Die Hand von Odessa - Sally McGrane - E-Book

Die Hand von Odessa E-Book

Sally McGrane

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Beschreibung

Ex-CIA-Mann Max Rushmore reist für einen Routineauftrag in die noch friedliche Stadt Odessa. Doch als die abgetrennte Hand des örtlichen Gouverneurs in einem Fass Sonnenblumenöl auftaucht, ist Max alarmiert. Er stolpert über einen Männerzeh mit demselben verräterischen Muttermal. Der outgesourcte Profi kann nicht anders – er muss ermitteln! Inmitten politischer Spannungen hetzt Max durch die schöne Hafenstadt am Schwarzen Meer und ihre Schattenbezirke. Er trifft dubiose Geschäftsmänner, korrupte Beamte, Katakombenbewohner, Wissenschaftler, Konditorinnen, Dichter, Archivarinnen, Polizisten – und Mörder. In ihrer surrealen Neuerfindung des klassischen Spionagethrillers zollt Sally McGrane literarischen Ikonen von Odessa wie Babel, Gogol, Puschkin und Tschechow ihre Anerkennung und inszeniert gleichzeitig die Drohkulisse eines heraufziehenden Krieges.

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Sally McGrane lebt in Berlin und schreibt für die »New York Times«, den »New Yorker« und andere Zeitungen und Zeitschriften. Geboren und aufgewachsen in San Francisco, hat es sie als Journalistin nach Russland und in die Ukraine geführt. Ihr zweiter Spionageroman, »Die Hand von Odessa«, wurde in der namensgebenden Stadt selbst verfasst.

Diana Feuerbach ist Autorin, Übersetzerin und Hörbuchregisseurin. Sie lebt in Leipzig. Die Absolventin des Deutschen Literaturinstituts hat in den USA studiert und gearbeitet. Mehrfach hat sie die Ukraine und Russland bereist und sich in eigenen Texten mit der postsowjetischen Welt beschäftigt, etwa im 2014 erschienenen Roman »Die Reise des Guy Nicholas Green« (Osburg Verlag). Für Voland & Quist übersetzte sie bisher die Romane von Svetlana Lavochkina.

Die im Roman aufgeführten Handlungen und Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten zu realen Personen, tot oder lebendig, und zu realen Ereignissen sind rein zufällig.

Die Hand von Odessa

Sally McGrane

Aus dem Amerikanischen von Diana Feuerbach

Roman

© Verlag Voland & Quist GmbH, Berlin und Dresden 2022

Lektorat: Carsten Schmidt

Korrektorat: Kristina Wengorz

Umschlaggestaltung: pingundpong

Satz: Fred Uhde

Druck und Bindung: BALTO print

ISBN 978-3-86391-349-6

eISBN 978-3-86391-350-2

voland-quist.de

Für meine Mutter und meine Schwester

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

TEIL 1

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

TEIL 2

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

TEIL 3

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

TEIL 4

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

TEIL 6

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Epilog

Kapitel 62

Prolog

»Oho, ich habe oft eine Katze ohne Grinsen gesehen«, dachte Alice, »aber ein Grinsen ohne Katze! So etwas Merkwürdiges habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen!«

Lewis Carroll, Alice im Wunderland

1

Mister Smiley war ein fetter, dreckiger Kater mit mausgrauem Fell, durchsetzt mit rattendunklen Flecken. Sein Markenzeichen, und zugleich der Grund für seinen (gänzlich unpassenden) Namen, war eine alte, gezackte Narbe, die von seinem linken Auge bis zum rechten Kiefer verlief. Seine scheinbare Trägheit verbarg seine ausgezeichnete Intuition: Mister Smiley ahnte die Dinge voraus und konnte rechtzeitig verschwinden – oder am richtigen Ort auftauchen.

Diese Gabe war, seiner Meinung nach, der Schlüssel zu seinem Erfolg. Natürlich besaß er auch noch andere wichtige Eigenschaften. Brutalität, die Fähigkeit loszulassen, Talent für das doppelte Spiel, scharfes Gespür für den Feind, schärferes Gespür für die eigenen Freunde. Auch die Narbe schadete nicht. Wie Mister Smiley gern sagte: »Ihr hättet den anderen Kater sehen sollen«, gefolgt von einem langen, tiefen, grollenden Schnurren.

Selbstredend wusste er, dank der vielen geistlosen Unterhaltungen, die er in seinem langen Leben mit angehört hatte, dass die Menschen davon überzeugt waren, dass Katzen nicht sprechen konnten. Pure Einfältigkeit! Aber Mister Smiley hielt generell wenig von Menschen. Unter Katzen galt das Sprichwort: »Je größer der Kopf, desto weniger lohnt es sich, ihn zu fressen.« In ganz Odessa kannte Mister Smiley nur einen Menschen, einen Dichter, der wirklich verstand, dass Katzen sprechen konnten. Dieser Dichter – sein Name war Fischmann, wie köstlich – lebte in einer kleinen Datscha am Rande der Stadt und war laut seinem Namensschild auch eine Art Doktor. Jeden Nachmittag kamen Patienten zu ihm. Sobald sie das Haus betraten, legten sie sich unverzüglich auf eine rote Samtcouch. Dort, unter den dunklen Augen der Ikonen, die von den Sprechzimmerwänden herablugten – hin und wieder ließ ein Sonnenstrahl ein rasches Goldzwinkern glitzern –, zeigten diese Menschen ein äußerst erstaunliches Verhalten. Anstatt sich für ein Nachmittagsschläfchen zusammenzurollen, lagen sie starr und steif da, die Arme an den Seiten, die Augen zur Decke gerichtet. Dann redeten sie. Und redeten und redeten und redeten. Der Dichter faltete seine Hände auf dem Bauch, zog das Kinn an die Brust und hörte zu. Nach fünfzig Minuten standen die Menschen wieder auf. Lächelnd oder weinend gingen sie davon. Danach setzte sich der Dichter – ein großer, ruhiger Mann mit weißem Haar und weißem Bart, sehr klug, ausgenommen seine unerklärliche Neigung, die drei Igel zu füttern, die jeden Abend in seinen Garten watschelten – an seinen Computer. Er schrieb dort eine Art Tagebuch, das – laut Aussage von Mister Smileys Spionen – in der ganzen Stadt gelesen wurde. Die Katzen waren nicht sicher, wie es zu den Lesern gelangte. Nicht per Papier und Tinte, wie in den alten Tagen. Irgendeine Art Duft, vermutete Mister Smiley. Seltsamerweise unriechbar für Katzen, wurde er verströmt, wenn der Dichter den Knopf auf der rechten Seite der Tastatur drückte.

Manchmal schaute Mister Smiley dem Dichter beim Tippen über die Schulter. Das Tagebuch beschrieb die Ereignisse in der Stadt: langweilige (Mister Smileys Meinung nach) Streitereien zum Thema Sprachen – kann ein ukrainischer Schriftsteller auf Russisch schreiben? (Pah! Sollte er es doch mal auf Katzisch versuchen!) –, Zank im Weltclub der Odessiten, die Frage der ukrainischen Nationalität, spukhafte Erscheinungen, was der Dichter zum Abendbrot aß.

Die einzige geistig gesunde Kreatur in dieser dicht besiedelten Literaturlandschaft war die schwarze Katze des Dichters, die unstete Miss Kitty, die den Garten der Datscha mit eiserner Pfote regierte, wenn sie Lust dazu hatte, und deren knackige, treffsichere Bonmots sogar einen vernarbten Kampfkater wie Mister Smiley zum Kichern brachten.

Natürlich gab es jede Menge Menschenfrauen, die mit Katzen redeten – in jeder Stadt redeten Frauen mit Katzen –, doch der Dichter tat mehr als das. Er hörte zu. Und er verstand.

*

Es war eine heiße Nacht im Spätsommer. Spannung lag über der Stadt. Dichte Dunkelheit hatte sich bis kurz über die Straßenlampen gesenkt, die von unbeständiger Strahlkraft waren. Wie hatte es Grischa, der neue Gouverneur, formuliert? Wie Downtown Tbilissi 1995. Katzen liebten Schatten, kein Zweifel. Dennoch war auch Mister Smiley der Ansicht, dass die Stadt dringend aufgehübscht werden müsste.

Mit einem leisen Zischen kringelte er seinen Schwanz ein. Presste den Körper gegen eine bröcklige Mauer. Lauschte. Fühlte. Verschmolz. Die Stadt war heute Nacht eins. Als atmeten jedes Haus und jedes Wesen die Gewalt in der Luft. Die Urlauberinnen in Hotpants waren nervös. Die blechernen Bässe pumpten tiefer und lauter als sonst aus den Autofenstern. Reifen quietschten an jeder Ecke. Es roch nach verbranntem Gummi. Die Bremsen aus sowjetischer Produktion heulten auf, untröstlich über den eigenen Tod. Die jungen Männer, feinfühlig, waren die Ersten unter den Menschen, die die besondere Energie spürten, und zwar am stärksten. Sie gaben Gas, rasten über die Pflastersteinkreuzungen, schneller und riskanter als in anderen Nächten.

Mister Smiley zählte zu den wenigen, die genau wussten, wo die Explosion, die die ganze Stadt kommen fühlte, hochgehen würde. Menschen – besonders die Mafia – meinten ja, sie wüssten alles. Doch wer in der Stadt konnte mehr wissen als die Katzen? Die hübschen orangefarbenen, die sich für ein Häppchen Fisch einschmeichelten, die verrufenen weißen, die den ganzen Tag auf den Gehwegen dösten, die struppigen Nachtspione, die sich in Gruppen von sechs oder sieben versammelten, hier in der Gogolstraße, die Augen verkrustet von Schleim und Getier, auf Anweisung wartend. Überall waren die Katzen, an jeder Straßenecke, unter jedem Cafétisch, auf jedem Mauervorsprung. Niemand wusste mehr als die Katzen, und keine Katze wusste mehr als Mister Smiley. Aus dem einfachen Grund: Er war ihr Boss.

Natürlich hätte er einen Untergebenen beauftragen müssen, jemanden, dem er vertrauen konnte, etwa die muskulöse Tigermieze oder den clever-grimmigen Gestiefelten. Doch obwohl alle Katzen sprechen konnten, wussten längst nicht alle, wie man sich einem gewöhnlichen Menschen verständlich machte. Und dieser Mensch war kein gewöhnlicher! Nein, es war Sima! Schon ihr Name: Ser-a-phi-ma. Der feurige Engel. Sima für ihre Freunde. Simotschka für Mister Smiley. Wie lange liebte er sie schon? Wie konnte ein alter Straßenkater wie er überhaupt an Liebe denken? Doch seit dem Tag, als er zum ersten Mal einen Blick auf Simas lange Beine erhascht hatte, auf ihre orangeroten Zöpfe, ihr unschuldiges, doch nicht gänzlich unschuldiges Lächeln, war sie seine Auserwählte. Wäre er doch ein Mann! Oder sie eine Katze! Wie eine Königin würde sie unter ihresgleichen herrschen, mit ihrem Goldfell und den formschönen Gliedern. Dafür würde er sorgen, sobald sie seine Geliebte war. Er hatte sich oft ausgemalt, was er alles mit ihr anstellen würde – doch es nützte nichts. Mister Smiley war sich nicht einmal sicher, was Sima für ihn empfand. Manchmal, das stimmte, kraulte sie ihn am Hals und gab ihm eine Anchovis, wenn sie ihn vor dem Restaurant sah. Aber das machten viele Frauen. Und natürlich konnte Sima unmöglich wissen, wie bedeutend er war. Wie viele Katzen könnten ihr Glück nicht fassen, brächte er ihnen nur ein Zehntel – ein Tausendstel – an Interesse entgegen! Wie sie sich ihm, wortwörtlich, zu Pfoten warfen und ihre Hinterteile aufspreizten! Aber nein. Nein, er war kein Narr. Mister Smiley verstand, dass Sima ihn ohne eine Spur von Begehren ansah. Nein, für sie war er nur einer von vielen Streunern, wenn auch ein irgendwie sympathischer. Nicht einmal gut genug, um ein Haustier zu sein.

Mister Smiley schluckte seine Enttäuschung. Es war nicht Simas Schuld. Nichts von alldem. Und er wusste, was ihr zustoßen würde, hier im Restaurant ihrer Mutter: Angelina. Eine tolle Köchin diese Angelina! Sie machte wunderbaren Forshmak: eine perfekte Mischung aus Heringsfilet und Äpfeln, Zucker, Essig und Eiern, zu einer feinen Masse püriert, im besten Fall streichfähig für Messer oder Katzenzungen – und Angelina geizte auch nicht mit den Resten. Eine großzügige Frau mit den eleganten Proportionen des Alters – so breit wie hoch –, oh, Angelina wäre eine wunderbare Schwiegermutter für einen Gesetzlosen wie Mister Smiley, der die Behaglichkeiten des Familienlebens umso mehr brauchte, bei all dem Blut, das er vergießen musste. Er peitschte vor Ärger mit dem Schwanz. Hirngespinste, mal wieder! Aber egal. Was zählte – was wirklich zählte –, war Sima.

Sima war in Gefahr, und Mister Smiley würde sie retten.

Als es Zeit wurde, sprang er überraschend anmutig auf und rannte zur Hintertür des Restaurants. Sie stand offen. Er streckte seinen narbigen Kopf vor.

Er wurde belohnt mit Simas Anblick. Ihr orangerotes Haar war zurückgebunden, der Rock hochgeschoben. Auf den Knien schrubbte sie den Boden des Speiseraums. Diese Schenkel!, dachte Mister Smiley und leckte sich das Maul. Sima drehte den Kopf, und in der Dunkelheit sah Mister Smiley das dunkle Muttermal, herzförmig, genau unter dem linken Auge – ein Mal, das bei einer Katze blaues Blut verraten hätte.

Das Schaufenster des Restaurants reflektierte die Nacht wie ein Spiegel.

»ARSCHLOCH!« Ein lautes Kreischen erschreckte den Kater. »ARSCHLOCH!«

Wo war der grässliche Vogel? Das wäre was! Wenn der Papagei Jacques, diese große, schöne Kreatur, verwöhnt, höhnisch, gesund, mit Federn, die wie polierter Stein glänzten, ganz zufällig umkommen würde … Doch der Käfig hing nicht vor dem Fenster wie sonst. Das Kreischen des Papageis schnitt erneut in die Nacht.

»ARSCHLOCH!«

Jetzt war nicht der Moment, um alte Rechnungen zu begleichen, dachte Mister Smiley. Der Kater schaute Sima eindringlich an. Und konzentrierte sich.

2

»ARSCHLOCH!«

Sima stand auf. Streifte die Plastikhandschuhe ab, legte ihre Hände auf die Hüften. Woran hatte sie gerade gedacht?

»ARSCHLOCH!«

»Guter Vogel!«, rief sie zärtlich und blickte gedankenlos in den kleinen dunklen Speiseraum. Es war eine heiße Nacht, schon sehr spät, viel später, als sie geplant hatte. Sie hatte alle Lichter gelöscht. Ihre Mutter fand das verrückt, doch für Sima fühlte sich die Nacht auf diese Art kühler an. Sie konnte die grauen Umrisse der Tische ausmachen, die Stühle, die auf ihnen standen. Sima machte Großputz – den ersten, seit sie vor einem Monat das Lokal eröffnet hatten. Die wuchtige Zinkbar schimmerte in der Dunkelheit.

»Bist ein schöner Vogel, Jacques!«

Mittlerweile hätte sich Sima in dem kleinen Speiseraum (nur sieben Tische!) mit verbundenen Augen zurechtfinden können. Sie hob ihre Arme über den Kopf, der hohen Decke entgegen, und dehnte sich. Sie gähnte, ein langes, tiefes Gähnen, und ließ die Arme fallen. Sie war müde. Auf die denkbar beste Weise, nach einem Tag harter Arbeit. Im Morgengrauen aufstehen, um zum Fischhändler zu gehen. Druck machen für eine Lieferung Landtomaten für selbst gepressten Saft, dunkelrot und dick wie Blut. Sauerampfer hacken für den grünen Borschtsch, der diese Woche auf der Karte stand. Sie streckte ihre langen Finger. Die Finger hatten noch leichte Flecken. Dunkelgrün. Ein frischer, unreifer Geruch. Scharf. Als wenn dir Mutter Natur auf die Finger klopft. Und dir sagt, dass du noch nicht aufgeben sollst. Sima fuhr sich mit den grünen Fingerspitzen durch den langen erdbeerblonden Zopf. Mit einem Finger berührte sie das schwarze Muttermal, herzförmig, unter ihrem linken Auge. Eine ihrer Gewohnheiten, wenn sie in Gedanken war. Sie fragte sich, ob Grischa, der neue Gouverneur, wirklich demnächst einmal zum Abendessen in ihr Restaurant kommen würde. Genau das erzählte man sich. Sima hatte das Gerücht nun schon mehrmals gehört.

»ARSCHLOCH!«

Viele ihrer Freunde waren begeistert von Grischa. Grischa (alle nannten ihn so) war jung (noch keine fünfzig). Er hatte in Amerika studiert, dachte fortschrittlich. Abgesehen davon war er in seinem Heimatland Georgien Präsident gewesen – zweimal! Und Georgien und die Ukraine waren gar nicht so verschieden. Wie Cousins in der postsowjetischen Welt. Nach dem, was man hörte, waren Grischas Reformen in seinem Heimatland wirklich erfolgreich gewesen. Die Verkehrspolizisten zum Beispiel nahmen keine Schmiergelder mehr an. Dann wurde Grischa abgesetzt. Und nun war er hier, in Odessa.

Zweifellos besaß Grischa Charme. Er war kein Politiker sowjetischen Stils, der sich in seinem Büro einschloss. Nein, Grischa war immer unterwegs, ein echter Mann des Volkes mit seinem jungenhaften Lächeln, seinem Topfschnitt, dem postpräsidialen Bierbauch. Er war die Art von Mann, der vom Forshmak drei- oder viermal Nachschlag verlangte und ihn auch bezahlte. Er ging nirgendwohin ohne ein Kamerateam. Im Fernsehen schüttelte er allen Leuten die Hand – Großmüttern, Strandgängern. Ein Monat war seit seinem Amtsantritt vergangen, und Sima hatte den Eindruck, dass sie Grischas berühmtes Muttermal – einen weinroten Fleck in der Form des amerikanischen Bundesstaats Florida, der sich vom Handgelenk bis zu den Knöcheln an der rechten Hand des Gouverneurs erstreckte – so gut wie ihr eigenes kannte.

Sollte sie die Stühle herunternehmen? Sie holte Luft. Der Zitronenduft des Putzmittels. Noch nass. Also morgen früh.

»ARSCHLOCH!«

Ein äußerst seltsames Gefühl erfasste sie. Als hätte sie etwas vergessen. Sie schüttelte den Kopf. Es wäre eine prima Werbung, wenn Grischa tatsächlich zum Abendessen käme, mit seinem Kamerateam.

Seine politischen Pläne hörten sich auch prächtig an. Die Korruption ausmerzen! Transparenz schaffen! Aber Odessa war nicht Georgien. Dort war Grischa Präsident des ganzen Landes gewesen. Hier war er nur Gouverneur eines einzigen Verwaltungsbezirks. Und genau hier, in Odessa, der Hauptstadt dieses Bezirks, bekam er es mit mächtigen Gegenspielern zu tun. Mit Mephisto zum Beispiel. Der Bürgermeister der Stadt hatte dem neuen Gouverneur bereits den Krieg erklärt. Sima schüttelte empört den Kopf. Mephisto! Der hatte sich seinen Spitznamen verdient, so viel stand fest. Ein früherer Waffenschieber und aktueller Champion im Thaiboxen, mit russischem Pass und direkter Verbindung zum Kreml. Wie Sima nur allzu gut wusste, konnte dieser kleine, gedrungene Glatzkopf einem das Leben zur Hölle machen.

Sie seufzte. Am besten, man wartete ab. Machte sich keine falschen Hoffnungen.

»ARSCHLOCH!«

Wieder ließ Sima ihren Blick über die vertrauten grauen Umrisse wandern. Was für ein seltsames Gefühl. Was hatte sie bloß vergessen? Immerhin hatte sie schon mit sechs Jahren im Strandlokal ihrer Mutter gearbeitet. Zwanzig Jahre. Ein wunderbares Restaurant, das hatten alle gesagt. Manchmal fügten sie hinzu: »Warum nehmen wir es Ihnen nicht ab?«

Sima und ihre Mutter pflegten als Antwort höflich zu lächeln. Nichts war passiert. Niemand »nahm ihnen das Lokal ab«. Bis zu jener Nacht. Ein Jahr war das jetzt her. Eine warme Sommernacht, dunkel und feucht. Wie die heutige eigentlich.

Ein Polizist war vorgefahren, in einem schwarzen BMW. Kein gewöhnlicher Polizist. Ein gewöhnlicher Polizist könnte sich nie im Leben ein solches Auto leisten. Ein korrupter Polizist, der nach Feierabend in ihre Küche spazierte. Und sagte, das Restaurant gehöre ihnen nicht. Sie müssten raus. Angelina stand im Türrahmen. Versperrte die Tür mit ihrer breiten Statur. »Nein«, sagte sie. Das Feuer brach ein paar Tage später aus. Sie verloren alles. Einfach alles. Komplett verbrannt. Köchinnen wissen: Wenn das passiert, muss man wieder von vorn anfangen.

»ARSCHLOCH!«

Sechs Monate hatte Sima nicht gearbeitet. Sechs Monate stand sie morgens auf und hatte nichts zu tun. So etwas kannte sie nicht. Als ob das Leben durch sie hindurchginge. Sie streckte die Hand aus, konnte es aber nicht fassen.

Endlich, um wieder beschäftigt zu sein, schrieb sie sich für einen Onlinekurs in Französischer Confiserie ein. Sie war ein Naturtalent, wenn es um Zuckerskulpturen ging. So gut, dass sie einen Preis gewann. Zombiepartys für Kinder waren der letzte Schrei in Odessa. Sima backte eine Torte in der Form eines Untoten. Sie erfand eine völlig neue Herstellungsmethode für die Augäpfel: Buttercreme mit harter Zuckerglasur. Die Ergebnisse waren schaurig lebensecht; sogar die Franzosen bestätigten das. Die Jury hatte so etwas noch nie gesehen, und Sima erhielt eine Silbermedaille.

Aber Backen reichte nicht aus, um sie und die Mutter am Leben zu halten. Als das kleine Lokal im Stadtzentrum frei wurde, zögerten sie. Was sie kannten, waren dreißig Tische. Am Strand. Aber das Stadtzentrum war eine Chance. Also verkauften sie ihre Wohnung im Zentrum, die sie seit Generationen besaßen.

Sie hatten gerade den Mietvertrag für das Lokal unterschrieben, als Mephisto anrief. Der Bürgermeister wollte investieren. Natürlich kannten Sima und ihre Mutter Mephisto – er hatte seinen Namen in einem sowjetischen Gefängnis bekommen – seit Jahren. Er war Gast in ihrem Strandlokal gewesen, wie jedermann. Saß in der Ecke mit seinem Stiernacken und den trüben Augen.

Sie wussten natürlich, dass es riskant war, mit Mephisto Geschäfte zu machen. Aber sie glaubten, dass es gut gehen werde. Bis Mephisto vorbeikam. Sima bot ihm Kaffee an. Er gab keine Antwort. Stattdessen stellte sich der Bürgermeister Odessas genau in die Mitte des neuen Lokals. Reckte eine fleischige Faust. Sima hatte nie bemerkt, wie dick Mephistos Nacken wirklich war. Wie die Adern hervortraten, wenn er etwas besonders betonte.

»Wenn du oder deine Mutter STEHLT …«, sagte er mit tiefer, zorniger Stimme.

Sima war so überrascht, dass sie vergaß, sich zu fürchten.

»EINE EINZIGE …« (Adernpochen) »GRIWNA …« (Adernpochen) …

Sima schüttelte sich und versuchte zu verstehen, was er sagte.

Etwas in der Art, dass er, Mephisto, dann … (Adernpochen) »EINE WURST NEHMEN …« (Adern, Adern!) »UND SIE STOPFEN …«

Hier hielt Mephisto inne. Er schien zu überlegen, dass Pantomime nützlich sein könnte, um der Sache Nachdruck zu verleihen. Seine fleischige Faust packte eine imaginäre Kielbasa und schob sie mit Gewalt in Richtung seines geschorenen Schädels.

»IN EIN OHR …« (er stoppte und hob die andere Faust)»… BIS SIE AUS DEM ANDEREN …« (er packte das andere Ende der imaginären Wurst) »WIEDER HERAUSKOMMT!« Dann drehte er sich um und ging.

Nach diesem Besuch beschlossen Sima und die Mutter, Mephisto sein Geld zurückzugeben. Falls sie sich fürchteten, dann vor dem, was passieren könnte, wenn sie weiter mit ihm zusammenarbeiteten. Und so hatten sie kein Budget mehr für Werbung. Absolut keins.

Ein geringer Preis, wie sich herausstellte. In der Vergangenheit hatte Mundpropaganda genügt. Und jetzt? Sie hatten Arbeit, endlich wieder. Und Gäste. Das neue Restaurant war anders. Aber es war gut. Sima lächelte.

»ARSCHLOCH!«

Der Papagei Jacques für seinen Teil liebte sein neues Zuhause. Er wollte immer mittendrin sein. Früher, im Strandlokal, hatte er in dem geschäftigen Durchgang neben der großen Küche gewohnt, umschwärmt von Küchenhilfen und Kellnern. Eine derbe, unerschrockene Truppe. Ziemlich freizügig mit dem Wort »Arschloch«. Als das Restaurant brannte, rettete einer von ihnen Jacques aus den Flammen. Mutig oder tolldreist. Aber gewiss gütig.

»ARSCHLOCH!«

Im neuen Lokal hängte Sima Jacques’ Käfig in das große Schaufenster. Von dort konnte der Papagei alles beobachten, was im Speiseraum vor sich ging. Aber er konnte auch die Straße einsehen – eine Verantwortung, die er mit keiner unbedeutenderen Persönlichkeit als Gogol teilte, der den Vorübergehenden, von einem Messingschild direkt gegenüber, mit einem rätselhaften Halblächeln nachblickte.

»ARSCHLOCH!«

Für ihren Großputz hatte Sima Jacques’ Käfig hinter den Tresen gestellt. Natürlich missfiel das dem Papagei.

»ARSCHLOCH!«

»Wurst in ein Ohr.« Sima schüttelte den Kopf. Wenigstens hatte Jacques sich das nicht gemerkt. Man musste dankbar sein für die kleinen Dinge.

»KREISCH!«

Sima war plötzlich müde. Sehr, sehr müde.

»Morgen kommst du wieder zurück ans Fenster«, sagte sie. Etwas zupfte an ihr. Ein Gedanke, eine Erinnerung. »Versprochen, mein Schöner.«

»KREISCH!«

Sima hielt inne. Sie spürte: Was auch immer sie vergessen hatte, es musste hinter der alten Zinkbar liegen. Was in aller Welt konnte es sein? War ihr etwas heruntergefallen? Nur was?

*

Zehn. Neun. Acht. Mister Smiley entblößte seine Schneidezähne.

»Runter mit dir«, sagte er. »Runter!«

Sieben, sechs. Erst als er sah, dass sich Sima hinter der Bar bückte, in Sicherheit, rannte der Kater zur Hintertür hinaus, so schnell ihn seine Pfoten trugen.

Fünf, vier –

Von fern hörte er den schwachen Ruf des Papageis. »Arschloch!«

Drei, zwei. Eins –

3

»Gestatten Sie, dass ich Ihnen meinen Bericht zum Bombenanschlag auf Angelinas Restaurant präsentiere?«

Kommissar Krook lehnte sich zurück. Er saß an seinem Standardschreibtisch im zweiten Stock des Polizeipräsidiums von Odessa. Betrachtete den tiefen Riss, der sich wie eine Minischlucht durch das dunkelbraune Furnier der Tischplatte wand.

»Mit Verlaub, vor wenigen Stunden ist in Angelinas Restaurant ein Sprengsatz detoniert.«

Mit einem tiefen Seufzer hob Krook die Augen. Blickte nicht auf den eifrigen Beamten, der vor ihm stand, sondern aus dem Fenster. Dort unten, im staubigen Hof, tauchte eine alte graue Tigerkatze aus dem Schatten des Weinlaubs auf. Drehte ihren narbigen Kopf ins Sonnenlicht. Ein Ebenbild von Ruhe und Frieden. Aber Krook wusste es besser: Erst vergangene Woche war dort unten ein Pfandleiher erschossen worden. Unter dem Rebenspalier. Am helllichten Tag. Krook runzelte die Stirn. Das war peinlich, selbstredend. Ließ die Polizei schlecht aussehen.

»Herr Krook, ich denke, wir sollten uns, bei allem Respekt, wirklich beeilen!«

Mit einiger Mühe hob der Kommissar seine schweren Lider. Betrachtete den frischgesichtigen Jungen mit dem dunklen Haar, rosa Lippen und Grübchen – Grübchen! – in der nagelneuen schwarzen Uniform. Einer von diesen »neuen Ukrainern«. Ein Abschluss in Business English, eine co-abhängige Beziehung zu seinem neumodischen Telefon, Idealismus im Überfluss. Kurz gesagt: jemand, der nicht zum Polizisten taugte. Warum musste Krook ihn ertragen? Ganz einfach! Grischa, der Eindringling aus Georgien, hatte diesen Schwachkopf erst inspiriert und ihm dann, als er Gouverneur von Odessa wurde, eine Stelle gegeben.

Dabei war die georgische Abstammung Grischas nicht das Problem, überlegte Krook. Odessa war immer eine multikulturelle Stadt gewesen. Ihre Gründer waren Franzosen, Italiener, Russen … Heute lebten hundertsechsunddreißig Ethnien im Bezirk! Nein, das Problem war, dass dieser Grischa, ein aufgeblasener Idiot, so tat, als wäre schon die Eröffnung einer Las-Vegas-ähnlichen Hochzeitskapelle vor dem Bezirksverwaltungsamt eine sinnvolle Reform. Mittlerweile, das wussten alle, führte jede neue Androhung, die Korruption zu bekämpfen, zu einem Hagel von Brandstiftungen, weil sich jeder noch schnell zu nehmen versuchte, was er kriegen konnte. Wer aber musste sich darum kümmern? Ohne ausreichend Pistolen, aber mit einem plötzlichen, unerklärlichen Mangel an Heftklammern? Kommissar Krook, wer sonst?

Und dann gab es solche Volldeppen wie Grübchen. Anstatt sich einen Job in der Werbebranche zu suchen, sahen solche Kids Grischa im Fernsehen und wurden Polizisten. Prima. Und nun stand er da in seiner Uniform und beanspruchte Kommissar Krooks zumindest halb kostbare Aufmerksamkeit.

Die Uniform! Sie machte Krook erneut wütend. Das fesche Hemd mit dem schwarzen Kragen, wie bei der kalifornischen Highway Patrol oder in einem verdammten Fernsehfilm. Kostüme waren das! Die Odessiten nannten die Truppe schon »Instagram-Polizei«. Offenbar war Grübchen sogar für zwei Wochen nach Amerika gereist, für Schulungen.

Schauen wir mal, wie lange du durchhältst, dachte Krook. Mit deinem Training.

Krook seufzte. Er war kein junger Mann mehr, und gerade jetzt drohte sein Bauch die Zipfel seines schicken neuen Hemds aus der Hose zu ziehen.

Der Aufmerksamkeit seines Vorgesetzten gewiss, begann der junge Mann seinen Bericht mit neuem Elan. »Schon wieder ein Bombenanschlag, mit Verlaub«, sagte Grübchen, der seinen von den Kollegen erhaltenen Spitznamen akzeptiert hatte und das Beste daraus zu machen versuchte. »Sima – Angelinas Tochter – hat einen echten Schreck bekommen. Ich war eben bei ihr, hab sie vernommen. Sie war …«, Grübchen scrollte durch die Notizen auf seinem iPhone, »… gerade mit Putzen beschäftigt. Die Bombe flog direkt durch das Schaufenster und ging einen halben Meter neben ihr hoch. Aber Sima suchte gerade etwas hinter der Bar. Das war, mit Verlaub, ein Riesenglück!«

Krook glotzte Grübchen stumm an. Dann senkte er den Blick. Der Blick fiel auf die kaputte Schreibtischschublade, die seit Jahren klemmte. Nahm Krook hin und wieder Geschenke an? Natürlich. Wie sonst käme seine zuckerkranke Tochter zu einem Arzttermin? Wie seine Enkelin zu einem Kindergartenplatz? Der neue Gouverneur konnte über Reformen reden, so viel er wollte. Wo war die Reform, die jene Routineuntersuchung im Krankhaus rückgängig machte, die Krooks Taugenichts-Schwiegersohn mit Hepatitis C infiziert hatte? Etwas irritierte Krook. Es war Grübchens Stimme.

»Sie hatten den alten Bartresen gerade erst eingebaut. Zink, super stabil. In Paris hergestellt, neunzehntes Jahrhundert. Hat Sima das Leben gerettet! Die Bar ist aus dem alten Maurerhaus. Sie erinnern sich, es ist letzte Woche in sich zusammengefallen. Ein Jammer übrigens, das architektonische Erbe, das jedes Mal verloren geht, wenn so etwas passiert. Mit Verlaub, ich werde es Grischa gegenüber erwähnen, wenn er seinen nächsten Rathaustreff abhält. Eine amerikanische Sitte, wissen Sie, und alles live im Fernsehen! Und die Bürger kommen tatsächlich zu Wort, bei diesen …«

»Vielleicht sollten Sie besser für die UNESCO arbeiten«, blaffte Krook.

Grübchen sah ihn an. Flehentlich.

»Na … fahren Sie fort«, sagte Krook.

Grübchens Zeigefinger scrollte wieder. »Dies ist Odessas dreizehnter Bombenanschlag ohne Opfer«, sagte Grübchen. »Alle Anschläge waren gegen proukrainische Gruppen gerichtet. Gegen Menschen, die aktiv daran arbeiten, dass Odessa Teil der Ukraine bleibt, anstatt sich abzuspalten und wieder zu Russland zu gehören.«

Krook rollte mit den Augen. So viel zum Offensichtlichen!

Doch Grübchen starrte noch immer auf sein Handy. »Die Privatwohnung des international bekannten odessitischen Dichters Yefim Fischmann, der auch als Psychiater praktiziert. Die Odessa-Zentrale des ukrainischen Geheimdienstes …« Der Junge blickte hoch. »Mit Verlaub, der Anschlag von letzter Nacht passt ins Bild. Immerhin ist bekannt, dass Angelina den im Kampf gegen die Russen verwundeten ukrainischen Soldaten Borschtsch ins Krankenhaus gebracht hat. Ich schlage vor, wir untersuchen die Möglichkeit, dass der russische Geheimdienst, der FSB …«

»Ich weiß, wie die heißen«, knurrte Krook.

Grübchen stockte. Dann, atemlos, rief er: »Also, Chef, darf ich gegen den FSB ermitteln? Um zu sehen, ob sie dahinterstecken? Mit Verlaub?«

Krook vergrub sein Kinn an der Brust. Die Antwort, selbstredend, war Nein. Politische Fälle fielen sofort in die Zuständigkeit der höchsten Stellen. Und überhaupt sollte ein einfacher ukrainischer Bulle niemals gegen den russischen Geheimdienst ermitteln. Was hatten sie dem kleinen Trottel in San Diego erzählt?

In diesem Moment spazierte einer von Krooks langjährigen Kollegen herein. Blieb stehen, um sein neues Hemd wieder in den Hosenbund zu stopfen, der ebenso großzügig bemessen war wie der von Krook. Schaute auf Grübchen, dann auf Krook. Sein Blick sprach Bände. Krook grinste. Wenigstens einer, der ihn verstand!

»Warum zahlt Angelina nicht einfach das Schutzgeld?«, sinnierte der Kollege.

Krook zuckte mit den Achseln. »Sie glaubt immer noch, dass ihre alten Freunde sie beschützen.«

Der Kollege schüttelte den Kopf. »Wer einmal Angelinas Forshmak probiert hat, würde keine Bombe in ihr Lokal werfen.«

»Ein gutes Restaurant ist ein kleines Gottesgeschenk«, bejahte Krook.

Philosophisch hob der Kollege die Augenbrauen. »Wenigstens wurde niemand verletzt.«

»Oh!«, meldete sich Grübchen zu Wort. »Mit Verlaub – das – das stimmt nicht ganz. Warten Sie mal!« Er scrollte. Hielt inne, den Zeigefinger in der Luft. »Sie haben ein Haustier. Einen afrikanischen Graupapagei. Ja, hier steht es: Seit der Explosion leidet Jacques unter schlimmem … Stottern.«

TEIL 1

Ich habe mich seit langer Zeit nicht mehr so heimisch gefühlt wie hier, als ich »Land sichtete« und zum erstenmal in Odessa stand.

Es sah genau wie eine amerikanische Stadt aus; schöne, breite und auch gerade Straßen …

Mark Twain, Die Arglosen im Ausland

4

Max Rushmore flog mit der LOT von Warschau. Der neue polnische Airport war eine Art Wunder der Moderne. Ein Traum aus Stahl, Granit, Elektronik, großzügig und gut geplant. Der Bahntransfer vom Stadtzentrum verlief geschmeidig und ruhig, und ehe man sich’s versah, checkte man bereits an einem blitzsauberen Gate für seinen Flug ein.

Gewiss, angesichts Polens Kurs in Richtung Autoritarismus, seiner Weigerung, syrische Kriegsflüchtlinge aufzunehmen, und seiner insgesamt rückschrittlichen Politik wirkten die von den voliereartigen Deckenbögen des neuen Flughafens hängenden, lindgrünen Poster auf Max leicht ironisch. Polen: das weltoffene Land. Alles klar.

Immerhin, die Sicherheitskontrollen liefen entspannt – gut organisiert, nicht überfüllt. Und die polnischen Duty-Free-Shops standen denen in skandinavischen Ländern nicht nach. Dezent und unaufdringlich, ausgestattet mit allem, was Weltbürger brauchten: abgelaufener Schweizer Schokolade, Flaschen mit französischem Mineralwasser, Flaschen mit polnischem Mineralwasser, Schlüsselanhängern mit Motiven von Fußballturnieren.

Die Kundschaft war allerdings nicht ganz so wie in Kopenhagen, dachte Max, als ein verdorrter Mann in einem aus der Zeit gefallenen Anzug – braunes Polyester, dünnes Seidenhemd, brauner, schmalkrempiger Hut – eine Tasse mit der Aufschrift I Heart Warsaw aus dem Regal nahm. Max blieb vor den Schlüsselanhängern stehen. Der Mann stand leicht gebückt. Seine Haut war straff über Gesicht und Hände gezogen. Als hätte er lange in der Wüste gelebt und die Hitze nicht vertragen. Max drehte einen Schlüsselanhänger in der Hand. Fühlte die scharfen Wölbungen und laminierten Täler mit seinen Fingerspitzen. Blickte nach unten. Schwarz. Weiß. Ein Fußball. Mit plötzlicher, überraschender Anmut hielt der verdorrte Mann die Tasse ins Licht. Studierte sie. Oder besser gesagt, tat nur so: Während Max ihn beobachtete, schoss die freie Hand des Mannes hervor. Schnell wie eine Eidechsenzunge. Eine einzige fluide Bewegung beförderte eine Dose britischer Minzpastillen in die Hosentasche des Mannes. Beeindruckend, dachte Max, für solch eine Mini-Straftat.

Über Lautsprecher verkündete eine Frauenstimme, dass der Flug nach Odessa bereit zum Einsteigen sei. Der Mann drehte sich um und lauschte. Sein rechtes Auge war von einer ledernen Klappe verdeckt. »Letzter Aufruf … Odessa …«, hallte die Stimme. »Bitte begeben Sie sich …« Der Mann mit der Augenklappe verlor das Interesse an der Warschau-Tasse, und Max verlor das Interesse an dem Mann mit der Augenklappe. Beide eilten zum Gate.

Die staatliche Airline hatte sich auch gemausert, dachte Max beim Einsteigen. Er war zu jung, um schon mit der LOT geflogen zu sein, als die Berliner sie in ihrem Dialekt noch »Landet Och Tempelhof« nannten, wegen der häufigen Entführungen polnischer Maschinen durch verzweifelte Passagiere, die den Zwängen hinter dem Eisernen Vorhang entfliehen wollten. Er kannte die LOT der Neunzigerjahre, mit abblätternden Kabinentapeten, leckerem Kuchen und beunruhigenden Motorengeräuschen. Das schicke neue Flugzeug hatte mit jenen nichts mehr gemein: klein, aber solide, blau gepolstert, schnurrend.

Jetzt, wo Moskau alle Flüge in die Ukraine gestrichen hatte, musste man nach Odessa über Kiew, München, Wien, Minsk anreisen. Max hatte sich für Warschau entschieden, weil die LOT eine Super-Werbeaktion durchführte: ein Euro für einen Flug nach Odessa. Früher, das war klar, hatte sich ein Assistent namens Kenneth um die Flüge zu Konferenzen gekümmert. Heutzutage mussten die Teilnehmer das selbst erledigen. In Vorkasse gehen, Quittungen einreichen, um sich die Kosten erstatten zu lassen.

»Die neue Richtlinie sieht vor, dass Reisekosten erst erstattet werden, wenn der Bericht eingereicht und von allen Dienstebenen gebilligt wurde«, hatte eine Hilfssekretärin gesagt, als Max fragte, wann er seine Quittungen einreichen könne.

»Aber das kann ein Jahr dauern«, sagte Max.

Der Beschluss, erwiderte die Frau, komme von ganz oben.

Nun gut, dachte Max, während ein gänzlich nüchtern klingender Pilot den beginnenden Landeanflug auf Odessa ankündigte und den Passagieren dankte, weil sie mit der LOT geflogen waren: Die einzige Konstante ist der Wandel. Die Landung würde vermutlich sanft sein, und niemand würde applaudieren.

Max behielt recht, in beiden Fällen.

*

Die gewölbte Flugzeugtür ging auf und gab den Blick frei auf einen dunstig braunen Himmel. Wie ein Stück Karton, den man über das schimmernde graue Rollfeld gepappt hatte. Max nickte der Stewardess zu, als er an ihr vorbeikam, dann wandte er seinen Blick ab. Er flirtete prinzipiell nicht auf Englisch, aus Respekt vor Rose, seiner Frau. Und nur ein Narr würde einer Polin auf Russisch Avancen machen. Beim Aussteigen dann lächelten die Stewardessen zwischen ihrem pinken Lippenstift und ihren zischelnden polnischen Lebwohls. Als wüssten sie sein Feingefühl zu schätzen.

Max blinzelte ins grelle Mittagslicht der Schwarzmeersonne. Die Hitze prallte auf ihn wie ein Körper. Wuchtig. Zupackend. Fest. Er zuckte mit den Achseln unter seinem Anzug aus leichter Schurwolle, den er – passend zu den schlichteren Umständen seiner Semi-Beschäftigung – von der Stange gekauft hatte. In einem Big-and-Tall-Laden mit auf dem Boden verstreuten Preisschildchen. Als Zeichen ihrer Solidarität war Rose mit ihm hingefahren. Sie wartete auf einer Plastikcouch vor der dämmrigen Umkleide. Lächelte, mit Grübchen in den rosigen Wangen, als er herauskam. Nannte seinen Anblick »gar nicht mal übel«. Der billige Anzug spannte ein wenig und an den falschen Stellen. Bauch, Ellbogen. Max brach der Schweiß aus.

Eine großmütterliche Frau, im synthetischen Shiftkleid mit Leopardenfellmuster, kam vor ihm ins Wanken. Max griff nach ihr und stützte sie. Sie drehte sich um und nickte dankbar. Vor ihr stieg eine Schlange von Reisenden langsam und stockend die steilen Metallstufen hinunter. Humpelte über das Rollfeld. In der Ferne, verzerrt von Flugzeugabgasen, wartete ein Gelenkbus.

Es war eigentlich nicht zu glauben, dachte Max. Doch irgendwo hinter den kaputten Tupolews, dem verdorrten Pappelhain und den blassen Zinnen der Vorstädte lag Odessa. »Ah-dee-YES-a!«, wie auch viele Russen es aussprachen, mit leuchtenden Augen. »Ah-dee-YES-a!«, als enthielten diese Silben das ganze Versprechen von Sommer, Sonne und See. »Ah-dee-YES-a!« Das Opernhaus, schön wie eine Hochzeitstorte. Die kunstvoll verzierten Fassaden. Alles gemäß der goldenen Regel gebaut: In dieser freien Stadt, so die herrschende Meinung, sollten sogar die Straßen den Menschen Luft zum Atmen lassen. »Ah-dee-YES-a!« Mit seinen Priestern und Flaneuren, Matrosen in gestreiften Hemden und braun gebrannten Mädchen in Miniröcken. Allesamt reif für einen Urlaub in den Ruinen einer schillernden, glamourösen Vergangenheit, in der einstigen »dritten Hauptstadt des Russischen Reiches«.

Jemand zupfte Max am Ellbogen. Er schaute nach unten. Zwei große grüne Augen starrten ihn an. Ein kleines Mädchen. Sie war vier, vielleicht fünf. Aber klein. Elfenhaft. Doch unterhalb der breiten grünen Schleife in ihrem lockigen Haar lag ein zutiefst ernstes Gesicht.

»Willst du mich heiraten?«, fragte sie in dem lieblichen, leicht nasalen Singsang, der typisch war für das Russisch Odessas. Sie blickte hinunter zu ihren Beinen. Sie waren zu kurz für die Treppenstufen. In der Flugzeugtür mühte sich die Mutter des Mädchens mit einem Baby und einem Kinderwagen.

Das Mädchen verfolgte Max’ Blick und sagte dann: »Mama, darf der Mann mich tragen?«

»In Ordnung!«, sagte die.

Max bückte sich und hob das Mädchen hoch.

»Danke«, sagte sie, nun, da sie Auge in Auge waren. »Ich heiße Cassie«, sagte sie. »Mein Papa hat uns verlassen.«

»Oh«, sagte Max. »Das tut mir leid, Cassie.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich habe ihr gesagt«, sie nickte in Richtung Mutter, »dass es so kommen würde.«

Was für ein seltsames kleinen Mädchen, dachte Max.

»Ich kann Dinge vorhersehen«, sagte sie, während Max sie trug. »Meine Mama sagt, ich soll es keinem verraten. Sie denkt, dass die Leute mich dann nicht mögen.«

»Ist das wahr?«, fragte Max.

Sie nickte, die grünen Augen ernst. Dann legte sie ihren Kopf auf seine Schulter, in der warmen, klebrigen Art kleiner Kinder.

Max lehnte sich ans Treppengeländer, als das Gewicht des kleinen Mädchens in seine linke Körperhälfte sank. Seine Schulter begann zu schmerzen. Nur ein bisschen. Er hatte schon lange akzeptiert, dass die rätselhafte magnetische Kraft, die er auf Frauen ausübte, auch für Kinder und Hunde galt. Nun gut, dachte er. Alles hat seinen Preis.

Das kleine Mädchen war wieder hellwach. Ihr kleiner Körper spannte sich in seinen Armen. »Warum bist du hier?«, fragte sie.

»Hm …«, machte Max. Er wollte gerade sagen, dass er dienstlich hier war. Doch das kleine Mädchen entspannte sich wieder. Sie schien eingeschlafen zu sein. Die Schlange hatte sich nicht weiterbewegt. Die Sonne brannte vom Himmel.

Max schloss die Augen. Dachte über die Frage nach. Wieso war er hier?

Die Sache war einfach, wie die meisten Desaster. Max hatte ganze acht Monate gebraucht, um seiner Frau Rose mitzuteilen, dass er seinen Job bei der Agency los war und nun Teilzeit arbeitete, ohne Sozialleistungen, für einen privaten Contractor namens Nightshade.

Als er endlich mit der Wahrheit rausrückte, reagierte Rose weitaus besser als erwartet. Anstatt wütend zu werden, zeigte sie Verständnis, als sie erfuhr, wie lange er seine Semi-Joblosigkeit vor ihr verheimlicht hatte. Sie verlor nicht einmal die Fassung, als klar wurde, dass die Ursache für Max’ Beichte nicht in seiner Überzeugung begründet lag, zu seiner Frau ehrlich sein zu müssen, sondern in der Tatsache, dass er sich die Miete für seine kleine Zweitwohnung in Bethesda, in der er sich unter der Woche versteckt hatte, während er vorgab, zur Arbeit zu gehen, nicht länger leisten konnte.

Nein, Rose hatte Max nicht gezürnt. Zu seiner Überraschung und Erleichterung hatte die Nachricht über sein totales berufliches Scheitern und das daraus resultierende Ende der gemeinsamen wirtschaftlichen Sicherheit Rose sogar eher Auftrieb gegeben. In den Wochen nach seiner Beichte begann sie, sein prekäres Arbeitsverhältnis genauer unter die Lupe zu nehmen. Das, dachte Max, konnte zu nichts Gutem führen.

Er hatte recht. Es dauerte nicht lange, bis Rose eine Idee äußerte, die ironischerweise jenem Vorschlag nicht unähnlich war, den der Verantwortliche für Human Resources bei Nightshade, liebevoll HR-Prick genannt, Max gemacht hatte. Wie Max war der HR-Prick von ihrem früheren gemeinsamen Arbeitgeber, der CIA, »abgebaut« worden. Und genau wie Max war der HR-Prick (den Spitznamen hatte der Kerl sich verdient, nachdem er in der Agency ein besonders nervtötendes, von der Regierung vorgeschriebenes, dreitägiges Seminar zum Thema sexuelle Belästigung abgehalten hatte) beinahe umgehend wieder eingestellt worden – in seiner alten Funktion, wenn auch auf eher traurige, zwielichtige Weise: in Form seines neuen Jobs beim privaten Contractor Nightshade. Wie Max hatte der HR-Prick das Angebot des privaten Contractors sofort angenommen, trotz der nicht unbedeutenden Nachteile, allen voran weniger Geld, eine unsichere Anstellung und keine Krankenversicherung.

»Besser als nichts« hätte das Mitarbeitermotto von Nightshade sein können. Jedenfalls hatte dasselbe HR-Arschloch, als es Max im Auftrag von Nightshade einmal anrief, ihm geraten, seine Arbeitslosigkeit als »Hebel zur Liquiditätssteigerung« zu nutzen. Was für Max nach einer Betätigung klang, die besser zu einer hydraulischen Pumpe gepasst hätte als zu einem menschlichen Wesen. Aber egal. Roses Idee klang ganz ähnlich. Ähnlich, aber konkreter.

In der gnadenlosen Hitze der Schwarzmeersonne bewegte sich die Schlange vorwärts. Eine Stufe nach unten. Zwei. Max balancierte das grünäugige Mädchen auf seinem Arm. Mit der freien Hand wischte er sich über die Stirn. Langsam stieg er die Treppe hinunter.

*

Ein Dienstag. Vor etwa einem Monat. Beim Kaffee in der Vormittagssonne auf der Veranda ihres zweistöckigen, eine Stunde von Washington D.C. gelegenen Landhauses, das sie sich nicht länger leisten konnten. Rose schaute ihn an. Drehte ihr Tausend-Watt-Lächeln auf.

Die Unterbreitung ihres Plans wurde von einem Niederschlagen der Wimpern begleitet. Schüchtern. Wenn Max seinen Namen aus dem Personal-Bedarfspool von Nightshade streichen würde … Max zuckte zusammen. Nun, fuhr Rose fort, dann … wäre er frei. Freier als jetzt, zumindest. Er könnte sogar arbeiten gehen, und zwar Vollzeit! Wär das nicht was? In der wunderbaren Welt der Immobilien. Eine traumhafte Welt, in der Rose bereits etabliert und anerkannt war – oder auf dem besten Weg dahin.

Der blassblaue Seidenstoff ihres Morgenmantels verrutschte ein wenig, als sie sich über den künstlich gealterten Terrassentisch beugte. Der flüchtige Blick auf das cremefarbene Dekolleté seiner Frau lenkte Max für einen kurzen Moment ab.

»Marty und Mike sind schon dabei«, sagte Rose, als Max wieder zuhörte.

Er sah sie an. Erstaunt. Er hatte sie nicht mehr so begeistert gesehen, seit der Arzt ihnen mitgeteilt hatte, dass sie keine Kinder haben würden.

»Die Andersons, du kennst sie doch?«, fuhr Rose fort. »Marty hat es mir im Buchklub erzählt. Jedenfalls sagte sie, dass sie mehrere Paare kennt, die das jetzt machen. Als zweite Laufbahn. Wie wir! Marty und ihr Mann nennen sich Team Anderson. Klingt gut, oder? Schließlich weiß ein Ehepaar, wie man zusammenarbeiten muss, wie man Probleme löst. Man macht sich sein Gefühlskapital zunutze, so hat Marty es ausgedrückt. Ich weiß, das klingt ein bisschen schmalzig, aber ich meine, es macht ja Sinn, all das Gefühlskapital, das man so angesammelt hat. Und natürlich zieht man am selben Strang. Niemand würde seinen Ehepartner um eine Maklercourtage betrügen!«

Max war froh gewesen, Rose wieder glücklich zu sehen, froh über den zurückgekehrten Glanz in ihren blauen Augen. Sogar ihre blonden Locken schienen freudig zu wippen, während sie über die Akkumulation von Gefühlskapital plapperte. Er war so froh, dass er ihr allen Ernstes versprach, »ernsthaft, wirklich ernsthaft« darüber nachzudenken, seinen Namen aus dem Personal-Bedarfspool von Nightshade streichen zu lassen. Von dem Augenblick an, ja natürlich, hätte er Zeit, seine vielseitigen Fremdsprachenkenntnisse darauf zu verwenden, gut betuchten russischen, deutschen und chinesischen Käufern noble Residenzen im Großraum Washington feilzubieten. Vielleicht wäre auch mal ein französischsprachiger Exil-Diktator unter den Kunden. All das zählte dann wie selbstverständlich zu den Pflichten, die ihm als Fünfzig-Prozent-Teilhaber von Team Rushmore oblägen.

Der Anruf von Nightshade kam tags darauf. Für Max konnte das Timing nicht besser sein. Ein Tag! Ein einziger Tag konnte nie und nimmer als genug Zeit gelten, um hinreichend über eine derart radikale berufliche Neuorientierung nachzudenken. Ein Tag! Max hatte noch alle Freiheiten. Und tatsächlich löste die quietschige Telefonstimme des HR-Pricks einen kurzen Stich ungetrübter Freude in Max’ leicht verfettetem Herzen aus. (Beim letzten Check-up, den seine Agency-Krankenversicherung bezahlt hatte, war bei Max eine Katzenhaarallergie festgestellt worden sowie, deutlich beunruhigender, ein viel zu hoher Cholesterinspiegel. Als er Rose endlich alles gestand, hatte er ihr auch seine Testergebnisse gezeigt. Als Zeichen seines guten Willens. Rose setzte ihn umgehend auf eine Diät, die fast nur aus griechischem Joghurt bestand.)

»Hallo, Max? Ähm … Max?« Die leicht nasale Stimme des HR-Pricks klang wunderbar vertraut. Die Stimme ging in ein jaulendes Quietschen über: »Äh, oh … ähm … gut. Ich hatte befürchtet, dass wir eine alte Nummer von Ihnen haben. Lassen Sie uns, ähm … zum Wesentlichen kommen, okay?«

Der HR-Prick schwieg für einen Moment. Schien in Unterlagen zu kramen. Max wartete. Er stand mit dem Telefon am Ohr in den Ruinen seiner einstigen Küche. Die verspätete Beichte seiner Arbeitslosigkeit hatte Roses endlosen Renovierungsarbeiten ein Ende bereitet. Das Herzstück ihres Zuhauses verharrte seitdem als Baustelle: Die halb herausgerissene Kochinsel war mit Plastikplanen bedeckt, auf dem rohen Betonfußboden lagen Häkelteppiche von IKEA. Max und Rose hatten sich an die häufigen kleinen Blessuren gewöhnt, verursacht durch herrenlose Nägel, scharfe Kanten und Splitter.

»Seeeehrrr, ähm, gut«, sagte die Stimme schließlich. »Wir wüssten gern, ob Ihre Russischkenntnisse noch frisch sind, ähm, Sie wissen schon, nicht allzu rostig. Wir haben einige Hinweise, ähm, in Bezug auf das Territorium, denen unsere Festangestellten, ähm, gerade leider nicht nachgehen können.«

»Verstehe«, sagte Max. Er versuchte zu klingen, als wäre es ihm egal. Er lehnte sich an die Frühstücksbar. Ein scharfer Schmerz durchdrang seinen Oberschenkel. Max unterdrückte einen Fluch.

»Ähm – wie bitte?«, fragte der HR-Prick.

»Nichts, alles okay«, sagte Max. Er entdeckte den Schuldigen: eine boshaft hervorstehende Metallkrampe. »Bin ganz Ohr. Schießen Sie los.«

*

Am nächsten Tag machte sich Max auf den Weg zu einem düsteren, altbekannten Besprechungsraum. Er lag nicht nur in Max’ ehemaligem Gebäude – einem Bau aus den Fünfzigerjahren, der unter Agency-Mitarbeitern als »Fliegende Untertasse« bekannt war –, sondern sogar in seinem ehemaligen Stockwerk. Auf dem Weg zu dem Raum musste Max an seinem alten Büro vorbei. Als er den von Neonröhren beleuchteten Flur entlangging, über das von vielen Füßen dünn gewetzte Linoleum, widerstand er dem Drang, die Tür zu seinem alten Büro zu öffnen und nachzuschauen, was aus dem Zimmer geworden war, in dem er fünfzehn Jahres seines Lebens verbracht hatte. Stattdessen rückte er die Schultern gerade, lief an seiner alten Tür vorbei und steuerte den Konferenzraum an.

Nur zwei der Deckenlampen brannten, was den fensterlosen Raum wie ein Grab wirken ließ. Die braunen Bürostühle standen noch immer ein wenig schief um den hellen, ovalen Holztisch, der noch immer Kratzer hatte. Auf der anderen Seite des Tischs erhoben sich zwei Männer in grauen Anzügen.

Der eine hatte struppige, sehr männlich wirkende, schwarze Augenbrauen und hohe Wangenknochen. Der andere war unglaublich blass. Sein Bürstenhaarschnitt glänzte. Beide Männer trugen eng anliegende Anzüge – schick – und sahen so gesund und gepflegt aus, als wären sie in einem Land mit bestens funktionierendem Wohlfahrtsstaat aufgewachsen.

»Gesandte von jenseits des großen Teiches?«, fragte Max, als er ihnen die Hand reichte.

Der Dunkelhaarige lächelte und ließ leicht schiefe Vorderzähne sehen, die bei einem Amerikaner auf ärmliche Verhältnisse hindeuten würden. »Genau!«, sagte er überaus fröhlich. »Ich bin Belgier! Mein Kollege hier …«, er nickte seinem Begleiter zu, der die Erwähnung mit eisigem Schweigen quittierte, »… ist Däne. Wir sind gekommen …«

Das Licht über ihren Köpfen begann zu flattern wie Mottenflügel. Plötzlich knallte es, laut wie eine Flinte. Der Belgier machte einen Satz. Sprang mindestens zwei Zentimeter hoch. Max grinste. Er entschuldigte sich und nahm seine Hand von der Wand, gegen die er geschlagen hatte.

»Macht der Gewohnheit«, sagte er mit einem kurzen Blick zur Decke.

Beide Glühbirnen brannten wieder. Sie surrten gleichmäßig und tauchten den Raum in ein unstetes gelbes Licht.

»Wollte Sie nicht erschrecken«, fügte Max hinzu und gab der Wand noch einen sanften Klaps. »Muss neu verkabelt werden.« Er wandte sich wieder dem Belgier zu. »Was kann ich für Sie tun?«

Der Belgier runzelte die Stirn. Sammelte seine Gedanken. Begann noch einmal von vorn. Lehnte sich Max entgegen.

»Wir sind hier«, sagte er und zog dabei seine struppigen Brauen zusammen, »im Auftrag einer Gruppe besorgter EUParlamentarier. Eine informelle Gruppe, die sich aufgrund einer allgemeinen Gefahr zusammengefunden hat.«

Russland, dachte Max.

»Russland«, sagte der Belgier und zog seine beeindruckenden Brauen zusammen. »Es liegt genau vor unserer Haustür.«

Max nickte; er begegnete dieser schockierenden geografischen Enthüllung mit so viel Mitgefühl, wie er aufbringen konnte. Nie war es ihm gelungen, die Vorstellung von Russland als einem ruchlosen, allmächtigen Ungeheuer ernst zu nehmen. Das Land war zu schlecht organisiert, zu chaotisch, in zu großer existenzieller Notlage.

Der Belgier redete immer noch. »Wir können die Russen nicht einfach ignorieren.«

Trolle, dachte Max und stöhnte innerlich.

»In Sankt Petersburg kämpfen ganze Fabriken voller junger, polyglotter Leute gegen demokratische westliche Werte«, sagte der Belgier. »Man nennt sie Trolle!«

In Max’ Erinnerung tauchte eine blasse junge Frau auf. Sie trug eine Wollmütze mit Hasenohren. Er hatte sie in einem improvisierten Café am Bolschoi-Prospekt getroffen. Sankt Petersburg. Winter. Der letzte Winter seiner Festanstellung. Die Frau war mit ihrem kleinen Sohn eine Stunde gefahren, um Max zu treffen. Der Junge war krank. Ganz gleich, wie oft seine Mutter ihm die Nase putzte, sie lief immer weiter. Max bestellte Torte, dekoriert mit grellen Kiwi-Scheiben. Draußen