Die Hexen von Cleftwater - Margaret Meyer - E-Book

Die Hexen von Cleftwater E-Book

Margaret Meyer

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Beschreibung

East Anglia, 1645. Martha, stumme Hebamme und Dienerin, lebt seit mehr als vierzig Jahren in dem kleinen Dorf Cleftwater, als der entschlossene Hexenjäger Silas Makepeace in den Ort kommt. Sofort werden zahlreiche Frauen verdächtigt und ausgerechnet Marha soll ihm helfen, nach verräterischen Zeichen auf der Haut der angeklagten Frauen zu suchen. Sie gerät in große Not und in einen tiefen moralischen Zwiespalt. Was und wer kann ihr helfen? Martha Hallybread, eine Hebamme, Heilerin und Dienerin, lebt seit mehr als vier Jahrzehnten friedlich in ihrem vertrauten Cleftwater. Jeder im Dorf kennt Martha, aber niemand hat sie jemals sprechen gehört. Martha ist stumm. Eines hellen Morgens wird sie Zeugin einer Hexenjagd, angeordnet von dem entschlossenen Hexenjäger Silas Makepeace, der neu ins Dorf gekommen ist. Die Jagd trifft auch Prissy, die junge Küchenhilfe in dem Haushalt, in dem Martha als Dienerin lebt. Als vertrauenswürdiges Mitglied der Dorfgemeinschaft wird sie nun von Makepeace angeworben, um die Körper der angeklagten Frauen nach Beweisen abzusuchen, angeblichen Teufelszeichen auf der Haut. Während sie ihren Freundinnen helfen will, muss sie um ihr eigenes Leben kämpfen, ihre Unabhängigkeit, die von allen Seiten bedroht ist in einer durch und durch patriarchalischen Gesellschaft, die von Aberglauben und religiösem Wahn durchdrungen ist. In ihrer Verunsicherung belebt Martha eine Wachspuppe, in der Hoffnung, dass sie ihr Schutz bringen wird. Ob diese Puppe tatsächlich über besondere Kräfte verfügt, ist nicht erkennbar, Marthas Lage wird prekärer und die Zeit läuft ab ... Dicht, schön und spannend geschrieben und auf realen historischen Ereignissen basierend, ist «Die Hexen von Cleftwater» ein echter literarischer Pageturner.

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Margaret Meyer

Die Hexen von Cleftwater

• • • •

Roman

Aus dem Englischen von Cornelius Hartz

C.H.Beck

Eines hellen Morgens wird sie Zeugin einer Hexenjagd, angeordnet von dem entschlossenen Hexenjäger Silas Makepeace, der neu ins Dorf gekommen ist. Die Jagd trifft auch Prissy, die junge Küchenhilfe in dem Haushalt, in dem Martha als Dienerin lebt. Als vertrauenswürdiges Mitglied der Dorfgemeinschaft wird sie von Makepeace angeworben, um die Körper der angeklagten Frauen nach Beweisen abzusuchen, angeblichen Teufelszeichen auf der Haut. Während sie ihren Freundinnen helfen will, muss sie um ihr eigenes Leben kämpfen, ihre Unabhängigkeit, die von allen Seiten bedroht ist, in einer durch und durch patriarchalischen Gesellschaft, die von Aberglauben und religiösem Wahn durchdrungen ist.

In ihrer Verunsicherung belebt Martha eine Wachspuppe, in der Hoffnung, dass sie ihr Schutz bringen wird. Ob diese Puppe tatsächlich über besondere Kräfte verfügt, ist nicht erkennbar, Marthas Lage wird prekärer und die Zeit läuft ab …

Dicht, schön und spannend geschrieben und auf realen historischen Ereignissen basierend, ist «Die Hexen von Cleftwater» ein echter literarischer Pageturner.

Zum Buch

East Anglia, 1645. Martha Hallybread, eine Hebamme, Heilerin und Dienerin, lebt seit mehr als vier Jahrzehnten friedlich in ihrem vertrauten Cleftwater. Jeder im Dorf kennt Martha, aber niemand hat sie jemals sprechen gehört. Martha ist stumm.

Über den Autor

Margaret Meyer wuchs in Neuseeland auf, wo sie als Journalistin und Lektorin arbeitete. Nach ihrem Wechsel nach Großbritannien arbeitete sie als Publishing Manager des Museum of London, bevor sie Director of Literature des British Council wurde. 2020 machte sie ihren MA in Prose Fiction an der University of East Anglia. «Die Hexen von Cleftwater» (The Witching Tide) ist ihr literarisches Debüt.

Cornelius Hartz lebt als freier Autor und Übersetzer in Hamburg. Er hat zahlreiche Romane und Sachbücher u.a. von Rye Curtis, Edward Carey, Erin Flanagan und Catherine Nixey übersetzt.

Inhalt

Ertragt mich, dann will ich reden, und nachdem ich geredet habe, magst du spotten! – Hiob 21:3

Teil eins: Gelbe Galle – • • • •

Anfang September 1645

Mittwoch

• 1 •

• 2 •

• 3 •

• 4 •

Donnerstag

• 5 •

• 6 •

• 7 •

• 8 •

• 9 •

• 10 •

Freitag

• 11 •

• 12 •

Teil zwei: Schwarze Galle – • • • •

Freitagnachmittag

• 13 •

Freitagabend

• 14 •

Samstagmorgen

• 15 •

• 16 •

Teil drei: Schleim – • • • •

Samstagnachmittag

• 17 •

Samstagabend

• 18 •

Sonntag

• 19 •

Montag, später Nachmittag

• 20 •

• 21 •

Dienstag

• 22 •

• 23 •

Donnerstagnachmittag

• 24 •

Freitag

• 25 •

Samstagabend

• 26 •

Montag

• 27 •

• 28 •

Dienstag

• 29 •

Teil vier: Blut – • • • •

Tags darauf

• 30 •

Sankt Martin, Mitte November

• 31 •

• 32 •

• 33 •

• 34 •

Danksagung

Für Michael und für all die Frauen, die der Hexenverfolgung in East Anglia 1645–47 zum Opfer fielen:

Auf diesen Seiten wird euer gedacht.

Ertragt mich, dann will ich reden, und nachdem ich geredet habe, magst du spotten!

Hiob 21:3

So suchet fleißig an ihrem ganzen Leibe danach, doch damit Ihr es nicht mit naturgegebenen Malen verwechselt, merket Euch dies: Es ist ohne Empfindung, und wenn man es steche, blutet es nicht. Wenn Ihr nun das Mal gefunden habt, so versuchet es, aber solchermaßen, daß die Hexe es nicht bemerke, und gebet Euch den Anschein, Ihr hättet es nicht gefunden, und stechet die Nadel in einige andere Stellen, aber dann auch ebendort hinein: Es ist manchmal wie eine kleine Zitze, manchmal bloß ein bläulicher Fleck, manchmal sind es rote Flecken wie Bisse vom Flohe, manchmal ist das Fleisch eingefallen und hohl, wie eine bekannte Hexe gestand, die obendrein aussagte, Hexen bedeckten ihre Male und manche hätten die ihren entfernt; aber laut jener Hexe Zeugnis wachsen sie immer wieder zu ihrer alten Form nach. Und darob wisset: Wird dieses Mal anfangs nicht gefunden, so mag es mit der Zeit dennoch erscheinen. Wer einmal danach suche, der darf dies nicht nachlässig thun, wie es manch einer thut, sei es aus Furcht, sei es, weil ihm Belohnung winke. Darob sei angeraten, jene Suchenden schwören zu lassen, sie mögen höchst sorgfältig suchen, sintemalen es in einem solchen Falle um Leben und Tod gehet, wenn ein solch Ausmaß an gotteslästerlichem Frevel aufgedecket wird.

– Richard Bernard, A Guide to Grand Jury Men, 1627

Teil eins

Gelbe Galle

• • • •

Anfang September 1645

Mittwoch

• 1 •

Schon bei Tagesanbruch war sie im Garten. Es galt, Kräuter zu schneiden: Rosmarin für den Braten, Minze und Malve für ihren Husten. Das Haus und die Straße und den Hügel weiter hinten bedeckte ein dichter Dunst, rötlich wie von Flammen, und als sie über das Gras ging, sah sie, dass die Schwaden auch den Morgenstern einhüllten. Eine Elster kam aus dem Dunst herbeigeflogen, so nah an sie heran, dass der Flügelschlag die Luft um ihr Gesicht aufwirbelte. Der Vogel landete auf dem Dachfirst und verhöhnte sie mit seinem Gekrächze.

Zwei böse Vorzeichen, aber sie bedeuteten ihr nichts. Der Tag würde ohnehin so verlaufen, wie Gott der Herr es wollte.

Am Straßenrand wuchs üppig der wilde Eibisch. Martha hockte sich hin und schnitt eine Handvoll ab. Über die Schulter sah sie drei Männer auf sich zukommen. Sie stand auf. Die Männer hielten inne und wichen zurück, als wären sie Zeuge, wie sich aus dem Fegefeuer ein Dämon erhob. Dabei war sie bloß eine alte Frau.

Als sie sich von ihrem Schreck erholt hatten, gingen die Männer weiter, nun schneller als zuvor, und hielten auf ihr Haus zu. Jetzt erst erkannte sie, wer das war: Heskeths Burschen von der Schmiede am anderen Ende des Dorfes und Herry Gowler vom Kerker. Sie rannte zur Tür und war beinahe hindurch, als die drei sie einholten. Sie hatten den stumpfen Blick von Männern, denen ihre Aufgabe nicht so recht behagte, und wie sehr sie sich fürchteten, zeigte sich im Maß ihrer unnötigen Gewalt. Sie gaben Martha einen Stoß, und sie fiel zu Boden wie ein Büschel Gerste unter der Sense und blieb auf der Türschwelle liegen. Ihre Lunge gab ein Geräusch von sich wie ein durchlöcherter Blasebalg. Die Männer stapften über sie hinweg und betraten das Haus. Sie wandte den Kopf und sah, dass Simon mit erhobenen Händen – wie zur Begrüßung, wohl eher aber vor Schreck – von seinem Bett unter der Treppe hervorkam. Mit ihren Knüppeln schlugen sie ihn nieder und betraten dann die Küche. Martha stemmte sich hoch auf die Knie, kroch hinter ihnen her und versuchte, nach Kit zu rufen. Die Männer zerrten so sehr am Vorhang, dass die Stange splitterte. Prissy war gerade dabei gewesen, Erbsen in eine Schüssel zu schälen. Martha hörte, wie die Schüssel zerbrach, wie es grüne Perlen regnete und wie Prissy wimmerte. Es klang wie ein Tier. Wütende Anschuldigungen – schockierende Vorwürfe – drangen aus den Kehlen der Männer. Zu zweit packten sie Prissy und schleppten sie mit sich fort, wie eine Färse zur Schlachtbank.

Martha stand auf und sah ihnen nach. Die Tür stand offen, und der Nebel schien dichter zu werden und ins Haus zu dringen, als wolle er verschleiern, was geschehen war.

Simon kam und stellte sich neben sie. «Es war nur eine Frage der Zeit», sagte er langsam. Eines seiner Nasenlöcher war aufgeplatzt, ein rotes Rinnsal lief ihm in den Mund. «Bis wir dran sind, hier in Cleftwater.» Sie blickten einander schweigend an. Seine dunklen und glasigen Augen waren starr auf sie gerichtet. Sie sah, wie sich ihre eigene Angst darin spiegelte.

Sie machte eine Geste, die alles umfasste, was sie umgab, die Küche, das Haus, ihr Dorf.

«Recht hast du», sagte Simon. Seine Stimme klang heiser und war voller Missbehagen. «Nichts ist mehr sicher. Nichts.»

Dann erhob sich rings um sie alle Schwärze dieser Welt, und darin erschien ihr das Neugeborene der Archers – der bläuliche Mund, die wächserne Blässe. Wie eine Ranke wuchs das Grauen durch ihren Leib. Simon sah sie schwanken, ergriff ihren Arm und geleitete sie zum Küchenstuhl. Sie setzte sich, und er ging den Hausherrn holen.

Er stolperte über die Steinplatten zur Treppe. Blutstropfen markierten seinen Weg. Einen Augenblick später hörte sie sein zögerndes Klopfen an der Tür der Schlafkammer und Kits Stimme, tief und so heiser, wie sie so früh am Morgen immer war. Und dann auch die von Agnes, die ganz schrill klang vor Schreck.

Prissy war fort. Sie hatten Prissy mitgenommen. Sie hatten sie so unsanft von hier fortgerissen, von ihrem Herd und ihrem Zuhause, jenen Orten, die Prissy sich so hart erkämpft hatte. Überall erinnerte etwas an sie. Brotteig, der in einer Schüssel in der Herdglut vor sich hin gärte. Goldene Haare, die zwischen den Binsen glitzerten, mit denen der Fußboden ausgelegt war.

Martha zwang sich, ihre Beine zu bewegen, richtete sich auf und öffnete die Fensterläden in der Küche. Spärliches Licht fiel herein, und sie nahm den Krug und trank direkt davon, so schnell, dass ihr das Bier links und rechts aus dem Mund rann. Das Feuer war so gut wie erloschen. Sie stocherte mit dem Schürhaken darin herum und pustete hinein, um die Glut anzufachen. Kurzatmig, wie sie war, dauerte es eine Weile, bevor die Flammen aufloderten. Das Feuer brannte nur schwach, bis sie einige Tannenzapfen und ein Stück salziges Holz von einem der Schiffswracks am Strand hineinlegte. Sie setzte sich wieder auf den Schemel. Die Sonne schrieb Streifen von Licht an die Wand, die sie genau studierte, um herauszufinden, was sie ihr sagen wollten, aber vergebens. Ihre Wange schmerzte an der Stelle, auf die sie gefallen war, und zu beiden Seiten des Schnittes schwoll die Haut an, als wären es Lippen. Auf diese Weise gezeichnet zu sein, gab ihr ein ungutes Gefühl, es war wie eine Verurteilung ohne Anklage. Durch das Küchenfenster sah sie, wie sich im Hof hinter dem Haus der Nebel nun langsam lichtete, und durch die Schwaden vernahm sie das schwache, immer gleiche Rauschen des Meeres, so regelmäßig wie ihr Atem. Sie lauschte, bis ihr Herz wieder langsamer schlug.

Vielleicht döste sie, vielleicht schlossen sich bloß ihre Augen. Ihre Gedanken waren düster und flüchtig, darin zu verweilen, gefiel ihr ganz und gar nicht. Warum Prissy und nicht sie? Und was war mit den anderen Frauen aus den Dörfern südlich von hier passiert, die man verschleppt hatte? Frauen in Salt Dyke und Holleswyck, darunter eine Mutter und ihre Tochter. Weitere in Sandgrave, keine halbe Meile von hier. Einige von ihnen waren bereits am Kerkerfieber gestorben, andere würden getötet werden, wenn die Gerichte es so beschlossen. Kit hatte erzählt, ein Londoner Advokat sei angeheuert worden, den Prozess zu führen, ein Mann, der sich seine Urteilssprüche angeblich mit klingender Münze vergelten lasse; ein Mann, der nicht gerade für seine Milde bekannt war.

Sie war in Cleftwater geboren und wusste vieles, aber den wahren Ursprung dieser neuen Bedrohung kannte sie nicht, einer Bedrohung, die für sie bis heute in sicherer Entfernung gelegen hatte und nur ein Gerücht gewesen war. Jetzt war sie hier. Jetzt war sie Wirklichkeit. Prissy war gewiss nicht die Erste, die verhaftet worden war. Die Kessel über dem Feuer zischten, und das Geräusch vermischte sich mit dem üblen Geruch von Abfall, und beides löste in ihr ein mulmiges Gefühl aus, das ihr vom Hals bis hinunter in die Eingeweide lief. Die Beklemmung von vorhin, die kurz verschwunden war, klopfte wieder an. Wann? Wann würden sie zu ihr kommen? Und wenn sie kamen, was dann? Nichts dann. Sie wäre weniger als nichts. Verleugnet, heimatlos. Schlimmer noch: Man würde aus ihr etwas machen, das sie nicht war – ein Monstrum; all ihre Sünden und Fehltritte, ob nun wahr oder eingebildet, würden tausendfach vergrößert werden.

Möge Gott ihr beistehen. Möge Gott ihnen allen beistehen. All den verschleppten Frauen.

Eine Hand lag auf ihrer Schulter, der feste Griff gab ihr Kraft. Sie öffnete die Augen.

«Wie geht es dir, Martha?», fragte Kit.

Sie sah zuerst ihn an, dann auf ihre Hände; diese mussten für sie sprechen. In ihrem Inneren wohnten so viele unausgesprochene Worte. Sie bevölkerten ihren Kopf und ihre Brust, schoben und drängten einander zur Seite. Und doch konnte sie keines aussprechen, wegen dieses Ungetüms in ihrer Kehle – einer dicken, pochenden Wulst, die ihr die Stimme nahm und ihr buchstäblich den Atem raubte. Etwas lebte darin, eine Schlange, ein Wurm. Seit ihrer Kindheit war es da. Die Kräuter, die sie nahm, linderten den Husten, aber sie hinderten den Wurm nicht an seinem Werk. Zu sprechen schmerzte so sehr, dass sie es kaum je tat. Ihre Sprache war die Sprache ihrer Hände, lautlose Zeichen und Gesten, die Kit und sie vor nunmehr über dreißig Jahren erfunden hatten. So redeten sie miteinander.

Recht gut.

Er fasste sanft unter ihr Kinn und drehte ihre Wange zum Licht. Ich hole den Arzt, gestikulierte er.

Nein, gab sie zurück. Ich habe meine Kräuter.

Er brachte den Krug und einen Becher, goss mehr Bier hinein und hockte sich neben sie, während sie trank. «Was haben sie gesagt? Als sie kamen. Welchen Grund haben sie genannt?»

Sie schüttelte den Kopf. Keinen.

«Sie müssen doch einen Grund gehabt haben, auf solche Weise in ein Haus einzudringen, ganz gleich, welches.»

Ihre Wange pochte. Sie merkte, dass sie ihn nicht anschauen konnte. Das Leben bei Kit war wie von selbst verlaufen; sie war mehr oder weniger zufrieden, hatte nie daran gedacht, ihr Leben hier infrage zu stellen. Oder dass sie ihrerseits infrage gestellt werden würde.

«Martha?»

Sie atmete aus und merkte erst jetzt, dass sie die Luft angehalten hatte. Kit war ein guter Mensch, ein freundlicher Mensch. Er hatte Prissy – ihre anmutige Köchin mit dem Goldhaar – davor bewahrt, ihr Leben als Dirne auf den Docks von Salt Dyke zu fristen. Mit ihr, Martha, verhielt es sich ähnlich. Sie war seine Amme gewesen, und er hatte sie im Haus behalten, ihr ein würdevolles Dasein ermöglicht, ihr Arbeit und ein Zuhause gegeben. Sie konnte ihn nicht anlügen.

Sie formte eine Hand zu Hörnern und führte sie an die Stirn.

«Sie sagten … was? Dass sie des Teufels ist?»

Ja … ja. Seine Dienerin. Sie zeigte auf ihren Ringfinger. Eine Braut des Teufels.

Er sah sie unsicher an, dann schaute er an ihr vorbei. Sein Blick wurde fester, entschlossener. «Ruh dich hier eine Weile aus», sagte er. «Agnes ist noch im Bett. Simon und ich werden uns um Prissy kümmern.»

Er drückte Marthas Schulter und ging. Sie versuchte aufzustehen, aber all ihre Kraft war aufgebraucht, und sie musste sich gegen den Küchentisch lehnen. Im Haus war es still, bis auf die vertrauten Geräusche: das ständige Rauschen der Wellen und darüber das Grunzen der Schweine, die im ewigen Dreck des Hinterhofes ihr Tagwerk begannen. Aus dem Fenster sah man das Waschhaus und den Arzneigarten und weiter hinten die Mauer aus Feuerstein mit dem Tor, das zur Tide Lane führte. Jenseits der Gasse lag das Meer, ebenmäßig, glatt, teilnahmslos, von der Farbe polierten Zinngeschirrs. Nun, da Prissy nicht mehr hier war, würde es viel mehr zu tun geben. Bier brauen. Mahlzeiten zubereiten. Agnes würde bald aufstehen, und sie bräuchte Hilfe beim Ankleiden.

Die verletzte Seite ihres Kopfes fühlte sich taub an, daher ließ sie sich auf den Schemel sinken. Einige Minuten lang saß sie da, ohne sich zu rühren, und versuchte, in dem Durcheinander in der Küche, zwischen Töpfen und Tellern und getrockneten Kräutern, Scherben zerbrochenen Geschirrs und Erbsen auf dem Boden, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie hörte die Stimme von Kit, der sich oben mit Agnes beriet und vollkommen sicher schien, dass Prissys Verhaftung erst der Anfang war; dass etwas in Gang gesetzt worden war, ein brutaler, erbarmungsloser Vorgang, der sich weder aufhalten noch in eine andere Richtung lenken ließ.

Diese Vorstellung trieb sie auf die Beine. Sie stieg die Treppe empor und ging den schmalen Gang hinunter, der am großen Zimmer vorbeiführte, dann eine weitere Treppe hinauf zu ihrer Kammer im Dachgeschoss. Das einzige kleine Fenster blickte auf den Garten und das Meer.

Mutters kleine Truhe aus Zedernholz stand unter dem Bett. Sie hob sie auf die Matratze und schloss sie auf. Die Scharniere beschwerten sich, als sie den Deckel hob. Obenauf lag eine Schicht gelber Blüten, die zu Staub zerfielen, als sie sie berührte. Die Truhe enthielt die Vergangenheit, eine Vergangenheit voller Sorgen; hauptsächlich Erbstücke von Mutter. Sie nahm eines nach dem anderen heraus. Perlen von Mutters Rosenkranz. Mutters Schere. Mutters Fingerhut, von einem ihrer Geliebten aus der Schale einer Walnuss geschnitzt. Mutters bestes Mieder aus weinrotem Damast, für Martha mittlerweile zu klein. Stecknadeln, Nähnadeln, drei hölzerne Garnspulen, eine Ahle, zwei flache Schalen aus geschlagenem Messing und ein kupfernes Kreuz, das einst mit blauen Glassteinen besetzt gewesen war, von denen alle bis auf einen verschwunden waren. Stoffreste, dünne Wimpel aus Seide und ein Stück grünen Samtes, das vom Kleid einer Dame stammte und, obwohl es vermodert war, noch die Spuren einer Stickerei trug, darin eingewickelt mehrere winzige gelbe Zähnchen und braunes Haar, auf eine Spule gewickelt. Von wem? Höchstwahrscheinlich von ihr. Milchzähne und Kinderhaar.

Unter all dem lag der Beutel aus Gamsleder. Jahrelang – jahrzehntelang – hatte er in dieser Truhe gelegen. Sie hatte seinen Inhalt nie gebraucht. In dem Beutel befanden sich alle Amulette und Talismane von Mutter, sowohl solche, die sie geschenkt bekommen, als auch solche, die Mutter selbst angefertigt hatte. Martha löste die Kordel. Als Erstes kam ein winziges, schrumpeliges, vertrocknetes Organ zum Vorschein, gräulich-rot und so hart wie eine Nuss: die Gallenblase irgendeines Feldtieres – einer Wühl- oder Spitzmaus. Sie warf das Ding aufs Bett, schimpfte wortlos und rieb sich die Finger sauber. Sie fuhr fort, den Beutel auszupacken, und entdeckte ein Glas mit Deckel und einer Handvoll Nägel darin, einen Maiskolben, einige getrocknete Blüten Fingerhut, einen verschrumpelten Zweig weißen Heidekrauts. Dann eine Kröte, platt gedrückt wie Papier, mit einem zerquetschten Halsband aus Dornen um den Hals.

Ihr Blut sang ihr in den Schläfen und den Ohren, wie so oft, wenn Mutter in der Nähe war. Sie legte die getrocknete Kröte zu den anderen Amuletten auf ihr Bett. Ihre Panik war abgeklungen, aber sie hielt trotzdem inne, um sich zu sammeln. Sie betrachtete die Amulette. Nein, diese nicht. Keines von ihnen. Was sie brauchte, war immer noch in dem Beutel.

Sie schaute nochmals hin. Aus dem offenen Beutel glaubte sie ein winziges Geräusch zu hören – ein unheimliches, verführerisches Summen. Sie holte tief Luft, fasste sich ein Herz, griff hinein und holte das Päckchen heraus. Das Leinentuch war ausgefranst, aber ansonsten so, wie sie es in Erinnerung hatte. Sie wickelte es aus. Der Inhalt passte genau in ihre Handfläche. Ein Kribbeln durchfuhr sie, Erinnerungen an einen längst vergessenen Kummer erwachten.

Das Püppchen war stümperhaft gemacht, grob aus einem Kerzenstummel geformt, an den Hüften wölbte sich eiförmig das Wachs. Reste des verbrannten Dochts steckten noch darin.

Sie wendete es in den Fingern. Man konnte es von beiden Seiten anschauen, wie ihr jetzt wieder klar wurde. Die zwei Gesichter. Das eine hatte keine Augen oder vielmehr bloß Nadelstiche als Augen, die Nase war ein kleiner Knubbel, der Mund kaum zu erkennen – eine sichelförmige Kerbe vom Fingernagel einer Frau. Diese Seite, dieses Gesicht wirkte ganz friedlich. Verschlossen. Das Gesicht der anderen Seite war mehr ausgeformt und furchterregender, die eingebrannten Augen waren weit aufgerissen, das O des Mundes sah aus, als wolle es schreien. Am Ende der Arme waren grobe Finger in das Wachs geritzt. Die Beine waren nur durch eine Kerbe angedeutet.

Das Püppchen schien an ihrer Haut zu kleben. Mutter hatte ihr beigebracht, dass man mit dem linken Auge, dem magischen Auge, Dinge sehen konnte, die nicht ohne Weiteres sichtbar waren, aber dennoch existierten. Sie drehte das Püppchen und betrachtete es von der Seite. Das Licht umspielte es, ließ das schmuddelige gelbe Wachs glänzen und weckte in ihr die Erinnerung daran, welchem Zweck es diente. Man würde es wecken müssen, wollte man es verwenden – seine Kräfte nutzen.

Sie nahm das Püppchen mit hinunter in die Küche. Auf der Fensterbank lag eine Fliege auf dem Rücken und drehte sich wie wild, und sie schaute hin, ohne sie wirklich zu sehen, dann schloss sie die Fensterläden. An einem Pflock baumelte ihre Schürze mit der Landkarte aus Flecken, und sie hing sie sich um den Hals. Prissys Bratpfanne baumelte am Balken, sie nahm sie herunter, stellte sie auf den Dreifuß und zündete die große Kerze darunter an. Das Kupfer wurde rot, als es sich erwärmte. Sie drückte das Püppchen mit den Beinen voran in die Pfanne, und sofort begann das Wachs nachzugeben. Sie drehte das Püppchen um und wiederholte das Prozedere, wobei sie diesmal den Kopf der Puppe auf das heiße Metall drückte, bis das Wachs weich war. Sie nahm die Pfanne vom Dreifuß und stellte sie beiseite. Mit dem Daumen strich sie sanft über die Rundung des Kopfes.

Ihr Leib fühlte sich kalt an und zum Teil leer, als sei ihr Ich beiseitegeschoben worden, um Platz für etwas anderes zu schaffen – eine Kraft, einen Geist, der sich in ihr emporschlängelte, ganz kühl. Die wächserne Haut des Püppchens hatte sich verfärbt. Seine Augen waren noch blind. Ein kleiner Luftzug spielte mit der Flamme der Kerze im Dreifuß und mit den Haarsträhnen, die ihr ins Gesicht hingen. Die Flamme erlosch, und sofort kam der Zweifel. Sie legte rasch die Puppe hin, trat zurück und schlang sich die Arme um die Rippen, als wolle sie sich ihres eigenen Seins vergewissern. Sie würde ihr Unterhemd waschen müssen; ihr Körpergeruch stieg davon auf, ein beruhigender Duft.

Natürlich war es immer besser, etwas zu tun. Die Dinge in die Hand zu nehmen.

Vom Tisch aus schaute das Püppchen in den Raum. Es kühlte bereits ab und festigte seinen Zweck. Sie entzündete erneut die Kerze unter dem Dreifuß und hielt das untere Ende der Puppe über die Flamme, bis das Wachs wieder weich wurde, dann setzte sie ihr Messer an und schnitt von unten nach oben hinein, bis die Klinge die Mitte erreichte. Hier war die Leistengegend. Sie drückte die zwei Teile auseinander. Das waren die Beine.

Sie lehnte das Püppchen gegen den Bierkrug. Es war fertig. War es fertig?

In ihrer Brust vermischten sich Aufregung und Besorgnis und ließen ihr Herz schneller pochen. Sie nahm es wieder in die Hand und besah es sich genau. Das Ding schien zu zittern; sie spürte, wie sich um sie herum die Luft bewegte, als würden Leute – Frauen – an ihr vorbeigehen; sie hörte das Rascheln von Röcken, spürte die Berührung von Händen auf ihrem Gesicht. Da waren auch Geräusche. Sie hielt das Püppchen an ihr Ohr: Stimmen hallten wider; Rufe und Protest und spitze Schreie, die um Gnade flehten; Mutters Warnungen – all das kam aus seinem offenen Mund.

Sie hielt es auf Armeslänge von sich fort. Die Geräusche hörten auf. Ihr Herz beruhigte sich ein wenig.

Das Püppchen war doch nur ein Spielzeug für Kinder, ein Stück Wachs. Dennoch. Sie hielt es wieder an ihr Ohr und hörte es noch einmal: ein dünnes, näselndes Wimmern.

Gedanken hämmerten in ihrem Kopf. Das Püppchen in ihren Fingern, das sie nun fallen ließ, als hätte es sie gestochen: Was war es wirklich, dieses missgestaltete Etwas, das sie zum Leben erweckt hatte? Was hatte sie in sich selbst zum Leben erweckt? Sie presste die Handflächen zusammen wie zum Gebet. Vergib mir, o Herr, vergib mir meine Schuld. Wachs blätterte von ihren Fingern ab. Das Püppchen war dazu da, benutzt zu werden, das war seine Wahrheit, die Essenz seines Wesens. Sosehr sie sich auch vor ihm fürchtete, sie brauchte es. Erneut ging sie nach oben und suchte in Mutters Truhe nach einer breiten Durchziehnadel, fand sie in einem Stück burgunderroten Damast und löste sie behutsam heraus. Wieder unten, packte sie die Furcht, sie ließ die Nadel fallen und legte die Hände an die Schläfen. Sie fühlte ihr Fleisch, ihren vor Aufregung schnellen Puls.

Sie wollte leben, in Freiheit leben. Prissy musste leben, in Freiheit leben.

Sie presste die Nadel auf die blutleere Haut der Puppe und drückte mit der Spitze eine Wunde hinein.

Stechen, ja, sie musste in das Wachs stechen, das schon hart wurde, und die Kehle des Püppchens durchbohren. In ihrem Nacken und auf ihren Armen stellten sich die Haare auf, als Reaktion auf eine Empfindung, die ihr ganz fremd war: eine Mischung aus Ekel, Faszination und so etwas wie Ehrfurcht.

Ein Wachspüppchen.

Eine Hexenpuppe.

Ein Atzmann.

• 2 •

Sie wickelte den Atzmann ein und verbarg ihn in ihrer Schürze, dann verließ sie die Küche und das Haus und ging so schnell, wie es ihr steifes Knie zuließ, über den Hof. Im Nebel hing noch immer die unnatürliche Hitze des vergangenen Tages. Auf der Straße tummelten sich die Kühe von Thomas Archer, die ihren Zaun niedergetrampelt hatten, um an die Grasbüschel zu gelangen, die die Straße säumten. Im Waschhaus stellte sie sich auf Kits alten Birkenschemel und versteckte die Puppe in einer Fuge, wo ein Sparren in der Mauer steckte.

Sie stieg vom Schemel herunter und ging zur Wanne. Das Laken lag noch dort, wo sie es am Abend zuvor gelassen hatte. Sie hob es aus dem rötlichen Wasser. Das meiste Blut war verschwunden. Es war nur noch eine Andeutung davon zu sehen, verblasste rote Flecken auf dem Tuch. Sie betätigte den Griff der Schwengelpumpe, ganz vorsichtig, damit Agnes nicht von dem metallischen Knarren aufwachte. Frisches Wasser strömte in die Wanne. Gedanken an letzten Abend verstopften ihren Kopf, und sie pumpte fester, um sie fortzuspülen. Die grobe Seife arbeitete sich nicht nur in den Stoff hinein, sondern auch in die Poren ihrer Haut. Während sie schrubbte, dachte sie an die verschiedenen Mittel gegen unterschiedliche Arten von Flecken. Bei Wein zog Salz die rote Flüssigkeit aus dem Stoff. Wachs ließ sich durch Erhitzen und Abtupfen entfernen, aber oft blieb ein öliger Fleck zurück.

Für Blut war kaltes Wasser am besten. Sie pumpte erneut, spülte das Leinen, wrang es aus, wickelte es auf und trug es vorsichtig wie ein gewickeltes Baby zur Schnur, die ganz hinten über den Hof gespannt war. Bald wäre dort Sonne. Das Laken war schwer, und sie formte lautlose Worte des Protests gegen den Schmerz in ihrer Speiseröhre, der sich bei jeder noch so geringen Anstrengung meldete. Sie wich zurück und rieb sich den Hals. Die Straße führte an der Gartenmauer entlang, und dahinter lag ein breiter Streifen Brachland, auf dem nichts wuchs als Nelken und Klatschmohn, und wiederum dahinter fiel der Kiesstrand sanft zum Meer hin ab. Das Wasser war lautlos und grau und ganz still. In der Ferne stand eine große orangefarbene Sonne über dem Meer, die den Nebel fortbrannte.

Die Geburt letzte Nacht war vor der Zeit erfolgt und von einer regelrechten Flut von Mutterblut begleitet gewesen.

Es war schon spät gewesen, und alle waren zu Bett gegangen, als ihre Nachbarin Jennet Savory geklopft hatte. Simon hatte Martha geweckt, und sie war zur Hintertür gegangen. Im Licht der Laterne hatte Jennets Gesicht fahl wie Molke gewirkt. Sie hatte geredet und geredet und immer wieder die Straße hinuntergezeigt, zum Haus, wo ihre Schwester Marion Archer lag, erschöpft vom Versuch, ihr erstes Kind zur Welt zu bringen. Es wollte einfach nicht kommen.

Martha war in die Küche gegangen und hatte Prissy geweckt, die Dienstmagd, die gerne die Kunst der Wehmütter erlernen wollte. Gemeinsam gingen sie in den Arzneigarten und schnitten in Windeseile die notwendigen Kräuter. Als sie im Hause der Archers ankamen, lag Marion völlig erschöpft auf ihrem Strohlager, öffnete und schloss ihren Mund und stieß heisere Schreie aus. Ihre Freundin Liz Godbold hockte daneben und streichelte Marions Kopf. Das Licht in der Schlafkammer war schwach und flackerte, Prissy zündete die Laterne und ein paar Kerzen an, und nun sahen sie das Blut von Marions Wehen – viel zu viel Blut – und die Wölbung des Kindes, das nicht kommen wollte. Martha kniete sich zu den Oberschenkeln der Mutter hin und sah, dass ein kleiner Fuß bereits hindurch war – ein erstes schlechtes Zeichen. Halt ihn fest, befahl sie Prissy, und jene zog, während Martha im Takt der Qualen der Mutter den Rest des kleinen Leibes hervorholte. Die Schultern kamen, dann der Kopf, das Gesicht nach unten in Marthas Handflächen. Sie hob das Kind hoch und wischte Blut und Schleim von ihm ab. Rot und Weiß – die Farben der Liebe, die Farben des Lebens – wischte sie mit einem alten Tuch fort und rieb und rieb an Kopf und Wirbelsäule, bis sie den ersten Atemzug hörte, den ersten kläglichen Schrei. Ein Ruf nach dem Anfang. Ein Ruf nach sich selbst.

Dann drehte sie es um. Was sie sah, ließ ihr den Atem stocken. Sie bekreuzigte sich. Das Kind hatte Ohren und Augen und einen üppigen Schopf aus dunklem Haar, aber das war es auch schon. Es hatte fast keinen Hals; der Kopf wuchs direkt aus dem Rumpf heraus, und das Gesicht war zur Decke gerichtet. Milchige Augen starrten gen Himmel. Seine Oberlippe war zu groß und gespalten, wider die Natur, verkehrt.

Sie sah solch ein Kind nicht zum ersten Mal, aber es war jedes Mal ein Schock. Ihre Lippen beteten wie von selbst: So fürchte ich kein Unheil, denn du bist bei mir, und sie wickelte das Neugeborene fest in ein Tuch ein, damit es aufhörte, mit den sehnigen Ärmchen um sich zu schlagen, und schirmte es mit ihrem Leib vor den Blicken der anderen ab. Sie waren mit Marion beschäftigt, die immer wieder nach ihrem Kind fragte, ihren Erstgeborenen sehen wollte. Ihre Stimme war schwächer als zuvor. Das Strohlager war durchnässt, dunkel von Blut. Man würde es verbrennen müssen.

Martha entfernte sich vom Licht und schlich in die dunkelste Ecke des Raumes. Sie setzte sich auf einen Schemel und streichelte das Neugeborene, rieb den kleinen Brustkorb. Fühlte sein bebendes Herz, seinen Atem, zart wie der Flügelschlag eines Falters. Ein Rausch der Gefühle durchströmte sie; sie war zärtlich zu ihm, diesem unschuldigen Kümmerling, diesem verkehrten Kind. Blind drehte es sein kleines Gesicht hin und her, es wollte bereits trinken. Es wollte leben, wie alle Kinder. Behutsam untersuchte sie seine Lippen und seine Nase. Konnte es damit saugen? Es hatte vielleicht einen Tag, höchstens zwei – wie sollte so ein Kind überleben? Seine Fäuste wurden bereits kühler, seine Lippen blau.

Sie dachte an all die Kinder, denen sie auf die Welt geholfen hatte. Es hatte Gott dem Herrn gefallen, ihr dieses Geschick zu geben, die notwendigen Gaben für die Arbeit als Wehmutter. Schnell, langsam, gesund, krank: Alle Neugeborenen waren Gott wichtig, und genauso wichtig waren sie ihr. Oft waren sie gesund und überlebten, und manchmal waren sie krank oder kamen tot zur Welt und wurden sofort zum Herrn gerufen; doch ob gesund oder krank, sie hatte stets diese Mischung aus Sehnsucht und Neid verspürt, wenn sie sie auf die Welt geholt hatte – ach, unzählige, lang ersehnte Kinder; eines von ihnen war nun dieses Neugeborene von Marion.

Wieder und wieder flackerte in ihr eine Erkenntnis auf, wie ein Insekt, das nicht von einer Flamme lassen kann; sie konnte spüren, wie der Gedanke Gestalt annahm, auch wenn sie sich dagegen sträubte: Etwas Böses musste sich den Weg in das Brautbett der Mutter gebahnt haben. Ein Fluch musste auf dem Kind lasten, dass es so missgestaltet zur Welt gekommen war.

Ihr wurde flau. Wie fürchterlich, wie unwürdig war sie doch, diese primitive, uralte Angst, dass eine von diesen Frauen, ihren Freundinnen, eine Hexe war. Der Gedanke breitete sich aus, er verschlang alles Schöne in der Welt, das Licht der aufgehenden Sonne auf dem schimmernden Meer, die vielen Goldtöne der Ernte im Herbst, das Wunder neugeborenen Lebens, die Freundlichkeit der Nachbarn. Wer von ihnen war es? Wer?

Sie drückte den Kleinen an sich und schloss die Augen, als sie ihn in den Armen wiegte. Sie sprach ein kurzes lautloses Gebet und bat um Mut und um Schutz. Als sie die Augen öffnete, sah sie den leeren Blick des Neugeborenen. Sie hielt es an ihr Ohr und lauschte auf seinen Atem. Da war keiner, zumindest vernahm sie keinen.

Gute Reise. Herr, erbarme dich des kleinen Knaben. Sie wickelte ihn in das Geburtstuch und stand auf.

Die Mutter blutete immer noch, sie würde bald sterben. Martha übergab den Kleinen an Prissy. «Oh, er ist ja missgebildet!», sagte Prissy ganz leise. Sie tauschten einen Blick aus, der selbst schon vergiftet war. Sag nichts, gab Martha ihr zu verstehen. Liz war hinausgegangen, um Tom Archer mitzuteilen, dass er Vater sei; sie konnten ihn auf dem Flur hören, wo er auf die frohe Botschaft wartete. Jennet kam zu Prissy, um einen Blick auf das Kind zu werfen, und als sie es erblickte, keuchte sie: «Bewahre uns, Herr, bewahre uns!» Sie schlug sich an die Brust und begann zu schluchzen, leise, erstickt. Das Feuer brannte schwach, und eine merkwürdige Düsternis hatte im Zimmer Einzug gehalten. Rastlose Schatten brüteten darin. Martha zündete eine Handvoll getrockneter Salbei- und Lorbeerblätter an, deren fahler Rauch die Schlafkammer durchzog und den schrecklichen Geruch des Blutes überdeckte. Die Mutter fragte immer wieder nach ihrem Kind, bis Jennet aus Marions Armen eine Wiege formte und den toten Leib hineinlegte. Sie weinten, Stirn an Stirn; zwei Schwestern, von denen aus einer gerade das Leben herausblutete. Martha arbeitete rasch daran, eine Tinktur herzustellen, um die Blutung zu stillen. Für das Kind konnte man nichts mehr tun, als es zu segnen und zu begraben, und für das gebrochene Herz seiner Mutter gab es kein Heilmittel außer einem Gebet.

Auf dem Heimweg hatte sie eine Möwe begleitet. Ihre weißen Flügel strahlten hell in der Schwärze der Nacht.

«Warum geschieht so etwas? Dass kleine Leben so schnell enden?», fragte Prissy. In der Dunkelheit war nicht zu erkennen, was für ein Gesicht sie machte. «Es war so gezeichnet … So etwas habe ich noch nie gesehen.» Sie hatte die Hände gefaltet, spannte die Knöchel an und löste sie wieder. «War es meine Schuld? Habe ich es falsch gemacht? Habe ich zu sehr gezogen und ihn verletzt?»

Nein, nein, Mädchen, gestikulierte Martha. Sie klopfte Prissy auf die Schulter. Du hast nichts falsch gemacht.

«Warum ist es dann geschehen?», fragte Prissy, den Tränen nah. Die Nacht war klar und ganz still, aber stickig durch die Hitze, die seit Tagen über dem Dorf lag. Die Flut kam, das Mondlicht spiegelte sich in den Wellen, die auf den Strand schwappten, und auf den Steinen, die dort große glänzende Haufen bildeten.

Die Möwe war wieder da. Dreimal kreiste sie über ihnen. Martha nahm Prissys Arm, und sie folgten dem Vogel hinunter zum Wasser. Ihre Schuhe machten beim Gehen leise, knackende Geräusche. Nahe der Wasserkante nahm Martha eine Handvoll Kiesel auf und reichte sie Prissy.

Such einen aus.

Was meinst du?

Such einen aus. Sie legte die Arme übereinander und bewegte sie, als würde sie ein Kind wiegen. Für den Knaben.

Prissy musterte die Kiesel. Dann nahm sie einen eiförmigen Stein und hielt ihn hoch. «So einen?»

Martha küsste ihre Fingerspitzen, zeigte die Form des Steins und tat so, als würde sie ihn in die Fluten werfen. Segne den Stein mit einem Kuss, wollte sie Prissy zu verstehen geben, dann gib ihn dem Meer. Prissy zögerte, dann küsste sie den Stein, einmal, zweimal – «Einen Kuss für den Kleinen, einen für seine Mutter» –, hob ihn hoch und warf ihn weit hinaus.

Der Stein beschrieb einen Bogen und sank. Kleine dunkle Wellen entstanden, brachen und kamen wieder, wie Gewissheit, wie Zweifel. Martha legte das schmutzige Leinentuch hin, ging in die Hocke und wusch ihre Unterarme im schwarzen Wasser. Auf dass das Wasser die Pein der Nacht fortspüle. Auf dass es die Angst fortspüle. Vertraue auf den Herrn mit deinem ganzen Herzen, und stütze dich nicht auf deinen Verstand! Auf dass der Herr sich um die Hexen kümmere. Schaum bildete sich um ihre Hände, kleine grüne Lichter blitzten auf und verblassten, während sie zusah. Die Flut brachte Dinge und nahm sie; der Herr gab Leben und nahm es. Das war die Ordnung der Welt, und es war nicht an ihr, sie infrage zu stellen. Mit der Zeit würde auch die Mutter dies erkennen. Falls sie überlebte.

Als sie beinahe das Haus erreichten, sagte Prissy: «Ich werde sie nie wieder loswerden. Die Erinnerung daran», und Martha war mit einem Mal gereizt, sie wollte schlafen, sie wollte ihre Ruhe, sie wurde ungeduldig, als sie im Gesicht der jüngeren Frau die widerstreitenden Gefühle sah. Grob packte sie Prissy an der Schulter und bedachte sie mit einem langen Blick. Wenn das Mädchen das Handwerk der Wehmutter kennenlernen wollte, musste sie auch den Tod kennenlernen.

• 3 •

Der Wurm rumorte in ihrem Schlund, und das schmerzhafte Kratzen brachte sie wieder zur Besinnung. Wie lange hatte sie hier gestanden – regungslos vor dem fleckigen Leinentuch von der Entbindung, den Kopf gesenkt und ein pulsierender Bluterguss auf ihrer Wange?

Sie öffnete das Gartentor und trat hinaus auf die Tide Lane, einen unbefestigten Weg, der von der Schlucht durch das Dorf bis zum Hafen führte. Sie ging den Weg hinunter, vorbei an Archers Kühen. Ihre Euter waren prall gefüllt. Heute Nachmittag würde sie gemeinsam mit Simon die Kühe melken und die vollen Krüge bei den Archers abstellen. Falls Marion in der Lage war, etwas zu sich zu nehmen, konnte sie vielleicht die Sahne auf der Milch trinken, das würde ihr guttun. Als sie am Haus der Archers vorbeikam, sah sie, dass die Läden geschlossen waren und die Hühner noch im Stall. Sie ging auf den Hof, befreite die Vögel und streute ein paar Körner aus. Am Zaun wuchs ein Strauch Stockrosen, hohe Stängel mit gelben Blüten. Aus einem Impuls heraus schnitt sie einige davon ab, bevor sie sich auf den Weg machte.

An der Ecke bog sie rechts in die Slip Lane ein. Weiter vorne ragte die Kirchturmspitze in einen bleichen, unnachgiebig wirkenden Himmel. Einerseits wollte sie dorthin, andererseits nicht; doch da waren Gebete, die gesprochen werden mussten, für Prissy und das tote Neugeborene und auch für ihre eigene unsterbliche Seele. Gebete, die längst überfällig waren.

Trotzdem schleppten sie ihre Füße weiter. Sie überquerte die High Street, hinter der die Straße anstieg, zunächst sanft und dann sehr steil; irgendein Spaßmacher aus längst vergangenen Zeiten hatte den Hügel «Wish Hill» getauft. Er war von dunklen Ulmen gesäumt, die lange Schatten auf die Straße warfen, und als sie vorbeikam, begann ein Schwarm Saatkrähen zu zetern, erhob sich in die Lüfte und flog über ihr eine laute, schiefe Acht. Geister schienen um sie herum und durch sie hindurch zu schwirren. Sie waren von ihrer Welt und zugleich von der Welt jenseits davon, dem Reich der Kobolde, Irrlichter, die Seelen der ungetauften Toten. Der ungetauften Neugeborenen.

Wie war es möglich, dass solch dunkle Gedanken an einem solch hellen Tag gediehen? Aber sie taten es, und sie konnte sie nicht abschütteln. Sie konnte sie nur fortschieben. Die Hitze war drückend, und ihr Schatten schritt geräuschlos neben ihr her. In ihr Keuchen mischte sich ein knarrender Laut. Er war nicht neu, aber in letzter Zeit verstörte er sie. Er kam von dem Wurm. Manchmal über Tag und noch öfter in der Nacht konnte sie seinen Druck in ihrer Brust und ihrem Hals spüren. Er fraß an ihr, raubte ihrem Herzen die Kraft und machte sie langsam und schwerfällig. Selbst jetzt raubte er ihr den Atem.

Viele Male hatte sie darüber nachgedacht, wie sie den Wurm aufhalten konnte. Die einzige sichere Methode war, das Atmen ganz und gar einzustellen. Oben auf dem Hügel angekommen, dachte sie, das sei es jetzt mit ihr gewesen. Sie beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie.

Wo sie stand, teilte sich der Weg in drei Richtungen. Links ging es nach Top Field und Oliver’s Paddock, benannt nach einem Esel, der dort einst geweidet hatte. Rechts zum Psalm Cliff und zur Allerheiligenkirche. Geradeaus traf ein Reisender oder ein Hexenjäger nach einer halben Meile auf die Küstenstraße, die ihrerseits in zwei Richtungen führte: gen Norden zur Blythe Bay und nach Seachurch, gen Süden nach Holleswyck und Sandgrave und weiter zur größeren Hafenstadt Salt Dyke.

Sie wandte sich nach rechts und ging das letzte kurze Stück Weg bis zur Kirche. Die Tür schwang hinter ihr zu und ließ alle Geräusche draußen. Auf dem Altar lagen noch Opfergaben der Erntezeit, Hopfen, Gerste und Kürbisse. Das Bleiglasfenster an der Ostseite, das einzige, das die Soldaten nicht zerstört hatten, warf bunte Farben auf die Steinplatten. Sie stand einige Augenblicke nur da, während sich ihr Atem beruhigte; zögernd; unrein ob dessen, was sie war oder was sie hierher mitbrachte; der schändliche Wurm, der Makel der Schuld.

Ein erlösender Reflex regte sich in ihr. Sie durchquerte das Kirchenschiff und ging den Gang hinunter zur achten Bankreihe, wo sie und Mutter beim Gottesdienst immer gesessen hatten. Die Kniebänke standen gerade nebeneinander aufgereiht. Der gelbe Stoff von Mutters Kniebank war verblasst, eine weiße Taube war darauf gestickt. Sie kniete sich hin, schloss die Augen, faltete die Hände und wartete, dass ihre Gedanken zur Ruhe kamen. Das taten sie nicht. Sie wurde immer aufgewühlter. Eine Parade rötlich eingefärbter Bilder zog hinter ihren Augenlidern vorbei: Mutter, Prissy. Das tote Neugeborene mit den blinden Augen. Eine Totenklage begleitete die Erscheinungen. Ihre Lippen bewegten sich: «Gepriesen!», rufe ich zum Herrn, so werde ich vor meinen Feinden gerettet. Vor mir selbst.

Das Gebet geriet ins Stocken, gerann auf ihren Lippen. Wie allzu oft war es zu kurz, zu schnell vorbei. Beten war notwendig, eine Gewohnheit wie Schlafen oder Atmen. Aber der Glaube war noch etwas anderes. Und ihr Glaube war nicht wie der der anderen. Er hatte einen grundlegenden Mangel, seine rastlose innere Kompassnadel drehte sich ständig, von der ehrlichen Überzeugung hin zum Unglauben, weiter zur Scham und wieder zurück, bewegt von einer unsichtbaren Kraft, deren Quelle sie nicht kannte. Mutter hatte immer gesagt, wie es funktioniere, sei egal; wo sich bei einer Frau die Nadel einpendele, gehe bloß sie und ihre Seele etwas an. Am Ende zählten nur Taten. Als Mutter noch am Leben war, da war sie laut gewesen, pragmatisch und erdverbunden. Ihr Glaube hatte kein starkes Fundament, selbst sonntags trug sie nicht schwer daran, und am Ende hatte er völlig versagt. Marthas Glaube war ähnlich, sie hielt sich lieber an das, was sie sehen, hören und berühren konnte. Wie Stockrosen. Wie Steine, die man für tote Kinder küsst.

Wie einen kleinen wächsernen Atzmann.

Ein Schatten tauchte im Winkel ihres geschlossenen linken Auges auf. Sie öffnete es. Pater Leggatt war neben ihr in die Kirchenbank getreten.

«Ah, nein – lass dich nicht beim Beten stören.»

Sie löste die Finger voneinander, erhob sich von den Knien, setzte sich auf die Bank und bedeutete ihm, Platz zu nehmen. Sein Gewand roch nach Feuerrauch, alter Wolle und Zwiebeln. «Wie geht es dir, Martha? Ich hörte von Prissy», sagte er, ohne ihre Antwort abzuwarten. «Wir leben wahrlich in düsteren Zeiten.» Sein Gesichtsausdruck war ungewohnt, hatte die übliche Fröhlichkeit eingebüßt. «Sie kann sich glücklich schätzen, gute Freunde wie dich zu haben, die für sie beten. Und einen Herrn und eine Herrin, die sich gewiss für sie einsetzen werden. Falls sie unschuldig ist …» Sein Blick war auf den Altar gerichtet, dann sah er unvermittelt sie an. «Was glaubst du, Martha? Ist sie des Teufels? Wie ich hörte, hat sie mit ihren Händen das Neugeborene der Archers gezeichnet. Könnte sie … ist sie zu solch einer Tat fähig?»

Martha schüttelte energisch den Kopf, schaute den Priester an und schrieb mit Buchstaben in die Luft: Prissy ist unschuldig.