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Wir sehen Filme. Wir reden über Filme. Mitunter erinnern wir uns dann. Erinnern uns an das erste Mal und an die letzten Worte beim Abschied. An einen bestimmten Sommertag, an ein Gefühl, an die Atmosphäre. War es in München, in Berlin oder anderswo? Bilder entstehen. Ein neuer, eigener Film läuft ab. Der Konsument wird zum Produzent. Zutage befördert wird dabei neben einer neunen Sicht auf die Filme ein Stück spannender Stadtgeschichte, angereichert mit einigen Spielfilmszenen und den Rock-Hits jener Jahre. Frank Göhres Textcollage »Die Härte, der Reichtum und die Weite«, der zweite Teil seines »Heimatfilms«, erinnert an weitere Filme, deren großes Thema die Stadt ist, oder besser, die Porträts von zwei Stadtvierteln: Wilhelmsburg und vor allem Hamburg St. Pauli in den Siebziger Jahren. Drei stilistisch sehr unterschiedliche Regisseure – Roland Klick (»Supermarkt«), Hark Bohm (»Nordsee ist Mordsee«) und Vadim Glowna (»Desperado City«) – realisieren hier ihre Geschichten von jugendlichen Außenseitern, Kleinkriminellen, Zuhältern, Stripperinnen und anderen Ausgegrenzten. Zugleich aber zeigen sie eine Stadt des Um- oder auch Aufbruchs. Naturgewalten und Politik verändern sie. Die Konkurrenzkämpfe auf dem Kiez werden härter, der Großstadtsound wird schneller. Göhres „Heimatfilm“ übernimmt diesen Rhythmus und wirft erhellende Spotlights auf die Geschehnisse jener Jahre.
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Seitenzahl: 58
Frank Göhre
Die Härte, der Reichtum und die Weite
Ein Heimatfilm
Teil II
CulturBooks Verlag
www.culturbooks.de
Über das Buch
Wir sehen Filme. Wir reden über Filme. Mitunter erinnern wir uns dann. Erinnern uns an das erste Mal und an die letzten Worte beim Abschied. An einen bestimmten Sommertag, an ein Gefühl, an die Atmosphäre. War es in München, in Berlin oder anderswo? Bilder entstehen. Ein neuer, eigener Film läuft ab. Der Konsument wird zum Produzent. Zutage befördert wird dabei neben einer neuen Sicht auf die Filme ein Stück spannender Stadtgeschichte, angereichert mit einigen Spielfilmszenen und den Rock-Hits jener Jahre.
Frank Göhres Textcollage »Die Härte, der Reichtum und die Weite«, der zweite Teil seines »Heimatfilms«, erinnert an weitere Filme, deren großes Thema die Stadt ist, oder besser, die Porträts von zwei Stadtvierteln: Wilhelmsburg und vor allem Hamburg St. Pauli in den Siebziger Jahren. Drei stilistisch sehr unterschiedliche Regisseure – Roland Klick (»Supermarkt«), Hark Bohm (»Nordsee ist Mordsee«) und Vadim Glowna (»Desperado City«) – realisieren hier ihre Geschichten von jugendlichen Außenseitern, Kleinkriminellen, Zuhältern, Stripperinnen und anderen Ausgegrenzten. Zugleich aber zeigen sie eine Stadt des Um- oder auch Aufbruchs. Naturgewalten und Politik verändern sie. Die Konkurrenzkämpfe auf dem Kiez werden härter, der Großstadtsound wird schneller. Göhres »Heimatfilm« übernimmt diesen Rhythmus und wirft erhellende Spotlights auf die Geschehnisse jener Jahre.
Der erste Teil (Frühjahr 2014) beinhaltet die Filme von Francesco Rosi (»Lucky Luciano«), Jürgen Roland (»Davidwache«) und Klaus Lemke (»Rocker«).
Über den Autor
Frank Göhre, Jahrgang 1943, arbeitete als Buchhändler, Bibliothekar, Verlagsangestellter und Hörfunkautor. Er lebt in Hamburg und schrieb neben Romanen u. a. die Drehbücher zu den Kinofilmen »Abwärts«, »Die Ratte« und das mit dem Deutschen Drehbuchpreis ausgezeichnete Drehbuch »St. Pauli Nacht« (Regie: Sönke Wortmann). Göhre ist Mitarbeiter bei CULTurMAG. Weitere Informationen finden Sie auf seiner Homepage.
Impressum
Originalausgabe: © CulturBooks Verlag 2014
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Jan Karsten
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: 1.11.2014
ISBN 978-3-944818-64-1
Landkreis Soltau/Fallingbostel, Anfang der 70er Jahre: 55 km südlich von Hamburg liegt das Landesjugendheim Druhwald, umgeben von Mischwald und Feldern. Es gibt vereinzelte Bauernhöfe und eine Zufahrtsstraße, sonst nichts.
»Hör zu, wir haben hier unsere Regeln.«
»Weeß ick.«
»Nichts weißt du.«
»Regeln gibt es überall«, sagt Angelo.
»Ich red nicht von Regeln, ich rede von unseren Regeln.«
Ein Schwanz, denkt Angelo. Ein dämlicher Schwanz.
»Regel Nummer eins ...«
Angelo schlägt unterm Tisch das Kreuz: Du sollst deinen Herrn und Erzieher aufgeilen durch frevlerisches Tun, auf dass du genötigt wirst, seinen Schwanz zu kauen am Morgen, am Mittag und am Abend und ihm den Arsch zu lecken nach jedem Schiss.
»Die Zahl der in Erziehungsheimen befindlichen Jugendlichen ist [Ende der 60er Jahre] nicht sehr hoch«, schreibt Ulrike Meinhof in der Vorbemerkung zu ihrem Fernsehfilmscript Bambule. »Etwas über 30.000 nach den offiziellen Statistiken, nach anderen Schätzungen 50.000. Die Zahlen beziehen sich auf FE und FEH. FE – das ist Fürsorgeerziehung und wird gerichtlich angeordnet, vormundschaftsgerichtlich, die Eltern müssen für die Dauer der FE das Sorgerecht an das Jugendamt abgeben. FEH – das ist die freiwillige Erziehungshilfe, die Heimeinweisung erfolgt im Einverständnis der Eltern, die Eltern können die Kinder jederzeit wieder rausholen. Für die Jugendlichen macht das keinen Unterschied, die Behandlung ist die gleiche.«
Pigge ist bei Regel vier. Die Zeiten. – Die Zeit steht still. Fliegen umkreisen die Lampe. Es riecht nach Stall. Der Melker mit den kalten Händen. Ein Plattkopf, blond und rosig mit Schlag auf die Zwölf. Angelo hört es schon krachen, tastet mit der Zunge die Zähne ab. Er nickt zu Regel sechs: Alkohol, Tabletten, Drogen.
»Schon mal eine Pfeife geraucht, eine Tüte, ein Rohr?«
»Ein Rohr?«, fragt Angelo zurück.
»Wat is denn det?«
»Geschenkt. Wenn dir was zu Ohren kommt, melden.«
Jawoll, Pigge, für wie blöd hältste mir? – Pigge steht auf. Im Zimmer wird es duster. »Klamotten?«
Angelo zeigt auf seine Tasche. Umstülpen, leeren. Angelo packt aus. Legt erst einmal alles ab. Nichts bleibt unbegrapscht. Hosen und Hemden, Unterwäsche. Viel ist es nicht. Den Groschenroman blättert Pigge kurz durch. Das Schneegestöber schüttelt er. Angelo flimmert es vor den Augen. Pigges Gesicht ein Pingpong-Ball, der auf der Tischplatte hin und her tickt.
»Deine Eltern?«, fragt Pigge und hält das Foto ins Licht. Angelo nickt.
»Dein Vater ist ...«, sagt Pigge, zögert.
»Tot.«
»Ein Farbiger?«
Das ist zu sehen. Angelo sagt nichts dazu.
Angelo ist unehelich geboren. Seine Mutter arbeitet in Berlin als Bandarbeiterin bei Siemens. Sein leiblicher Vater ist ein amerikanischer GI. Angelo wächst bei der Oma auf. Er schwänzt die Schule, treibt sich in der Stadt herum. Als seine Mutter einen leitenden Angestellten heiratet, wird es »mit dem Jungen zu viel«. Neun Jahre ist Angelo alt, als er zum ersten Mal in ein Heim kommt, ins Haus am Fichteberg.
»Fürsorgeerziehung hat für die proletarische Familie zwei Funktionen: Die Familie zu entlasten, den Jugendlichen zu disziplinieren.«
Im Haus am Fichteberg muss Angelo um 6.00 Uhr früh aufstehen und zum lieben Gott beten. Im Haus am Fichteberg klaut er nach der Andacht die Kollekte. Für die Heimleitung ist er »untragbar« und wird in das Königin-Luisen-Stift »überwiesen«. Da lernt er von den älteren Jungs, Zigarettenautomaten und Autos zu knacken. Er wird erwischt und kommt in die Jugendhilfsstätte Berlin-Moabit: »Sammellager für alles: Kiffer, Fixer, Handtaschendiebe.« Von dort wird er nach Westdeutschland geschickt, in die Evangelische Stiftung Loher Nocken, Ennepetal. Aber auch da bleibt er nicht lange. Er bricht mehrere Male aus, wird immer wieder geschnappt und muss schließlich auf Anweisung der für ihn zuständigen Dienststelle in Berlin in das Landeserziehungsheim Druhwald.
Das Gelände ist weitläufig. Dem Verwaltungsgebäude gegenüber die Werkstätten. Ein Schwimmbecken, ein Stück Wiese. Dahinter die Wohnhäuser, eingeschossig, zweigeschossig. Fenster an Fenster. Das ist nicht neu für ihn. Das kennt er. Abseits der großen Straßen. Eingezäunt, abgeschirmt. Außen vor.
Eine deutsche Geschichte: »Das Landesjugendheim Druhwald entstand auf dem Gelände des ehemaligen Marinesperrzeugamts Druhwald. Das Marinesperrzeugamt Druhwald mit seinen umfangreichen Anlagen, darunter 80 Bunker und etwa 20 Wohnungen, wurde 1937–1939 gebaut. Es wurden Bleikappen-, Fernzünd- und Luftminen sowie Wasserbomben und Sprengbojen hergestellt und geladen. Das Material für die Fertigstellung wurde angeliefert. Es war ein Großbetrieb, der etwa 250 Angestellte und Arbeiter beschäftigte. Etwa 30–40 Angestellte und Arbeiter aus Soltau wurden täglich mit dem Bus zur Arbeitsstelle befördert. Sieben Offiziere und sechs Waffenwarte hatten ihren dienstlichen Wohnsitz in Soltau. – Anfang April 1945 suchte der zuständige Kommandeur seinen ihm vorgesetzten General in Munster auf, um von ihm Verhaltungsmaßregeln zu erhalten. Der General drückte sich sehr vorsichtig aus, sagte aber dann, dass er alles vernichten würde mit Ausnahme der Gebäude, die für Wohnzwecke geeignet seien. Danach hat der Kommandeur gehandelt, und so konnte man zehn Tage lang vor der Besetzung der Alliierten die Sprengung der Anlagen in Soltau hören.«