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Beck Holidays Welt scheint plötzlich aus den Fugen zu geraten. Die toughe junge Frau erwartet nicht nur ungewollt ein Kind, sie wird auch wegen eines Fehlverhaltens von ihrem Dienst als New Yorker Polizistin suspendiert. Am Tag ihrer Entlassung erhält sie dann überraschend die Nachricht, sie habe in dem Ort in Florida, wo ihre Familie früher den Sommerurlaub verbracht hat, ein Haus geerbt. Sie reist dorthin, um sich das Haus in der Memory Lane anzuschauen. Doch aufgrund einer Amnesie kehrt ihre Erinnerung einfach nicht zurück. Ihr fehlen seit den Terroranschlägen auf das World Trade Center, bei denen ihr Vater starb, der ebenfalls Polizist war, große Teile ihrer Kindheit und Jugend. So erkennt sie auch nicht auf der Beerdigung der Erblasserin ihre ehemalige Jugendliebe Bruno. Zwischen der verstorbenen Everleigh Applegate und Becks Lebensgeschichte scheint es etliche Parallelen zu geben. Ein Tornado hatte einst ihre junge Ehe wie auch ihren Traum von Familie zerstört. Notgedrungen gibt sie ihren Säugling zur Adoption frei. Und dann trifft sie einen früheren Mitschüler, zu dem sie sich hingezogen fühlt. Sie sehnt sich nach Veränderung und steckt doch gefangen in ihrer Erinnerung. Es liegt an ihr, die Vergangenheit und das Trauma zu überwinden, um wieder ein erfülltes Leben zu führen. Ist das auch der Grund, warum Everleigh später das „Memory House“ an Beck vererbt hat?
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Seitenzahl: 652
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Rachel Hauck zählt zu den besten amerikanischen Autorinnen zeitgenössischer Liebesromane. Sie ist Gewinnerin des Carol Awards und lebt mit ihrem Mann in Florida. Mehr unter: www.rachelhauck.com
RACHEL HAUCK
MEMORY HOUSE
Dein Leben wartet schon auf dich
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Antje Balters
Für Gary und Bonnie Stebbins, ihr seid Riesen im Reich Gottes.
Es ist mir eine Ehre, seit fast drei Jahrzehnten meinen Weg mit euch gemeinsam zu gehen.
Eure Treue ist einfach atemberaubend.
Cover
Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Manhattan, New York
Noch nie hatte sie Angst im Dunkeln gehabt. Licht dagegen – Licht machte ihr Angst. Als jetzt der Tatverdächtige auf der düsteren Straße davonrannte, nahm sie ohne zu zögern die Verfolgung auf.
„Stehen bleiben, Polizei!“
Als Sergeant beim neunten Polizeirevier scheute Beck Holiday nie einen Kampf. Jedenfalls nicht, wenn er auf den Straßen von New York stattfand und im Namen von Recht und Ordnung geschah.
In der klirrenden Kälte der Silvesternacht in New York City hörte sie den Hall der Schritte ihres Kollegen und Streifenpartners hinter sich. Aber als der Verdächtige dann über einen Gitterzaun sprang, hinter dem sich ein betonierter Hinterhof befand, wurde Hogan langsamer.
„Vergiss es, Beck“, keuchte er schwer atmend. „Ich wünsche ihm ein gutes neues Jahr. Wir schnappen ihn uns beim nächsten Mal.“
Doch sie stützte sich mit beiden Händen auf dem Gitterzaun ab und übersprang – trotz des zusätzlichen Gewichtes, das sie am Gürtel ihrer Dienstkleidung mit sich herumschleppte – das ein Meter fünfzig hohe Hindernis mit Leichtigkeit.
Das Adrenalin in ihrem Blut machte sie zu Wonder Woman.
„Stehen bleiben, Polizei!“
Der Täter rannte auf eine Seitentür des heruntergekommenen Mietshauses zu, blieb dann aber mit der Fußspitze in einem Riss im Beton hängen, stolperte und ließ ein Bündel fallen, das mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Boden landete. Beck schaute kurz nach unten, machte gleichzeitig einen Riesensatz darüber hinweg und setzte die Verfolgung des flüchtenden Verdächtigen fort.
„Nimm das Bündel mit, Hogan!“
Genau in dem Moment, als der schlaksige, blasse, unterernährte Tatverdächtige es bis zu der Tür geschafft hatte, bekam sie ihn hinten an der Jacke zu fassen, warf ihn mit dem Gesicht nach unten zu Boden, drückte ihm das Knie zwischen die Schulterblätter und rief: „Hände auf den Rücken!“
„Ich hab nichts gemacht.“ Er war jung, höchstens achtzehn. In letzter Zeit machten ihnen die ganz Jungen zu schaffen.
„Ach, nichts also … und wieso bist du dann weggerannt?“ Sie legte ihm Handschellen an, durchsuchte ihn nach Waffen und fand ein Messer, eine Crack-Pfeife und einen Beutel.
„Ich musste pinkeln.“
Beck ließ den Beutel vor seiner Nase baumeln und musste fast wegen des Gestanks, der daraus hervorkam, würgen. „Und das hier?“
„Das hab ich noch nie im Leben gesehen. Das haben Sie mir untergeschoben.“
Hogan hing an dem Gitterzaun fest, weil sich eins seiner Hosenbeine darin verfangen hatte. Fluchend riss er sich los, und sie hörte, wie der Stoff seiner Diensthose riss und er ächzend zu Boden fiel.
Seufzend senkte sie den Kopf, zog den Verdächtigen hoch auf die Füße und stieß ihn zu Hogan hin.
„Bring ihn schon mal zum Wagen. Ich schau mir den Beutel an.“
Im gelblichen Licht der Hausbeleuchtung konnte sie jetzt das Profil des Verdächtigen erkennen.
„Ach, wen haben wir denn da? Na, wenn das nicht Parker Boudreaux ist.“
Er war ein drogensüchtiger Jugendlicher von der schicken Upper West Side, der an diesem Feiertag offenbar nichts Besseres zu tun hatte, als Drogen zu verticken.
„So trifft man sich wieder, Sergeant Holiday“, sagte er und stolperte in Hogans Richtung. „Aber ich bin sowieso vor Mitternacht wieder draußen.“
Beck hatte keinen Zweifel daran, dass Boudreaux’ reicher Vater ihn rechtzeitig rausboxen würde, damit er das neue Jahr mit Champagner und einer Nase Koks begrüßen konnte. Aber fürs Erste hatte sie ihn am Schlafittchen.
Drei Mal hatte sie ihn schon festgenommen, weil er in Alphabet City mit Drogen gedealt hatte. Er arbeitete für einen gerissenen Dealer, hinter dem das neunte Revier schon seit Langem her war.
„Wissen deine Eltern, dass du hier bist und für deine nächste Dröhnung arbeitest? Was für eine Vergeudung von Potenzial, Boudreaux.“
Beck stand bei dem versteckten Drogenvorrat, den er hatte fallen lassen, und rechnete damit, ein paar hundert Milligramm Crack zu finden – immer ein ganz kleines bisschen zu wenig, als dass es als Straftat gewertet wurde.
„Ich hab nichts mit Drogen zu tun. Da müssen Sie mich verwechseln. Ich bin nur auf dem Weg zu einem Freund, der eine Silvesterparty schmeißt.“ Boudreaux stand gegen den Gitterzaun gelehnt da, während Hogan versuchte, das Tor zu öffnen. „Wenn Sie mir die Handschellen abnehmen, mach ich es für Sie auf“, sagte er.
Hogan ächzte, als er, die Taschenlampe unters Kinn geklemmt, heftig an dem Riegel zerrte.
Beck wartete und schaute zu. „Ruf den Super an, Hogan.“
„Du brauchst mir nicht meinen Job zu erklären, Holiday“, antwortete er darauf nur bissig.
Sie schaute ihm noch einen weiteren Moment zu und beugte sich dann hinunter zu Parkers widerlich stinkenden Jutebeutel. Es verstand sich wirklich von selbst, dass der Superintendent angerufen werden musste.
Aber Hogan war nun mal Hogan, ein Polizist vom alten Schlag, der mehr über Verbrechen und Donuts wusste als jeder andere Polizist, den sie sonst kannte.
Er hatte sie in der Praxis ausgebildet, ihr beigebracht, wie man den Job machte, und er war es auch gewesen, der ihr zugehört hatte, wenn sie die Welt nicht mehr verstand.
Doch eine schlimme Scheidung und Alkoholprobleme hatten ihn fast den Job gekostet. Er war erst vor Kurzem wieder aufs neunte Revier zurückgekehrt und wollte sich unbedingt rehabilitieren. Es fühlte sich seltsam für sie an, jetzt seine Vorgesetzte zu sein, obwohl sie erst seit etwas über einem Jahr Sergeant war.
„Hey, hübsche Polizei-Lady, wie wär’s, wenn Sie mich einfach laufen lassen?“ Boudreaux verlegte sich jetzt aufs Verhandeln. „Ich kann dafür sorgen, dass es sich richtig für Sie lohnt. Und seit wann ist es eigentlich verboten, einen Freund zu besuchen?“
Hogan bearbeitete den Riegel des Tores jetzt mit dem Schaft der Taschenlampe und ein paar deftigen Flüchen. „Glaub ja nicht, dass du mit so ’nem Gesülze weiterkommst – und schon gar nicht bei ihr“, sagte er zu dem Jungen.
Schon gar nicht bei ihr. Früher hätte das wahrscheinlich sogar gestimmt, aber in letzter Zeit hatte sie sich deutlich verändert. Sie hatte angefangen zu fühlen.
Plötzlich kamen ihr bei den kleinsten Kleinigkeiten die Tränen – zum Beispiel, wenn sich ein Kind verletzt hatte oder eine alleinerziehende Frau sich aus ihrer Wohnung ausgesperrt hatte, ganz zu schweigen von den wirklich harten Sachen wie einem Selbstmord oder wenn sie jemanden über den Tod eines Angehörigen informieren musste. Vor einem Jahr – ach was, noch vor einem halben Jahr – hatte sie so etwas noch mit einem Bier im Rosie’s abgeschüttelt.
Doch in letzter Zeit fiel es ihr immer schwerer wegzuschauen und die Unmenschlichkeit, das Absurde und die Verzweiflung abzuschütteln, die ihr auf der Straße begegneten. Diese neue Empfindsamkeit und das daraus resultierende Mitgefühl brachten sie durcheinander und gingen ihr ehrlich gesagt auch auf die Nerven.
„Du brauchst andere Freunde, Boudreaux“, sagte Beck, krempelte den völlig verdreckten Jutebeutel auf und ihr stieg der Geruch von … Exkrementen und Verwesung in die Nase. Sie schreckte zurück, hielt sich die Nase zu und erschrak, als sich der Beutel bewegte.
Mit einem Ruck zog sie ihre Hand zurück, richtete das Licht ihrer Taschenlampe in die Beutelöffnung und sah das schmutzige, wachsame Gesicht eines kleinen, grauen Hundes, der sie mit wässrigen Augen flehend ansah.
„Boudreaux!“, rief Beck entsetzt, ließ sich auf die Knie fallen, nahm den kleinen Hund vorsichtig aus dem abgenutzten Beutel und vor Mitgefühl kamen ihr die Tränen.
Der Hund winselte und jaulte auf, als sie seinen stark geschwollenen Brustkorb abtastete. Das völlig verfilzte Fell hob und senkte sich und das Tier kämpfte um jeden flachen Atemzug.
Sie würde ihn umbringen. Umbringen. „Ach, du süßes kleines Ding. Es tut mir so leid. So leid! Was hat er denn bloß mit dir gemacht?“ Aber das wusste sie eigentlich schon. Sie wusste es.
Sie strich dem Hund mit der Hand über den Rücken und konnte jede Rippe und jeden Knochen fühlen. Wieder jaulte der Hund auf, als sie seinen Bauch berührte. Der Geruch – nach Erbrochenem und Exkrementen – klebte in seinem Fell, an seiner Haut und stieg Beck in die Nase.
„Hey, Cop, der Hund gehört meinem Freund. Hören Sie mir eigentlich nicht zu?“
Beck stand jetzt auf und rückte den noch steifen Hosenbund ihrer neuen Diensthose zurecht. Sie hatte endlich kapituliert und sich eine größere Hose gekauft, um ihrem wachsenden Bauch mehr Platz zu verschaffen.
„Der Hund von deinem Freund also, ja?“
„Sie haben mich genau verstanden. Ich stottere ja nicht.“
Beck zitterte innerlich, obwohl sie die äußere Kälte gar nicht spürte, und ballte ihre Hand zur Faust. „Hast du ihn diese Plastiktüte schlucken lassen?“
Sie hielt einen Gefrierbeutel zwischen Daumen und Zeigefinger hoch, der genauso bestialisch stank wie der Hund.
„Welche Plastiktüte denn? Ich hab keine Tüte gesehen.“ Seine versnobte Betonung schürte ihren Zorn und ihre Verachtung noch mehr.
In dem Moment gab der Riegel des Gattertores endlich nach, Hogan taumelte rückwärts und ein abgebrochenes Stück Metall landete scheppernd auf dem Beton.
„Ach, sieh mal einer an, die Polizei beschädigt Privateigentum. Das ist doch eine Straftat, oder?“
„Los, auf geht’s“, sagte Hogan nur und zerrte Boudreaux zum Streifenwagen, während der lautstarke Protest des Jungen von den Wänden der umliegenden Gebäude widerhallte.
„Passen Sie bloß auf den Hund meines Freundes auf, Sergeant“, rief Parker, als er sich gleichzeitig gegen Hogans unnachgiebigen Griff wehrte. „Hey, Polizeigewalt!“
Hinter ein paar Fenstern des Mietshauses ging Licht an und irgendjemand rief etwas Unverständliches.
„So, jetzt ganz vorsichtig, mein Kleiner“, sagte Beck zu dem kleinen Hund, aber der jaulte wieder laut auf, als sie versuchte, ihn hochzuheben. „Was hat der fiese Boudreaux bloß mit dir gemacht?“
Wenn man den Hund anschaute, der nur aus Haut und Knochen bestand, dann war klar, dass er kurz vorm Verhungern war. Wieder kamen ihr die Tränen. Diese Art von Gefühlen kratzte an ihrer harten Fassade, an ihrer Gewohnheit, Dinge wie Zartheit, Fürsorge und Anteilnahme zu ignorieren. Sie hatte ihre ganz eigene Methode, mit ihren Gefühlen oder schmerzlichen Erinnerungen umzugehen – sie verdrängte sie. Ja, sogar besser noch, sie vergaß sie einfach.
Aus ihrer Seitentasche holte sie jetzt eine Flasche Wasser, drehte den Verschluss ab und gab dem Hund ein paar Tropfen auf die Zunge. Er schluckte sie und sie gab ihm noch etwas mehr.
„Auf jetzt, Beck, wir müssen los“, sagte Hogan zwischen den Stäben des Gitterzauns hindurch. „Ruf den Tierschutz an. Der kümmert sich dann schon um den Hund.“
Aber Beck reagierte gar nicht. Wie konnte sie den kleinen Hund denn jetzt allein lassen? Er würde mit Sicherheit sterben. Der erbärmliche Zustand des Kleinen berührte sie tief und machte ihr verkrustetes Herz ganz weich. Wo sie sonst früher hart und kontrolliert gewesen war, war sie jetzt weich und sehr emotional.
Die nächtliche Kälte senkte sich zwischen die Gebäude, und der Hund zitterte, sodass Beck ihre Jacke auszog und ihn damit zudeckte, bevor sie ihn mitsamt seinem Geruch nach Tod und Verwesung auf den Arm nahm.
Als sie aufstand und zum Tor ging, schrie das kleine Tier laut auf, und sie wollte verdammt sein, wenn das, was sie da auf ihrer Hand spürte, nicht Tränen des Hundes waren.
„Es tut mir leid. Es tut mir so leid, mein Kleiner. Ich kümmere mich um Hilfe. Bleib einfach bei mir. Drüben auf der Fünfzehnten ist ein Tierarzt …“
Im Inneren des Streifenwagens rief Boudreaux gegen die Fensterscheibe: „Das ist mein Hund. Hören Sie, nur weil Sie Polizistin sind, können Sie noch lange nicht einfach jemandem den Hund klauen.“
„Lebt er noch?“, fragte Hogan und warf einen Blick unter Becks Jacke.
„Nur noch ein ganz kleines bisschen.“ Beck fluchte und trat mit einer solchen Wucht gegen die Autotür, dass Parker zurückschreckte. „Hast du den Hund etwa die Drogen mitsamt der Tüte fressen lassen?“, fragte sie ihn wütend.
Jetzt nahm Hogan den jaulenden Hund auf den Arm und untersuchte ihn im Licht von Becks Taschenlampe etwas genauer. Sie streichelte ihm währenddessen über die Ohren, sagte, dass alles gut werde und kämpfte wieder mit den Tränen. Das Allerletzte, was sie Hogan oder Boudreaux zeigen wollte, war weibliche Emotionalität.
„Er ist wirklich in übler Verfassung, aber ich hab schon Schlimmeres gesehen. Er ist einfach schwach und hungrig“, sagte Hogan. „Hat wahrscheinlich eben die Tüte ausgeschieden. Würde mich nicht wundern, wenn Boudreaux ihm gerade die nächste Ladung verpassen wollte. Oder schlimmer noch, sie ihm in den …“
„So, das reicht!“ Beck zerrte Boudreaux an den Haaren vom Rücksitz des Streifenwagens, schleuderte ihn mit der Vorderseite des Körpers gegen den Wagen, bohrte ihm ihr Knie von hinten in seinen Oberschenkel und drückte sein Gesicht auf den Kofferraumdeckel. „Du glaubst also, dass dein Papi dich wieder rausboxen kann, was?“, fragte sie und knallte sein Gesicht auf das kalte Metall.
„So dürfen Sie mich gar nicht behandeln“, sagte Boudreaux und wehrte sich so heftig gegen ihren Griff, dass sie ihre gesamte Kraft brauchte, um ihn festzuhalten.
„Ach ja? Wer sagt das? Ich kann dich genauso behandeln, wie du den Hund behandelt hast.“ Jedes Molekül ihres Körpers war in Aufruhr. Wenn nicht sie die Schwachen und Wehrlosen verteidigte, wer sollte es dann tun?
„Sergeant.“ Hogan zog sie von dem Verdächtigen weg und klang wieder wie früher. „Setz ihn wieder ins Auto.“
Aber Beck schüttelte ihn ab. „Du hältst dich wohl für einen ganz tollen Typen, weil du Drogen vertickst, Boudreaux, was? Für wen, Vinny Campanile? Er ist das Böse in Person. Und wenn du kleine, unschuldige und wehrlose Tiere mit Drogen vollstopfst, ist das auch keine Garantie dafür, dass du am Leben bleibst oder er dafür sorgt, dass du nicht in den Knast kommst. Die Leute werden deinen Kopf fordern, wenn sie hören, was du getan hast.“
„Das ist doch nur ein räudiger Köter“, sagte Boudreaux abfällig und richtete sich gerade so weit auf, dass er in ihre Richtung ausspucken konnte.
„Der steht immer noch über der Gosse, in der du lebst“, bemerkte sie dazu nur.
„Okay, wir haben unseren Spaß gehabt“, sagte Hogan jetzt, schob sie aus dem Weg und drehte den Jugendlichen wieder in Richtung der offenen Streifenwagentür. „So, Boudreaux, du steigst jetzt ins Auto und hältst den Mund.“
Doch Parker lachte nur gackernd und schnauzte dann Beck an: „Es ist nur ein Köter. Ein stinkender Köter, den keiner haben will. Ich hatte eigentlich vor, ihn zum Abendessen zu grillen.“
Außer sich vor Wut ging Beck auf Parker los und schlug ihm mit der Faust mitten ins Gesicht. Boudreaux schrie auf, torkelte nach vorn und schlug mit dem Kopf gegen die Kante der Autotür.
„Sergeant …“ Hogan schob sie zurück und packte sie mit der Faust am Kragen, aber der Hund auf seinem linken Arm war ihm dabei im Weg und Beck war zu schnell.
„Das ist für den Hund“, schnauzte Beck, die jetzt über Parker stand und ihm ihren Stiefel in die Rippen rammte. Als er sich krümmte, rammte sie ihm auch noch das Knie gegen die Nase. „Und das ist dafür, dass du dein Leben sinnlos vergeudest.“ Dann nahm Beck Hogan den kleinen Hund ab und flüsterte ihm in sein Schlappohr. „Du bist in Sicherheit.“
„Sergeant …“ Hogan half Boudreaux vom Bürgersteig auf und schob ihn in den Streifenwagen. „Ich hab dir gesagt, du sollst den Mund halten“, wiederholte er, schlug die Tür zu und jagte Beck zur Melodie von Parkers gedämpften Beschwerden hinterher.
„Rede mit mir, Beck. Was ist los?“
„Ich bringe das arme Tier jetzt in die Tierklinik in der Fünfzehnten Straße“, antwortete sie und wurde mit jedem Schritt schneller. Noch nie hatte sie so sehr das Gefühl gehabt, im Recht zu sein.
Aber Hogan zog sie energisch zurück und sagte: „Wir haben Boudreaux. Das ist seine vierte Festnahme und dieses Mal liefert er uns Vinny bestimmt ans Messer. Ein guter Jahresbeginn für uns. Wir brauchen diesen Erfolg. Ich brauche ihn. Komm bitte mit mir zurück aufs Revier. Dann decke ich dich auch in Bezug auf das, was gerade vorgefallen ist.“
„Was willst du decken? Dass ich ihm gegeben habe, was er verdient hat?“ Aber sie wusste genau, was er meinte. Jemanden zu schlagen, der bereits in Handschellen war, war das schlimmste Dienstvergehen. Sie spürte schon jetzt förmlich den Stress, der auf sie zukam.
„Tu, was du tun musst. Ich sorge jedenfalls jetzt erst einmal dafür, dass der Hund Hilfe bekommt.“
„Warte doch, Beck“, sagte Hogan und klang jetzt eher wie ein Vater als wie ihr Streifenpartner.
„Was ist denn eigentlich in dich gefahren? So was hat dich doch sonst nicht dermaßen aus der Fassung gebracht. Eigentlich hast du dich doch immer ganz gut im Griff.“
Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel. „Das … das ist auch immer noch so. Aber vielleicht haben sich einfach meine Prioritäten geändert.“ Dann hob sie trotzig das Kinn und fuhr fort: „Kann man sich nicht auch mal ein bisschen verändern?“
„Doch, klar kann man das, aber nicht, wenn es um die Dienstvorschriften geht. Seit dem Tag, an dem ich dich kennengelernt habe, hast du dich immer an die Vorschriften gehalten.“
„Na, dann müssen vielleicht die Vorschriften geändert werden.“
Bis zum letzten Sommer war ihr dieses Leben eigentlich immer recht gewesen. Sie hatte sich in der Alltagsroutine und ihrer Identität als Polizistin eingerichtet. Damals war ein neun Monate langer Undercover-Einsatz geplatzt, bei dem eigentlich Drogendealer wie Boudreaux und Vinny Campanile festgenommen werden sollten.
Nach dem missglückten Zugriff hatte sich das ganze Team noch im Rosie’s getroffen, um den Frust zu ertränken, und sie hatte …
„Was ist?“, fragte sie, als ihr Blick durch das gespenstische Licht der Straßenlaternen und dem gelblichen Licht aus den Wohnungen auf seinen traf, die Hupen und Motorengeräuschen der Autos im Hintergrund.
„Nichts“, antwortete Hogan und blinzelte in ihre Richtung. „Du bist mir nur gerade kurz so verändert vorgekommen.“
„Ich bin immer noch die Alte, aber ich werde diesen Hund nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Bring du Boudreaux aufs Revier. Die Festnahme geht auf dich – das ist mein Neujahrsgeschenk für dich –, und ich gehe zum Tierarzt.“ Sie wirbelte herum, als der Hund gequälte Schmerzenslaute ausstieß, und eine kalte Träne lief ihr seitlich an der Nase herunter.
Zuerst waren ihre Schritte zaghaft und unentschlossen, während sie die Avenue entlangging. Ihre Handknöchel taten immer noch weh, aber als sie abwechselnd durch breite Streifen Licht und Dunkelheit ging, wurde sie immer zuversichtlicher und sicherer. Der schwache und erschöpfte kleine Hund schmiegte sich an ihre Brust, und ihr war, als trüge sie ein Stück ihrer eigenen Seele auf dem Arm.
Januar
Scooba, Mississippi
Für einen Jugendlichen mit einer unglücklichen Kindheit war doch etwas aus ihm geworden. Er hatte seinen Abschluss an der Florida State University mit Auszeichnung gemacht und es in den Law Review geschafft, mit dem besten Spielerberater aus der Branche, Kevin Vrable, als Mentor, der ihm einen Wohnsitz in Beverly Hills beschert hatte – Yeah.
Eine Zeit lang hatte er nach dem Motto „Was kostet die Welt …“ gelebt.
„Ich mache dich zum besten Sportagenten der gesamten Branche.“
„Wenn ich mich zur Ruhe setze, gehört das alles dir, Bruno.“
„Du bist begabt, mein Junge. Hast einen guten Instinkt.“
Doch letztes Jahr war es dann immer mehr bergab gegangen und zwar eigentlich aus keinem anderen Grund als Kevins Ego. Immer häufiger hatte er Bruno ausgeschlossen, hatte seine Abschlüsse gemacht und dann sowohl das Geld als auch den Ruhm für sich selbst eingeheimst – und zwar nur für sich selbst.
Darüber hatte Bruno bis zu dem Moment geschwiegen, als Kevin seine Boni gekürzt hatte. Im Vorjahr hatte Bruno nur noch einmal einen Bonus ausgezahlt bekommen, und als Bruno ihn deshalb zur Rede gestellt hatte, war er von Kevin gefeuert worden. Damit war seine acht Jahre lange Karriere bei Watershed Sports beendet.
Kevin Vrable war ein kleinkarierter, neidischer, gieriger Mann, für den es keine moralische Verpflichtung war, seine Versprechen zu halten, aber Bruno hatte all die gebrochenen Versprechen überlebt.
Am Boden zerstört und völlig fassungslos hatte er beschlossen, seinen eigenen Weg zu gehen. Schließlich war er seit drei Jahren einer der besten und erfolgreichsten Spielerberater im Land. Er hatte Einfluss, einen hervorragenden Ruf, Branchenkenntnis und Know-how.
Und das war der Grund, weshalb er jetzt in einem billigen Mietwagen saß und auf dem Weg nach Scooba, Mississippi, war, einem Ort mit sechshundertsiebenundneunzig Einwohnern.
Sein Kumpel Stuart Strickland hatte ihn mit einer selbst aufgemotzten Gulfstream Maschine zum Golden Triangle geflogen, den Rest des Weges legte er in einem klapprigen Mietwagen auf Landstraßen zurück.
„Da sind Sie ja. Gut. Das ist gut“, begrüßte Coach Brown ihn und klopfte ihm auf die Schulter. Bruno reckte und streckte sich, nachdem er aus dem Auto gestiegen war, und der kalte Wind erfrischte seine warmen, reisemüden Beine. „Danke, dass Sie den weiten Weg zu uns auf sich genommen haben. Ich hatte schon fast damit gerechnet, dass Sie es sich doch noch anders überlegen.“
„Das hätte ich auch beinah“, erklärte Bruno, hängte sich seine Ledertasche um und schlug die Autotür zu. „Ihnen ist aber schon klar, dass Sie hier am Ende der Welt sind, oder?“ Er fiel mit dem Coach in einen Gleichschritt und betrat mit ihm den Verwaltungstrakt der Trainingshalle. Das Geräusch der Absätze seiner Slipper auf dem Fliesenboden hallte von den Wänden des Ganges wider.
„Jap. Das hier ist tiefste Provinz“, bestätigte Coach Brown, gab Bruno mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er seine Tasche in seinem Büro abstellen sollte, und ging dann mit ihm zusammen den Gang hinunter. „Aber wir haben ein großartiges Football-Programm.“
„Und Ihnen ist hoffentlich auch klar, dass ich nur hier bin, weil ich Calvin Blue einen Gefallen tun will, oder?“ Calvin von der Florida State University war der Protoptyp eines amerikanischen Footballspielers. Ein Spieler, den Bruno und seine neu gegründete Agentur Sports Equity unbedingt brauchte.
Der Spieler auf der Tailback-Position würde diesen April in die erste Runde des NFL-Drafts, dem Auswahlprozess der neuen Spieler, gehen, das bedeutete für Calvin das ganz große Geld, und für Bruno auch, vorausgesetzt, er konnte den Jungen überreden, bei ihm zu unterschreiben. Außerdem würde dadurch Brunos Ruf in der Branche wiederhergestellt werden.
Es war ja das Eine, dass er sich von Kevin und Watershed getrennt hatte, um selbst eine Sportleragentur zu gründen, aber gegen die bösartigen Gerüchte anzugehen, die Kevin streute, um Misstrauen bei den Kontaktpersonen des Profisports für die Top-Universitäten zu säen, war noch mal etwas ganz anderes.
„Es läuft nicht mehr bei ihm.“
„Er kriegt keine Abschlüsse.“
„Eine Ein-Mann-Agentur? Was soll denn das? Der kann doch gar nichts für deine Jungs tun. Der pfeift aus dem letzten Loch.“
Trotzdem machte er mit seinem Einfluss, seiner Schlagkraft, seinem guten Ruf und seinem Können weiter mit.
„Calvin ist ein guter Junge“, sagte Coach Brown. „Hat Talent. Ich bin wirklich dankbar, dass er versucht, seinem alten Teamkameraden zu helfen.“ Brown leitete ein Programm am Junior College, das Jungs, die – aus welchen Gründen auch immer – im Sportprogramm eines großen Colleges gescheitert waren, wieder zurücknahm. „Haben Sie sich die Videos angeschaut, die ich Ihnen geschickt habe? Dieser Tyvis … der hat alles, was man braucht.“
„Ja, ich hab mir die Videos angesehen. Der hat schon einen ganz ordentlichen Wurf, aber meine Hauptsorge ist der Grund, weshalb er hier bei Ihnen ist.“ Bruno ging mit dem Coach durch den Kraftraum zum Trainingsplatz nach draußen und zog den Reißverschluss seiner Jacke zu, um sich gegen den Wind zu schützen.
„Er hat ein Aggressionsproblem. Ist ein paar Mal Trainern gegenüber ausgerastet und er hat einen Kiosk überfallen. Vor Gericht hat er wirklich Gott auf seiner Seite gehabt, denn der Richter hat ihn nur zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt, verbunden mit der Auflage, das ganze erbeutete Geld zurückzuerstatten. Seine Auflagen hat er alle erfüllt. Er hat das gesamte letzte Jahr gearbeitet, um das Geld zurückzuzahlen, und dann ist er hier aufgetaucht.“
Browns Aufgabe in dem angesehenen Community College, auch Junior College, kurz JUCO, genannt, bestand darin, die Jungs wieder auf die richtige Bahn und dann wieder zurück in die großen Sportprogramme der renommierten Colleges zu schicken, in denen sie die Chance bekamen, irgendwann in der National Football League, der NFL, zu spielen.
Brown erklärte Bruno, dass Tyvis Pryor sein liebster und bester Schützling sei.
„Und Sie haben ihn in nur einer Saison wieder hinbekommen?“
„Ich will ja nicht prahlen“, sagte der Coach grinsend. „Aber er hat einen Notendurchschnitt von Zwei plus und ist gleichzeitig der beste Passgeber in seiner Liga geworden. Hat alle Rekorde gebrochen.“
Ungefähr an der Fünfzig-Yard-Linie sah Bruno einen kräftigen Jugendlichen mit langen Armen, stämmigen Beinen und einem eleganten Wurf.
„Ein Meter achtundneunzig, hundertfünf Kilo“, sagte der Coach. „Ich sag Ihnen, das ist der nächste Tom Brady. Und keiner will ihn sich auch nur anschauen.“
„Er ist ein JUCO-Kid, Coach. Natürlich guckt ihn sich keiner an. Wenn er wirklich so gut ist, dann schicken Sie ihn doch auf die FSU, die Florida State University, oder runter nach Florida. Die brauchen da einen Quarterback.“
„Aber er ist schon zweiundzwanzig und möchte eine Chance bei den Profis.“
Klar wollte er das. So wie jeder andere College-Student.
„Ihm ist aber schon klar, dass Aschenputtel ein Märchen ist, oder?“ Bruno verfolgte den Ball, der sich auf ein schmales Ziel zuschraubte.
Nachdem Bruno sich jetzt seit anderthalb Jahren abmühte, hatte er genau zwei Klienten unter Vertrag. Wenn er in dieser Rekrutierungsphase nur einen JUCO-Kandidaten unter Vertrag bekam, konnte er Sports Equity dichtmachen, und dann hätten Kevin Vrable und Brunos Vater recht behalten.
Dann wäre Bruno Endicott wirklich ein Nichts.
„Haben Sie gesehen, wie er den Ball zum Ziel gezwirbelt hat?“ Bruno schüttelte das Wort Nichts ab und konzentrierte sich wieder auf den Coach. „Er hat von der Fünfzig-Yard-Linie aus getroffen. Kommen Sie schon, geben Sie ihm eine Chance.“
„Ja, warum nicht?“, gab Bruno schließlich mit steifer Haltung und vor dem Oberkörper verschränkten Armen nach, während er Tyvis zusah.
Das gesamte Projekt hier strahlte irgendwie Verzweiflung aus. Kein Spielerberater, der auch nur einigermaßen bei Verstand war, hätte einen Spieler aus dem Junior College unter Vertrag genommen, denn das kam einem beruflichen Selbstmord gleich.
Doch wenn ein Vertrag mit Tyvis Pryor ihm das Wohlwollen von Calvin Blue einbrachte, des Spielers, den Bruno eigentlich haben wollte, dann würde er es vielleicht tatsächlich machen.
„Komm schon, Calvin, mach’s wie dein Freund und komm zu Sports Equity und dann bringen wir mal ein bisschen Leben in die NFL.“
In dem Moment blies der Coach in seine Trillerpfeife, winkte Tyvis zu sich an die Seitenlinie und rief: „Ich hab hier jemanden, den ich dir gern vorstellen möchte“, woraufhin der Quarterback vom Feld getrabt kam. „Das hier ist Bruno Endicott, der Spielerberater, von dem ich dir erzählt habe.“
Bruno begrüßte den Spieler mit einem Männerhandschlag und sagte: „Dein Kumpel Calvin lobt dich in den höchsten Tönen.“
Tyvis lächelte nur ganz kurz, aber es war ein echtes Lächeln. „Wir sind seit unserem ersten Jahr an der Florida State Freunde.“ Seine Stimme passte zu seiner Statur und seiner Spielweise – dröhnend, elegant und kontrolliert. „Er hat mir erzählt, dass Sie mal einer der Top-Spielerberater im Land gewesen sind und bei Watershed gearbeitet haben.“
„Einer der Top-Spielerberater bin ich immer noch.“ Angeberei half eigentlich immer. „Kennst du Jack Stryker? Luke Mays? Dustin Clever?“ Bei jedem der großen Namen aus der NFL bekam der Junge größere Augen und einen hoffnungsvolleren Blick. „Ich habe mit allen die Verträge ausgehandelt.“
„Das sind schon ein paar ernst zu nehmende Spieler.“
Bruno gab Tyvis seine Karte und sagte: „Ich habe jetzt meine eigene Agentur. Sports Equity.“
„Fernandina Beach, Florida?“, fragte der Junge erstaunt, als er die Visitenkarte las. „Wo ist denn das?“
„Ein bisschen außerhalb von Jacksonville.“ Jetzt stellte der Junge ihm schon die Fragen.
„Was ist denn an der FSU vorgefallen?“, fragte er Tyvis als Nächstes. Obwohl Coach Brown ihn schon aufgeklärt hatte, wollte Bruno Tyvis’ eigene Version hören.
„Könnten wir uns vielleicht auf den Weg zum Essen machen, Gentlemen?“, fragte der Coach und schlug Bruno mit der flachen Hand auf den Rücken. „Meine Frau macht die beste Lasagne, die Sie jemals gegessen haben, und mir läuft schon beim Gedanken daran das Wasser im Mund zusammen. Lassen Sie uns zu mir nach Hause fahren, dann können wir beim Essen weiterreden. Wann haben Sie denn das letzte Mal ein hausgemachtes Essen bekommen?“
„Lassen Sie mich nachdenken ... Welches Jahr haben wir noch mal?“, fragte Bruno grinsend.
Als Spielerberater war er ständig unterwegs und lebte aus dem Koffer, sodass er meistens aus Tüten oder Schachteln aß. Wenn er zu Hause war, kochte seine Mutter manchmal für ihn, aber ihr Job bei Mrs. Acker war ziemlich anstrengend und kochen gehörte nicht unbedingt zu ihren Prioritäten.
„Ab unter die Dusche, Tyvis, während ich Bruno deine Leistungsstatistik zeige.“
Der junge Mann nickte daraufhin und trabte Richtung Trainingshalle davon.
„Der Junge rennt immer“, sagte der Coach und deutete Bruno mit einer Geste, ihm in sein Büro zu folgen.
Trotz seiner Vorbehalte war Bruno von dem, was Tyvis auf dem Platz gezeigt hatte, beeindruckt. Der Junge war schnell, hatte gute Füße und werfen konnte er auch.
Wenn er vom richtigen College mit dem richtigen Coach käme, wäre Tyvis vielleicht tatsächlich ein Kandidat. Bei dem bisschen, das er an diesem Nachmittag gesehen hatte, war das schwer zu beurteilen, aber als Spieler von einem Junior College und dann noch mit einer problematischen Vergangenheit … Eigentlich sah Bruno für den Jungen keine Zukunft.
„Also, Bruno, was ist bei Watershed passiert?“, fragte der Coach, als sie das kleine quadratische Büro betraten, das mit Ausrüstungsgegenständen und Papieren vollgestopft war.
„Es gab Meinungsverschiedenheiten.“
„Gibt es denn überhaupt jemanden, der mit Vrable keine Meinungsverschiedenheiten hat?“, fragte der Coach und setzte sich. „Ich habe gehört, dass Ihre Mutter krank war.“
„Ja, sie hatte einen Autounfall. Sie hatte sich an zwei Stellen das Bein gebrochen und brauchte mich damals, Kevin nicht.“
„Und Sie sind wieder nach Hause gezogen, um sich um sie zu kümmern?“
„Ja, so in etwa“, sagte Bruno, um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie acht Jahre bei Watershed damit enden konnten, dass Kevin ihn vor der gesamten Belegschaft von Watershed niedergebrüllt hatte.
„Du bist ein Nichts, Endicott.“
„Hier sind seine Leistungsstatistiken von der FSU und vom Junior College, also seine Zeit über vierzig Yards, seine vertikale Sprungkraft und seine Werte beim Bankdrücken … Aber sehen Sie selbst.“
Bruno nahm den Hefter und setzte sich auf den Stuhl, der am nächsten stand. „Und er will nicht erst ein Jahr an einem College mit einer Footballmannschaft in der ersten Liga spielen?“
„Wie gesagt, er ist mit zweiundzwanzig schon ziemlich alt und möchte es lieber gleich in der NFL versuchen. Für ihn heißt es: jetzt oder nie. Jedenfalls sieht er es so. Sie wissen ja wahrscheinlich, wie es ist, wenn man unbedingt eine Chance braucht.“ Dabei zog der Coach fragend die Augenbrauen hoch, als wollte er sagen: „Haben Sie mich verstanden?“
„Sie beide haben viel gemeinsam, wissen Sie das?“, fuhr der Coach fort.
„Tyvis und ich? Was denn zum Beispiel?“, fragte Bruno erstaunt.
„Sein Vater hat die Familie verlassen und ist ein paar Jahre später dann gestorben, so wie Ihrer. Sie sind wieder zurück nach Hause gegangen, um sich nach dem Unfall um Ihre Mutter zu kümmern, Tyvis geht nach dem Training noch arbeiten, damit er seine Mutter, seine Schwester und seinen Bruder finanziell unterstützen kann. Letzten Sommer hat er in drei Jobs gearbeitet und ist dann am ersten Trainingstag in der besten Form aufgelaufen, in der ich ihn jemals erlebt habe.“
Coach Brown wühlte in irgendwelchen Papieren, schob Sachen hin und her und zog schließlich ein Bild von Tyvis hervor. „Können Sie sich vorstellen, wie der mit richtigem professionellem Training aussehen würde? Der ist für Football wie gemacht, Bruno.“
Bruno ließ seinen Blick über das unscharfe Bild schweifen, das offenbar auf einem einfachen Drucker ausgedruckt worden war. Die richtige Körperstatur hatte Tyvis auf jeden Fall, aber das machte ihn noch längst nicht zu einem Profi-Quarterback.
„Und genau wie Sie“, fuhr der Coach fort, „will er mehr. Er ist erfolgshungrig und gibt nicht auf, bevor ihm nicht die allerletzte Tür vor der Nase zugeschlagen wird.“
Coach Brown erkannte einfach zu viel, und sah Dinge, von denen Bruno gar nicht wusste, dass er sie verriet.
„Mit welchen Spielerberatern sind Sie denn sonst noch im Gespräch, Coach?“
„Nur mir Ihnen.“
Da lehnte sich Bruno mit einem kurzen sarkastischen Lachen auf seinem Stuhl zurück und sagte: „Dann glauben Sie ja selbst nicht einmal so sehr an Tyvis, wie Sie behaupten.“
„Doch, das tue ich. Und ich habe mich nur an Sie und sonst niemanden gewandt, weil ich überzeugt bin, dass Sie der Mann sind, der ihn den ganzen Weg begleiten kann.“ Der Coach blätterte noch mehr Papiere und Hefter durch und stapelte immer mehr Papierstapel aufeinander, sodass Bruno sich schon für den Moment wappnete, in dem der ganze Stapel umstürzen würde. „Meine Frau ist Anwaltsgehilfin im Ruhestand und sie recherchiert für ihr Leben gern. Ah, hier ist es ja. Der Coach hielt einen dünnen neuen Hefter hoch. „Das hier ist Ihre Akte.“
Der Mann schummelte also. Er hatte gar keinen magischen Blick, wie Bruno geglaubt hatte.
„Fast jeder Spieler, der bei Ihnen unter Vertrag war, ist schon in der ersten Draft-Runde ausgewählt worden. Die meisten von ihnen in die Top Ten, und sie sind der einzige Spielerberater, der in den letzten fünf Jahren dieses Kunststück vollbracht hat. Sie haben da eine Gabe, ein gutes Auge. Und fast jeder von diesen Spielern hat eine ähnliche Leistungsstatistik wie Tyvis Pryor.“
Mit selbstzufriedener Miene legte der Coach den Hefter wieder auf den Schreibtisch.
Die Arme auf den Oberschenkeln abgestützt beugte sich Bruno vor und schaute sich noch einmal Tyvis’ Werte an. Sie ähnelten stark denen eines Spielers, der vor drei Jahren schon in der ersten Runde ausgewählt worden war und sein Team dann zur nationalen Meisterschaft geführt hatte.
„Also ich weiß ja nicht …“ Die Demütigung brannte ihm unter der Haut. Wie um Himmels willen war er nur in die Sache hier hineingeraten?
Wieso war er in Fernandina Beach geblieben, einer entlegenen Gemeinde am Meer, eine Dreiviertelstunde mit dem Auto vom Stadtrand von Jacksonville entfernt?
Wieso blieb er dort und gab sich als Spielerberater mit Nachwuchsleuten ab und einer kleinen Agentur, obwohl er andere Angebote hatte?
Wieso gab er dem Drang zu bleiben und den Einflüsterungen, das sei seine Heimat, nach?
Er hatte den Verdacht, dass die Gebete seiner Mutter dabei eine Rolle spielten, aber sie sprach nie mit ihm über Gott, den Glauben oder die Kirche, sondern tat stattdessen etwas sehr viel Wirkungsvolleres: Sie sprach mit Gott über ihren Sohn.
„Zu alldem kommt noch hinzu“, sagte der Coach – ob zu Bruno oder den Bürowänden war nicht so eindeutig zu erkennen –, „dass ich Tyvis dazu gebracht habe, mit Jesus zu reden. Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus. Es ist heutzutage in unserer Gesellschaft ja fast schon wie etwas Unanständiges, Jesus zu erwähnen.“
Bruno steckte den Hefter mit Informationen über Tyvis in seine Schultertasche und fragte: „Wieso sollte mir das etwas ausmachen?“
„Ich weiß ja nicht, wie Sie zum Glauben stehen“, sagte der Coach darauf nur. „Jedenfalls singt Tyvis im Gospelchor seiner Gemeinde mit. Sie sollten mal sehen, wie er ganz hinten bei den Männerstimmen steht und alle haushoch überragt. Und er hat eine richtig schöne Bassstimme.“
„Wie oft haben Sie schon dieses Gespräch geübt?“, fragte Bruno daraufhin nur.
„Seit Sie sich bereit erklärt haben zu kommen.“ Coach Brown, der wohl Mitte sechzig war, wirkte durch seine erstaunliche Vitalität viel jünger und seine Augen verrieten seine Leidenschaft für Football.
„Halten Sie mich ruhig für verrückt, aber ich glaube, er kann es schaffen“, erklärte der Coach weiter.
„Sie sind wirklich verrückt“, sagte Bruno daraufhin, ging zum Fenster und schaute hinaus auf den Platz, über dem gerade ein Graupelschauer niederging. „Glauben Sie, ich kann Wunder vollbringen? Keine NFL-Mannschaft wird ihn auch nur in Betracht ziehen. Er wird gar nicht erst zu den Sichtungen mit den Scouts eingeladen, und er bekommt auch keine Chance durch einen Pro Day am College, bei den ihn die Scouts sehen könnten, weil Junior Colleges keine Pro Days veranstalten. Wie wollen Sie denn Scouts und Trainer dazu bringen, ihn sich überhaupt anzuschauen?“
„Das wollte ich eigentlich Ihnen überlassen“, antwortete Coach Brown.
Da lachte Bruno und erklärte: „Sie sind ja ein noch größerer Träumer als Tyvis.“
„Wie viele Klienten haben Sie zurzeit, Bruno?“, fragte der Coach jetzt, hielt inne, schaute auf seine Uhr und klopfte mit den Fingern auf seinen Bauch.
„Ich bin noch in der Aufbauphase.“
„Also null?“
„Calvin ist kurz davor zu unterschreiben, und wenn ich ihn unter Vertrag habe, dann nehme ich vielleicht auch Tyvis. Vielleicht.“
„Ich glaube, es ist eher so, dass Sie Calvin nicht bekommen, wenn Sie Tyvis nicht nehmen. Die beiden sind nämlich richtig dicke. Das Problem bei Leuten in Ihrem Alter ist, dass sie nicht groß genug denken. Sie wollen nur das, was Sie bei anderen sehen. Glauben Sie, die Brüder Wright haben sich damals Gedanken darüber gemacht, dass noch nie ein Mensch geflogen war? Was wäre, wenn Edison gesagt hätte. ,Yo, Leute, Kerzen reichen doch auch … funktionieren doch schon seit tausend Jahren gut.‘“
„Sie glauben, Edison hat ,yo‘ gesagt?“
Der Coach stützte sich mit den Ellenbogen auf der Schreibtischplatte ab und tippte sich an die Schläfe. „Sie müssen über den Tellerrand hinausschauen. Versuchen Sie, Vrables Stimme aus dem Kopf zu bekommen. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass die NFL jeden Spieler nimmt, der gut genug ist. Ich habe einen Jungen in der Liga, der nicht einmal auf dem College war.“
„Das ist aber wirklich eine seltene Ausnahme, Coach.“
„Tyvis Pryor ist auch so eine Ausnahme. Hören Sie doch auf, so zu tun, als ob die einzigen Jungs, die es schaffen können, die Vollblüter sind. Nehmen Sie einen Jungen, der nicht schon im Rampenlicht steht, und brechen sie mit den gängigen Regeln.“
Bruno hörte nur mit halbem Ohr hin. Die Regeln brechen? Nein, er war ein Mann, der sich an die Vorschriften und Regeln hielt, und zwar so sehr, dass er Kevin Vrable wegen Unregelmäßigkeiten und Fehlverhalten zur Rede gestellt hatte. Und das wiederum war einer der Gründe, weshalb er jetzt im Büro eines JUCO-Coaches in Scooba, Mississippi, gelandet war.
„… sorgen Sie dafür, dass er bei einem Pro Day dabei sein kann – an der Florida State oder der University of Central Florida. Haben Sie nicht in Florida für Watershed Spieler gesichtet? Das muss doch praktisch Ihr Wohnzimmer sein? Tyvis kommt aus Destin. Das ist Ihr Gebiet“, sagte Coach Brown.
„Sie reden, als würden Sie mich kennen, Coach“, sagte Bruno und deutete mit der Hand auf den Hefter, der auf dem Schreibtisch des Coachs lag. „Aber Sie kennen mich nicht, denn wenn es so wäre, dann wüssten Sie, dass ein Spieler vom Junior College mir nicht genügt.“
Der Coach seufzte, schaltete seinen alten Computer aus, nahm seinen Schlüssel und kam hinter seinem Schreibtisch hervor.
„Sie haben recht“, sagte er. „Ich kenne Sie nicht. Und ein paar Fakten und Zitate aus dem Internet schaffen keine Verbindung zwischen zwei Menschen. Bei jedem anderen Spieler hätte ich Sie nicht behelligt, aber Tyvis ist was Besonderes, Bruno. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Junge für so wenig so hart arbeitet. Um fünf Uhr morgens ist er im Kraftraum, und vor und nach dem Unterricht arbeitet er in der Cafeteria, um Geld zu verdienen. Er ist immer bereit fürs Training, schafft alle Leistungsvorgaben im normalen Schulunterricht und das Tag für Tag für Tag. Und stellen Sie sich vor, er hat immer noch ein Klapphandy. Man kann ihm keine Nachrichten schreiben, weil er kein Smartphone besitzt. Er hat Mist gebaut und will den Schaden, den er angerichtet hat, wiedergutmachen. Zusätzlich will er für seine Mutter, seine Schwester und seinen Bruder sorgen, und er möchte gern den Traum leben, den er hat, seit er neun ist. Sagen Sie mir eines: Warum sind Sie als Jurist Spielerberater und nicht Firmenanwalt oder Prozessanwalt geworden? Da würden Sie viel mehr verdienen, hätten pünktlich Feierabend und an Wochenenden und Feiertagen frei.“
Bruno wechselte seine Position und dachte, dass sie bestimmt nicht die Zeit hatten, all seine Gründe aufzuzählen. Aber in Wirklichkeit war seine Antwort ganz einfach. „Ich liebe es“, sagte er deshalb.
„Dann sollten Sie Tyvis ernsthaft in Betracht ziehen. Er liebt es nämlich auch. Ich sehe Spieler und ich sehe echte Spieler“, sagte der Coach im Brustton der Überzeugung. „Und er ist geboren, um Football zu spielen. Wieso in einem Büro sitzen oder in einem LKW, wenn man weiß, dass man auf den Footballplatz gehört?“
In dem Moment ging die Tür auf und Tyvis schaute herein. „Fertig?“
„Auf geht’s“, sagte der Coach, klimperte mit den Schlüsseln, schaltete die Lichter im Büro aus und forderte Tyvis auf, mit zum Essen zu kommen.
Auf dem Weg zum Wagen checkte Bruno seine Mails. Außer hinter Calvin Blue war er auch noch hinter einem Spieler von der Ohio State University und einem aus Florida her, von denen es aber nichts Neues gab.
Bruno fuhr hinter dem dicken Ford F350 Truck des Coaches her und telefonierte dabei mit seiner Mutter. „Wie war dein Tag?“ Seit dem Unfall, bei dem sie zwei Stunden lang im Straßengraben gelegen hatte, bevor jemand sie dort entdeckt hatte, war er in Gedanken immer halb bei ihr.
„Mrs. Acker wollte heute Rosen pflanzen.“
„Im Winter?“ Selbst in Florida gab es Jahreszeiten, in denen man pflanzte und säte.
„Und nächste Woche muss ich sie wahrscheinlich wieder rausreißen und stattdessen Orchideen pflanzen. Wann bist du denn wieder zu Hause?“
„Heute Abend.“
„Mit dem kleinen Flugzeug?“, stöhnte seine Mutter. „Ich weiß, du sagst, dass Stuart ein hervorragender Pilot ist, aber schon allein bei dem Gedanken bekomme ich eine Gänsehaut. Kannst du nicht einen Fallschirm tragen?“
„Für den Fall, dass wir abgeschossen werden?“
„Es könnte doch ein Motor ausfallen oder explodieren.“
Schmunzelnd entgegnete Bruno: „Stuart ist wirklich ein hervorragender Pilot und sein Flugzeug ist ebenso hervorragend. Dir ist schon klar, dass er mich umsonst durch den ganzen Süden fliegt, nur weil er Flugstunden als Pilot braucht, oder? Durch ihn spare ich sehr viel Zeit und Geld, Mama. Weil ich heute Abend schon zu Hause bin, statt im Auto zu sitzen oder auf einen Linienflug zu warten, kann ich dich morgen früh zum Frühstück im Bright Mornings Café einladen. Na, wie wär’s?“
„Gern, aber es gefällt mir trotzdem nicht, dass du in einem Privatjet in der Gegend herumfliegst.“ Ein bisschen ließ die Anspannung in ihrer Stimme jetzt nach. „Ich freue mich, dich bald wiederzusehen.“
Er war den ganzen Dezember nicht zu Hause gewesen. Ein Pokalspiel nach dem anderen hatte dafür gesorgt, dass er ständig unterwegs gewesen war, sogar über Weihnachten.
Sie plauderten noch ein bisschen, während Bruno auf der kurvigen zweispurigen Straße, die von kahlen Ahornbäumen und hohen Pinien gesäumt war, hinter Coach Brown herfuhr.
Er wollte sich gerade von seiner Mutter verabschieden, weil sie zum Haus des Coaches abbogen, als seine Mutter sagte: „Es gibt da noch eine Neuigkeit, die ich dir verschwiegen habe, Bruno.“
„Was denn?“, erkundigte er sich und parkte seinen Wagen hinter dem Truck vom Coach, schaltete den Motor aus und spürte einen leichten Adrenalinstoß. War sie krank? Krebs? Nein, denk gar nicht dran. Hatte sie jemanden kennengelernt?
Ihre Stimme hatte den gleichen Klang wie damals, als sie ihn wegen des Unfalls angerufen hatte. Oder als sie ihm gesagt hatte, dass sein Vater gestorben sei.
„Es geht um Miss Everleigh, mein Junge. Sie ist gestorben.“
„Miss Everleigh? Wann?“, fragte Bruno und schaute aus dem Fenster, während ihn der Coach ins Haus winkte. Doch statt auszusteigen, legte er den Kopf aufs Lenkrad.
Er hatte gerade ein Stück seiner Kindheit verloren, das ihm heilig war. Die Frau mit dem engelsgleichen Gesicht hatte sein ganzes Leben lang gegenüber gewohnt. Die Frau im Memory House – wie er es als Kind genannt hatte – hatte ihm beigebracht, wie man Chocolate Chip Cookies backt, Marshmallows grillt und die Arche Noah aus Eisstielen bastelt.
In dem weitläufigen viktorianischen Gebäude mit seinem Türmchen, den Erkern und der Wendeltreppe hatte er seine Nachmittage verbracht, nachdem sein Vater die Familie verlassen hatte und seine Mutter in zwei Jobs hatte arbeiten müssen. Und in Miss Everleighs Garten hatte er sich mit acht Jahren verliebt – in Beck Holiday –; seit Jahren hatte er nicht mehr an sie gedacht.
„Direkt nach Thanksgiving.“
„Thanksgiving? Und dann sagst du es mir erst jetzt? Habe ich jetzt etwa die Trauerfeier verpasst?“
„Nein, die ist am nächsten Sonntagnachmittag. Miss Everleigh wollte nicht, dass viel Aufhebens um ihr Begräbnis gemacht wird, aber der Pastor hat anders entschieden. Weil wegen der Feiertage – besonders Thanksgiving – viele Leute nicht zu Hause waren, sondern zu Besuch bei Verwandten, ist der Trauergottesdienst verschoben worden. Schaffst du es, bis Sonntag zu Hause zu sein?“
„Ja sicher.“ Er würde es sich ganz bestimmt nicht nehmen lassen, von der einzigen „Großmutter“ Abschied zu nehmen, die er je gehabt hatte.
Nachdem er das Gespräch beendet hatte, stieg er aus dem Wagen und schaute zum grauen, regnerischen Horizont.
„Ruhen Sie in Frieden, Miss Everleigh.“ Er hatte sie eigentlich häufiger besuchen wollen, nachdem er wieder nach Fernandina Beach zurückgekehrt war, aber der Sichtungsmarathon ließ ihm kaum Zeit, sich um das eigene Leben, geschweige denn um das anderer Menschen zu kümmern.
„Bruno! Das Essen ist fertig“, rief der Coach zum offenen Garagentor heraus. „Und außerdem fängt es an zu regnen. Hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, dass man dann ins Haus geht?“
„Ich komme.“
Im Haus lachte Tyvis mit einer schlanken Frau mit rötlichem Haar und neugierigem Blick. Neben seiner dunklen, muskulösen Figur wirkte sie wie ein Zwerg, aber die Stärke, die er ausstrahlte, war sanft. Die Szene war wie Balsam nach dem, was er gerade von seiner Mutter erfahren hatte, und als Bruno jetzt diese Szene sah, wünschte er sich solche Augenblicke auch für sein eigenes Leben – vielleicht sogar eine eigene Familie.
Aber dazu musste er sein Leben entschleunigen, eine Beziehung mit einer Frau eingehen, die länger hielt als nur ein Date, und sich innerlich mehr öffnen.
„Ich hoffe, Sie haben Hunger“, sagte der Coach und schob Bruno in den Raum.
„Das kann man wohl sagen“, erklärte er und schaute erst Tyvis und dann Mrs. Brown an.
„Ich bin bereit fürs Essen.“
Als sie aufwachte und Tageslicht in ihr Schlafzimmer in East Flatbush strömte, grummelte sie und blinzelte gegen die Helligkeit an. Sie kuschelte sich noch einmal unter die Decke und stieß dabei gegen einen warmen Körper, der zusammengerollt neben ihr lag.
Als die Erinnerung an die Ereignisse des vergangenen Abends zu ihrem noch schlaftrunkenen Hirn durchdrang, setzte sie sich auf und schlug die Bettdecke zurück. Boudreaux – der Hund – vier Stunden in der Tierklinik.
„Hey, mein Kleiner. Frohes neues Jahr.“ Ganz vorsichtig kraulte sie den Hund hinter den Ohren. „Hast du gut geschlafen?“
Mit einem leisen Winseln versuchte er, die Augen zu öffnen, aber die Erschöpfung und die Medikamente, die er bekommen hatte, hatten ihn noch fest im Griff.
Laut Tierarzt war er ein Zwergschnauzer, fünf bis sechs Jahre alt, unterernährt, dehydriert, und von Flöhen und Würmern befallen.
Sie hatten ihn geröntgt, mithilfe einer Ultraschalluntersuchung eine Bestandsaufnahme von seinen inneren Verletzungen gemacht, ihn dann mit Antibiotika und Flüssigkeit versorgt und schließlich Beck mit Spezialnahrung und Instruktionen für seine Behandlung nach Hause geschickt.
„Kommen Sie in zwei Wochen wieder, dann können wir ihn gründlicher untersuchen“, hatte es geheißen.
Der kleine Kerl sprach zwar sofort gut auf die Flüssigkeitszufuhr und die Nahrung an, aber der Tierarzt war besorgt, dass es doch noch zu unvorhergesehenen Komplikationen kommen könnte.
Beck stand auf, zog die Vorhänge zu und legte sich wieder neben ihren neuen Freund.
Er seufzte leise, als sie seine Pfote streichelte. Auf dem Weg zur Klinik hatte sie ihn Beetle Boo genannt, und nachdem der Tierarzt diesen Namen dann auch auf die Patientenkarte geschrieben hatte, war es besiegelt gewesen.
Es klopfte leise an ihrer Tür. „Frohes neues Jahr, Beck. Bist du wach?“, sagte ihre Mutter leise und spähte vorsichtig ins Zimmer. „Du bist später nach Hause gekommen als …“ Sie verzog den Mund und sah jetzt in ihrer pinkfarbenen Krankenhauskleidung und der blassen Winterhaut aus wie ein zorniges Eis am Stiel. „Ein Hund? Also bitte, Beck, du weißt doch, dass Flynn allergisch ist.“
„Ich wünsche dir auch ein frohes neues Jahr, Mama“, sagte Beck darauf, drückte mit geschlossenen Augen ihre Stirn gegen das winzige Hundegesicht und atmete den Duft des sauberen Fells ein. Sie hatte den Raum verlassen müssen, als der Tierarzt angefangen hatte, den Hund zu säubern, indem er ihm dicke Klumpen völlig verfilzten Fells abrasierte, so furchtbar hatte Beetle Boo dabei gejault und gewinselt.
„Gibt es zu dem Hund auch eine Geschichte?“, fragte ihre Mutter jetzt.
„Keine Sorge, ich suche mir eine eigene Wohnung. Du brauchst also nicht lange ein Haustier zu ertragen“, sagte Beck nur.
„Jetzt sei doch nicht gleich so kratzbürstig. Es ist nur, weil Flynn allergisch gegen Hunde ist.“
Sie hatte nie die Absicht gehabt, mit einunddreißig Jahren noch bei ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und ihrem kleinen Bruder zu wohnen, aber als letztes Jahr ihre beste Freundin und Mitbewohnerin Sarah in Stuytown geheiratet hatte, war Beck vorübergehend wieder in ihr altes Zimmer in East Flatbush gezogen.
Aus Tagen waren Wochen und aus Wochen Monate geworden und im Nu war ein Jahr vergangen. Inzwischen hatte sie genug gespart, um sich eine eigene Wohnung zu nehmen und gerade einen Mietvertrag unterschreiben wollen, als sie gemerkt hatte, dass ihr Abend im Rosie’s und das Zusammentreffen mit Hunter Ingram Folgen hatte.
Vielleicht war das der Grund, weshalb sie sich unbedingt um Beetle Boo kümmern wollte – als Ablenkung von der Tatsache, die sie bisher phänomenal ignoriert hatte, indem sie den Kopf in den Sand steckte.
„Beck?“ Die eine Seite des Bettes sackte unter dem Leichtgewicht ihrer Mutter nach unten und Beck schaute sie von schräg unten an.
„Hast du mich gehört? Ich gehe jetzt zur Arbeit. Das Abendessen steht im Backofen. Flynn müsste eigentlich gegen sechs zu Hause sein. Nach dem Kalender am Kühlschrank hast du heute Nachtschicht. Bitte iss was, bevor du gehst, ja? Du bist ja nur noch Haut und Knochen. Flynn hat gesagt, dass dir im letzten Monat öfter mal schlecht gewesen ist …“
„Ja, ich hab wohl zu viel Fast Food gegessen. Viel Spaß bei der Arbeit, Mama.“
„So viel Spaß, wie eine Zwölf-Stunden-Schicht im Kings County eben hergibt. Aber heute ist Neujahr, da gibt es immer jede Menge Gutes zu essen. Apropos Essen …“
„Ich habe dich schon gerade eben verstanden, Mama“, sagte Beck, setzte sich auf und strich sich ihr langes, dunkles Haar aus dem Gesicht. „Iss was, bevor du zur Arbeit gehst.“
„Was ist denn los mit ihm?“, fragte ihre Mutter und schaute Beck an. Die zog sich ihre Decke über den Bauch und schaute den Hund an. „Er ist ja in richtig übler Verfassung“, fuhr ihre Mutter fort.
„Ich hab ihn einem Täter abgenommen, der ihn eine Tüte mit Drogen hat fressen lassen, damit er sie später wieder ausscheidet.“
Ach du liebe Zeit… genau im richtigen Moment schlug jetzt wieder die Morgenübelkeit zu. Immer ungefähr zehn Minuten nach dem Aufwachen. Sie hatte eigentlich gedacht, dass das langsam vorbei sein müsste, aber …
„Und wieso hast du nicht die Tierrettung verständigt?“
„Weil …“, einatmen, ausatmen, einatmen … und der Moment war vorbei, jedenfalls fürs Erste, „… ich das Gefühl hatte, dass er meine Hilfe brauchte.“
Beck schaute zu ihrer Mutter hin – die Krankenschwester war eine Kümmerin, die alles liebte, was lebte –, die doch eigentlich verstehen musste, wenn jemand Hilfe brauchte, auch wenn sie und ihre Mutter eigentlich nie ein besonders enges Verhältnis gehabt hatten. Beck war ein Papakind gewesen – so war es ihr jedenfalls erzählt worden. Doch dann war der Terroranschlag am 11. September passiert, eine Katastrophe, die bis heute bei ihr nachwirkte.
Der Einsturz des Nordturms hatte Mutter und Tochter gleichermaßen zusammen- wie auseinandergebracht, und zwar auf eine Weise, die keine von ihnen so ganz verstand.
Also ließen sie einander Freiraum – und ignorierten einfach, wie die jeweils andere sich nur humpelnd fortbewegte. Ihre Mutter, indem sie einfach ihr Leben fortsetzte und nie zurückschaute. Und Beck, indem sie vergaß.
„Interessant“, sagte ihre Mutter, stand auf und strich ihren Arbeitskittel glatt. „Du hast sonst nie Gefühle gezeigt, wenn es um Tiere oder Babys ging. Deinen kleinen Bruder hast du erst richtig angeschaut, als er schon fast zwei war.“
„Vielleicht habe ich mich ja verändert – ein bisschen.“
„Wunder über Wunder“, bemerkte ihre Mutter, schaute auf die Uhr und fragte: „Dann ist der Hund also ein dauerhafter Neuzugang?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht. Wie gesagt, ich habe genug gespart, um mir selbst eine Wohnung zu nehmen.“
„Habe ich gesagt, dass du ausziehen sollst? Ich muss nur wissen, was ich Flynn sagen soll. Er ist …“
„… allergisch. Ich weiß.“
So und ähnlich lief es zwischen ihnen fast immer seit dem Tod von Becks Vater. Damals war sie vierzehn gewesen. Jeder Versuch, irgendwie miteinander in Kontakt zu treten, führte zu einer unsichtbaren Spannung, aber irgendwie immer auch mit einem kleinen Schuss Geduld und Liebe.
„Was für ein Hund ist das noch mal?“, fragte ihre Mutter und streckte ihre Hand zu Beetles Nase aus. Aber der Hund war zu erschöpft, um auch nur den Kopf zu heben. „Vielleicht ist es ja eine Rasse, die nicht haart.“
„Er ist ein Zwergschnauzer“, antwortete Beck mit einem Lächeln und wärmte damit die Seele ihrer Mutter. „Ich bin wirklich dankbar für alles, was Flynn und du für mich tut, und dass ich hier mietfrei wohnen kann, aber ich brauche es auch, einfach mal für mich zu sein.“
Ihre Mutter nickte nur kurz und sagte dann: „Ich erinnere mich, dass ich damals auch mit den Hufen gescharrt habe, das Nest zu verlassen. Und ich war zwanzig, als ich mich dann Hals über Kopf in deinen Vater verliebt habe.“ Sie beugte sich vor, um Beck einen Kuss auf die Stirn zu geben, wünschte Beetle Boo einen guten Tag und ging zur Tür. „Ach ja, unten liegt Post für dich“, sagte sie noch im Hinausgehen. „Ein Einschreiben.“
„Von wem denn?“
„Von einem Anwalt in Florida“, antwortete ihre Mutter, schaute wieder auf die Uhr und zog ein Gesicht. „Ich muss jetzt aber wirklich los. Und vergiss nicht, dein Essen steht im Ofen.“
Im selben Moment, als die Tür geschlossen wurde, stürzte Beck aus dem Bett ins Bad und ging vor der Kloschüssel in die Knie – Erleichterung. Wie war es nur möglich, dass das, was für sie sonst immer fast das Schlimmste auf der Welt gewesen war – nämlich sich zu übergeben –, ihr eine solche Erleichterung verschaffte?
Dann betrachtete sie sich in ihrem T-Shirt, das am Bauch bereits spannte, im Spiegel.
Sie hatte ein Problem. Ein großes, vielschichtiges Problem, vor dem sie nicht davonlaufen konnte. Das Baby machte sich bemerkbar und sie konnte es nicht länger ignorieren.
Die ersten beiden Monate hatte sie gedacht, dass sie zu viel arbeitete, weil sie ständig müde war, aber dann hatte die Übelkeit angefangen.
Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie sich einfach zusammen mit Beetle Boo in ihrem Zimmer verkrochen, bis der Winter und all ihr Ach und Weh vorbei waren. Aber nach dem, was man so hörte, war eine Geburt mehr als nur ein Weh.
Die Geburt …
Die würde sie wohl allein durchstehen müssen.
Nachdem sie sich die Zähne geputzt und das Gesicht gewaschen hatte, ging sie wieder ins Bett, legte sich neben Beetle, starrte zur Decke und versuchte, an nichts zu denken.
Als sie noch klein war, hatten ihre Eltern immer mit ihr gebetet, wenn sie sie ins Bett gebracht hatten. Die Erinnerungen daran waren verschwommen und außer ihrer Mutter hatte niemand mehr klare bildhafte Erinnerungen an ihren Vater.
Neben ihr regte sich jetzt der Hund mit einem leisen Winseln und versuchte, aus dem Bett zu springen. Beck hob ihn herunter, setzte ihn auf den Boden und schaute zu, wie er kurz schwankte und dann zu seiner Wasserschüssel tapste.
Sie würde bald mit ihm nach draußen gehen müssen. Er brauchte Hilfe dabei, sein Geschäft zu machen, weil er sein Hinterbein beim Fall auf den Beton verletzt hatte, und auf den Röntgenbildern waren außerdem noch zwei ältere Brüche zu erkennen gewesen. Der Schlag sollte Boudreaux treffen.
Ohne nachzudenken flüsterte sie ein Gebet für den Hund – und dann auch noch eines für sich selbst. Sie hatte im Beruf so oft das verzweifelte Flehen sterbender Opfer, verängstigter Täter und trauernder Angehöriger gehört und war deshalb mittlerweile davon überzeugt, dass der Impuls, an den Himmel zu appellieren normal und auch legitim war.
„Frohes neues Jahr, Gott, ich bin’s Beck Holiday. Ich brauche Hilfe.“
Mit geschlossenen Augen wartete sie auf eine Art Stimme oder auf ein Gefühl, auf irgendeine Antwort vom Allmächtigen, aber das Einzige, was sie hörte, war der Signalton ihres Handys, der ihr mitteilte, dass eine Nachricht eingegangen war.
Stöhnend drehte sie sich zum Nachttisch um. Die ganze Serie einzeiliger Nachrichten kam von ihrem Vorgesetzten Lieutenant Hunter Ingram.
Beck?
Ruf mich an.
Wo bist du?
Was ist passiert?
Ich muss es wissen.
Ich kann dich sonst nicht decken.
Weiß nicht, ob ich es überhaupt kann.
Sergeant?
AUFWACHEN!
Sie hob Beetle Boo wieder zu sich ins Bett und überlegte, welche Optionen sie hatte.
Von zu Hause ausreißen? Nein, dazu war sie zu alt. Sie wäre liebend gern abgehauen und in ein neues, surreales, perfektes Leben geschlüpft, in dem es vernünftig war und einen Sinn ergab, schwanger zu sein, und in dem ihr Zustand ihr nicht Angst, sondern Hoffnung machte.
In ein Leben, in dem sie ein eigenes Zuhause hatte, einen Mann, der ihrem Baby ein Vater sein würde – wenn sie sich überhaupt dafür entscheiden würde, es zu bekommen –, in dem ihre Kindheitserinnerungen zurückkommen würden, und ein Zuhause, in dem der Schmerz über den Tod ihres Vaters sie nicht von ihrer Mutter trennte, sondern beide verband.
Aber das war nur ein Traum und wahrscheinlich zu viel verlangt vom Leben. Nach achtzehn Jahren machte sie sich keine Hoffnung mehr.
Das war auch der Grund, weshalb sie gern Polizistin war. In dem Job kannte sie sich aus, wusste, was von ihr erwartet wurde und fand sich selbst Tag für Tag in den Routineabläufen wieder.
Durch eigene Dummheit hatte sie sich in dieser einen blöden Nacht selbst in Schwierigkeiten gebracht. Dafür konnte sie niemand anders verantwortlich machen – abgesehen von ihm. Sie waren beide betrunken gewesen, aber wenn ihre ziemlich verschwommene Erinnerung sie nicht trog, war sie es gewesen, die im Rosie’s die Initiative ergriffen hatte.
Inmitten all der Nachrichten von Ingram war auch eine von Hogan.
Wie geht‘s dem Hund? Ruf mich an. Boudreaux‘ Anwalt ist hier schon aufgekreuzt, bevor ich den Bericht fertig hatte.
Sie wollte ihm gerade zurückschreiben, als ihr Handy klingelte. Ah, das war Ingram. Am Klingeln merkte sie, dass er die Geduld verlor.
Trotzdem drückte Beck ihn weg, warf das Handy zwischen die Papiertücher, Papiere, Bücher und Duftöle in der Nachttischschublade und vergrub sich mit ihren Sorgen im Kissen.
Vielen Dank auch für deine Hilfe, Gott.
Sie musste wieder eingeschlafen sein, weil ein Klopfen an der Tür sie aus einem traumlosen Schlaf aufschreckte.
„Ja?“ Sie räusperte sich und warf einen Blick auf ihren Wecker. Es war sieben Uhr abends.
Ihr Stiefvater Flynn betrat in seiner Polizeiuniform mit dem Dienstgrad eines Captains ihr Zimmer. „Du hast wirklich auf Streife deinen Posten verlassen?“
Beck zog jetzt die Bettdecke etwas zurecht, sodass Beetle Boo zum Vorschein kam. „Nein, ich habe nicht den Posten verlassen, sondern ich bin nur mit dem kleinen Kerl hier beim Tierarzt gewesen“, antwortete sie. „Hogan hat den Verdächtigen aufs Revier gebracht – was reine Zeit- und Geldverschwendung war. Gibt es noch Gerechtigkeit auf der Welt, Flynn?“
„Ja, es gibt Gerechtigkeit. Und irgendwann steht jeder vor seinem Richter.“ Er deutete jetzt mit dem Kopf auf den Hund und bemerkte: „Du hättest die Tierrettung verständigen können. Das ist deren Job. Deiner ist es …“