Die Hochzeit meines besten Freundes (mit mir) - Tankred Lerch - E-Book

Die Hochzeit meines besten Freundes (mit mir) E-Book

Tankred Lerch

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn sich zwei beste Freunde trauen ...

Die Idee kam Jan und Rode natürlich auf einer Hochzeitsfeier. Es war nicht ernst gemeint. Jedenfalls nicht sofort. Schließlich kann man nicht einfach so seinen besten Kumpel heiraten, wenn man eigentlich heterosexuell ist und keine romantischen Gefühle füreinander hegt. Andererseits … Mitbewohner sind sie sowieso schon, und keiner von beiden ist in einer festen Beziehung. Die steuerlichen Vorteile einer Ehe könnten ihr Leben deutlich entspannter machen. Und es muss ja niemand erfahren ... Doch das ist nur die erste einer langen Reihe von Fehleinschätzungen.

Eine rasante Komödie über eine Männerfreundschaft, die (fast) in die Brüche geht, und eine pointierte Gesellschaftssatire über Ehe, Freundschaft und die Suche nach dem Glück.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 398

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Ich will euch eine Geschichte erzählen. Es ist eine Liebesgeschichte, und sie ist sowohl lustig als auch dramatisch. Sie ist spannend, aber kein Thriller. In dieser Geschichte lügen alle, und am Ende ist mindestens einer tot. Grundsätzlich geht es um eine richtig dämliche Idee, einen absolut beschissenen Plan und darum, wie eine Lüge dazu führt, dass zwei junge Männer nicht nur ihre Komfortzone, sondern gleichzeitig die Leben ihrer Mitmenschen in ein Trümmerfeld verwandeln.

Als die beiden besten Freunde Jan und Rode auf die verrückte Idee kommen, aus steuerlichen Gründen zu heiraten, ahnen sie nicht, was für eine Lawine sie damit lostreten. Schneller als sie »Ja, ich will« sagen können, gerät ihrer beider Leben aus den Fugen. Sie werden mit Vorurteilen, Eheproblemen und Rollenmustern konfrontiert. Und am Ende müssen sie nicht nur ihre Freundschaft retten, sondern sich fragen: Spinnen wir oder alle anderen?

Der Autor

Tankred Lerch wurde 1970 in Lübeck geboren, ist in Hamburg zur Schule gegangen, hat in Kiel Jura studiert und bei Radio Schleswig-Holstein volontiert. Seit 1997 lebt er in Köln, arbeitet als Autor und Producer fürs Fernsehen (u.a. »extra3«, »Stromberg«, »Krömer – Late Night Show«, »TV total«) und lehrt seit 2013 als freier Dozent Medientechnik und Dramaturgie an der FH St.Pölten. Mit Kurt Krömer bereiste er zwei Mal Afghanistan und schrieb mit ihm das Buch »Ein Ausflug nach wohin eigentlich keiner will – Zu Besuch in Afghanistan«, das 2013 zum Bestseller wurde. Im Juli 2019 erschien sein Roman-Debüt »Der Rüberbringer«, darauf folgten zahlreiche weitere Publikationen. »Die Hochzeit meines besten Freundes (mit mir)« ist sein erster Roman bei Heyne.

Tankred Lerch

Die Hochzeit meines besten Freundes

(mit mir)

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 04/2024

Copyright © 2024 by Tankred Lerch

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Joscha Faralisch

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, unter Verwendung von shutterstock/lemono/Happy Pictures

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-29463-2V001

www.heyne.de

»Liebe kann man nicht erzwingen, die muss man sich jeden Tag neu verdienen.«

Dieses Buch ist meinem Freund und »brother of another mother« Janosch Chávez-Kreft gewidmet. Wenn es mal ein Film wird, dann ist es deiner!!!

Danke sagen möchte ich ganz vielen, die mich an ihren Leben haben teilhaben lassen. Aber besonders: der bestenschönstenklügstennettesten Nora, Oskar, dem Tiffaniehasen, Joscha und vor allem: Sabrina.

Prolog

Ich will euch eine Geschichte erzählen. Es ist eine Liebesgeschichte und sie ist sowohl lustig als auch tragisch. Sie ist spannend, aber kein Thriller. In dieser Geschichte lügen alle und am Ende ist mindestens einer tot. Grundsätzlich geht es um eine richtig dämliche Idee, einen absolut beschissenen Plan und darum, wie eine Lüge dazu führt, dass zwei junge Männer nicht nur ihr eigentlich ganz okayes Dasein, sondern gleichzeitig die Leben ihrer Mitmenschen in ein Trümmerfeld verwandeln.

Manchmal wird irgendwo irgendwas in Bewegung gesetzt, was dann nicht mehr zu kontrollieren ist. So wie ein Schmetterlingsflügelschlag, der dann ganz woanders ein Erdbeben auslöst. Ich meine so etwas wie: Eine Mutter oder ein Vater ist zu spät aus dem Bett gekommen, hat dann vergessen, der Tochter ein Schulbrot einzupacken, hat ihr Geld für ein Brötchen mitgegeben, sie zählt es auf dem Weg nach, schaut nicht auf die Straße, am Zebrastreifen muss ein Kleinwagen deswegen scharf bremsen, ein Taxi fährt ihm rein, die Polizei wird gerufen, der Fahrgast kommt nicht rechtzeitig zum Flughafen, muss deswegen einen späteren Flieger nehmen, der Flieger bekommt keine pünktliche Landeerlaubnis für Moskau, der auf Wladimir Putin angesetzte Auftragskiller kann nicht wie vorgesehen am Zielort sein, sein Schuss geht daneben, trifft den Einkaufsbeutel einer älteren Dame, die Kugel bleibt in einem Käse stecken, den ihr Mann abends essen möchte, und er beißt sich deswegen einen Zahn aus. So etwas kann passieren, ist aber – das gebe ich zu – ziemlich unwahrscheinlich. Was häufiger passiert: Eine Regierung schreibt ein Gesetz, das erst von Bürgern und dann von Anwälten anders ausgelegt wird, als es gedacht war. Das führt zu Ärger, oft zu einer Gerichtsverhandlung, und ein Richter oder eine Richterin muss dann entscheiden, ob das Gesetz so bleiben kann oder umgeschrieben werden muss.

In unserer Geschichte passieren irgendwie beide Szenarien. Allerdings soll niemand erschossen werden, niemand beißt sich die Zähne aus, und letztendlich wird auch kein Gesetz umgeschrieben. Das ist nicht notwendig. Die beiden Jungs, die den ganzen Ärger in Gang gesetzt haben, werden das nie wieder tun.

Die Juristen trennen bei der Schuldfrage Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit, und ich würde bei dieser Geschichte sagen: Vorsatz war es nicht. Wer bringt sich schon vorsätzlich in Situationen, die einem die eigene Erbärmlichkeit drastisch vor Augen führen? Ich würde eher von grober Fahrlässigkeit sprechen. Der Auslöser aber war schon vorsätzlich. Vorsätzlich und unmoralisch. Ob im Endeffekt nicht alles sowieso so gekommen wäre, wie es dann letztendlich gekommen ist, das werden wir allerdings nie wissen.

Teil 1 – Die Idee

»Ich machet, Otze!«

Jan Juan (frei nach Erich Rutemöller)

1

Hier wäre zunächst Jan Juan. Und zwar in einer für ihn absolut typischen Situation. Er hängt irgendwo rum, kann keine Entscheidung fällen und wartet so lange ab, bis irgendwas passiert, das ihm diese Last von den Schultern nimmt. Jetzt – und jetzt ist vor ziemlich genau einem Jahr – steht er auf einem Parkplatz rum und kann sich nicht entscheiden, ob er weiter auf seinen Freund Rode warten oder zu Fuß nach Hause gehen soll.

Rode ist Jan Juans bester Freund. So einer, mit dem man alles zusammen macht. Einer, von dem man meint, dass er alles über einen weiß. Zum Beispiel, wie man beim Aufstehen, beim Essen und beim Kacken aussieht.

Einer, mit dem man seit Jahren zusammenwohnt, zusammen feiert, zusammen einkauft, zusammen abhängt. Einer, zu dem man irgendwann mal unter Promilleeinwirkung gesagt hat: »Wenn wir mit dreißig noch nicht unter der Haube sind, dann heiraten wir beide eben.« Natürlich nur aus Spaß. Denn damals, als man das gesagt hat, durften Männer zwar zusammenleben, aber noch keinen standesamtlichen Bund fürs Leben eingehen.

Die Häuser sind steingrau, der Himmel aschgrau, die Gesichter der Passanten graugrau. Selbst die ein Stück weiter blinkende Weihnachtsdekoration, die freudlos »F ohe We hn cht« morst, wirkt grau. Am Sonntag ist erster Advent, ein nasser Flyer auf dem Boden lädt zur weihnachtlichen Tombola der Kirchenseniorengruppe des Veedels ein, es soll Kekse und Glühwein geben, gegen Aufpreis mit Schuss.

Jan und Rode werden allerdings nicht hingehen. Sie wollen zur Hochzeit von Jans Cousine Juli nach Sylt reisen, und Jan wartet frierend vor dem Supermarkt Mega 3000 auf Rode, der ihn hier schon vor einer halben Stunde hatte abholen wollen.

Jan tritt von einem Bein aufs andere und fühlt sich ein wenig wie ein Kind, das vor dem Bälleparadies vergessen wurde.

Er starrt wütend auf sein Smartphone. Das Smartphone ist schuld, dass seine Einkäufe zermatscht zu seinen Füßen liegen. Weil er zu geizig war, eine Papiertüte zu kaufen, hat er alles in der Hand transportiert, und beim Herausholen des Handys ist ihm alles runtergefallen.

Jans Handy ist quasi ein großer Teil seines Büros. Was einerseits praktisch ist, aber wer nimmt schon gerne sein Büro überallhin mit? Generell hat sich das ja in den letzten Jahren bei vielen Berufstätigen so entwickelt, aber ob das auch wirklich eine gute Entwicklung ist, das ist fraglich.

Seit Jan den Supermarkt verlassen hat, hat er drei E-Mails bekommen, vier SMS, einundvierzig WhatsApps aus drei Gruppen von sieben Absendern, sechs Voicemails und drei Anrufe in Abwesenheit, alle drei von seiner Mutter. Grundsätzlich würde er das schon alles abhören und beantworten, aber er kann nicht. Sein iPhone verabscheut – so wie jeder einigermaßen normale Mensch – Temperaturen um den Gefrierpunkt und schränkt bei derartiger Wetterlage seine Funktionen selbstständig ein. Mal mag es nicht entsperrt werden, mal mag es keine Apps öffnen, ab und zu geht es einfach aus und behauptet, dass der vor ein paar Minuten noch vollständig aufgeladene Akku leer sei, und manchmal verselbstständigt es sich einfach und tut, was es will, ohne dass Jan Einfluss darauf hat.

Genauso wie sein Leben eigentlich.

Jan Juan wollte sich schon vor Monaten ein neues Smartphone zulegen, eines, das immer funktioniert. Aber wann kommt man schon zu was?

Er schüttelt das Scheißding, aber nichts tut sich.

Noch etwas unangenehmer als der kalte Regen von oben ist die Kälte von unten, die Jan ins Bein zieht. Und zwar über die Unterschenkel ins Knie, von dort aus erst in die Leiste und dann in den gesamten Körper, wo sie sich großzügig ausbreitet. Jan hätte sich wärmer anziehen sollen, aber er konnte sich nicht für ein den Temperaturen angemessenes Outfit entscheiden.

Plötzlich piept es, und das Handy gibt wie aus dem Nichts die Verriegelung frei. Mit zitternden Händen tippt Jan den Code ein, denn sein Fingerabdruck wird nicht anerkannt, wahrscheinlich weil die Fingerspitzen gefroren sind.

Die meisten WhatsApps sind aus der DNW-Gruppe.

Der nackte Wahnsinn, oder wie die Mitarbeiter sagen DNW, ist eine Trash-TV-Show, in der Promis, die größtenteils keiner kennt, in Dating-Spielen nackt gegeneinander antreten müssen.

Jan ist der Producer der Show, also so etwas wie eine Mischung aus Moderator hinter den Kulissen und Mutter der Kompanie. Laut Vertrag ist er der »sendungsverantwortliche Mann« der Produktionsfirma Best Times. Rode nennt es »Arsch vom Dienst«. Das Einzige, was Jan bei der Produktion hält, ist das zwar nicht besonders üppige, aber seinen Lebensstil finanzierende Gehalt. Die Show selbst genießt seine höchste Verachtung. Wenn er noch einen Fernseher hätte – für DNW würde er ihn sicherlich nicht anschalten.

Als er nach dem Studium begonnen hatte, fürs Fernsehen zu arbeiten, war sein erklärtes Ziel gewesen, Drehbücher zu schreiben, aber irgendwie hing er seit über zehn Jahren beim Trash-TV fest, und sich davon zu befreien, würde finanzielle Einbußen bedeuten, die er bislang nicht zu tragen bereit war.

Hätte er dort rechtzeitig die Reißleine gezogen, wäre vielleicht alles anders gelaufen.

Nach Abzug von Steuern, Krankenkasse und Rentenversicherung, Lebensversicherung und privater Altersvorsorge blieb ihm genug, um seinen Teil der Miete zu zahlen, sich einigermaßen modisch zu kleiden und nicht jedes Bier zu zählen, das er in Bars trinkt. Mehr aber auch nicht.

Aber zurück zum Parkplatz, wo Jan seine Nachrichten liest. Die DNW-Gruppe ist in Aufregung, weil Hansen, ein abgehalfterter Schauspieler, sowohl beim Nackt-Skat als auch beim Strip-Poker betrogen haben soll. Fünf der sechs Voicemails sind von ihm, keine ist kürzer als drei Minuten, die längste 09:47, und genau bei dieser entscheidet Jans Smartphone sich dazu, sie selbstständig abzuspielen. Erst rauscht es länger, dann knackt es, dann brüllen Menschen im Hintergrund, und irgendwann beginnt Hansen zu sprechen. »Hör mal, du …«

So beginnt jeder Satz von Hansen.

Dann lässt er sich Zeit. Es knistert im Hintergrund, als hätte jemand Feuer gemacht. »Hör mal«, setzt Hansen wieder an, »was die hier mit mir machen, das ist reinste Folter.«

Es knackt, und Jans Smartphone macht eine Ansage.

»Die Nachricht wurde gelöscht.«

Innerlich frohlockt Jan, weil er sich den Mist jetzt nicht anhören muss. Dumm ist nur, dass er Hansen irgendwann zurückrufen muss, weil das zu seinem Job gehört. Sein Handy bietet ihm derweil an, die Vorschau der nun aufploppenden Nachrichten zu lesen. Allerdings in einer Geschwindigkeit, die es selbst bestimmt, nur um die Nachrichten dann nach ein paar Sekunden eigenmächtig wieder zu löschen.

Mama schreibt: Jan, ruf mich doch bitte …

Nächste Nachricht. Rode: Wir kommen nicht über …

Nächste Nachricht. Tasi: Nachricht wurde gelöscht.

Nächste Nachricht. Mama: Es ist wirklich …

Rode: Schätze, ein paar …

Eine Nachricht seiner Cousine Juli: Denkt an den Fahr…

Tasi: Nachricht wurde gelöscht.

Noch mal Tasi: Nachricht wurde gelöscht.

Tasi heißt eigentlich Anastasia und ist die Schwester von Rode, der – wo wir jetzt schon dabei sind, kann ich es ja auch sagen – eigentlich Roderich heißt. Jan und Tasi hatten mal was miteinander. Auf jeden Fall haben sie es versucht. Sympathie war da. Sicher auch mehr als das. Die beiden haben gerne Zeit miteinander verbracht, sie konnten ganz gut miteinander reden und sogar schweigen. Aber da war die dumme Geschichte mit dem Sex, der dann ja doch auch irgendwie zu so einer Beziehung gehört. Sowohl Jan als auch Tasi kann man getrost als »Meister:innen der verpassten Gelegenheiten« bezeichnen, was Sex angeht. Als Jan klar wurde, dass Tasi mit ihm schlafen wollte, hat sein Trauma wieder eingesetzt.

Und jetzt stehen wir vor einem Problem.

Eigentlich kennt ihr Jan noch nicht gut genug, um an dieser Stelle von seinem Trauma zu erfahren. Irgendwie fühlt es sich an, als würde ich euch ein Dickpic von einem Typen schicken, bevor ich euch mit ihm bekannt mache. Aber was die Beziehung zu Tasi angeht, muss ich euch das Trauma erklären.

Jan kann nur Sex mit Frauen haben, die ihm völlig egal sind, denn jedes Mal, wenn er mit einer Frau schlafen wollte, die ihm etwas bedeutet hat, ist das nicht gut gegangen.

Angefangen hatte es mit Sandra, einem Mädchen aus seiner Klasse (damals die 7a), die schon zweimal sitzen geblieben war und ihre sexuellen Erfahrungen aus Pornos hatte. Sandra hatte ihn ins Kino eingeladen, ihn in die hinterste Ecke bugsiert, ihn dort kurz geküsst, seine Hose geöffnet und dann zu seinem Entsetzen laut schmatzend seinen nicht besonders erigierten Penis in den Mund genommen. Jan musste sich regelrecht wehren, damit sie aufhörte, und sein Popcorn fiel auf den Boden. Glücklicherweise war es Frühsommer, das Schuljahr war kurz darauf zu Ende. Sandra blieb erneut sitzen, und Jan wurden weitere peinliche Begegnungen erspart.

Mit achtzehn, was ihm eh schon spät erschien, wollte Jan bei Geraldine seine Jungfräulichkeit ablegen, und sie war bereit zu helfen. Geraldine hatte schon Erfahrungen gesammelt, Jan hingegen war über Knutschen, Befummeln und nackt Anfassen noch nicht hinausgekommen und empfand es als höchste Zeit, das zu ändern. Wild rissen sie sich die Klamotten vom Leib. Geraldine nahm die Pille und wies Jans Frage nach einem Kondom ab, sodass er ohne langes Vorspiel in sie eindrang. Sie war schnell warm und feucht, was aber weniger an ihrer Erregung lag, sondern daran, dass Jans Vorhautbändchen gerissen war und er blutete wie ein Schwein, dem man frisch die Kehle durchschnitten hatte. Aber vor lauter Freude und Erleichterung, den wichtigen Schritt in Richtung Mann endlich gegangen zu sein, bemerkte er den Schmerz erst, als das Blut aus ihrer Vagina tropfte. Geraldine, die wusste, dass es nicht an ihr liegen konnte, zog seinen Penis heraus, und beide sahen fassungslos zu, wie mit jedem Herzschlag seine Penismuskeln kontrahierten und überschüssiges Schwellkörperblut gegen die Bettdecke spritzte. Während Geraldine darüber nachdachte, wie sie ihrer Mutter die Schweinerei erklären könnte, begann Jan beim Blick auf sein Blut spritzendes bestes Stück zu weinen.

Wie ein kleines Kind.

Danach schämte er sich so sehr, dass er sich einfach nicht mehr bei Geraldine meldete. Was dumm war, denn Geraldine war cool. Sie nahm vor ihrer Mutter die Schuld auf sich und erzählte die Geschichte nicht einmal ihrer besten Freundin.

Bei Jan führte das Erlebnis zu einer Art Penetrationsverunsicherung, die er ein gutes Jahr später bei Jacqueline abzulegen gedachte.

Als Jacqueline, schon einigermaßen verunsichert, weil er ihre Hand regelmäßig wegschob, wenn sie ihn intim berühren wollte, ihn endlich nackt in ihrem Bett hatte, ging bei Jan gar nichts. Dieses Mal weinte er nicht, sondern meldete sich einfach nicht mehr bei ihr. Was abermals dumm war, denn Jacqueline war eine wirklich liebenswerte junge Frau, die nicht verstand, was sie falsch gemacht hatte. Bei einer Feier – und das ist gar nicht so lange her – lernte Jan dann Gesa kennen. Gesa, ein paar Jahre älter als Jan, wurde ihm als Urologin der Gastgeber vorgestellt. Es sprühten Funken, die beiden fingen Feuer, und Jan vergaß seine Angst. Eine Frau wie Gesa wäre bestimmt mit jedem »Pimmelproblem« vertraut, und so begegnete er ihr nackt und aufrecht, bereit, seinen Teil der geplanten Vergnüglichkeiten beizusteuern. Bis zu dem Moment, wo Gesa innehielt, sein bestes Stück betrachtete, erst ohne, dann mit Brille, die kleinen Punkte auf seiner Vorhaut als Feigwarzen entlarvte und ihm entweder zu einer Behandlung oder noch besser, direkt zu einer Beschneidung riet.

Jan entschied sich für die Behandlung bei einem Kollegen von Gesa (bei der er sich auch nicht mehr meldete, was schon wieder ziemlich dumm war) und dann, als die Behandlung nicht anschlug, für die Beschneidung.

Das war der Zeitpunkt, als er immer öfter mit Tasi abhing. Er fühlte sich von ihr genauso angezogen wie sie sich von ihm, und nach ein paar Wochen platonischer Beziehung war beiden klar, dass es auf mehr hinauslaufen würde. Da aller guten Dinge drei sind und er vor Versuch Nummer vier stand, hätte diesmal alles gut werden können. Jan meldete sich zur Vorhautamputation. Die Operation, über die er Tasi nicht informierte, verlief komplikationsfrei. Der Arzt hatte Jan vor die Wahl gestellt: Entweder nähme er zum Nähen normale Fäden, die dann irgendwann gezogen werden müssten, oder welche, die sich binnen einer Woche von selbst auflösen würden. Er müsse nur sein bestes Stück gut wässern, sprich: mindestens einmal am Tag ein Bad nehmen.

Theoretisch.

An einem Samstagabend schien beiden der richtige Zeitpunkt gekommen. Ein finales Bad vor der ersten Benutzung des entmützten Gliedes sollte alle Restfäden beseitigen. Tasi stellte gerne ihr Badezimmer zur Verfügung, Jan stieg in die Wanne, nahm zur Beruhigung zwei Baldriantabletten, schlief aus Versehen in der Wanne ein, wachte auf, warf einen Blick auf seinen Penis und erschrak. Anstatt weich und rosig sah er aus wie ein verschrumpelter, alter Karpfen, dem die Fäden wie gräuliche Barteln aus dem Maul hingen. Jan weinte lautlos, zog sich an, verließ die Wohnung samt der erwartungsvollen Tasi und meldete sich nie wieder bei ihr. Was richtig dumm war, denn Tasi – ohne, dass ich hier zu viel verraten will – hat alles, was man für eine Beziehung braucht. Sie ist nett, für alles offen, witzig und clever. Aber durch Jans verschrobene Aktion zutiefst verunsichert. Und weil sie nie verstanden hat, was warum passiert ist, schreibt sie immer wieder Mitteilungen und löscht diese dann sofort. Nur um ihm vor Augen zu führen, dass sie gerne eine Erklärung gehabt hätte.

Jan wusste schon lange vor Tasi, dass er dringend mal mit jemandem reden müsste, der sich professionell mit solchen Angelegenheiten befasst, schiebt das aber immer wieder auf. Statt endlich einen Therapeuten aufzusuchen, hat er sich die Geschichte so zurechtgelegt, dass es mit den beiden nicht geklappt hätte, weil Tasi Rodes Schwester sei und man doch nicht ungestraft mit der Schwester seines besten Freundes schlafen oder sogar zusammen sein könne. Inzwischen hat er sich das so oft eingeredet, dass er es fast selbst glaubt. Und insgesamt ist Sex für ihn eine Art Pflichtübung geworden, die es ab und an zu absolvieren gilt. Er empfindet so gut wie keine Lust dabei, und ohne Viagra würde nichts funktionieren.

Jans Smartphone macht wieder dieses Geräusch: »Die Nachricht wurde gelöscht.« Dann setzt es die von ihm nicht beauftragte Dienstleistung fort und zeigt ihm jeweils die Vorschau der Nachrichten an.

Nachricht von Mama: Jan Juan, bitte …

Voicemail Hansen: Hör mal, du …

Nachricht von Rode: Kannst du noch …

Nachricht von Tasi: Nachricht wurde gelöscht.

Nachricht von Juli: Ihr müsst in Niebüll die letzte …

Voicemail von Hansen: Hör mal, du …

Das Handy schaltet um. »Mama anrufen« steht da plötzlich.

Jan liebt seine Mutter, aber jetzt will er nicht mit ihr reden.

Er schafft es, die Aus-Taste so lange zu drücken, bis er das Handy abgewürgt hat. Er seufzt. Ein Pochen im Bein signalisiert ihm, dass es noch nicht abgefroren ist.

In dem Moment, als Jan kurz davor ist, die ganzen zermatschten Einkäufe zu seinen Füßen einfach auf dem Parkplatz liegen zu lassen und abzuzischen, schaut er sich vorsichtig um, wie der Schlemihl in der Sesamstraße, wenn er ein »E« verkaufen will. Er sieht niemanden, will sich gerade unbemerkt in Marsch setzen und erschrickt zu Tode, als der graue Parkplatz auf einmal in bunte Lichter gehüllt wird, eine Sirene lautstark ertönt und ein Ungetüm von Wohnmobil laut hupend vor ihm hält. Jetzt nicht mehr vor Kälte, sondern vor Schreck zitternd, blickt Jan auf. Auf dem Fahrersitz sitzt ein breit grinsender Rode.

Jan betrachtet das Wohnmobil, als wären Außerirdische gelandet. Er hatte keine Ahnung, dass ein Fahrzeug größer sein kann als die Enterprise.

Über der Windschutzscheibe blinken bunte Buchstaben, welche das Wort The HomoWomo bilden. Sie leuchten so grell, dass der Parkplatz auf einmal an eine von Lichtorgel und Discokugel bestrahlte Tanzfläche bei einem Fest der Freiwilligen Feuerwehr erinnert. Schnellen Schrittes geht Jan auf das Wohnmobil zu, als Rode im Inneren zu einem Mikrofon greift und über einen auf dem Dach angebrachten Lautsprecher gefühlt ganz Köln beschallt. »Bitte lassen Sie Ihren Müll nicht einfach auf dem Parkplatz liegen. Bitte entsorgen Sie Ihren Müll fachgerecht in die dafür von der Stadt Köln bereitgestellten Mülltonnen!«

Einerseits greift Jan Juans Sozialphobie, und er möchte am liebsten nicht im Mittelpunkt dieses Geschehens stehen. Auf der anderen Seite hat er seinen besten Freund schon lange nicht mehr so vergnügt gesehen.

2

Rode sitzt vornüber gebeugt am Steuer des Wohnmobils und so, wie er an der Windschutzscheibe klebt, erinnert er an eine sehbehinderte Echse.

Das Cockpit des Straße fressenden Ungetüms könnte das eines Flugzeuges sein.

Der Wagen riecht von innen so neu, als würde man seine Nase in ein frisch ausgepacktes Ikea-Sofa stecken. Jan schläft tief und fest auf dem Beifahrersessel. »Sitz« ist eigentlich eine unangemessene Bezeichnung für diesen gepolsterten Thron. Bei jeder Lenkbewegung bewegt sich Jans Kopf in die entgegengesetzte Richtung, wie das aufsässige Pendel einer Standuhr.

Rode hält ihm kurz die Nase zu, aber selbst davon wacht sein Freund nicht auf. Gut, soll er halt schlafen. Rode weiß, dass es Jan Juan nicht besonders gut geht, dass er seinen Job nicht mehr leiden kann. Und er ahnt auch irgendwie, dass seine Schwester Tasi ein weiterer Grund für Jans Zerschlagenheit ist. Er hat sogar schon versucht, mit ihm darüber zu reden. Doch seinen Rat, er müsse Tasi vergessen und dringend mehr ficken, hat Jan – warum auch immer – bislang nicht beherzigt.

Bei höchstens der Hälfte der Knöpfe, die am Armaturenbrett blinken und leuchten, kennt Rode die Funktion. Als Game-Designer ist Rode in der digitalen Welt zu Hause, trotzdem ist er momentan von den vielen bunten Tasten und Schaltern völlig überfordert. Es ist nicht das erste Mal, er hat so etwas in der letzten Zeit schon öfter gehabt. Es ist wie ein Blackout, der aber nie allzu lange anhält und dann wieder verschwindet. Das Navi konnte er recht problemlos starten, aber das Bluetooth verweigert die Zusammenarbeit mit seinem Handy, einen USB-Anschluss hat er nicht gefunden, und so muss er Radio hören, anstatt einen seiner geliebten Podcasts anmachen zu können.

Die A7 in Richtung Nordsee ist, der fast noch nächtlichen Uhrzeit angemessen, vollkommen frei und eine sich überschlagende Stimme aus dem Radio preist »die lustigste Morningshow mit den lustigsten Moderator:innen von Niedersachsens lustigstem Radiosender« an. Kein Wunder, dass die Leute lieber Podcasts hören.

Auf der anderen Seite findet Rode es aber immer noch besser, das zu hören, was die Niedersachsen für lustig halten, als die täglich schlechter werdenden Nachrichten über Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen.

Der Sound schlägt den Inhalt der Moderation. Alleine im Vorderbereich des Wagens müssen mindestens acht Lautsprecher verbaut worden sein. Rode drückt diverse Knöpfe nacheinander, in der Hoffnung, einen Sender zu finden, der »Last Christmas« oder »Driving home for Christmas« oder irgendeinen anderen dieser Stimmungsweihnachtssongs spielt.

Rode ist nicht gut drauf. Er fühlt sich überarbeitet, er fühlt sich überfordert, er weiß, dass er in letzter Zeit viel öfter den gut gelaunten Rode spielt, als dass er es wirklich ist. Würde man ihn fragen, würde er seinen Zustand auf einer Skala von eins (beschissen) bis zehn (super) mit einer sechs beschreiben, aber das ist nicht wahr. Er nähert sich bedenklich der drei. Er ist ungerecht mit anderen, fährt schnell aus der Haut und schläft weder gut noch viel. Momente wie dieser, in denen er etwas tut, was ihm Spaß macht, sind spärlich gesät. Hoch oben im Cockpit des Luxuswohnmobils fühlt er sich wohl. Er setzt den Blinker und überholt einen Lastwagen so souverän wie ein Kreuzfahrtschiff einen Fischkutter.

Doch schon ein paar Sekunden später schaut er in den Rückspiegel, erblickt sein eigenes Konterfei und bekommt Lust, sich selbst eine reinzuhauen. Stattdessen schenkt er sich ein Lächeln, gibt Gas und betrachtet wieder das dunkle, lustige Niedersachsen. Ein Land, das ihm eigentlich eher humorlos erscheint.

Rode ist letztes Jahr dreißig geworden. Genau genommen ist Rode dieses Jahr einunddreißig geworden, aber er findet, das mit den Dreißig hört sich besser an.

Er und Jan Juan sind auf dem Weg nach Sylt zu der Hochzeit, und Rode hat sich vorgenommen, es bei dem Fest so richtig krachen zu lassen. Mal so richtig den Schädel freizubekommen. Er hofft auf gutes Essen, Cocktails, eventuell eine Prise Koks und auf die Brautjungfern. Und zwar genau in umgekehrter Reihenfolge. Wer es bei einer Hochzeitsparty nicht schafft, eine Freundin der Braut abzuschleppen, der hat die Kontrolle über sein Leben verloren. Ein ganzes Wochenende nicht über den Job nachzudenken, ist Luxus pur. Rode arbeitet wie gesagt als Game-Designer. Er spekuliert auf die intern ausgeschriebene Stelle als Teamleiter, hat aber das kleine Problem, dass seine Kollegin Sophie sich um denselben Job beworben hat, und insgeheim weiß er, dass man sich für Sophie entscheiden müsste. Sophies Vater muss eine Konsole gewesen sein und die Mutter ein PC. Sophie weiß alles über Games, ist FIFA Ultimate und eigentlich in jedem digitalen Spiel so gut wie unschlagbar. Sie hat definitiv ihre Liebe zum Beruf gemacht.

Rode weiß aus Erfahrung, dass es bei so einer Beförderung aber um mehr geht als um reine Leistung. Da steht das Menschliche im Vordergrund. Und menschlich bedeutet bei Rode, sich in den Vordergrund zu spielen und sich, wenn es sein muss, auch mal mit fremden Federn zu schmücken. Doch die momentane Lage beim Thema Gleichstellung macht ihm Sorgen. Sophie ist erstens eine Frau und zweitens auch noch lesbisch. Das könnten zwei Punkte für sie sein. Dass Sophie einfach in jeder Hinsicht qualifizierter ist als er, blendet Rode gerne aus.

Momentan arbeitet Rode an einem Spiel, in dem Kindern digital und spielerisch erklärt werden soll, dass Menschen zwar sehr unterschiedlich aussehen, sich dann aber doch sehr ähnlich sein können.

Das Spiel heißt Unser Haus und ist ein virtueller Gang durch ein Mehrfamilienhaus. Die Kinder können sich eine Figur aussuchen oder selbst kreieren, eine Aktion mit ihr starten, und in den anderen Wohnungen sind die Reaktionen darauf zu sehen. Oma und Opa Schmitz im ersten Stock erschrecken und spucken ihre frisch gelöffelte Suppe auf den Tisch, im zweiten Stock wird ein Säugling namens Sabine wach und ruft nach Mama Susanne, die ihr Homeoffice unterbrechen muss, und in der dritten Etage wird die Familie Blumenthal beim Gebet gestört. Rode ist stolz auf sein Projekt. Er hat alles so echt wie möglich gestaltet. Zweimal pro Woche kommt die Müllabfuhr, der Briefträger sogar täglich, das Treppenhaus wird langsam immer schmutziger, wenn es keiner sauber macht, und man kann eigentlich jede beliebige Situation in Gang setzen. Das Spiel ist so gedacht, dass Eltern und Kinder es gemeinsam starten, später können die Kinder dann alleine weiterspielen. Je nach Alter des Kindes können die Funktionen erweitert oder eingeschränkt werden.

Die Auftraggeberin ist die Innenministerin des Landes, und deren Assistentin hat mit Frau Doktor Schüssler-Haase nicht nur einen lustig klingenden Doppelnamen, sondern versucht auch noch grundsätzlich, jede Klippe, an der man ihr vorwerfen könnte, politisch unkorrekt zu sein, weiträumig zu umschiffen. Deswegen hat Rode Frau Schüssler-Haase insgeheim den Spitznamen »Frau Schisshase« verpasst. Trotzdem mag er die kreative Arbeit sehr und grübelt seit Wochen darüber nach, ob ein erfolgreicher Abschluss von Unser Haus ausreicht, um die Stelle als Teamleiter zu bekommen.

Niedersachsens lustigster Sender spielt jetzt Bruce Springsteen. Rode dreht lauter und singt mit.

Bruce Springsteen singt nicht darüber, wie die Welt sein sollte, sondern wie sie ist. Er erzählt Geschichten und wenn man zuhört, kann man sie verstehen, daraus lernen und das Gelernte umsetzen. Da liegt für Rode das Problem der »woken Society«. Sie verlangt, den Ist-Zustand zu verleugnen und die Welt an einem Soll-Zustand zu messen. Und wer nicht mitmacht, ist ein schlechter Mensch. Aber so funktioniert es seiner Meinung nach nicht. Man darf auch kein Kind verbal oder körperlich unter Druck setzen, wenn es etwas falsch gemacht hat. Es muss verstehen, was es falsch gemacht hat.

Im Grunde seines Herzens ist Rode – und das hat er sich, obwohl er es leugnen würde, von seinem Vater abgeschaut – konservativ. Aber bloß, weil etwas immer so gewesen ist, bedeutet es für ihn nicht, dass es immer so bleiben muss. Wenn dem so wäre, dann wäre die Erde heute offiziell immer noch eine Scheibe. Und selbst die katholische Kirche hat sich vor ein paar Jahren bei Galileo dafür entschuldigt, dass sie ihn damals deswegen rausgeworfen hat. Besser wäre es natürlich gewesen, sie hätte das ein paar Jahrhunderte vorher getan, als er sich noch darüber hätte freuen können. Aber immerhin hat sie es getan.

Die Geschichte dieser Entschuldigung hat Rode neulich in dem Podcast »The Gehweg« gehört, den sein Nachbar Chi – einer der Besitzer des Wohnmobils, das gerade so prächtig unter seinem Arsch vibriert – wöchentlich produziert. Jede Folge beginnt damit, dass Chi ein Zitat oder einen Witz oder ein aktuelles Statement zum Thema Homosexualität – egal ob freundlich oder böse gemeint – anbringt, ohne zu sagen, von wem es stammt. Und diese Aussage wird dann im Folgenden diskutiert.

Ursprünglich hieß der Podcast nicht The Gehweg, sondern The Gay Way. Aber weil viele Hörer – und inzwischen sind mindestens die Hälfte keine Homosexuellen – der englischen Sprache gar nicht oder nicht sonderlich mächtig waren, hat sich der eingedeutschte Titel eingeschlichen. Auch im Internet kursierte die Sendung inzwischen unter dem Namen. Chi konnte damit leben. Immer wenn er gefragt wurde, gab er die Auskunft, dass The Gehweg weder ein Podcast für Homosexuelle noch einer über Homosexuelle, sondern eine Sendung mit Homosexuellen sei. Und weil der Podcast inzwischen sehr erfolgreich ist und auf Seiten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, in denen ja immer die Kirche mit drinhängt, publiziert wird, hat der Titel The Gehweg dort schnell Freunde gefunden. In der letzten Folge haben Chi und seine Gäste unter anderem darüber gesprochen, dass die katholische Kirche Anfang des 15. Jahrhunderts den Biber zum Fisch erklärt hatte, damit man ihn während der Fastenzeit essen durfte. Rode lacht jetzt laut. Das ist lustig. Das müssten sie mal in ihrer lustigsten Morningshow erzählen.

Rode lenkt ein klein wenig nach links, um Jan zu wecken, was aber nur dazu führt, dass der wieder mit dem Kopf schlackert wie ein gut geölter Wackeldackel.

Rode hat große Freude an dem Wagen. Er ist Chi und Christophè extrem dankbar dafür, dass sie Jan und ihm einfach so ein Luxuswohnmobil, das mehr wert ist als die meisten Einfamilienhäuser im lustigen Niedersachsen, geliehen haben. Gut, sie brauchen es gerade nicht, weil sie für fünf Tage nach Rom geflogen sind. Trotzdem ist es wahnsinnig cool, und sie haben es sogar von sich aus angeboten. Chi und Christophè sind auch ein gutes Beispiel dafür, dass es gut ist, wenn sich Dinge ändern, sonst hätten sie nicht heiraten können. Denn gleichgeschlechtlich heiraten darf man erst seit 2017. Die beiden hatten lange auf diesen Tag gewartet und keine Demo ausgelassen, um für die ihnen zustehenden Rechte auf die Straße zu gehen, bis sie ihnen endlich zugesprochen wurden. Und wenn man es genau betrachtet, ist auch die erreichte Gleichberechtigung nicht überall gleich. Sophie zum Beispiel ist jetzt seit fast fünf Jahren mit ihrer Freundin zusammen und hätte liebend gerne Kinder. Rode ist sich sicher, dass Sophie eine gute Mutter wäre. Und wenn sie Mutter wäre, dann wäre sie für ihn auch nicht so eine große Konkurrentin. Er hat sogar schon überlegt, sich als Samenspender anzubieten.

Rode weiß, was es bedeutet, Eltern zu haben, die sich liebevoll um einen kümmern. Egal was man ihnen später mal vorwerfen wird – wer macht schon alles richtig und wer definiert überhaupt, was richtig ist? Seine jüngere Schwester Tasi würde ihren Eltern heute ganz andere Verfehlungen vorwerfen als er.

Rode und Jan haben sich im ersten Semester an der Uni kennengelernt, und seither wohnen sie zusammen. Sie hatten wahnsinniges Glück und haben eine Wohnung im Haus von Christophè und Chi gefunden. Die beiden sind schon lange nicht mehr nur ihre Vermieter, sondern Freunde.

Rode schaut auf seinen schlafenden Mitbewohner.

Jan Juans Vater ist Argentinier, und Rode weiß über ihn nur, dass er sich noch vor der Geburt seines Sohnes wieder nach Buenos Aires abgesetzt hat. Aber Jans Mutter hatte in ihrem Sohn wohl so viel von seinem Vater gesehen, dass sie ihn auf den Namen Jan Juan hatte taufen lassen. Jan Juan, was so viel heißt wie Jan Johann. Oder Johann Johannes.

Rode hat jetzt keine Lust mehr, alleine wach zu sein, und beginnt Schlangenlinien zu fahren. Erst dezent, dann langsam wilder, bis Jans Kopf gegen die Seitenscheibe knallt und der Freund ihn verschlafen anglotzt.

»Sind wir da?«

»Nein, wir sind leider erst in Leverkusen. Du hast vier Stunden im Stau verschlafen.«

Erschrocken schaut Jan aus dem Fenster und begreift nach kurzer Zeit, dass Rode ihn verarscht hat. Während Jan sich reckt und streckt, preist die Stimme noch einmal Niedersachsens lustigste Morningshow an, die man ab sechs Uhr auf keinen Fall verpassen möge.

»Warum hörst du den Scheiß?«

»Ich dachte, es würde dir Freude bereiten, wenn du aufwachst.«

Jan schaut ihn an.

»Im Arsch macht mir das Freude.«

Jan wirft einen Blick auf das Cockpit, aktiviert die ausgeschaltete Bluetoothfunktion, koppelt sein Handy, und Johnny Cash singt »Hurt«.

3

Noch achtundsiebzig Kilometer bis Niebüll. Im Rückspiegel leuchten die Lichter der Raststätte, an der sie eben getankt und sich mit Kaffee versorgt haben, in der Pinkeln siebzig Cent kostet, der Gestank nach Affenkäfig und Komposthaufen aber umsonst ist. Autobahntoiletten sind einige der wenigen Orte, an denen wohl jeder gerne freiwillig eine Maske aufsetzen würde, Pflicht und Pandemie hin oder her.

Jan fährt, Rode schlürft einen Cappuccino XXL mit doppeltem Espresso, und die beiden führen ein typisches Jan-Juan-Rode-Gespräch, von denen es in letzter Zeit so wenige gegeben hat.

»Acht Euro neunzig. In manchen Ländern kann man davon einen Monat leben.«

Jan lacht.

»In Argentinien bekommst du dafür wahrscheinlich ein kleines Haus.«

»Ja, aber da essen sie auch Hunde.«

»Quatsch. Hunde kann sich da keiner mehr leisten. Meerschweinchen sind da auf jeder Karte.«

»In jeder Diktatur essen sie Meerschweinchen.«

»Außer in den islamistischen Diktaturen.«

»Warum?«

»Weil die kein Schwein essen.«

»Gut, dass uns hier keiner zuhört«, sagt Rode.

Jan schaut sich um.

»Wer weiß, vielleicht kann das Auto sogar hören?«

Er überlegt kurz.

»Eigentlich ist Argentinien auch schon länger keine Diktatur mehr, zumindest sagen sie das.«

Zu ihrer Linken ziehen sie an einem Autohof vorbei. Eine weitere Tankstelle, eine Spielothek, eine Kapelle und ein als Saunaclub getarnter Autobahnpuff, vor dem ein erbärmlich geschmückter Weihnachtsbaum steht, dessen Glühlämpchen aussehen wie bunt bemalte Pestbeulen.

»Sag mal, wie kann das eigentlich sein, dass ich dich so lange kenne und nichts über deine Familie weiß«, überlegt Rode. »Ich kenne eigentlich nur deine Mutter.«

Jan überlegt.

»Wenn man es genau nimmt, kenne ich die selbst nicht so besonders gut.«

»Deine Mutter?«, fragt Rode erstaunt.

»Nee, die Familie.«

»Warum eigentlich?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Und warum wirst du jetzt zur Hochzeit eingeladen?«

»Als ich klein war, hat Juli oft Babysitterin für mich gespielt. Eigentlich ist sie die einzige Person aus meiner Verwandtschaft, zu der ich Kontakt gehalten habe.«

»Kontakt gehalten?«

»Na ja. Wir sind bei Facebook befreundet und zu Weihnachten schreiben wir uns Karten.«

»Frohe Weihnachten und guten Rutsch?«

»Nee, schon diese aufklappbaren Dinger, wo man ein paar Sätze reinschreiben kann.«

»Aber so was Verrücktes wie mal miteinander telefonieren? Macht ihr das?«

»Bist du verrückt? Nie!«

»Also weißt du gar nicht, was uns da jetzt erwartet?«

»Nicht wirklich.«

Jan überlegt.

»Mit Sicherheit kommt mein Onkel Jochen mit seiner aktuellen Frau.«

»Ihr Name?«

Jan konzentriert sich und muss dann lachen.

»Weiß ich nicht. Er hat drei Kinder mit drei Frauen. Alle Jungs, alle dick, alle sind Beamte. Er ist uralt, dreifacher Witwer und hat dann noch mal geheiratet.«

Rode schaut erschrocken.

»Dreifacher Witwer? Entweder meint das Schicksal es nicht gut mit ihm, oder er ist ein Mörder!«

Jan schaut Rode an.

»Mörder?«

Rode winkt ab.

»Und die dicken Beamten, die Söhne von Onkel Jochen, weißt du wie die heißen?«

»Klar!«

»Und wie?«

»Tick, Trick und Track!«

Rode lacht.

»Wie alt ist denn Tante Juli?«

»Sie ist nicht meine Tante, sie ist meine Cousine. Und sie muss ungefähr fünfzig sein.«

Rode nickt. Als Jans bester Freund hat er sofort gesagt, dass er ihn zur Hochzeit begleiten will, ohne nach den Details zu fragen. Insgeheim ging es ihm dabei nicht nur um die Party, das Essen und um Sylt, sondern vor allem um die Brautjungfern. Aber nun kann es sein, dass er zumindest den letzten Teil des Plans den Gegebenheiten wird anpassen müssen.

»Und der Bräutigam?«

»Fred.«

»Ja, Fred, meinetwegen. Kennst du ihn?«

»Die beiden sind zusammengekommen, da war ich sechs. Und sie ist wegen ihm nach Sylt gezogen. Das letzte Mal gesehen habe ich ihn …«

Jan rechnet.

»… vor fast zwanzig Jahren. Ich glaube, er war mal so was wie ein Weltmeister im Windsurfen oder so ähnlich.«

»Oder so ähnlich? Könnte er auch Europameister im Kajak gewesen sein oder Kreismeister im Rudern? So was weiß man doch!«

»Nee, nee – es war schon Surfen.«

»Und das Hotel?«

»Das leitet sie.«

»Warum waren wir noch nie da?«

»Was weiß ich?«

Rode nimmt einen letzten Schluck seines Cappuccinos, knüllt den Becher danach zusammen und will ihn auf den Boden werfen, als Jan ihm in den Arm greift.

»Gib her!«

Rode lässt den Becher los, Jan nimmt ihn, öffnet per Knopfdruck eine Klappe, wirft den Becher rein, drückt einen weiteren Knopf, und die beiden hören, wie der Becher zerschreddert wird.

»Ein Müllschlucker«, erklärt Jan.

Rode ist schwer begeistert.

»Was haben wir noch alles an Bord? 3-D-Drucker? Einen Swimmingpool?«

Jan schüttelt den Kopf.

»Nein, aber wenn wir den Wagen parken, kann man mit diesem Knopf das Wohnzimmer zum Schlafzimmer umbauen.«

»Du verarscht mich?!«

»Nein, hast du vorhin nicht zugehört, als Chi den Wagen erklärt hat?«

Rode schaut Jan an.

»Ich habe vorhin darauf geachtet, dass DU zuhörst, damit du mir dann die Informationen gefiltert zukommen lässt, sobald ich sie benötige.«

»Guter Plan!«

Die beiden schweigen ungefähr einen Kilometer, bis Rode fragt: »Aber so was wie jüngere Cousinen oder so, da weißt du nichts drüber, oder?«

Ich denke, ihr habt schon gemerkt, dass Jan Juan und Rode viele Gemeinsamkeiten haben, sich aber auch grundlegend unterscheiden. Zum Beispiel, was das Thema Beziehungen, Frauen und Sex angeht.

Rode würde sagen, dass er gerne Single und bestimmt nicht auf der Suche nach einer Partnerschaft fürs Leben ist. In der Tat ist er schon lange nicht mehr wirklich verliebt gewesen und sich inzwischen ziemlich sicher, dass es auch nicht mehr passieren wird. Er würde weiterhin behaupten, er wolle unkomplizierte Beziehungen, in die man nicht viel investieren muss und in denen man nicht mit den Problemen der Partnerinnen konfrontiert ist.

Rode war in den letzten Jahren Profi geworden, was sexuelle Anbahnungen betrifft.

Stellen wir uns mal eine Party vor. Und auf dieser Party stehen zwei Frauen herum, die offensichtlich alleine gekommen sind. Während ein Typ wie Jan Juan jetzt lange überlegen würde, ob und wie man mit einer von ihnen ins Gespräch kommen könne, wäre Rode schon dort, würde sich zwischen die beiden stellen, nach rechts und nach links grinsen und einfach »Hallo!« sagen.

Wie der Schütze eines Freistoßes beim Fußball, der die gegnerische Mauer taxiert, um eine Lücke zu finden, redet er über dieses und jenes, und sobald er etwas gefunden hat, was eine der beiden zu interessieren scheint, bastelt er sich in Sekundenschnelle einen Charakter, in den er dann schlüpft und genau das sagt, was die Dame seiner Meinung nach hören will. Dabei ist seine Klischeeskala nach unten hin derart offen, dass es selbst Mario Barth peinlich wäre. Und Rode ist derart dreist, dass Jan sich meist so doll schämt, dass er geht.

Beispiele?

»Der Unterschied zwischen Männern und Frauen ist doch, dass Männer Frauen besitzen wollen. Aber Liebe kann man nicht erzwingen, die muss man sich jeden Tag neu verdienen. Und das habe ich in meinem Leben gelernt.«

Oder: »Ich verachte Männer, die Frauen nur als Objekte betrachten.«

Oder: »Es ist doch ein Unterschied, ob man beim Sex in jemanden eindringt oder ob in jemanden eingedrungen wird. Männer sind da oft so unsensibel.«

Eine Zeit lang hat Jan geglaubt, die Frauen würden wirklich auf Rodes Geseier abfahren, bis er festgestellt hat, dass es den meisten völlig egal ist, was sein Freund da für einen Scheiß erzählt. Sie sind auf eine Party gegangen, um sich zu amüsieren. Und wenn dann ein gut aussehender Typ wie Rode ankommt, mit dem man offensichtlich unkomplizierten Sex haben kann – warum nicht.

Rode hätte genauso gut sagen können »Ich habe Erdnussflips im Bauchnabel« oder »Ich habe eben drei Orks getötet« oder »Gestern habe ich Frösche geschissen«. Es wäre egal gewesen. Darum geht es nicht, und der Einzige, der wirklich glaubt, es wäre seine Konversation, die zum erwünschten Ergebnis führt, ist Rode.

Jan weiß, dass er dieses Angebot nicht im Repertoire hat. Er ist anders. Er könnte nur verklemmte Gespräche und komplizierten Sex anbieten und kann verstehen, dass das eher nicht so gefragt ist.

Als Tinder und die anderen Dating-Apps den Single-Markt aufgemischt hatten, war Rode ein Riesenfan. Zumindest so lange, bis er gemerkt hatte, dass das Angebot auch dort recht endlich und überschaubar und Jana, 36, Hausfrau, Maja, 35, Lehrerin, und Hanna, 34, Konditorin, ein und dieselbe Person waren. Doch inzwischen war er beruflich involvierter, hatte nicht mehr die Kondition, jeden Abend auszugehen, und deswegen war er auf der Suche nach neuen Möglichkeiten auf eine ganz perfide Methode gestoßen.

Die Excelsior-App, mit der er sein Karmakonto mal so richtig ins Minus gefahren hat.

Man musste bei Excelsior zwar eine einmalige Gebühr zahlen, die absolut nicht unerheblich war, dafür bekam man aber auch etwas für sein Geld. Die App war eigentlich dafür entwickelt worden, auf dem Arbeitsmarkt die Spreu vom Weizen zu trennen, sie hatte Xing in seine Schranken verwiesen und schon viele Headhunter arbeitslos gemacht.

Vorgesehene Kunden waren Geschäftsführer oder zumindest leitende Angestellte, die Jobs zu vergeben hatten, und auf der anderen Seite qualifizierte Menschen, die auf der Suche nach einem Job waren. Beim Entwickler verließ man sich darauf, dass die User ehrliche Angaben machten, statt Kontrolle gab es eben diese recht hohe Aktivierungsgebühr. Und sollte ein User feststellen, dass jemand sich dem Kontrollmechanismus zum Trotz digital in diese Community geschlichen hatte, war er dazu aufgerufen, die entsprechende Person zu melden. Rodes Plan war gewesen, die Excelsior anders zu nutzen als vorgesehen. Er war bei seiner Registrierung so ehrlich wie möglich geblieben. Er war zwar nicht CCO in seiner Firma, aber er würde es sicherlich irgendwann werden. Und er hatte auch nicht direkt Jobs zu vergeben, aber auch das würde ja nicht immer so bleiben.

Was man Rode zugutehalten muss: Er hatte schon ein (minimal) schlechtes Gewissen. Auf der anderen Seite redete er sich ein, dass er ja niemanden zu etwas zwingen würde. Im Gegensatz zu Tinder bekam man bei Excelsior keine Bilder, sondern Informationen. Man schrieb sich, man tauschte Data und wenn er erst mal ein paar Fakten hatte, konnte er sich den Rest bei Facebook, Instagram oder im restlichen Internet suchen. Dann verabredete man sich, traf sich und dann – Heitschibummbeitschi bumm bumm, wie Rode es nannte.

Und dann kam Daphne.

Daphne war die Gamechangerin. Sie hat Rode über die Excelsior-App ein Bild und eine Nachricht geschickt. »Hilf mir, Großer.« Ihr Foto war attraktiv, Rodes Recherche bei Insta und Facebook ergab: Megaschuss!

In ihrer zweiten Nachricht hatte Daphne durchblicken lassen, dass sie wirklich keinerlei berufliches Interesse an Rode hatte, sondern ein rein sexuelles. Sie lud ihn ins Hotel Continental ein und gab klare Anweisungen: den Schlüssel zu Zimmer 214 abholen, mit dem Aufzug hinauffahren, sich ausziehen, aufs Bett legen und auf Daphne warten.

Aber anstelle von Daphne betrat ein paar Minuten später ein »Herr Freese, Privatdetektiv«, das Zimmer und konfrontierte Rode mit dessen Missbrauch der App. Der ertappte, schockierte und aufgebrachte Rode, der jetzt anstelle einer erwarteten Eskapade auf einmal mit seiner manipulativen Missetat konfrontiert war, zögerte keinen Augenblick und schlug zu. Mitten ins Gesicht des Herrn Freese. Was folgende Reaktionen auslöste. Herr Freese schrie wie am Spieß, musste ins Krankenhaus, bekam die Nase gerichtet und schwor Rache. Und Rode hat die App nie wieder missbraucht.

Noch vierundfünfzig Kilometer bis Niebüll, bis zur Fähre. German Autobahn, kein Tempolimit, aber auch sonst nichts. Jeder zweite Begrenzungspfeiler reflektiert nicht richtig, ein Warnschild zeigt etwas undefinierbar Verschwommenes an, und in vier Kilometern konnte man, zumindest als in den Siebzigerjahren das Schild montiert wurde, von einer Telefonzelle aus für zwanzig Pfennig Ortstarif telefonieren.

Das Quaken einer Ente ertönt.

Jan erschrickt, beruhigt sich aber schnell. Rode hat die Ente als Klingelton auf seinem Smartphone eingestellt.

»Wie oft habe ich dich schon gebeten, dir einen neuen Klingelton zu suchen?«

»Zwei- bis dreitausend Mal?«

Das Telefon quakt weiter.

»Und?«

»Und was?«

»Wann machst du das?«

Rode tut, als würde er darüber ernsthaft nachdenken, während die Ente ihre Lautstärke erhöht.

»Ich habe auch eine Frage. Soll ich rangehen, wenn deine Mutter mich anruft, oder willst du das Gespräch direkt selbst annehmen?«

Jan greift nach Rodes Handy.

»Direkt selbst!«

Heike, Jans Mutter, hat seit Jahren ein mobiles Telefon. Doch in Jans Vorstellung telefoniert sie nie von unterwegs. Sie sitzt immer am Schreibtisch der Bibliothek, in der sie halbtags arbeitet. Ein alter Schreibtisch mit vielen Schubladen, sie nennt ihn Sekretär. Die Lichter der Bibliothek sind seit Stunden erloschen, nur seine Mutter sitzt ganz alleine dort, ordnet Karteikarten und digitalisiert Titel und telefoniert.

»Hallo Mama!«

»Jan Juan, bist du das?«

Heike redet normalerweise eher leise, aber sobald sie ein Telefon am Ohr hält, brüllt sie nahezu. Jan muss nicht auf Lautsprecher schalten, damit Rode mithören kann.

»Warum gehst du denn an Rodes Handy?«, fragt Heike.

»Weil es geklingelt hat, Mama!«

»Ach so«, sagt sie, »und warum gehst du nicht an dein eigenes?«

»Weil es nicht geklingelt hat?«

Jan liebt seine Mutter, aber er kann es nicht lassen, sie zu ärgern.

»Ich habe heute ein paar Mal versucht, dich anzurufen.«

»Na, jetzt sprechen wir ja, und morgen sehen wir uns, was kann es da schon so Wichtiges geben?«

»Darum geht es«, sagt seine Mutter, »ich wollte dir nur sagen, dass Juli auch Menschen zur Hochzeit eingeladen hat, die dir nicht gefallen könnten.«

Jan lacht hässlich.

»Ich komme mit Onkel Jochen schon klar.«

»Ich meine nicht Jochen, ich meine Sanchez.«

Absolute Ruhe.

»Hörst du, Jan Juan, dein Vater kommt auch.«

Jan hat es gehört, sein Gehirn weigert sich aber, die Information zu verarbeiten. Er hat den Eindruck – und so etwas kann passieren, wenn man geschockt ist –, dass es im Wohnmobil plötzlich nicht mehr nach neuem Ikeasofa riecht, sondern als ob jemand einen Böller in einem Haufen Erbrochenen explodieren lassen hat.

Was ist?, raunt Rode ihm lautlos zu.

Nichts, antwortet Jan lautlos kopfschüttelnd zurück.

Im Auto herrscht Totenstille für ein, zwei, drei Atemzüge. Dann bellt im hinteren Teil des Wohnmobils ein Hund.

»Randall Fleck«, sagt Rode zu Jan.

»Wer ist weg?«, fragt Heike Jan.

»Wir haben ihn vergessen«, sagt Rode zu Jan.

»Ich habe schon gegessen«, sagt Heike zu Jan.

»Ich rufe zurück, Mama«, sagt Jan.

»Morgen bin ich im Zug und …«

Jan beendet das Gespräch.

Er schaut auf ein blaues Schild.

Es sind noch neun Kilometer bis Niebüll und sechshundertfünfzehn Kilometer zurück nach Köln.

Vielleicht wäre alles anders gelaufen, wenn sie einfach zurückgefahren wären, aber das sagt sich leichter, als es ist, und man wird es nie erfahren. 

4