Die Hochzeitskapelle - Rachel Hauck - E-Book

Die Hochzeitskapelle E-Book

Rachel Hauck

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Beschreibung

60 Jahre lang stand die Hochzeitskapelle leer und verlassen da. Jimmy „Coach“ Westbrook, einst erfolgreicher Footballtrainer, errichtete sie in jungen Jahren für seine große Liebe. Von Hand, Stein für Stein. Seine Colette verlor er schon vor langer Zeit. Die Kapelle aber blieb – als zauberhaftes Denkmal für die wahre Liebe und Beweis dafür, dass auch der tiefste Schmerz geheilt werden kann. Die Liebe trifft die Fotografin Taylor, Großnichte der berühmten Seifenoperndiva Colette Greer, unvorbereitet, als sie in New York Jack Forester begegnet. Jack hat wie sie das Städtchen Heart’s Bend verlassen, um dem Schatten seiner verkorksten Kindheit zu entfliehen. Ihre stürmische Begegnung führt zu einer spontanen Heirat – doch dunkle Schatten bedrohen die junge Liebe ... Als Taylor einen Fotoauftrag in Heart’s Bend annimmt, kreuzen sich ihre Wege mit denen von Coach Jimmy. Unverhofft entdecken die beiden ein großes Geheimnis. Wird die Wahrheit der Liebe einen Weg bahnen? Eine bewegende Familiensaga über den Wert der wahren Liebe. Der neue Roman von Erfolgsautorin Rachel Hauck!

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Rachel

Hauck

DieHochzeits- kapelle

Roman

Aus dem Amerikanischen von Anja Lerz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-964-1

© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Originaltitel: The Wedding Chapel

Erschienen im Mai 2014 bei Zondervan, Grand Rapids, Michigan 49530, USA

Copyright © 2014 by Rachel Hauck

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Anja Lerz

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia Daniel Jędzura

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Kapitel Achtundzwanzig

Kapitel Neunundzwanzig

Epilog

Kapitel Eins

JIMMY

Heart’s Bend, Tennessee

Juli 1948

Jimmys Reise begann mit einer Fotografie. Einer Fotografie, auf der eines von zwei Mädchen zu sehen war, das neben einer schlanken Braut stand und ein kleines Blumensträußchen in der Hand hielt. Der Schatten der Kirche lag auf ihrem Gesicht.

„Meine Kusinen.“ Clem seufzte tief und setzte sich auf das brandneue Sofa der Familie. „Aus Großbritannien.“

„Alle drei?“ Jimmy blieb wie angewurzelt in dem warmen Fleck aus Sonnenlicht stehen, der durch das Fenster fiel, als Clem ihm das Bild reichte.

„Neeein, um Himmels willen. Nur die beiden Blumenmädchen oder Brautjungfern oder wie man das nun nennt. Die kommen hierher, um bei uns zu leben.“ Clem pfiff leise und sackte in den Sofapolstern in sich zusammen. Sein dunkles Haar trug er in einem raspelkurzen Militärschnitt. „Wenn die alle drei hier wohnen sollten, müsste ich ausziehen. Und du weißt, dass Mama nicht mitspielen würde, wenn sie sich von ihrem kleinen Jungen trennen müsste.“

Jimmys Augen wurden feucht. Mist. Er war zu alt für Tränen. Er räusperte sich und sagte dann: „Sie würde dich aufspüren und holen kommen.“

„Was du nicht sagst.“ Clem machte ein ironisches Gesicht, aber Jimmy wusste, dass sich ihre Witzeleien haarscharf an der Wahrheit entlangtasteten. Clem war inzwischen Mamas einziger Sohn. Der große Bruder Ted war nur eine Woche nach seinem zwanzigsten Geburtstag auf Iwojima gestorben. Seitdem war die Familie nicht mehr dieselbe.

Obwohl seit der Ankunft des Telegramms über drei Jahre vergangen waren, spürte Jimmys Seele noch die Echos von Mrs.Clemsons Wehklagen, als ihr Mann ihr die Nachricht vorlas. Jeder in Heart’s Bend hatte Ted geliebt. Das war keine Übertreibung. Während seiner Trauerfeier kam die ganze Stadt zum Erliegen.

Jimmy fuhr herum und warf einen Blick auf die Treppe. Ganz kurz bildete er sich ein, die donnernden Schritte Teds gehört zu haben.

„Kommt schon, ihr Faulpelze, lasst uns ein Spiel spielen. Jim, bleibst du zum Essen? Mum, deck mal gleich für ihn mit …“

„… aber was soll man denn schon machen?“ Clems Frage holte Jimmy aus den Schatten zurück. „Sie haben ja alles verloren im Krieg. Ihre Leute, ihr Zuhause …“

Richtig. Die Kusinen. Jimmy betrachtete das Foto noch einmal. „Sie sind Waisen?“ Sein Herz zog sich verständnisvoll zusammen.

„Jaaaawollja, und sie kommen hierher, um hier zu leben.“ Clem beugte sich zum Radioapparat und drehte die Lautstärke höher. Doris Days samtweiche Stimme ließ das Sonnenlicht heller strahlen.

„Gonna make a sentimental journey to renew old memories“ … eine kleine Reise in die Vergangenheit, um alte Erinnerungen wieder aufzufrischen. Na, das passte ja.

„Warum zeigst du mir das eigentlich?“ Jimmy hielt das Bild hoch. Wollte Clem, dass er irgendetwas aus den schwarzweißen Schatten herauslas? „Könnte doch ganz nett sein, ein paar mehr Leute hier zu haben. Dann ist es im Haus nicht mehr so …“

Einsam. Das wollte er eigentlich sagen, aber es klang doch allzu traurig in seinen Ohren. Wenn Jimmy sich mit irgendetwas auskannte, dann war es Einsamkeit: die leeren Schatten eines dunklen Hauses, das Frösteln, wenn man in eine kalte Küche kam, der ohrenbetäubende Lärm der Stille.

„Einsam?“ Clem machte ein abwehrendes Geräusch und winkte ab. „Wovon redest du? Ich habe hier gerade alles so, wie ich es möchte. Das ganze Obergeschoss habe ich für mich.“ Er zeigte zur Treppe und mimte mehr Protest, als Jimmy ihm abkaufte. „Jetzt werde ich Mädchen dahaben, die ihre Strümpfe und sonst was im Bad aufhängen – in meinem Badezimmer – und ihren Puder und ihr Rougezeugs auf dem ganzen Waschbecken verteilen.“

„Mädchen verteilen Puder auf dem Waschbecken?“

Clem setzte sich aufrecht hin und wies mit dem Daumen über die Schulter grob in Richtung des Nachbarhauses. „Bradley hat mir alles darüber erzählt, wie es so ist, mit Schwestern.“ Clem schüttelte den Kopf. „Gerade, als wir dachten, der Krieg sei vorbei und alles würde langsam normal werden, müssen auch noch Mädchen bei mir einziehen.“

„Riesending, echt. Na und? Dann backen die vielleicht mal was. Ich wette, die machen den Abwasch und putzen und so.“ Jedenfalls hatte er gehört, dass Frauenzimmer so etwas in der Regel taten. Aber im Männerhaushalt der Westbrooks übernahm Jimmy die meisten der „Frauenarbeiten“.

„Ich würde von Herzen gern den Abwasch übernehmen, wenn ich dann weiter das Obergeschoss für mich haben dürfte.“ Clem schaute weg. Es glänzte verdächtig in seinen Augen.

„Ich würde auch nicht wollen, dass jemand Teds Platz einnimmt, wenn ich du wäre“, sagte Jimmy leise, sah sich ein letztes Mal die Kusinen an und gab das Foto zurück.

Clem nahm das Bild, fuhr sich mit dem Handballen über die Augen und warf den Abzug mit einem letzten Blick auf den Couchtisch.

„Ich kann einfach nicht damit aufhören, ihn zu vermissen.“

„Ja. Das geht mir auch so.“

Aber Jimmys Bauchgefühl sagte ihm, dass Albert „Clem“ Clemson, sein bester Freund seit der zweiten Klasse, falschlag, was diese beiden Mädchen anging. Sie waren etwas Besonderes. Er wusste nicht, wie oder warum, nur, dass sie mehr waren als Puder verstreuende Unannehmlichkeiten.

Außerdem waren sie hübsch. Vor allem die ganz rechts mit ihrem süßen herzförmigen Gesicht und der Lockenmähne.

Jimmy erkannte ihren Blick wieder, wie sie die Augen so zusammenkniff, um im Gegenlicht zur Kamera hinzuschauen. Es war der traurige Blick derer, die ein Elternteil verloren hatten. Und er wusste nur allzu gut, wie sich das anfühlte.

„Wenn die die Hausarbeit übernehmen, weißt du, was das dann heißt? Dad wird mich mehr Stunden im Laden schieben lassen.“ Clem hatte nicht vor, sich trösten zu lassen. Störrisch schob er das Kinn vor. „Habe ich dir erzählt, dass er kurz davor ist, in Ashland City eine dritte Filiale zu eröffnen?“

„Wie heißt sie?“ Die Worte sprudelten ohne Jimmys Einverständnis heraus, schlüpften ihm über die Lippen. Aber da waren sie, hingen in der Luft. Er ließ sich in Mr.Clemsons schwer benutzten Sessel fallen. Das Bild des Mädchens mit den Locken und dem sanften Blick brachte ihn dazu, dass er sich ganz heiß und flatterig fühlte.

„Die Filiale?“ Clem verzog den Mund.

„Nein …“ Jimmy schnitt eine Grimasse. „Die – die Kusine. Kusinen.“ Es war schwierig, sich beiläufig zu geben, wo doch sein Herz seine Stimme ganz zitterig werden ließ.

„Welche?“ Clem griff nach dem Foto auf dem Couchtisch und betrachtete Jimmy einen Moment lang.

Jimmy senkte den Kopf, hatte Angst, sich verraten zu haben. Er spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg. Wenn Clem den Jungs etwas erzählte …

„Ähm.“ Er räusperte sich und stand auf. „Na, beide, meine ich. Mann, ist das heiß hier drin.“ Jimmy sah zum Fenster, das vom Sommerlicht hell erleuchtet war.

„Spielt eh keine Rolle, weil ich die Namen gar nicht weiß.“ Clem sprang auf und griff nach dem Football, der zwischen Couch und Beistelltisch eingeklemmt war. „Lass uns mal ein Spiel zusammenkriegen. Wir brauchen Übung.“

„Du weißt nicht, wie deine Kusinen heißen?“

Jimmy hatte eine Kusine, April Raney. Die war zwar jetzt weg, auf dem College, aber wenn er sich so etwas wie ein Geschwisterkind vorstellte, kam sie der Sache am nächsten. Er mochte sie sehr und sparte jedes Jahr einen Teil seines Verdienstes, um ihr zum Geburtstag und zu Weihnachten ein Geschenk kaufen zu können.

„Warum sollte ich auch? Ich habe sie nie kennengelernt. Ihre Mutter ist … war … die Schwester meiner Mutter, aber die beiden haben sich in den letzten zwanzig Jahren nur ein einziges Mal gesehen. Als Mama nach Großbritannien gegangen ist.“ Clem warf den Football von einer Hand in die andere und tat dann so, als wollte er ihn Jimmy zuspielen. „Mama sagt, sie werden in unsere Klasse gehen.“

„Sind sie Zwillinge?“ Jimmy beugte sich vor, um das Bild mit zusammengekniffenen Augen zu studieren, wobei ihm mehr daran gelegen war, sich das Gesicht des lockigen Mädchens einzuprägen. Er nahm den Abzug und drehte ihn um. Vielleicht stand ihr Name ja auf der Rückseite. Aber der einzige Druck darauf war das Datum. „Mai 1948“.

„Nein, keine Zwillinge. So viel weiß ich. Nur in derselben Klasse. Das hat wohl mit dem Krieg und der Landverschickung zu tun. Danach sind sie verwaist.“ Clem warf den Ball zur Decke und sprang hoch, um ihn wieder zu fangen, während er langsam zur Tür ging. „Lass uns rausgehen, Westbrook. Ich hole Bradley. Spice können wir unterwegs mitnehmen.“

„Ich komme schon.“ Jimmy legte das Foto auf den Tisch, als eine Brise durch die Tür wehte und das Bild über die glatte Oberfläche pustete, bis es bei Mrs.Clemsons Zeitungsstapel liegen blieb.

Ich kann es kaum erwarten, dich kennenzulernen.

Draußen sprang Clem von der Veranda. Den Ball hatte er unter den einen Arm geklemmt, mit der anderen Hand klatschte er auf das Treppengeländer. „Braaaaadleeeey Green, wir starten ein Spiel. Wir müssen üben, wenn wir in die erste Mannschaft wollen. Lass uns anfangen. Heute Nachmittag muss ich arbeiten, also heißt es jetzt oder nie.“

Jimmy folgte ihm. Er sprang auf den Rasen hinunter und versuchte, die seltsamen Gefühle in seiner Brust loszuwerden. Nun komm schon klar. Es ist doch nur ein Foto. Aber verflixt nochmal, Clems dämliche Kusine brachte ihn dazu, dass er sie in den Arm nehmen, sie beschützen wollte. Er hatte sich immer versprochen, dass er sich nicht wegen eines Mädchens blamieren würde. Von Dad hatte er nur zu gut gelernt, dass Frauen die Mühe nicht wert waren.

Sein alter Pop drückte sich ziemlich deutlich darüber aus, dass es einem Mann eine Menge Sorgen bescheren konnte, eine Frau zu lieben. Und sein Vater war ein Pfundskerl, der die Wahrheit sagte.

Außerdem, was wusste Jimmy schon von Mädchen? Nichts. Von Nana und April abgesehen, hatte er mit Frauen absolut keine Erfahrung.

Bradley kam aus seinem Haus herausgerannt und band sich noch schnell die Turnschuhe. „Ich habe Spice angerufen“, sagte er.

Tatsächlich kam auf der anderen Straßenseite drei Häuser weiter Spice Keating herausgeeilt. Sein Alter war ein Säufer, ein ziemlich grober sogar. Aber Spice selbst bestand nur aus Charme und Lächeln.

Jimmy wusste nicht, wie er das machte.

„Coach sagte, wir dürfen bei der Schule trainieren, wenn wir versprechen, den Boden nicht zu ruinieren“, sagte Clem, der rückwärtsging und Jimmy den Ball zuwarf.

Aber Jimmy verfehlte den Ball. Er verfehlte ihn. Der Ball glitt ihm durch die Hände und fiel zu Boden.

„So willst du also im Herbst spielen, Westbrook?“

„Halt die Klappe, Clem.“ Jimmy hob irritiert den Ball auf, rannte mitten auf der Fahrbahn die Straße hinunter und spielte ihn seinem Quarterback zurück. „Sieh zu, dass du ihn vernünftig zu mir wirfst, dann kriege ich den auch.“

Da konnte man sehen, was Mädchen anrichteten. Er war jetzt schon abgelenkt, und dabei hatte er sie noch nicht einmal getroffen. Das war das Ärgerliche mit Mädchen. Die konnten einen Mann in allerlei Hinsicht ruinieren, ihn demütigen.

„Hey, Kumpels“, sagte Jimmy mit einem spöttischen Unterton. „Bei Clem ziehen Mädchen ein.“

„Mädchen? Welche Sorte Mädchen?“

„Westbrook, du alter Schwätzer.“ Clem schoss Jimmy den Ball zu.

„Ach, was hast du denn? Früher oder später finden sie es sowieso heraus.“ Jimmy fing den Ball und rempelte Spice an. „Was meinst du mit ,welche Sorte‘? Gibt’s mehr als eine?“

„Ja, na klar. Hübsche und hässliche.“ Spice lachte, rangelte mit Jimmy, griff nach dem Ball. Er grinste frech, und sein dunkles Haar hing ihm in die Augen. „Also welche jetzt? Hübsch oder hässlich?“

„Ja, Jimmy“, stimmte Clem ein. „Welche denn jetzt?“

„Es sind doch deine Kusinen.“ Jimmy warf den Ball zu Bradley, der ihn fallen ließ.

„Na und?“ Clem sammelte den Ball auf, wirbelte herum und verfehlte knapp Mrs.Grove, die in ihrem großen neuen Cadillac um die Ecke bog. „Juckt mich nicht.“

„Schönes Auto, Mrs.Grove.“ Ob jung, ob alt, Spice versuchte immer, alle zu bezaubern. „Egal, wir könnten hier jedenfalls ganz gut ein paar neue Mädchen gebrauchen. Hübsche.“ Er sah zu Mrs.Groves Auffahrt. „Und junge auch.“

„Na ja, wenn du mal damit aufhören würdest, andauernd mit allen anzubandeln und sie dann sitzenzulassen, hättest du mehr Auswahl.“ Jimmy rannte ein längeres Stück, um Clems Pass zu erwischen, fing den Ball während des Rennens und spürte seinen permanenten Groll gegen Spice in sich. Sie waren zwar Freunde, aber letztes Jahr hatte Spice ganz genau gewusst, dass Jimmy ein Auge auf Rebekah Gunter geworfen hatte. Er drängte sich trotzdem dazwischen, obwohl er nicht vorhatte, je wirklich mit ihr zu gehen. Für ihn war die Liebe nur ein Spiel.

„Ach, jetzt sei nicht so sauer. Du weißt selbst, dass du nie die Eier gehabt hättest, um dich mit Bekah zu verabreden.“

„Nimm das zurück, Keating.“ Jimmy rempelte ihn an, hart.

„Da sieht man’s wieder, Mädchen machen nur Ärger.“ Clem ging dazwischen und schwenkte den Ball. „Konzentriert euch. Wir müssen eine Saison gewinnen. Wisst ihr noch: der Tailback aus Memphis, der letztes Jahr unsere D-Line durchbrochen hat? Ich habe gehört, der hat im Frühling dreihundert Pfund gestemmt.“

Bradley stöhnte. Er war Abwehrspieler, ein Defensive Lineman.

„Ja, wir haben noch einiges vor uns.“ Clem sprintete vorwärts, fuhr herum und schickte den Ball dann in einem hohen Bogen zu Jimmy. Mann, der konnte werfen. Jimmy fing und überrannte Bradleys weiche Blockade.

Wenn alles lief wie geplant, würde Clem als Quarterback anfangen und Jimmy als Halfback. Sie waren Nachwuchsspieler, aber immerhin die besten für die Aufgabe. Das hofften sie jedenfalls.

Die Sonne stand hoch am klaren blauen Himmel, als Jimmy mit dem Ball unterm Arm die Straße verließ und eine Abkürzung durch Mrs.Whitakers Hinterhof nahm, wo Spice die Katze der alten Dame einen Baum hinaufjagte.

Jimmy rannte vorweg, den Footballplatz schon im Blick. Clem war knapp hinter ihm, Spice und Bradley liefen am Ende.

Als er die Zielmarke überschritt, warf er den Ball mit Wucht auf den Boden.

Ja, genau das war es, was er brauchte, um den Kopf freizubekommen. Auf dem Platz sein. Sich auf die Saison freuen. Sich auf seine Ziele konzentrieren.

Dad freute sich schon auf den Saisonbeginn seines Jungen, und Jimmy wollte ihn nicht enttäuschen. Er gab vor seinen Arbeitskollegen gerne mit seinem talentierten Sohn an.

Jimmy würde seinen Vater stolz machen. Er würde nicht zulassen, dass ihn ein Mädchen davon abhielt.

Doch als er sich für ihren ersten Spielzug hinter Clem stellte, hörte er in seinen Ohren sein Herz schlagen. Und das kam nicht daher, dass er mit seinen Freunden ein Wettrennen gemacht hatte, sondern lag einzig und allein an dem Bild des Mädchens auf der Fotografie, das ihm immer noch vor Augen stand.

Kapitel Zwei

TAYLOR

Brooklyn Heights, New York

16. September 2015

Freudig blickte Taylor auf, als sie seinen Schlüssel in der Tür hörte. Jack war zu Hause.

Ihre bildschirmmüden Augen stellten sich auf die dunklen Schatten ein, die ihre Wohnung im dritten Stock füllten. Das gedämpfte Licht der Straßenlaternen Brooklyns fiel durch die Fenster.

„Schau, Hops, das ist eine Spitzenkampagne. Lass uns einfach die Präsentation machen und hören, was sie sagen.“ Jack bewegte sich mit dem Telefon am Ohr durch die Wohnung.

„Hallo“, sagte Taylor beim Aufstehen und strich sich das Haar glatt. Sie war ganz steif vom vielen Sitzen. Jetzt, wo ihr Mann zu Hause war, sehnte sie sich nach seiner Aufmerksamkeit.

Ihr Mann. Ehemann. Jetzt schon seit einem halben Jahr, und immer noch klang das Wort so fremd.

Aber Jack ging zum Schlafzimmer, ohne innezuhalten oder auch nur in ihre Richtung zu nicken. Seine Laptoptasche hing ihm über die Schulter, und mit seiner breitschultrigen, muskulösen Gegenwart und dem ausgeprägten Selbstbewusstsein strahlte er ein eigenes Licht aus, mit dem er die trübe Wohnung durchflutete.

Taylor sank zurück auf ihren Stuhl. Der Schmerz in ihren Muskeln kroch in ihr Herz. Wenn er sie gar nicht hierhaben wollte, warum hatte er ihr dann überhaupt einen Antrag gemacht?

Noch viel verwirrender war allerdings die Frage, warum um alles in der Welt sie Ja gesagt hatte?

Sie saß da, mit den Fingern auf der Tastatur im Anschlag. Das Licht ihrer Schreibtischlampe glitzerte auf ihrem Ehering, dem in Platin gefassten Symbol der Verpflichtung, die sie im Wohnwagenpark eingegangen waren.

Am Anfang war es ihr lieber gewesen, die Sache frei und unverbindlich zu halten. Der Wirbelsturm ihrer Romanze hatte sie in den siebten Himmel versetzt, einen Ort, von dem sie nie wieder wegwollte.

Aber nachdem sie erst miteinander nach Martha’s Vineyard gefahren, spontan geheiratet hatten und dann wieder nach Hause gekommen waren, sank sie langsam wieder zur Erde hinab, ließ Sterne und Mond hinter sich. Die Jahreszeiten wechselten – aus Frühling wurde Sommer, der Sommer wich inzwischen langsam dem Herbst –, und Taylor spürte, wie ihre Liebe verblasste und welkte.

In letzter Zeit stritten sie häufig, oft wegen des Geldes. Sie behauptete, er gebe zu viel aus. Er bezeichnete sie als kleinlich. Aber er hatte mehr Schuhe als sie, und seine Kleider beanspruchten zwei Drittel des Kleiderschranks und eine ganze Kommode.

Mit einem Seufzer wandte sich Taylor wieder dem Foto zu, das sie auf dem Bildschirm bearbeitete. Ausgerechnet ein Hochzeitskleid, das sie für eine junge Designerin fotografiert hatte. Die Abzüge waren morgen fällig.

Das Retuschieren ging ihr in die Knochen. Sämtliche Kleider hatten Schmutz am Saum, weil sie draußen fotografiert hatten. Die letzten zehn Stunden hatte sie damit zugebracht, auf jedem Foto Licht und Schatten zu optimieren, die Szenerie, die Models, die Kleider – und zu guter Letzt damit, braune Flecken weiß zu machen.

Nach ein paar Sekunden verlor Taylor die Konzentration. Sie lehnte sich zurück und sah nach der Zeit. Zehn Uhr.

„Hast du Hunger, Jack?“, rief sie zum Schlafzimmer, wartete, lauschte.

Sie hatte ihren knurrenden Magen ignoriert und die Essenspausen übersprungen, war fest entschlossen, diesen Job zu erledigen.

Wenn sie ihren Ruf als Werbefotografin festigen wollte, musste sie ausgezeichnete Arbeit abliefern, und zwar pünktlich.

„Jack?“

Die Tür des begehbaren Kleiderschranks fiel ins Schloss, sonst kam keine Antwort. Na gut, dann wieder an die Arbeit. Noch drei Kleider und fertig.

Taylor atmete tief ein, kauerte sich auf ihrem Stuhl zusammen und zwang sich, weiterzumachen.

Gleich nach ihrer Spontanheirat mit Jack hatte sie ihren ersten Werbekunden an Land gezogen: Melinda House Weddings war eine europäische Designerin und berühmt dafür, die Großherzogin von Hessenberg, Prinzessin Regina, auszustatten.

Jack Forester und Melinda House in ein und demselben Monat für sich gewinnen zu können? Ein Glückstreffer. Traumhaft.

„Was machst du?“ Jack betrat das Zimmer und warf sich aufs Sofa, wo er nach der Fernbedienung griff. Er sah aus, als wollte er zum Sport, trug Basketballshorts und ein übergroßes T-Shirt von der Ohio State National Championship.

„Arbeiten …“ Kein Kuss. Kein zärtliches Hallo. Kein schmachtender Blick wie in den guten alten Zeiten – die Zeit von vor einem halben Jahr fühlte sich an wie „gute alte Zeiten“. „Hast du Hunger?“

„Nein, ich habe bei der Arbeit gegessen. Ist das der Auftrag für Melinda House?“

„Ja, die Säume sind dreckig. Ich habe ihr gleich gesagt, dass das passieren würde, aber sie hat darauf bestanden, draußen zu arbeiten.“ Was dazu geführt hatte, dass Taylor und ihre Assistentin Addison eine anstrengende, aber auch irgendwie berauschende Fahrt durch die ganze Stadt gemacht hatten.

„Übrigens hat mich Keri heute angeschrieben. Sie fragt sich, ob du bald mit ihrer Hochzeit fertig bist.“

„Warum schreibt sie denn dir? Sie hat meine Nummer …“ Taylor beugte sich über das Bild auf dem Monitor. Warum bestand Keri darauf, Jack unnötigerweise als Mittelsmann zu benutzen?

„Reg dich nicht auf, ich frage ja nur.“

„Ich habe ihr doch gesagt, Ende des Monats.“ Ende des Monats sind die Fotos so weit … hundert Mal hatte sie es gesagt.

„Schön, dann schreib ihr doch eine SMS oder eine E-Mail. Sie kann es kaum erwarten, ihre Fotos zu bekommen. Das kann man ihr nicht verübeln.“

„Nein, das nicht. Jede Frau hat das Recht, in Erinnerungen an ihre Hochzeit zu schwelgen.“

Die einzigen Fotos, die sie von ihrer eigenen Hochzeit besaß, hatte der Standesbeamte mit ihrem iPhone gemacht. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, ihre Canon zu der Zeremonie mitzunehmen.

So verliebt war sie in Jack gewesen. Verrückt. Vergesslich. Spontan.

Keris Hochzeit hatte sie eigentlich gar nicht fotografieren wollen, weil der Auftrag nicht zu dem Portfolio beitragen würde, das Taylor aufbauen wollte. Aber Keri war eine Freundin von Jack, seine ehemalige Kundin und möglicherweise auch Ex-Freundin, obwohl Taylor sich nicht so sicher war, was den letzten Punkt anging. Egal, sie würde jedenfalls fast alles für Jack tun.

Sie hatte ihn sogar geheiratet, obwohl sie nichts vom Heiraten hielt.

Er war ihr Schwachpunkt. Er war ihr Schlussverkauf im Schuhgeschäft, ihre Schokoladentafel, ihr großes Eis (mit Sahne) an einem heißen Sommertag, ihr fleischgewordener Highschoolschwarm.

Sie hatte gar nicht gewusst, dass er in Manhattan war, bis sie an jenem kalten Januartag im wahrsten Sinn des Wortes in ihn hineingerannt war, als sie um die Ecke Madison/67. bog. Sie hatte gerade einen Auftrag abgeschlossen und fand, ein Besuch in Tory Burchs exklusiver Boutique wäre eine nette Belohnung.

Nicht, dass sie das Geld gehabt hätte, um bei Tory Burch einzukaufen, aber Bummeln und Träumen schadeten nie. Auf dem Nachhauseweg würde sie sich einen Caffé Latte gönnen, als echte Belohnung.

Stattdessen entdeckte sie Jack. So viel besser, als Kleider anzuschmachten, die sie sich sowieso nicht leisten konnte. Ja, das war’s. Einen Mann anzuschmachten, den sie sich genauso wenig leisten konnte, aber aus irgendeinem Grund war ihre Gefühlsbank bereit, eine Investition in Jack Forester zu riskieren.

Zuerst war da einfach nur ein großes Hallo gewesen. Zwei Freunde aus Heart’s Bend, Tennessee, im großen Big Apple.

Dann Abendessen, gefolgt von einem Mittagessen, dann wieder Abendessen. Acht Wochen später hatte er ihr am Strand von Martha’s Vineyard die zwei betörenden Worte ins Ort geflüstert: „Heirate mich.“ Kein Zögern. „Ja.“

Mit müden, brennenden Augen schloss Taylor den Laptop. Sie würde am Morgen fertigwerden und die Fotos immer noch pünktlich an Melinda schicken. „Ge-gehst du aus?“

Jack warf ihr einen Blick zu und schaute dann wieder zum Fernseher, wo er beim Sportkanal gelandet war. „Ja. Aaron hat angerufen, er wollte Basketball spielen.“

„Jetzt?“

„Es war ein langer Tag. Ich muss ein bisschen Energie abbauen. Hops ist ganz aufgeregt wegen der FRESH-Water-Geschichte.“

Jack war Aufsteiger in der Werbewelt New Yorks. Ad Age nannte ihn den „Betörer“. Seine Arbeit an einem Super Bowl-Werbespot hatte seiner Agentur den ersten CLIO Award eingebracht.

„Was ist denn da los mit FRESH Water?“

Sie hatte gewollt, dass Jack sie für eine FRESH-Kampagne empfahl. Aber sein Chef, Hops Williams, missbilligte Vetternwirtschaft. Da spielte es keine Rolle, wie gut Taylor war oder wie billig – zählte kostenlos überhaupt? Er ließ den Gedanken daran, dass die Frau seines besten Mannes für einen der Kunden arbeitete, nicht zu.

„Nichts, wir versuchen nur, alle Aspekte zu berücksichtigen.“

Nichts? Es fühlte sich nicht an wie nichts. „Hops regt sich auf wegen nichts?“

„Taylor –“ Jack stand auf und ging in die Küche. „Es ist nur die Arbeit.“ Er öffnete die Kühlschranktür.

Sie spürte all das sehr deutlich, empfand es als Zeichen dafür, dass ihre Beziehung im Sterben lag. Am Anfang hatten sie zusammen mit verschlungenen Armen und Beinen im Bett gelegen, während sie über ihre Arbeit sprachen, über ihre Träume, über die witzigen Stellen bei Jimmy Fallon. Dann waren sie Arm in Arm eingeschlafen. Aber jetzt gingen sie zu unterschiedlichen Zeiten zu Bett. Jack mauerte, was seine Arbeit anging, und wenn Taylor sich nicht verrechnet hatte, war es schon eine ganze Weile her, dass sie … nun ja … sich ineinander verschlungen hatten.

„Wie geht es Aarons Neugeborenem?“

Jack drehte den Deckel von einer Flasche Wasser, während er ins Wohnzimmer zurückkam, und lachte leise. „Was glaubst du, warum er mitten in der Nacht Basketball spielen will? Der muss Stress abbauen. Ich nehme an, das Ding hat Koliken oder zahnt oder was weiß ich.“

Das Ding? Eine der Grundsatzdiskussionen, die sie im Wirbel ihrer Gefühle ausgelassen hatten, war die Frage, wie viele Kinder sie haben wollten oder ob sie überhaupt welche wollten. Von seiner Standardantwort „Jetzt nicht“ einmal abgesehen, wusste Taylor nicht, was Jack von Familie hielt.

Und davon abgesehen, dass er seine eigene Familie verabscheute.

Taylor musterte ihn. Sie spürte ihr Herz in der Brust rasen. Sosehr sie es auch versuchte, sie schaffte es einfach nicht, ihre Ehe mit einem realistischen Blick zu betrachten. Jack zog sie immer noch in seinen Bann. Der bekümmerte, nachdenkliche, umwerfend gutaussehende Junge von der Highschool, der mit den verletzten, vernachlässigten Jugendlichen unterwegs war und trotzdem in allen Punkten herausragende Leistungen zeigte. Aus irgendeinem unbekannten, verstörenden Grund hatte sie den Wunsch, nein, das tiefe Bedürfnis, seine Aufmerksamkeit zu erhaschen und zu halten. Sie wollte ihn dazu bringen, sie anzulächeln, wegen ihr zu lächeln, für sie zu lächeln. Sie wünschte sich, in seinen Augen zu sehen, dass sie ihm etwas bedeutete, sein Leben vollständig machte.

„Warum musst du?“, fragte sie ohne Vorwarnung.

Jack schaute kurz zu ihr. „Was muss ich?“

„So … perfekt sein.“

„Perfekt?“ Er zog eine Grimasse und nahm einen Schluck Wasser. „Abgesehen davon, dass ich zu viel Geld ausgebe, meinst du?“

„Jack …“

„Ich bin entschlossen, zielstrebig, genau, vielleicht ein Perfektionist, aber wohl kaum perfekt.“ Noch ein Schluck Wasser. „Perfektion habe ich erst im Kalender stehen, wenn ich fünfundvierzig bin oder so.“ Er grinste und zwinkerte, und eine Hitzewelle überflutete Taylor. „Also entspann dich.“

Hinter seiner Stärke und seinem Selbstbewusstsein erhaschte Taylor einen Blick auf den Jungen aus Heart’s Bend, der mit Dämonen kämpfte, die nur er allein sehen konnte. Er hatte all seine Gaben und einzigartigen Talente darauf verwendet, sich selbst zu heilen; Taylor musste erst noch entscheiden, ob ihm seine Versuche tatsächlich dabei halfen, wieder heil zu werden, oder ob sie ihn nicht sogar noch mehr verwundeten.

War sein spontaner Heiratsantrag nur ein weiteres Heftpflaster für seine Wunden gewesen? Ein weiterer Versuch, seinen Schmerz zu vergessen? Waren sie zu ungestüm gewesen? Zu wollüstig? Von Sinnen?

Ganz zu schweigen davon, dass Jack jede Frau haben konnte, die er wollte. Betonung auf jede. Models. Schauspielerinnen. Schönheitsköniginnen. Sie hatte sich mal seine Freundesliste bei Facebook angeschaut.

Warum hatte er sich also gerade sie ausgesucht? Eine zu spät geborene Hippie-Fotografin. Aus der kleinen Stadt, die ihre gemeinsame Heimat war?

Drüben am Kühlschrank überprüfte Jack eine Schachtel übriggebliebenes chinesisches Essen.

„Haben wir noch etwas anderes als drei Tage alten gebratenen Reis?“ Er warf die kleine weiße Schachtel wie ein Basketballspieler in hohem Bogen in den Müll.

„Ich dachte, du hättest keinen Hunger.“ Taylor hielt ihre Stimme leise und nüchtern, versuchte, nicht defensiv zu klingen.

„Ich habe es mir anders überlegt. Wow, da haben wir nun also einen fünfzehnhundert Dollar teuren Kühlschrank mit nichts drin außer Essensresten.“

„Wir haben Milch“, sagte sie, ging zum Sofa und setzte sich neben die Stelle, wo er gesessen hatte. „Und Müsli.“

„Müsli?“ Sein schwerer Seufzer irritierte sie.

„Was?“

„Es ist nur einfach … Du bist doch tagsüber hier. Zu Hause. Ich dachte, du würdest dich um das Essen kümmern, um die Küche … ums Abendessen.“

„Mich ums Abendessen kümmern?“

„Du weißt, was ich meine.“

„Nein, das weiß ich nicht.“

„Es ist nur einfach … Du bist doch zu Hause.“

„Ich bin nicht nur einfach zu Hause. Ich arbeite.“ Sie wies auf ihren kleinen Bürobereich, den sie in einer Nische ihrer Wohnung eingerichtet hatte. Der Bereich war klein, aber sie hatte einen wahnsinnig tollen Ausblick auf den East River und das untere Ende Manhattans.

„Schön, aber können wir wenigstens hin und wieder hier aussortieren?“ Er warf mit großer Geste eine weitere Schachtel chinesisches Essen in den Mülleimer und knallte dann die Kühlschranktür zu.

„Können wir gerne, tu dir keinen Zwang an.“ Taylor griff nach der Fernbedienung und schaltete um. Unter ihrer Haut brodelte der Groll. Den ganzen Tag über war er weg, kam dann ohne ein einziges zärtliches Wort nach Hause, zog sich um, um Basketball spielen zu gehen, und kritisierte sie nebenbei für zu viele Essensreste.

Was lief denn um halb elf abends im Fernsehen? Irgendetwas Lustiges …

„Was hat es eigentlich mit dir und den Essenresten auf sich, so allgemein gesprochen, meine ich?“, fragte sie. „Ich wollte das doch schon vor zwei Tagen wegwerfen, und du hast gesagt, ich sollte es noch behalten.“ Sie landete bei der Wiederholung einer Sendung aus den Achtzigern. „Dann iss es doch jetzt, Jack.“

Er verschränkte die Arme und lehnte sich gegen den Tresen. „Ich sage doch nur, dass die Küche irgendwie dein Bereich ist.“

„Mein Bereich? Was ist denn dein Bereich? Mir zu sagen, was ich zu tun habe? Ich kümmere mich doch schon um das Putzen, die Wäsche, das Einkaufen und um andere Erledigungen.“

„Dein Zeitplan ist eben flexibler als meiner.“

„Das stimmt überhaupt nicht. Ich bin genauso beschäftigt wie du, und ich habe keine Riesenfirma, die mir dabei den Rücken stärkt. Wenn ich gerade keinen Auftrag habe, muss ich mir einen suchen. Wenn ich diesen Auftrag dann habe, muss ich das Studio buchen, Ausrüstung mieten, die Zeitplanung machen und die Auftragsliste anfertigen. Dann gehe ich an die Recherche, und zwar ohne fleißige Helfer, die mich dabei unterstützen.“

„Was ist denn mit Addison? Sie ist deine Assistentin. Ich habe eingewilligt, dass du sie aus unserer gemeinsamen Haushaltskasse bezahlen kannst.“

„Sagt der Mann mit den fünfundzwanzig Paar Schuhen.“

„Was haben denn jetzt meine Schuhe damit zu tun?“

„Deine Schuhe, deine Ausgaben … Und jetzt gehst du mich an, weil ich ein bisschen Geld in Anspruch nehme, um eine Assistentin zu bezahlen.“

„Und assistiert sie dir denn? Warum machst du die Retuschen bei den Fotos für Melinda House und nicht Addison?“

„Sie ist nicht so gut bei so was. Noch nicht.“

„Dann finde jemand, der das besser kann.“

„Was? Nein. Sie ist organisiert und hat einen Blick für Details, sie hält mich auf Spur.“

Sie war zu müde für all das. Und sie hatte dieses Karussell-Spiel so dermaßen satt. Du machst dies, ich mache das.

Jack zog eine Schublade auf, dann eine zweite und schob den Inhalt geräuschvoll hin und her. Alle paar Sekunden schoss er ihr einen Blick aus seinen knallblauen Augen zu. „Haben wir denn nicht einmal Stift und Zettel hier?“

Taylor zeigte auf den Stifteköcher neben dem Telefon. „Was hast du vor?“

„Ich mache eine Aufgabenliste.“

„Oh Jack, jetzt komm aber.“

„Komm aber, was? Ich habe dich schon verstanden. Wir müssen das ausgeglichener aufteilen. Lass uns auf die eine Seite Taylor schreiben und auf die andere Seite Jack.“

Warum machte er das? Taylor wollte durchs Zimmer stürmen, ihn am Arm packen und schütteln, wollte sagen: „Lass uns dort neu beginnen, wo wir angefangen haben, oder Schluss machen.“

Mit einer sarkastischen Geste fing Jack an, ihre zukünftigen Aufgaben aufzulisten. „Du machst … die Einkäufe, Putzen, Wäsche … Stimmt das? Habe ich jetzt alles?“

„Die Finanzen.“

„Ja, stimmt, natürlich. Die Budget-Gestapo.“

Taylors Augen wurden feucht. Er hatte sie gebeten, sich um die Finanzen zu kümmern, weil sie gut mit Zahlen umgehen konnte. Sie war gut darin, überflüssige Ausgaben zu begrenzen. Aber in letzter Zeit sprach er nicht einmal mehr über seine Ausgaben. Er reichte ihr nur noch die Quittungen.

„Ich kümmere mich um die chemische Reinigung …“, fing er an.

„Aber nur, weil du auf dieser blöden Reinigung bei deiner Arbeit bestehst. Die ist zu teuer, ehrlich.“

„… bringe den Müll raus, verdiene das Geld, das unseren Haushalt und deine Firma am Laufen hält …“

Taylor schoss vom Sofa hoch, schnappte ihm das Papier unter dem Stift weg und zerknüllte es. „Hör auf, hör einfach auf. Ich habe doch gesagt, dass ich dir Addisons Gehalt zurückzahle.“

„Habe ich dich darum gebeten, es zurückzuzahlen?“ Er bückte sich nach der zusammengeknüllten Liste. „Ich versuche nur, der großen Kluft zwischen unseren Verantwortlichkeiten auf die Spur zu kommen.“

„Warum sagst du dann ‚Ich verdiene das ganze Geld hier und halte deine Firma am Laufen‘?“

„Weil ich das nun eben mache. Ich weiß nicht, warum dich das so aufregt.“ Er pfefferte den Stift wieder in den Becher. „Ich habe nur einfach beschrieben …“

„Du hast mich auf meinen Platz verwiesen.“

„Und du hast mich nicht auf meinen Platz verwiesen? Ich verstehe schon, du hast keine Lust, dich ums Abendessen zu kümmern. Gut zu wissen. Ich sollte noch eine Liste machen. ,Dinge, über die man sprechen sollte, bevor man spontan jemanden heiratet.‘“

Da. Zweifel, offen geäußert. Sie hatte doch gewusst, dass er zweifelte. Hatte es gewusst. Was blieb ihr also anderes übrig, als ihr Herz wieder an die kurze Leine zu legen?

„Ich muss los und mich mit Aaron treffen.“ Jack verschwand in ihrem Zimmer und kehrte kurz darauf mit den Autoschlüsseln zurück. „Warte nicht auf mich.“ Er sah sich zu ihr um, als er nach der Türklinke griff, und etwas Weiches huschte über sein Gesicht. „Taylor, ich …“

„Ja?“ Ihr Herzschlag donnerte in ihren Ohren.

„Ich wollte nur sagen …“

Es klingelte an der Tür. Das übertölpelte Jack und beraubte den Augenblick seiner Intimität. Jack runzelte die Stirn und öffnete die Tür. „Wer klingelt denn noch um diese Zeit?“

Doug Voss stand auf der anderen Seite. Taylor atmete zitternd aus. Oh nein. Ihr großer Fehler. Der, dem sie entflohen war.

„Was machst du hier?“ Taylor bewegte sich auf die Tür zu, stand zwischen ihrer Gegenwart und ihrer Vergangenheit. Die Schatten im Zimmer kamen ihr auf einmal länger und dunkler vor.

Er lächelte sein perfektes, durchtriebenes Lächeln. „Ich war in der Nähe. Da dachte ich mir, besuche ich doch mal das junge Glück.“ Ohne weitere Einladung trat er über die Schwelle und sah sich im Zimmer um, als gehörte ihm die Wohnung.

„J-Jack, das … das ist Doug Voss.“

„Ich weiß, wer er ist“, sagte Jack und reichte dem Medienmogul die Hand zu einem steifen Handschlag. „Der Herausgeber von Gossip.“

„Dem Promi-Magazin Nummer eins, ganz genau. Was teilweise dieser jungen Dame hier zu verdanken ist.“ Doug zeigte auf Taylor, während er durch das Wohnzimmer schlenderte. „Nette Wohnung. Ganz erstaunlich, was aus diesen alten, sanierten Wohnungen herauszuholen ist.“

Alt. Saniert. Eine Herabsetzung.

„Noch mal, warum bist du hier?“

Dougs Blick streifte sie, während er sich vorbeugte und aus dem Fenster sah. „Hübscher Balkon. Tolle Aussicht über den Fluss.“

„Uns gefällt es“, erwiderte Jack, angespannt, misstrauisch. Mit seinem Tonfall markierte er sein Territorium.

„Kann ich dir was anbieten … Tee, Kaffee? Wasser?“ Taylor wechselte einen Blick mit Jack. Was? Ich weiß nicht, warum er hier ist. Sie fühlte sich zwischen Dougs Invasion und Jacks steinernem Blick gefangen.

„Nein, danke, nicht für mich.“ Doug musterte Jack. „Du spielst Basketball?“

„Ja, ein bisschen. Baut den …“

„… Stress ab. Das stimmt. Ich werfe hin und wieder selbst mal ein paar Körbe.“

„Doug, ich weiß doch, dass du nicht hierhergekommen bist, um mit Jack über Basketball zu sprechen.“ Seine Anwesenheit schien ihr anmaßend, schnüfflerisch, als wollte er mal nachschauen, wo Taylor gelandet war. Nun, das ging ihn nichts an.

„Ich brauche dich für einen Auftrag.“

„Ein Auftrag? Was für ein Auftrag?“ Für Doug und Gossip zu arbeiten hatte sie in Lohn und Brot gehalten, als sie vor anderthalb Jahren in die große Stadt gekommen war, hatte ihren Namen in Umlauf gebracht und die Rechnungen bezahlt. Aber das waren Jobs für Ruhm, nicht für Reichtum. So richtig Geld brachten die Werbeaufträge, wie sie von einer Agentur wie Jacks vergeben wurden.

„Keine Sorge, nicht noch ein Brandon-Coulter-Shoot.“

„Dem Himmel sei Dank. Das war mal ein echtes Vergnügen“, sagte sie. Der jugendliche Rocker war viel zu spät gekommen, mit glasigen Augen, verwaschener Stimme und fünf schönen, ausgesprochen dünnen Mädchen im Gefolge. Es hatte zwei Tage gedauert, bis Taylor das geschafft hatte, wofür sie sonst einen Tag benötigte.

„Oh, übrigens, sag mal, hat das mit der Sache von CBS geklappt?“, fragte Doug, der sie unverwandt ansah. „Ich habe ihnen gesagt, dass du die Beste bist.“

„Ja, hat geklappt. Morgen früh fotografiere ich das Ensemble von Morgen ist ein neuer Tag.“ Er markierte sein Territorium. Er zeigte Jack, dass er, der allmächtige Doug Voss, sich um sein Mädchen kümmerte. Aber sie war nicht mehr sein Mädchen.

„Ausgezeichnet. Siehst du, Süße, meine Unterstützung hast du.“

„Was hat es mit diesem CBS-Auftrag auf sich?“ Jack veränderte seine Haltung. „Bringt er Geld ein? Mir scheint, du vermittelst ihr vor allem Arbeit, die sie letzten Endes mehr Geld kostet als einbringt, Voss.“

„Ach ja, Ehemann und Agent, ich verstehe.“

„‚Ehemann‘ deckt es eigentlich im Wesentlichen ab, würde ich meinen.“

Doug zog eine Grimasse, wandte sich Taylor zu und verdrehte die Augen. Den Typen soll man mal verstehen. „Also, dann fotografierst du das Ensemble von Morgen ist ein neuer Tag.“

„Morgen früh, ja.“

„Und die Bezahlung stimmt? Ich habe denen gesagt, dass sie ordentlich was springen lassen sollen.“

„Besser als sonst oft.“ CBS wollte eine Fotostrecke mit den Schauspielerinnen und Schauspielern ihrer erfolgreichsten Seifenoper haben, die im 62. Ausstrahlungsjahr war und nun auf ihr Ende zuging. Das sollte gefeiert werden.

„Die letzte Folge wird Ende des Monats ausgestrahlt“, erklärte Taylor Jack. „Doug hat eine Exklusiv-Story für Gossip bekommen.“

„Sie haben Fans auf der ganzen Welt“, sagte Doug. „Gossip wird diese Sonderausgabe in vierzig Sprachen herausbringen. Taylors Foto kommt aufs Cover.“

„Bist du deswegen hier? Um dich nach dem Job zu erkundigen?“, fragte Taylor.

„Nein, um ehrlich zu sein, habe ich noch einen Auftrag für dich.“

„Anscheinend schwimmst du ja nur so in Aufträgen für meine Frau.“ Das kam mit einem Unterton heraus, der mehr nach Besitzerstolz klang denn nach Zuneigung. Taylor warf Jack einen scharfen Blick zu.

Aber Doug gluckste, setzte sich gemächlich in einen Sessel, nahm Tempo aus der Angelegenheit, spielte zu seinen Bedingungen. „Was ist mit deiner Tante? Hast du Kontakt mit ihr aufgenommen?“

Colette Greer, Omas Schwester, war die Grande Dame und der Star von Morgen ist ein neuer Tag. Sie hatte die ganzen zweiundsechzig Jahre lang Vivica Spenser gespielt – vom Backfisch bis zur Großmutter, von der Cheerleaderin zur Wirtschaftsmagnatin und Matriarchin. Obwohl sie im Fernsehen ein vertrautes Gesicht war, war sie für Taylor und ihre Familie eine Fremde. Seitdem sie nach New York gezogen war, hatte sie Tante Colette ein einziges Mal gesehen.

„Ich habe sie angerufen. Doug, ehrlich jetzt, um was für einen Auftrag geht es denn?“ Die Anspannung, die Jack ausstrahlte, stemmte sich gegen sie und raubte ihr die Kraft.

„Freust du dich darauf, sie zu sehen?“

„Voss, sie hat jetzt schon mehrfach gefragt. Was ist das für ein Auftrag?“ Jacks Telefon gab in seiner Tasche einen Laut von sich. Wahrscheinlich Aaron. Wo bist du? Aber er ging nicht ran.

„Verzeihung.“ Doug behielt die Oberhand, er ließ sich von Jacks Gegenwart nicht aus der Ruhe bringen. „Taylor ist meine Freundin, trotz unserer … Vergangenheit.“

„Und genau das bist du nämlich. Ihre Vergangenheit. Jetzt sag endlich, warum du hier bist, und dann geh!“ Jacks erhobene Stimme donnerte in den Raum.

„Sagen, warum ich hier bin?“ Er sah sich in dem kleinen, aber luftigen, modernen Apartment um. „Ich wollte sehen, wie es dir geht.“ Sein Tonfall, sein Blick durchbohrten sie. „Sehen, ob du glücklich bist. Immerhin hast du mich verlassen, und das Nächste, was ich mitbekomme, ist, dass du diesen Mann hier geheiratet hast.“

„Stopp. Genug.“ Taylor hob die Hand und ging zur Tür. Irgendwie brachte sie ihre schlackernden Beine dazu, sie zu tragen. Doug zog Strippen und drückte Knöpfe, er manipulierte. Das spürte sie, und wenn sie noch einen Moment länger wartete, würde er ihre Seele mit seinem ganz persönlichen Charme beschmutzen.

„Hör mal, Tay“, sagte Doug, der immer noch saß. Sich zurücklehnte. „Los Angeles, nächste Woche. Du, ich und unsere ganze Mannschaft bei den Emmys.“

„Was? Du veräppelst mich.“

Doug Voss war mehr als nur ihr großer Fehler. Ihre Zeit mit ihm war die reinste Wüste gewesen. Eine Zeit, in der sie Gottes Herzschlag nicht mehr hören konnte. Nie wieder wollte sie dorthin zurück. Warum sollte sie also eine Woche mit ihm in Los Angeles verbringen? Selbst wenn es um einen Auftrag ging.

„Würde ich Scherze machen, wenn es ums Geschäft geht? Niemals. Ich brauche dich für die Emmys. Du bist die beste Fotografin für den roten Teppich, die es zurzeit am Markt gibt.“

„Ich bin nicht die beste …“

„Jack, sag du’s ihr. Sie ist die Beste.“ Doug hielt Jack den Köder hin, aber der war in der Werbebranche unterwegs und mit den Tricks von Scharlatanen vertraut.

„Sie ist die Beste.“

„Bieten du und deine supertolle Firma ihr denn Aufträge an? Du weißt, dass sie in die Werbung will.“

„Doug …“

„Also, was sagst du? Du und ich für eine Woche in L.A.? Eine Runde durch die alten Läden drehen? Die Leute von damals treffen?“

Die Leute von damals waren seine Freunde. Und Taylor sah mehr als nur Arbeit in seinem kaum verhohlenen Angebot. Er verlor nicht gerne Sachen. Schon gar nicht die Frauen in seinem Leben.

„Nein, Doug, ich bin beschäftigt.“

„Wenn du es dir anders überlegst …“ Mit einem neckischen Grinsen ging Doug, unbeeindruckt von ihrer Ablehnung, als ob er einen Plan hätte, wie er sie umstimmen könnte. Als die Tür ins Schloss fiel, zitterte Taylor und sah ihren Ehemann von der Seite an.

„Was hast du nur je in diesem Typen gesehen?“

Am Anfang alles. „Ich bin nur froh, dass ich den Absprung geschafft habe.“ Sie lächelte Jack an und atmete tief durch. „Geh los, Ball spielen. Hab Spaß. Bestell Aaron schöne Grüße.“ Sie zeigte zur Tür und zwang jedes bisschen Fröhlichkeit an die Oberfläche. Alles ist gut.

„Bist du okay?“ Jack legte sanft den Arm um ihre Taille und küsste sie auf die Schläfe.

„Mir geht es gut.“ Jetzt. Wirklich gut. Sie legte die Wange an seine Brust, wo sein leiser Herzschlag sie daran erinnerte, warum sie Ja gesagt hatte.

Kapitel Drei

JACK

Er sah zur Tür und spürte, wie die altbekannte Welle ihn überrollte. Doug Voss war in sein Zuhause gekommen und hatte ihn verspottet, indem er mit Taylor flirtete. Unruhe erfasste ihn.

Voss würde wiederkommen.

Jack hatte schon über Voss Bescheid gewusst, bevor sie heirateten. In Los Angeles war Taylor eine Weile mit ihm ausgegangen, wenn er dienstlich dort gewesen war. Dann war sie nach New York umgezogen, um mit ihm zusammen zu sein, hatte aber kurz darauf mit ihm Schluss gemacht.

Was sie in Voss gesehen hatte, war ihm schleierhaft. Er war arrogant und unhöflich. Aber er war eben auch wohlhabend, mächtig und auf eine krankmachende Art charmant.

Aber sie hat sich doch für dich entschieden, Mann. Für dich.

Aber in diesem Moment hatte diese wortlose Zusage wenig Gewicht.

Jack atmete tief aus und umarmte Taylor ein wenig enger. Sie wirkte aufgebracht. Bekümmert. „Bist du okay?“ In seiner Tasche summte schon wieder sein Handy. Er zog es heraus, um einen Blick auf das Display zu werfen.

Aaron. Der würde warten müssen.

„Ja, mir geht es gut.“ Sie löste sich aus seiner Umarmung, und er fühlte sich schlagartig kalt, sehnte sich danach, sie festzuhalten. „Aaron wird sich fragen, ob dir was passiert ist.“

„Ich muss nicht hingehen …“

„Sicher musst du das. Dampf ablassen und so … Außerdem habe ich ja auch noch zu arbeiten.“ Taylor wies vage auf ihren Computer.

„Also. Dann mal los.“ Jack griff nach seiner Sporttasche. „Ich werde nicht lange weg sein. Und, Taylor, du bist eine großartige Fotografin. Eine der besten.“

Die Beste. In jedem Sinn. Seitdem er sie in der zehnten Klasse kennengelernt hatte, beschäftigte Taylor Branson seine Vorstellungskraft. Er hatte nur nie den Mut besessen, deswegen etwas zu unternehmen, bis sie sich an einem kalten Januartag auf der Madison Avenue über den Weg gelaufen waren.

Er hatte gelernt, die Stadt, die Straße, die Arbeit zu lieben, die ihm zu dem Leben verhalf, von dem er in den dunklen Tagen seiner Jugend in Heart’s Bend, Tennessee, geträumt hatte. Die Stadt, die Straße, das Leben, das ihm Taylor geschenkt hatte.

„Bis dann“, sagte er, ohne zur Tür zu gehen. Sollte er bleiben?

„Hab Spaß.“ Ihr Lächeln fing das Licht der Schreibtischlampe ein und füllte Jack bis obenhin aus. „Echt jetzt. Ich wünsche euch viel Spaß.“

„Oh, mir fällt gerade ein – ich habe noch etwas vergessen.“ Jack lehnte schon am Türknauf, beobachtete sie und wurde vom unsicheren Ehemann zum selbstbewussten Werber. „Ich habe einen Auftrag für dich.“

Sie sah von ihrem Computer auf. „Du hast einen Auftrag für mich? Welche Sorte Auftrag? Nicht wieder eine Hochzeit von einer, äh, ,alten Freundin‘. Das mache ich nicht noch einmal.“

„Aufnahmen für Architecture Quarterly.“ Sein Chef, Hops Williams, würde ihn umbringen dafür, dass er den Job seiner eigenen Frau vermittelte, aber Jack würde seinen gekünstelten Zorn schon aushalten. Er brachte dem Mann immerhin Unmengen an Geld ein.

Außerdem hatte Hops Jack darum gebeten, umzuziehen. Die neue Niederlassung eines Kunden zu leiten. In London. Eine Bitte, von der er Taylor erst noch erzählen musste. Was war schon ein bisschen Vetternwirtschaft im Vergleich dazu, den Sprung über den großen Teich zu tun?

Sie sperrte den Mund auf. „AQ? Werbeaufnahmen? Wirklich, Jack?“ Ihr Gesichtsausdruck wurde weich, und ihre Augen funkelten vor Freude.

„So was in der Art. Es ist Teil ihrer neuen Marke. Durch all die Heimwerkersendungen und Gartenserien und so gibt es ein neuerwachtes Interesse an Architektur. Sie haben eine laufende Kampagne, und es gibt da ein Gebäude …“ Jack hatte ehrlich gesagt keine Ahnung von den Details. Er hatte nur ein paar Schnipsel eines Gesprächs zwischen Hops und der Verlegerin des Architecture Quarterly, Cabot Grayson, mitbekommen. „Irgendwo gibt es jedenfalls ein Gebäude.“ Jack lächelte und war fest entschlossen, seiner Frau den Gefallen zu tun. Ihr zu zeigen, was seine Worte nicht beweisen konnten: dass er an sie glaubte. „Ich kümmere mich um die Einzelheiten.“

„Und die wollen mich?“

„Sie haben um einen Fotografen gebeten. Ich habe dich vorgeschlagen.“ War es denn so falsch, der Liebe wegen ein bisschen an der Wahrheit zu drehen? Er wollte ihr Held sein. Er wollte, dass sie es nicht bereute, sich auf das Abenteuer mit ihm eingelassen zu haben.

Am Morgen würde er das alles Hops beibringen müssen. Aber es war nur ein kleiner Auftrag. Bestimmt konnte Hops ein paar seiner Regeln für Jack und seine junge Frau umgehen.

„Ehrlich? Und wann wolltest du mir das erzählen?“

„Heute. Wie gesagt, das wollte ich eigentlich, als ich nach Hause kam …“ Und London. Er musste ihr von London erzählen. Aber er hatte diese Woche noch eine große Präsentation und wollte eigentlich alles andere ausblenden, bis die perfekt war.

Trotzdem spürte er das Gewicht seiner Lüge. Wenn die wie ein Bumerang zurückkam, würde er Ärger bekommen – mit seinem Chef und seiner Frau gleichermaßen.

Die dunkle Welle überrollte ihn einmal mehr und brach sich an den Felsen seiner Seele. Für Jack Forester hatte Gutes keinen Bestand. Nie. Die Sache mit Hops, seine Arbeit, seine junge Ehe, das alles waren nur Illusionen.

„Über den Auftrag würde ich mich sehr freuen. Danke, dass du an mich gedacht hast.“ Taylor kam zu ihm herüber. Das Licht aus der Küche küsste ihren goldbraunen Scheitel. „Wann wäre das denn?“ Sie küsste ihn, schlang ihre Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn.

„Ich-ich gl-glaube, nächste Woche.“ Jack vergrub sein Gesicht in ihrem langen, seidigen Haar. „Ich werde Petra anweisen, dir und Addison zu schreiben.“

„Danke.“

Und sein Herz seufzte.

„Und, also, wegen vorhin. Die Aufgaben im Haushalt und so. Also, das schaffen wir schon, Taylor. Das kriegen wir hin …“ Sein Telefon summte wieder, noch fordernder als vorhin, falls das überhaupt möglich war.

Taylor ging zu ihrem Schreibtisch zurück, und seine Brust fühlte sich ein zweites Mal so kalt an. „Nun geh schon! Wir können später reden. Aaron wird stinksauer sein.“

„Taylor“, sagte Jack und öffnete die Tür, „wegen Doug …“

„Vergiss ihn, Jack. Der will nur, dass alle nach seiner Pfeife tanzen.“

Er nickte. „Aber er ist ziemlich überzeugend.“

„Was meinst du damit?“ Der Schimmer ihres Computerbildschirms betonte die glatten, hohen Flächen ihres Gesichts, und der Anblick nahm ihm den Schneid.

„Nichts. Nur so eine Beobachtung.“

Nur so eine Angst, dass Jack sie verlieren könnte. Wie konnte er Taylor sagen, zeigen, wie sehr er sie liebte? Die Liebe war so ein unbekanntes Territorium für ihn.

Was er eigentlich wollte, war, sie zu fragen, ob sie ihn noch liebte. Ihre Wirbelsturmromanze und ihre Hochzeit waren unmittelbar nach dem Bruch mit Voss passiert.

Aber wenn er fragte, würde er schwach aussehen und erbärmlich klingen.

„Arbeite nicht zu hart, okay?“

Sie nickte lächelnd. „Und du spiel nicht zu hart.“

„Gegen Aaron? Oh doch, werde ich. Geht nicht anders, das ist so eine Alles-oder-nichts-Geschichte.“

Er musste hart spielen. Er musste die Zweifel und den Dreck, die Doug Voss hinterlassen hatte, aus seiner Seele verbannen. Vielleicht war „glücklich bis zu ihrem Lebensende“ nicht drin für sie, immerhin hatten sie den Sprung gewagt, ohne hinzuschauen, aber Jack klammerte sich an die Hoffnung. Im Zweifel Taylor zu vertrauen, was den Typen betraf, schien ein ganz guter Anfang zu sein.

Kapitel Vier

COLETTE

Manhattan

Ihr Tag begann auf dem Rücksitz eines Taxis, das sie zu einem Termin in einem Fotostudio in Brooklyn brachte, wo sie und ihre Kolleginnen und Kollegen des Ensembles von Morgen ist ein neuer Tag ein letztes Mal gemeinsam vor der Kamera stehen würden.

Das Ende einer Ära. Einer sehr langen, glanzvollen Ära.

Colette wand sich ihr Taschentuch um die Finger. Sie würde nicht sentimental werden oder gar weinen, aber das Ende einer Ära? Nun, was sollte denn eine gealterte Seifenoperndiva jetzt mit ihrer Zeit anfangen?

In ihrem Leben hatte es mehrere Enden gegeben, die schmerzhaftesten davon waren geschehen, bevor sie einundzwanzig Jahre alt geworden war. Während des Blitzkriegs war sie aus London weg aufs Land geschickt worden. Obwohl das schon fünfundsiebzig Jahre her war, gab es Tage – so wie heute –, an denen es ihr vorkam, als wäre es gestern gewesen.

Dann der Tod ihrer Eltern während des Krieges und wie sie mit sechzehn Großbritannien verlassen hatte, um bei ihrer Tante und ihrem Onkel in Tennessee zu leben.

Wie sie mit neunzehn aus Heart’s Bend abgehauen war. Wie sie damit ihn und den ganzen Kern ihres Wesens hinter sich gelassen hatte.

„Zoé sagt, deine Nichte sei heute die Fotografin? Ich wusste gar nicht, dass du eine Nichte hier in der Stadt hast.“

„Bitte?“ Colette wandte sich Ford zu, der seit einundfünfzig Jahren ihr Manager war. Ihr treuester Freund, neben ihrem Alter Ego Vivica Spenser, die sie seit dem Sommer 1954 in Morgen ist ein neuer Tag verkörperte.

„Deine Nichte? Sie sei heute die Fotografin?“

Ihre Nichte? „Oh ja: Taylor. Die Enkelin meiner Schwester Peg.“

„Peg.“ Colette kannte den Gesichtsausdruck, die gehobenen Augenbrauen und das gesenkte Kinn, wie er sie da so erwartungsvoll musterte. „Sag mir nicht, dass das keine verschütteten Gefühle weckt.“

„Mal ehrlich, Ford, du hättest Psychiater werden sollen und nicht Künstleragent.“

„Ich wusste gar nicht, dass es da einen Unterschied gibt.“

Colette drückte ihm sanft den Arm. „Taylor zu sehen wird keine verschütteten Gefühle wecken.“ Dank ihrer Karriere auf dem Fernsehschirm hatte sie die Kunst, sich zu verstellen, perfektioniert. Sie hätte einem Ertrinkenden ein Glas Wasser verkaufen können. „Wie sind im Grunde völlig Fremde. Ich habe sie einmal getroffen, als sie ein kleines Mädchen war, das ist über zwanzig Jahre her. Das letzte Mal, als ich in Heart’s Bend war. Als du mich dazu überredet hast, bei ihrer Weihnachtsparade den Marschall zu geben.“

Sie war außer Landes gewesen, als ihre Tante Jean im Sommer 1990 gestorben war. Als dann also das Angebot kam, bei der großen Parade Marschall zu sein, hatte Colettes Sehnsucht nach ihrem Zuhause, nach ihren Wurzeln, gewonnen. Vor der Parade hatte sie einen Nachmittag mit dem guten alten Onkel Fred im Pflegeheim verbracht, dankbar, dass er sanftmütig und altersmüde war. Dass er nie die große Frage stellte, obwohl sie sie in seinen Augen lesen konnte. „Was ist passiert, Lettie?“

„Überredet? Das war großartige Werbung. Besonders nach dem Debakel zwischen dir und Marilee Jones bei den Daytime-Emmys.“

„Sie hat vor aller Welt behauptet, ich sei eine furchtbare Schauspielerin. Eine Schwindlerin. Was hätte ich denn tun sollen?“

„Oh, eine ganze Menge, anstatt zu sagen: ‚Nimm das ,Marilee‘, als du den Preis für die beste Schauspielerin bekommen hast.“

„Na, das war doch wohl wirklich großartige Werbung.“ Colette lachte. Kabarettisten, Sitcoms, Talkshowmoderatoren hatten den Moment thematisiert, hatten eine echte Szene daraus gemacht. Eine, die Colette bei Saturday Night Live parodierte und bei Carson und Letterman verulkte.

Fords leises Glucksen brachte Colette zum Lächeln. Sie mochte den Mann so gern wie am ersten Tag. Er war ein junger, hungriger Talentsucher bei einer großen New Yorker Agentur gewesen, als er beschloss, sich selbstständig zu machen. Er hatte Colette bei einem Empfang des Bürgermeisters kennengelernt und sie ausdauernd umworben, bis sie am Ende seine erste Klientin wurde, das Gesicht seiner Agentur.

Und seine Geliebte.

Das war ein Akt, der über ihre Befindlichkeiten und moralischen Grenzen hinausging. Aber sie wollte so verzweifelt nach vorne sehen, ihre Wunden und Ängste begraben. Fühlen. Als ihre Affäre beendet war, floh sie einen Sommer lang nach Großbritannien. Warum gerade Großbritannien, mit seinen groben, schmerzhaften Erinnerungen, konnte sie nie sagen. Mal davon abgesehen, dass die Queen sie zum Tee eingeladen hatte.

Colette umklammerte ihre Handtasche, eine Diamatia-Greer-Tasche, nach ihr benannt von dem exklusiven, heißbegehrten Designer Luciano Diamatia, der in sie verliebt gewesen war. Aber sie hatte ihn nicht geliebt.

Es gab andere Männer. Spice Keating, einen alten Freund aus Heart’s Bend und Schauspielerkollegen. Und Bart Maverick, ihren Co-Star bei Morgen ist ein neuer Tag.

Alle Romanzen waren im Sande verlaufen. Weil ihr Herz einem anderen gehörte.

Also hießen ihre Gefährten Ruhm, Reichtum und Renommee. Auszeichnungen, Lob, Ehrengrade und ein Penthouse an der Park Avenue gehörten auch dazu.

Der Wagen rumpelte über Unebenheiten in der Straße.

Colette sah aus dem Fenster, während New York vorüberglitt. Ebenso vorüberglitt wie ihr Leben, wenn sie ehrlich war. Sie war in den „Wagen“ ihrer Karriere eingestiegen und hatte dabei zugesehen, wie das Leben an ihr vorbeiglitt. Sie hatte Dinge erreicht, um die sie alle Welt beneidete. Aber innerlich war sie leer. Obwohl sie sich über sechzig Jahre lang mit Narrheiten gefüllt hatte. Der Hype um die Serie. Der Wahnsinn, erst eine der schönsten, dann eine der ältesten Schauspielerinnen im Fernsehen zu sein. Eine Karriere, die über Jahrzehnte ging.

Aber seitdem die Aufzeichnungen vor einem Monat beendet worden waren, fand sie ihre Tage lang und leise. Und seitdem hatte sie angefangen, ihren eigenen Herzschlag zu hören.

So laut, dass sie Angst hatte, er könnte sie um den Verstand bringen.

„Hast du dir das mit dem Buch überlegt?“ Ford holte ihre Aufmerksamkeit wieder ins Taxi, in die Gegenwart zurück. Das Auto ruckelte einmal mehr, während der Fahrer, der immer wieder leise auf Arabisch murmelte, es durch den Verkehr manövrierte, wo orangene Hütchen die zwei breiten Fahrbahnen auf eine Spur verengten. „Die Serie ist vorbei. Du hattest jetzt einen Monat, um deine Freiheit zu genießen. Ich habe wirklich keine Ahnung, warum du die Zeit nicht in deinem Haus in der Karibik verbracht hast. Egal, jedenfalls, jetzt, wo du etwas Zeit gehabt hast, kannst du doch anfangen, an dem Buch zu arbeiten. Ich habe deinem Verlag schon drei Jahre lang immer wieder ein Manuskript versprochen.“

„Ja, das Buch.“ Sie hatte einem Buchvertrag zugestimmt, aber nur, weil sie so wütend war auf Peg, die angesichts ihrer Krankheit plötzlich alles ins Reine hatte bringen wollen. Die letzten gut sechzig Jahre rückgängig machen, als wäre nichts geschehen. Colette vergab ihr und drohte ihr dann mit einer Enthüllungsgeschichte, falls sie die Sache nicht auf sich beruhen lassen wollte.

Aber sie würde nie eine Autobiografie dieser Art schreiben. Nicht, solange Peg lebte. Weil das nichts wiedergutmachen, die Vergangenheit nicht verändern oder die Menschen zurückholen würde, die Colette geliebt und verloren hatte.

„Ich habe doch nicht den leisesten Schimmer, wie man ein Buch schreibt.“

Er seufzte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, als der Fahrer mit einem Mal mächtig Gas gab und über eine gelbe Ampel rauschte. „Du hast eine Ghostwriterin, Justine Longoria. Erinnerst du dich? Du erzählst, und sie übernimmt den Part mit dem Geschichtenzauber.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass überhaupt jemand etwas über mich lesen will.“

„Jeder will über dich lesen.“ Frustration spiegelte sich in Fords feinen Gesichtszügen. „Du bist eine preisgekrönte Schauspielerin, eine Weltreisende, eine Wortführerin. Du hast sechs Jahrzehnte lang in dieser Serie mitgespielt. Und trotzdem ist dein Privatleben ein einziges großes Geheimnis. Du hast viele Verehrer gehabt, aber keinen Ehemann. Keine Kinder. Seit fünfzig Jahren lebst du im selben Penthouse. Du hast ja noch nicht einmal Katzen oder Hunde.“

„Tiere sterben.“ Sie hatte genug Tode in ihrem Leben gehabt. Menschen. Träume. Liebe.

„Sie bringen aber auch Freude und Trost.“

„Und ich habe doch Kinder.“

Ford lachte leise. „Als Vivica Spenser? Das zählt nicht, Colette.“

„Sprich nicht mit mir, als wäre ich nur einen Satz vom Altersheim entfernt. Die Schauspieler, die Vivicas Kinder gespielt haben, fühlen sich sehr an wie meine eigenen. Caron Seitz und ich sprechen mindestens einmal im Monat miteinander. Und Jenn Baits‘ Kinder nennen mich Granny.“

„Süße Geschichten, aber mich belügst du nicht. Keiner kennt dich wirklich.“ Ford sagte das, während er auf seinem Handy eine Textnachricht beantwortete. „Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich dich so gut kenne.“

„Du kennst mich besser als jeder andere.“

„Dann sag’s mir. Wie geht es dir damit, dass die Serie aufhört? Dass diesen Monat die letzte Folge ausgestrahlt wird?“

„Ich bin …“ Colette hielt inne. Welche Worte passten zu dem Wirbel in ihrer Seele? Traurig? Verloren? Einsam? Solch erbärmliche Worte für eine Frau, die ein Leben lebte, um das andere sie beneideten.

Aber um ehrlich zu sein, gab es wirklich Tage, an denen Colette Greer nicht wusste, wo sie aufhörte und wo Vivica Spenser anfing. Die Frauen wurden zu ein und derselben Person. Die Wirklichkeit der einen war die Fantasievorstellung der anderen. Sie war der vermischte Schatten ihres wirklichen Selbst und ihrer Fernsehfigur.

„Darüber wirst du in meiner Autobiografie nachlesen müssen.“

Fords Gelächter füllte das Taxi. „Touché. Also wirst du das Buch machen?“ Er winkte mit seinem Telefon. „Dann buche ich Justine. Wie steht es mit Montag?“

„Schön, aber nicht zu früh. Ich habe meine Morgen gerne für mich selbst.“

„Dann mittags. Der Verlag wird sich freuen. Ich höre schon die Dollars für die Auslandsrechte klingeln. In Südamerika bist du praktisch eine Göttin.“

„Sie lieben doch nicht mich. Sie lieben Vivica Spenser.“ War es das? Die Welt liebte Vivica, nicht Colette. Bedeutete also das Ende der Serie, dass Schluss war mit der einzigen Liebe, die sie kannte?

„Natürlich lieben sie Vivica. Aber wer ist Vivica schon ohne Colette Greer?“ Fords große Hand umschloss die ihre. „Es wird therapeutisch sein, das Schreiben. Du kannst deine Dämonen verbannen.“

„Du meinst, ich habe Dämonen?“

Bei Colettes letztem Wort hielt das Taxi an einem Bordstein an, wo außer Backsteinbauten nichts weiter zu sehen war.

Ford reichte dem Fahrer seine Kreditkarte, während sie, ohne auf Hilfe zu warten, ausstieg und ihr Gesicht in die dünne, frische Morgenbrise hielt, dem Anblick und den Geräuschen New Yorks entgegen.

Der Herbst in der Stadt war zauberhaft, mit einer Art ätherischen Energie im kühlen Wind, die sie an ihre Kindheit erinnerte. Als sie über den Gehweg gehopst war, auf dem Rasen Rad geschlagen und goldene, rote und orangefarbene Blätter für eine Schatzkiste gesammelt hatte.

„Oberste Etage“, sagte Ford und zeigte auf das Gebäude, als er sich zu ihr gesellte und sein Portemonnaie verstaute.

Beim ersten Schritt geriet Colette ins Schwanken. Der Boden unter ihr schien zu beben. Das war es also. Ihre letzte Zusammenkunft mit der Besetzung.

Das Ende.

Vor ihr lag nichts außer dem blendenden Schein endloser leerer Tage.

„Ich kann nicht …“

„Wie bitte?“ Ford warf einen Blick auf sein klingelndes Telefon und steckte es dann weg. „Was kannst du nicht?“ Er nahm sie vorsichtig am Ellbogen und versuchte, sie vorwärtszubewegen.