesumann, zu ihm aber immer wieder. Nur daß man eben zu Hause immerfort im Garten war und sein durfte und hier nur so selten ...
Der Tag war strahlend geworden und verschwamm jetzt in einen mattgoldenen Abend, als Ron die wacklige Treppe vom Oberboden herabgeklettert kam und in den Hof hinaustrat. Endlich! Es war bestimmt schon sechs durch. Sie hatten Tabak gefädelt. Er durfte nicht liegenbleiben, sonst wurde er heiß; jetzt hing er da oben an langen Fäden und konnte trocknen. Es war eine häßliche Arbeit, aber sie mußte sein. Jetzt nur schnell umziehen und fort. Sie war mittags nur auf einen Sprung im Chausseehaus gewesen und wußte nicht, ob Matthias noch dort war; sie hoffte es, er hatte es aber nicht versprochen. Vielleicht fürchtete sich Wolf doch ein bißchen, wenn er allein war. Ron fuhr schnell in ihr Dirndl und packte die Arbeitskluft unter den Arm. Nur fort, nur hinüber.