Die hohe Kunst der Politik -  - E-Book

Die hohe Kunst der Politik E-Book

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Beschreibung

Im Herbst 2021 verabschiedet sich mit Angela Merkel die erste deutsche Bundeskanzlerin und eine der mächtigsten und prägendsten Persönlichkeiten der Weltgeschichte seit der Jahrtausendwende. Sie hat Deutschland und Europa durch viele fundamentale Krisen und Umbrüche geführt und erreichte ein hohes, auch internationales Ansehen wie kaum jemand zuvor. Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Kultur und Gesellschaft – aus Deutschland und international – blicken auf Angela Merkel, ziehen eine erste Bilanz einer politischen Ära und würdigen eine außergewöhnliche Frau. Mit Texten von Annalena Baerbock, Daniel Barenboim, Marianne Birthler, Horst Bredekamp, Martin Brudermüller, Ottmar Edenhofer, Sigmar Gabriel, Jörg Hacker, Stephan Harbarth, Nico Hofmann, Ellen Johnson Sirleaf, Freya Klier, Charlotte Knobloch, Winfried Kretschmann, Armin Laschet, Christine Lagarde, Philipp Lahm, Nicola Leibinger-Kammüller, Ursula von der Leyen, Emmanuel Macron, Thomas de Maizière, Christoph Markschies, Henriette Reker, Andrea Riccardi, Annette Schavan, Donald Tusk.

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Annette Schavan (Hg.)

Die hohe Kunst der Politik

Die Ära ­Angela ­Merkel

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: © Dominik Butzmann/laif

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN E-Book (E-Pub): 978-3-451-82578-1

ISBN E-Book (E-Pdf): 978-3-451-82574-3

ISBN Print: 978-3-451-39086-9

Inhalt

Vorwort

Grußwort von Papst Franziskus

Politik ist eine hohe Kunst: Eine Einführung

Von Annette Schavan

I. Europa und die Welt nicht auseinanderbrechen lassen

Führungsqualitäten für Generationen

Von Ellen Johnson Sirleaf

Eine liebevolle Erzählerin der europäischen Politik: ­Angela ­Merkels Rolle in der Weltpolitik

Von Donald Tusk

Zielstrebig für ein stabiles Deutschland in einem starken Europa

Von Christine Lagarde

Die unermüdliche Suche nach Zusammenhalt

Von Emmanuel Macron

Wie ­Angela ­Merkel in den Krisen der EU zu einer großen Europäerin wurde

Von Ursula von der Leyen

Zwischen dem Kampf der Kulturen und Globalisierung

Von Andrea Riccardi

II. Unsere Demokratie sichern

­Angela ­Merkel und das Versprechen vom Aufstieg

Von Armin Laschet

The normal one – Pragmatismus versus Populismus

Von Winfried Kretschmann

Inszenierung über die Sache: Wie regiert ­Angela ­Merkel?

Von Thomas de Maizière

»Wir schaffen das!« Ein kommunaler Blick auf die europäische Migrationskrise

Von Henriette Reker

­Angela ­Merkel: Mehr Sein als Schein

Von Sigmar Gabriel

Non degenerabo – Ich bleib mir treu

Von Theo Waigel

Religion und Politik – Herausforderung zwischen Fundament und Fundamentalismus

Von Volker Kauder

»Was fest gefügt und unveränderlich scheint, das kann sich ändern.« Im Dienst für eine freie Welt

Von Annalena Baerbock

III. Die Dinge zum Guten verändern

Ein Glücksfall für unser Land: ­Angela ­Merkel und das jüdische Leben in Deutschland

Von Charlotte Knobloch

Zwischenzustände: Die Physik von ­Angela ­Merkels Chinapolitik

Von Martin Brudermüller

Das Bekenntnis und die Fähigkeit zum Ausgleich

Von Nicola Leibinger-Kammüller

Leading from behind: Die Kanzlerin und die hohe Kunst der Klimapolitik

Von Ottmar Edenhofer

Freie Wissenschaft – informierte Politik – aufgeklärte Öffentlichkeit

Von Jörg Hacker

Versöhnung! Was es braucht, um anderen und nicht sich selbst zu dienen

Von Marianne Birthler

Recht als politisches Argument. Beobachtungen zur Willensbildung im Rechtsstaat

Von Stephan Harbarth

Die hohe Kunst der Differenzierung. Über evangelische Theologie, Politik und eine Virtuosin der Unterscheidung

Von Christoph Markschies

IV. Handlungsfähigkeit behalten und Abstand vermeiden

Die Kanzlerin und der deutsche Fußball. Anmerkungen zur Professionalität

Von Philipp Lahm

»Ich will Deutschland dienen.« Bewunderung für eine Regierungschefin

Von Freya Klier

Apfelkuchen und Don Carlos. Begegnungen mit ­Angela ­Merkel

Von Ulrich Matthes

­Angela ­Merkel und die Wechselwirkung von Macht, Vernunft und Empathie

Von Nico Hofmann

Ein Verständnis für die universelle Kraft der Kultur

Von Daniel Barenboim

Nähe, Ferne und Plötzlichkeit. ­Angela ­Merkels politische Kunst bildphilosophisch gesehen

Von Horst Bredekamp

Über die Autorinnen und Autoren

Über die Herausgeberin

Vorwort

Es dauert eine Weile, bis eine Ära historisch beschrieben werden kann.

Das gilt auch für jene Ära, die ­Angela ­Merkel als Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland geprägt hat. Dazu ist ein genaues Studium von Ereignissen und Entwicklungen sowie Dokumenten und Reden notwendig. Dazu wird in Zukunft geforscht, diskutiert und publiziert werden. Jetzt sind zunächst Eindrücke und Erfahrungen aus diesen 16 Jahren präsent. Darum geht es in diesem Buch. Es ist multiperspektivisch angelegt, nimmt internationale Blicke auf und nähert sich der hohen Kunst der Politik aus höchst verschiedenen Welten.

­Angela ­Merkel steht ähnlich lange an der Spitze von Bundesregierungen wie Konrad Adenauer und Helmut Kohl. Mit ihr gerät die Zeit nach der Wiedervereinigung Deutschlands und Europas in den Blick. Es ist eine Zeit, die von umfassenden Transformationen im Land, in Europa und international geprägt ist. Es ist, wie in diesem Buch an mehreren Stellen beschrieben wird, auch eine Ära, in der es große internationale Krisen zu bewältigen gilt. Gleich mehrfach bestimmen existenziell bedrohliche Gefahren den globalen politischen Alltag. Zuletzt ist es die Zeit der Pandemie, die deutlich macht, wie sehr in der internationalen Gemeinschaft jedes Land betroffen ist und alle aufeinander verwiesen sind.

Die Bundeskanzlerin warb in allen Jahren ihrer Kanzlerinnenschaft für Multilateralismus und für den Respekt voreinander, der dafür eine unverzichtbare Voraussetzung ist.

In diesem Buch kommen zentrale politische Themen aus diesen 16 Jahren ebenso vor wie persönliche Erfahrungsberichte zur Zusammenarbeit mit ­Angela ­Merkel und nicht zuletzt Beobachtungen über ihre Kunst der Politik sowie ihre damit verbundenen Haltungen und Prioritäten.

Erzählerisch, analytisch, politisch, eindringlich, persönlich – so sind die Blicke auf ­Angela ­Merkel in den Texten dieses Buches, für die ich allen Autorinnen und Autoren sehr danke. Die Reihenfolge der Texte ist weder hierarchisch noch alphabetisch angelegt. Sie entspricht einer eher intuitiven Entscheidung, wie sich aus den 28 Texten eine Erzählung entwickeln kann, aus der ein Bild des Menschen und der Politikerin ­Angela ­Merkel entsteht und eine Vorstellung von dem, was die Ära geprägt hat.

Dankeschön sage ich allen Autorinnen und Autoren auch dafür, dass anstelle von Honoraren ein Teil der Erlöse des Buches dem Förderverein Kirchlein im Grünen in Alt Placht (Uckermark) sowie der Gemeinschaft Sant’Egidio in Rom zugutekommen wird.

Papst Franziskus gibt dem Buch mit seinem Geleitwort einen bedeutsamen Impuls. In den wenigen Zeilen steckt eine Art Quintessenz dessen, was beide zutiefst beschäftigt hat und in ihren zahlreichen Begegnungen prioritär behandelt wurde.

Patrick Oelze war ein inspirierender Lektor, dem ich ebenso herzlich danke wie dem Verlag für die Idee zu diesem Buch.

Ulm im Juni 2021Annette Schavan

Politik ist eine hohe Kunst: Eine Einführung

Von Annette Schavan

Alles hat seine Zeit

­Angela ­Merkel hat entschieden, nach 16 Amtsjahren als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und nach über 30 Jahren politischen Wirkens nicht mehr zu kandidieren. Sie verlässt die politische Bühne selbstbestimmt und selbstbewusst.

Schon das ist ein Novum. Bundeskanzler werden abgewählt. So war das immer. Nun also ist es anders. Das ist Ausdruck einer inneren Unabhängigkeit, die bei ihr auch nach drei Jahrzehnten in der Politik nicht kleiner geworden ist. ­Angela ­Merkel findet Abhängigkeiten – auch von Ämtern – nicht hilfreich.

Sie beschneiden die Kraft, das Notwendige zur richtigen Zeit zu tun. Sie führen zu falschen Entscheidungen aus Gründen einer eingeschränkten Sichtweise. Sie verengen Sichtweisen.

­Angela ­Merkel hat die Haltung, selbstbestimmt politisch tätig zu sein, nicht erst im Laufe der Jahre entwickelt. Es lohnt sich, dazu das Interview anzuschauen, das der Journalist Günter Gaus 1991 – vor genau 30 Jahren also – mit der damaligen Frauen- und Jugendministerin ­Angela ­Merkel geführt hat. Sie ahnt damals, dass Politik ein Leben stark verändert und in Beschlag nimmt. Sie nimmt nicht für sich in Anspruch, dass das bei ihr anders sein wird. Gleichwohl wird klar, sie wird beobachten, was sich da verändert, und sie will sich nicht von ihrem eigenen Leben wegführen lassen. Sie will die wirklich wichtigen Dinge im Blick behalten, und dazu gehört die Situation von Anfang und Ende, von Start und Abschluss. Alles hat seine Zeit, und die will erkannt sein.

Am Anfang steht der Widerstand

Zum Start in eine Kanzlerschaft gehören Widerstände. Sie beginnen in den eigenen Reihen und sind nicht leicht zu überwinden. Diese Erfahrung teilt ­Angela ­Merkel mit ihren Vorgängern. Die Erfahrung, von allen gewollt zu werden, kommt eher selten vor. Sie kennzeichnet bislang eher kurze Zeiträume, in denen alle jubeln, um dann recht bald zu verstummen. Lange Amtszeiten beginnen mit Zweifeln auf allen Seiten. Das war bei Helmut Kohl nicht anders als bei ­Angela ­Merkel – aus unterschiedlichen Gründen.

Bei ­Angela ­Merkel war es so: Zunächst musste sie dem CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber den Vortritt lassen. Das erwarteten vor allem die Ministerpräsidenten der CDU. Unter ihnen waren damals einige, die sich das Amt des Bundeskanzlers auch als ihren Arbeitsplatz hätten vorstellen können. Wenn schon nicht sie selbst, dann sollte wenigstens einer der ihren Bundeskanzler werden. ­Angela ­Merkel jedenfalls, davon waren sie überzeugt, kann es auf keinen Fall. Sie trat daraufhin einen Schritt zurück, um dann vier Jahre später zwei Schritte nach vorn zu gehen. Auch das war nicht unumstritten. Deutschland war in einer schlechten Verfassung. Europa war es auch. Und nun sollte ­Angela ­Merkel als Regierungschefin die dringend notwendigen Entscheidungen zu mehr Stabilität und mehr Internationalität der größten Volkswirtschaft in Europa finden? Ihre innerparteilichen Gegner und Skeptiker beruhigten sich damit, dass ihre Kanzlerschaft eine Episode bleiben werde. Nach einer kleinen Weile könne dann wieder zum erfolgreichen und bewährten Alltag von CDU und CSU zurückgekehrt werden.

So war das damals. Die CDU war bereits im Jahr 2000 mit ­­Angela ­Merkel als ihrer Vorsitzenden in eine Ära gestartet, die auch die Partei stark verändern sollte. Die Bereitschaft zu umfassender Veränderung erwies sich mehr und mehr als der Weg, Volkspartei zu bleiben im größer werdenden Spektrum politischer Kräfte und Parteien. Reformen wurden angestoßen, die noch wenige Jahre vorher schwer vorstellbar gewesen wären.

Vor allem bei den Reformdebatten zu innenpolitischen Themen erwies sich die hohe Integrationskraft von ­Angela ­Merkel als Schlüssel. Das zeigte die frühe Debatte über eine Weiterentwicklung der Familienpolitik besonders klar.

Die Überraschung der Freiheit

Biografien prägen Politik. In der Generation der Politikerinnen und Politiker der jungen Bundesrepublik waren es die biografischen Erfahrungen von Kriegs- und Nachkriegszeit, die als handlungsleitende Impulse für politische Prioritäten, für Entscheidungen und auch für das politische Selbstverständnis handelnder Personen genannt wurden. Eine andere politisch besonders prägende Zeit sind im Westen Deutschlands die sogenannten 68er Jahre. Auch damit sind biografische Erfahrungen verbunden, die politisch relevant waren für die Motive der Generation, die damals jung gewesen ist.

Mit der Ära ­Merkel rückt das für Deutschland und Europa zentrale Ereignis der Wiedervereinigung in den Blick. Es gab die mutigen Bürgerinnen und Bürger, die sich in der damaligen DDR und in den mittel- und osteuropäischen Ländern über ein Jahrzehnt für den Fall der Mauer und für die Freiheit engagiert hatten. Es gab die Geistesgegenwart von politisch Handelnden.

Es war ein Ereignis von historischer Dimension. Eine friedliche Revolution, die nicht vorhersehbar gewesen war, veränderte Deutschland und Europa. Manche hatten sie noch kurz vorher für unmöglich gehalten. Diese friedliche Revolution veränderte auch das Leben der damals 35-jährigen jungen Physikerin, die 15 Jahre später Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland werden sollte.

­Angela ­Merkel sagte in ihrer ersten Regierungserklärung am 30. November 2005: »Die größte Überraschung meines Lebens ist die Freiheit. Mit vielem habe ich gerechnet, aber nicht mit dem Geschenk der Freiheit vor meinem Rentenalter.« So beschreibt sie einen Schlüssel für ihr politisches Selbstverständnis, ihre politischen Prioritäten und ihren politischen Stil. Sie nannte ihre erste große Koalition eine »Koalition der neuen Möglichkeiten«. Sie hat in den 16 Jahren als Bundeskanzlerin stets dafür geworben, neue Wege, neue Impulse und neue Lösungsansätze nicht vorschnell auszuschließen oder schlechtzureden. Regierungskunst heißt für sie, sich – zumal in den anspruchsvollen Zeiten der Transformation – dem Wandel nicht entgegenzustellen, vielmehr um Vertrauen für die Veränderungen zu werben, die notwendig sind, und ebenso für die Chancen, die darin stecken. Sie hält daran fest, dass das Geschenk der Freiheit für Millionen Menschen in Europa einen pfleglichen Umgang mit ebendieser Freiheit braucht und sich die Ignoranz gegenüber jenen verbietet, denen die Freiheit immer noch vorenthalten wird. Die Freiheit, von der ­Angela ­Merkel redet und für die sie arbeitet, ist eine Freiheit in Verantwortung. Die Erfahrungen mit den globalen Prozessen der Transformation haben ihr und unserer Generation insgesamt auch klargemacht, dass der Erhalt der Freiheit und ihre Stärkung nicht gleichbedeutend mit einer ausufernden Individualisierung sind, die das Gemeinwesen schwächt.

­Angela ­Merkel hat der Freiheit in der Gesellschaftspolitik in Deutschland und in allen internationalen Beziehungen einen hohen Stellenwert gegeben. Die Würde des Menschen, seine Freiheit und seine grundlegenden Rechte sind für sie nicht verhandelbar. Ihre internationalen Gesprächspartner wussten das.

Ronald Lauder, der Präsident des World Jewish Congress, hat 2019 in einer Laudatio anlässlich der Verleihung des Theodor-­Herzl-Preises an ­Angela ­Merkel in München gesagt, sie sei eine »Hüterin der Zivilisation«. Das ist international als Signatur der Ära ­Merkel wahrgenommen worden.

Der Umgang mit globalen Krisen

Die Kunst der Politik wird immer häufiger von unvorhersehbaren Entwicklungen bestimmt und gefordert. Es ist müßig zu fragen, ob das früher anders gewesen ist. Offenkundig haben sich gravierende weltweite Krisen in den vier Amtszeiten der Bundeskanzlerin ­Angela ­Merkel auf die politischen Prioritäten ausgewirkt. Es waren mehrere, aufeinanderfolgende Krisen, und sie waren mit großen und existenziellen Gefahren verbunden. Kaum schien eine Krise überwunden, da bahnte sich eine weitere an. In Krisenzeiten zeigt sich wie im Brennglas, ob Regierungen Vertrauen in ihren Ländern und international genießen. Wer kann wem trauen? Worauf ist Verlass in einer Bedrohungssituation?

Die internationale Finanzkrise im Jahr 2008 ist ein gutes Beispiel dafür. Neben den konkreten politischen Strategien ging es auch um Vertrauen. Die Deutschen hatten angesichts der Krise um die Hypo Real Estate und deren milliardenschwere Rettung Angst um ihre Ersparnisse. ­Angela ­Merkel und ihr damaliger Finanzminister Peer Steinbrück gaben am 5. Oktober 2008 ein öffentliches Versprechen ab. »Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind.« Das war im dritten Jahr ihrer Kanzlerinnenschaft und führte zu dem Vertrauen, das in dieser schwierigen Lage notwendig war.

Das Anforderungsprofil an die Akteure der Politik wird zunehmend davon bestimmt sein, ob und wie es ihnen gelingt, mit Krisen umzugehen, die politische Erdbeben auslösen.

In solchen Zeiten werden Haltungen erkennbar, auch Quellen, aus denen die Akteure schöpfen, und ganz besonders die grundlegende Motivation zur Politik. In mehreren Beiträgen des Buches wird an den Satz von ­Angela ­Merkel erinnert: »Ich will Deutschland dienen.«

Wie kein anderer Satz bringt diese Feststellung ihr Selbstverständnis in all den Jahren ihres politischen Wirkens zum Ausdruck.

Der andere Satz von ­Angela ­Merkel zum Ausgang der Krisenzeiten formulierte zugleich ihren Anspruch an sich und ihre Regierung: Stärker aus der Krise kommen als man hineingegangen ist. Gerade in Zeiten der Zuspitzung zeigte sich übrigens, dass ­Angela ­Merkel bei wortreichen Erklärungen eher nervös wird. Die Regierungsmitglieder und auch die Ministerien mussten lernen, dass im Sinne einer höchsten Konzentration politische Schnörkel verpönt waren.

Der Blick auf die Krisen und die Konsequenzen für den politischen Alltag sind schließlich in ihren Auswirkungen für die Parteien und ihr Selbstverständnis nicht zu unterschätzen. ­Angela ­Merkel hat als Vorsitzende der CDU Deutschlands mit der Einführung von Regionalkonferenzen ein neues Forum in der Fläche geschaffen, das dem erhöhten Gesprächsbedarf in der Partei Rechnung tragen sollte. Diese Konferenzen haben ihr vor allem die Gelegenheit gegeben, in die Partei »hineinzuhören«. Krisenbewältigung einerseits und die Reformen in 16 Regierungsjahren andererseits sind für CDU und CSU anspruchsvoll und fordernd gewesen. Die politische Agenda, die sich für die nächste Dekade andeutet, zeigt schon jetzt, dass niemand glauben darf, es werde wieder einfacher werden.

Es ist mehr möglich

»Gehe ins Offene« ist eine Widmung, die Michael Schindhelm ­­Angela ­­Merkel im Herbst 1989 in ein Buch schreibt, das er ihr schenkt. In ihrer Rede zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2006 spricht sie darüber.

Sie beschreibt die Aufbruchstimmung dieser Zeit nach dem Mauer­fall, auch ihren eigenen Aufbruch. Im Westen haben sich manche eher zögerlich daran beteiligt. Kann der Westen vom Osten etwas lernen, das über die Erzählungen von Biografien hinausgeht? Es war eine Zeit des Aufbruchs für die einen und zugleich der Verunsicherung für andere – in Ost und West gleichermaßen. Wem eine offene Zukunft eine Verheißung ist, der konnte nun getrost aufbrechen. ­­Angela ­Merkel beschreibt ihren Aufbruch in dieser Rede, die ihre erste Rede als Bundeskanzlerin zum 3. Oktober war. Sie plädiert dafür, immer wieder die Chancen zu entdecken, die in Deutschland liegen.

­Angela ­Merkel ist in ihren Regierungsjahren stark von Krisen beansprucht. Die Zuversicht der ersten Tage hat sie dennoch nie verlassen. Sie ist davon überzeugt, dass zu allen Zeiten mehr möglich ist, als wir uns vorstellen können. Sie wirbt für ein Verständnis von Politik, das die Suche nach den bislang unentdeckten Möglichkeiten nicht aufgibt. Es soll mehr ermöglicht und nicht vor allem verhindert werden – so ist ihre Erwartung an Ministerien und die öffentliche Verwaltung generell. Damit trifft sie einen Nerv der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die das einerseits möchte und andererseits von Zweifeln geplagt ist, ob es denn gut gehen könne, wenn nicht mehr alles in den bisherigen Strukturen organisiert ist. Die Zeit der Pandemie wirkt in den letzten 18 Monaten der Ära ­Merkel klärend im Blick auf Stärken und Schwächen auf allen Ebenen der öffentlichen Organisation und Verwaltung und ist deshalb eine gute Erfahrung und Quelle für Veränderungen. Wer trotz ständiger Krisenbewältigung seine Zuversicht nicht verliert, schöpft aus einer verlässlichen Quelle.

Das Christentum und ­Angela ­Merkels Überzeugungen

­Angela ­Merkel ist die älteste Tochter des evangelischen Pfarrers Horst Kasner und seiner Frau Herlind, einer Pädagogin, die bis zu ihrem Tod im Jahr 2019 im Alter von 90 Jahren Kurse in Englisch, Latein und Griechisch gegeben hat. Horst Kasner zog mit seiner Familie kurz nach der Geburt der Tochter ­Angela vom Westen in den Osten, wirkte viele Jahre in der Seelsorge für Menschen mit Behinderungen, bildete junge Pfarrer aus und baute später eine kleine Kirche mitten im Wald nahe Templin wieder auf. Dort war er bis zu seinem Tod im Jahre 2011 seelsorgerisch tätig. Er ist mit mir einen Nachmittag in Alt Placht gewesen, hat mir die kleine Kirche gezeigt und erklärt. Vor allem hat er mir eingehend sein Konzept von Seelsorge erläutert. Er war ein anspruchsvoller und fordernder Gesprächspartner und Pfarrer. Er mochte in der Seelsorge »keine halben Sachen« und erzählte, wie er Menschen begleitet, die ihn um ihre Trauung oder die Taufe der Kinder bitten. Es waren Menschen auf der Suche und ohne Erfahrungen mit Kirche und Christentum. Er half ihnen, für sich Prioritäten zu finden, Bibelworte zu entdecken, die fortan für sie wichtig sein könnten, und begleitete sie ebenso behutsam wie klar.

Worüber er mir erzählte, erscheint mir heute immer mehr als prophetische Rede über eine Seelsorge der Zukunft in Deutschland und Europa. Ohne jede Frage haben die Erfahrungen, die ­Angela ­Merkel in diesem Pfarrhaus auf dem Waldhof in Templin in ihrer Kindheit und Jugend gemacht hat, sie ebenso stark geprägt wie das Verständnis ihres Vaters in der Seelsorge, das von verständnisvoller Behutsamkeit und fordernder Klarheit gleichermaßen geprägt war – wenn ich ihn richtig verstanden habe. Die kleine Kirche in Alt Placht ist ihr persönlicher Kirchort.

Ihre Erfahrungen mit dem Christentum und ihr Leben als glaubender Mensch sind eine wichtige Quelle für sie. Damit legitimiert man – in ihrem Verständnis – nicht persönliches oder gar politisches Handeln und Entscheiden. Diese Quelle fordert aber heraus, schafft Vertrauen und verhilft zu Klärung und Klarheit.

­Angela ­Merkel hat die Widmung von Michael Schindhelm 1989 als eine große Ermutigung empfunden. Sie konnte Verbindungen zu ihren Erfahrungen und Überzeugungen als evangelische Christin herstellen, und sie hat damit in zentralen Situationen ihres politischen Lebens Prioritäten verbunden. Die Ermutigung: »Wir schaffen das« in schwierigsten Tagen war so eine Situation, die in mehreren Beiträgen dieses Buches in Erinnerung gerufen wird.

Ein neuer Ton

Bei vielen Kommentatoren herrscht Konsens darüber, dass ­Angela ­Merkel nicht mit großer Rhetorik regiere. Am 18. März 2020 hält sie eine Rede, die sie mit einer eindringlichen Passage abschließt: »Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.«

Diese erste Fernsehansprache der Bundeskanzlerin an die Bürgerinnen und Bürger zur Coronalage wird von der Universität Tübingen zur »Rede des Jahres« gewählt. Der Ton, die Eindringlichkeit und Empathie dieser Rede werden weit über ihre Amtszeit hinaus wirken. Irgendwann in dieser Zeit erläutert ­Angela ­Merkel bei einer Pressekonferenz auch das exponentielle Wachstum. Das wird eine filmreife Szene, die in jeder Schule eingesetzt werden kann. Den neuen Ton gibt es nicht erst in der Ansprache am 18. März 2020. Jetzt aber wird der neue Ton wohl auch deshalb als so herausragend wahrgenommen, weil eine große Verunsicherung um sich greift. Wir waren eigentlich davon überzeugt, im Griff zu haben, was eine Gesellschaft im Griff haben sollte. Nun aber ist es ganz anders. Das hat das Lebensgefühl vieler Menschen nachhaltig verändert und einen bislang kaum gekannten Ernst in unsere Gesellschaft und auch in die politischen Debatten gebracht.

Die Zeit der Pandemie ist für die Bundeskanzlerin wie für alle politischen Akteure ein andauernder Ausnahmezustand – mit Höhen und Tiefen. Wer in Berlin dabei ist und sich regelmäßig Notizen macht, der kann auch gleich eine Reformagenda für die nächste Dekade in mehreren Politikfeldern aufschreiben.

Die Zeit der Pandemie hat – wie keine Zeit zuvor – den Blick geschärft für Stärken und Schwächen. Sie hat möglicherweise auch dem neuen Ton, den ­Angela ­­Merkel in die Politik gebracht hat, eine andere und stärkere Wahrnehmung verschafft.

Die hohe Kunst

Der Titel dieses Buches hat mit einer Begegnung zu tun. Es war im Dezember 2020, wenige Tage nach der Sitzung des EU-Rates in Brüssel. ­Angela ­Merkel und ich trafen uns in Berlin.

Ich erzählte schmunzelnd, die Pressekonferenz nach der Sitzung des EU-Rates habe einen guten Eindruck von dem Ausmaß an Schwierigkeiten bei dieser Sitzung gegeben – durch ihren Hinweis darauf, dass es sich gelohnt habe, nicht ins Bett zu gehen. Daraufhin sagte ­Angela ­Merkel: »Das war hohe Kunst der Politik.« Damit war der Titel für dieses Buch gefunden. Er passt zur Ära ­Merkel aus vielen Gründen. Nachtsitzungen hat es in den 16 Jahren viele gegeben. Sie waren nicht alle erfolgreich. Bei vielen Gelegenheiten war es dennoch die einzige Chance, zu einer tragfähigen Entscheidung zu kommen. ­Angela ­Merkel ist davon überzeugt, dass in schwierigsten Situationen alle Anstrengungen darauf zu richten sind, keine Lösungsmöglichkeit unbeachtet zu lassen. Sitzungsunterbrechungen bergen die Gefahr, wieder von vorn zu beginnen. Lösungen bahnen sich erst an, wenn die Phase von Sieger und Besiegten überwunden ist.

Wer über ­Angela ­Merkel spricht, erinnert oft daran, dass sie den Anspruch hat, gutes Handwerk zu liefern. Auf die Frage, was sie an Deutschland schätzt, nennt sie die Fenster, die bei uns so schön dicht sind. Darüber kann man schmunzeln. Es wird ja aber gerade in der Politik so offenkundig, was schlechtes Handwerk alles anrichten kann. Schlechte Reden, schlechte Gesetze, schlechte Verwaltung, Verhinderer statt Ermöglicher richten enormen Schaden an. Gutes Handwerk ist aber nicht die Alternative zu hoher Kunst. Andersherum gilt: Hohe Kunst braucht gutes Handwerk. Werfe nur jemand einen Blick auf die Werke von Michelangelo oder höre Sonaten von Johann Sebastian Bach.

Durch die Ära ­Angela ­Merkel zieht sich wie ein roter Faden die Überzeugung: Politik ist kein Spiel und keine Show. Sie eignet sich nicht für den kurzen Effekt und den lauten Knall. Sie braucht gutes Handwerk, großen Ernst und viel Askese. Sie ist eine hohe Kunst.

I. »Europa nicht auseinanderbrechen lassen, die Deutschen und Europäer zusammenhalten: Das ist, denke ich, der moralische Imperativ, den sich ­Angela ­Merkel während ihrer Jahre im Kanzleramt gesetzt hat.«

Emmanuel Macron

Führungsqualitäten für Generationen

Von Ellen Johnson Sirleaf

Nachdem ich 2005 demokratisch gewählt worden war, übernahm ich im Januar 2006 die Präsidentschaft von Liberia. Ich erbte eine zerrissene Nation und eine kollabierte Wirtschaft. Liberias Infrastruktur war zerstört und die Institutionen funktionierten nicht mehr. Zwei Jahrzehnte Bürgerkriege und eine lange Geschichte der Spaltung zwischen der einheimischen Bevölkerung und den aus den Vereinigten Staaten repatriierten Men of Color waren der Grund für diese Zustände und hatten dazu geführt, dass Liberia trotz reichlich vorhandener natürlicher Ressourcen zu einem der ärmsten Länder der Welt geworden war. Meine Regierung sah sich einer Nation von kriegsmüden Menschen, ungebildeten Jugendlichen und verängstigten Frauen und Kindern gegenüber; einer Nation, die weitgehend von einem Gefühl der Verzweiflung übermannt war und nur wenig Hoffnung auf eine friedliche und wohlhabende Zukunft hatte.

Ich war mir bewusst, dass es für meine Aufgabe – die Aufgabe einer Präsidentin – keine »Gebrauchsanweisung« gab. Ich hatte kein Handbuch, das ich befolgen konnte, keine Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie man Macht gerecht, fair und ethisch ausübt. Und doch hatten Millionen von Liberianern im In- und Ausland höchste Erwartungen an mich, dass ich neue Maßstäbe setzen und das Fundament für ein neues, friedliches und wohlhabendes Liberia legen würde. Meine Wahl hat inmitten der Hoffnungslosigkeit unter den Liberianern und internationalen Freunden Liberias Hoffnung geweckt.

Obwohl ich kein Handbuch hatte, hatte ich eine Vision. Liberia sollte bis Ende 2030 zu einem Land mit mittlerem Einkommen aufsteigen. Auf diese Vision habe ich mich konzentriert. Ich hatte mir auch eine Mission für meine Regierung gesetzt, nämlich Liberias Respekt, Ansehen und Glaubwürdigkeit in der internationalen Gemeinschaft wiederherzustellen.

Der erste Schritt zur Verwirklichung dieser Vision bestand darin, die zusammengebrochene Wirtschaft wieder in Gang zu bringen und ein positives, integratives Wachstum zu erzielen. Dies erforderte unter anderem die Reaktivierung der wichtigsten, großangelegten Konzessionsgeschäfte sowie die Wiederherstellung der bilateralen und multilateralen Beziehungen des Landes. Diesem Ziel stand eine außerordentliche Verschuldung von schätzungsweise 4,8 Milliarden US-Dollar im Weg. Wir mussten das Land von dieser untragbaren Bürde befreien, um mit der Umsetzung der Vision und der Mission beginnen zu können und um privates Kapital und ausländische Investitionen zur Schaffung von Arbeitsplätzen anzuziehen.

Im Jahr 2006, fast unmittelbar nach Übernahme der Regierungsgeschäfte, beriefen wir eine zweitägige Geberkonferenz ein, um ein größeres Treffen in Washington, D.C., vorzubereiten. Und im Februar 2007 konnten wir dann das Liberias Partners Forum, eine internationale Geberkonferenz am Hauptsitz der Weltbank in Washington, D.C., einberufen.

Mehr als 20 Länder, multilaterale Organisationen und Nichtregierungsgruppen nahmen daran teil. Zwei befreundete Länder und bilaterale Partner spielten dabei eine wichtige Rolle: die Vereinigten Staaten von Amerika, Liberias historische Schirmherren und Partner, und die Bundesrepublik Deutschland, ein Land, das seit Langem historische und bilaterale Beziehungen zu Liberia unterhält und es in seiner Entwicklung unterstützt.

Das Treffen erreichte sein Ziel; ein Verzicht auf Auslandsschulden in Höhe von 4,7 Milliarden US-Dollar. US-Außenministerin ­Condoleeza Rice kündigte an, dass »die Vereinigten Staaten Liberia die Schulden erlassen werden – und zwar alle«. Dies gab den Ton an. Bundeskanzlerin Merkel, die nicht anwesend war, war im Saal zu spüren, als Deutschland an der Spitze aller anderen Länder Schuldenerlasse und Unterstützung für meine Regierung und Liberia ankündigte.

Angela ist meine »Heldin«. Ich habe ihren Weg als Führungspersönlichkeit seit ihrem Aufstieg nach dem Fall der Berliner Mauer und ihrem Eintritt in den Dienst der deutschen Regierung verfolgt. Ihre Führung Deutschlands inmitten wirtschaftlicher und politischer Herausforderungen – zu Hause, in Europa und in der Welt – inspiriert mich und viele andere Frauen und weibliche Führungskräfte auf der ganzen Welt. Ich erinnere mich gerne an einige persönliche Erlebnisse, Gedanken und Ereignisse, bei denen ich Bundeskanzlerin Merkels untrügliches diplomatisches Geschick, ihre Fähigkeit zur Konsensbildung, ihre Entschlossenheit im Handeln und ihr scharfes Gedächtnis bewundern konnte.

Am 7. Oktober 2007 besuchte Bundeskanzlerin Merkel Liberia. Dies war ein denkwürdiger Höhepunkt für mich und für Liberia. Das verwüstete Land war eines von nur dreien auf ihrer Afrikareise. Es war der erste Besuch einer so hochrangigen politischen Persönlichkeit aus Deutschland seit den 1960er Jahren. Bei ihrer Ankunft auf dem Roberts International Airport in Monrovia wurde Bundeskanzlerin Merkel ein lebendes Huhn überreicht, ein Symbol des traditionellen Willkommens.

Ich war wie erstarrt, als das Huhn vom traditionellen Häuptling überreicht wurde. Bei einigen früheren traditionellen Begrüßungszeremonien hatte ich gesehen, wie Würdenträger, die zu Besuch kamen, zusammenzuckten und zurückwichen. Angela tat nichts von beidem. Sie nahm das Huhn freudig entgegen, während ihre Mitarbeiterin gluckste und ihre Sicherheitsbeamten angespannt wirkten.

Ich unterdrückte ein bewunderndes Lächeln. In diesem Moment sah ich in Bundeskanzlerin Merkel eine Führungspersönlichkeit, die keine Angst vor dem Unbekannten hatte. Ich sah eine Führungspersönlichkeit, die bereit war, sich der Herausforderung zu stellen, persönliche Ängste und Zweifel zu überwinden. Ich empfand tiefen Respekt und Bewunderung für ihre Tapferkeit und ihren Sinn für Furchtlosigkeit.

Im Mai 2007 hatte ich – anlässlich der Einladung zum 8. Treffen des Africa Partnership Forum in Berlin, das vom 22. bis 23. Mai unter dem Motto »Gender and Economic Empowerment in Africa« stattfand – bereits das Privileg gehabt, mit Bundeskanzlerin Merkel zusammenzutreffen. Am Rande des Mittagessens bat ich sie um Rat in Bezug auf die weitverbreiteten und aufgebauschten Behauptungen eines kürzlich ernannten Auditor General (Oberster Rechnungsprüfer) von Liberia über Korruption im Land und unter meiner Regierung. Er war von meiner Regierung nach Liberia zurückgeholt und ernannt worden und erst seit ein paar Wochen im Amt. »Feuern Sie ihn«, lautete ihr knapper Ratschlag.

Ich war beeindruckt von der Klarheit ihrer Antwort. Als ich jedoch nach Hause zurückkehrte, gab ich nach. Aber sie hatte Recht. Wie sich herausstellen sollte, bereute ich es, ihrem Rat nicht gefolgt zu sein.

Am 26. Juni 2008 wurde ich von der deutschen Bundeskanzlerin herzlich empfangen, um am Liberia Poverty Reduction Forum in Berlin teilzunehmen. Liberia stellte seine Armutsbekämpfungsstrategie vor und erhielt von Deutschland einen offiziellen Schuldenerlass in Höhe von 268 Millionen Euro. Außerdem wurde bekannt gegeben, dass die deutsche Regierung in diesem Jahr 15 Millionen Euro zur Verfügung stellte, davon zehn Millionen Euro für den Treuhandfonds für den Wiederaufbau Liberias mit Schwerpunkt auf der Entwicklung der Infrastruktur. Wieder einmal hielten sich die deutsche Bundeskanzlerin und die Regierung für mich und Liberia an das, was sie versprochen und zugesagt hatten.

Auf Einladung von Premierminister David Cameron nahm ich zusammen mit drei anderen afrikanischen Staats- und Regierungschefs am 39. G8-Gipfel vom 17. bis 18. Juni 2013 in Nordirland teil. Meine Teilnahme bot mir die Gelegenheit, den informellen Stil, das diplomatische Geschick und den entschlossenen Charakter von Bundeskanzlerin Merkel zu beobachten, als sie an einer Reihe von Diskussionen über Demokratie, Entwicklungshilfe, Rechenschaftspflicht und Transparenz bei der Verwendung von Ressourcen teilnahm und diese leitete. Ich war fasziniert von ihrem geschickten Umgang mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und bewunderte ihre aufrechte Haltung in der Gesellschaft dominanter männlicher Führungspersönlichkeiten. Sie vertrat mich und Frauen überall auf der Welt auf bewundernswerte und kompetente Weise.

Zwei Jahre später nahm ich an meinem zweiten Treffen der G7-Staaten auf Schloss Elmau teil. Diesmal geschah es auf Einladung von Bundeskanzlerin Merkel. Es war mein letzter Besuch in Deutschland in meiner Eigenschaft als Präsidentin von Liberia. Ich hatte die Ehre, vor den Staats- und Regierungschefs der G7-Staaten bei einem Treffen zu sprechen, das die deutsche Regierung und die Bundeskanzlerin für die drei von der tödlichen Ebola-Epidemie am stärksten betroffenen Länder Liberia, Sierra Leone und Guinea mitorganisiert hatten.

Auch hier zeigten sich die außergewöhnlichen Führungsqualitäten von Bundeskanzlerin Merkel in bemerkenswerter Weise. Auf dem 41. Gipfeltreffen der G7-Staaten nahm sie Einfluss auf die Verabschiedung einer Erklärung, in der die Welt zu Recht aufgefordert wurde, ihre Fähigkeit bei Notfällen im Bereich der öffentlichen Gesundheit zu verbessern (Prävention, Schutz, Erkennung, Meldung, Reaktion). Schon damals blickte sie als Führungspersönlichkeit in die Zukunft, während sie sich einer aktuellen Herausforderung stellte – wie es Führungspersönlichkeiten tun sollten. Es war schön, dass mit der Präsidentin der Kommission der Afrikanischen Union, Nkosazana Dlamini-Zuma, eine weitere weibliche Führungskraft anwesend war.

Nach meiner Präsidentschaft hatte ich am 22. Juni 2019 die Gelegenheit, auf Einladung von Dr. Julia Helmke Dortmund zu besuchen, um mit der Bundeskanzlerin am Evangelischen Kirchentag teilzunehmen. Wieder einmal hatte ich die große Ehre, mit Angela das Podium zu teilen. Sie strahlte nach wie vor eine Aura der Einfachheit aus, durch die man sich in ihrer Gegenwart willkommen fühlte. Und doch hinterließ sie mit ihrer unverwechselbaren Festigkeit einen starken Eindruck.

Ich nutzte die Gelegenheit, um mich nach einer früheren Bitte von mir an sie zu erkundigen, die Unterstützung für den Global Fund for Community Health Workers betreffend. Sie erinnerte sich und reagierte positiv. Trotz der unzähligen Herausforderungen, die jeden Tag auf ihren Schreibtisch kommen, erinnerte sie sich an einen Brief, der ihr von einem früheren Präsidenten übermittelt worden war. Ich war beeindruckt von ihrem scharfen Gedächtnis und ihrer Aufmerksamkeit für Details. Wie sie versprochen hatte, erhöhte Deutschland die Mittelzuweisungen für den Fonds. In Bundeskanzlerin Merkel habe ich eine Führungspersönlichkeit gefunden, die ihre Versprechen einhält.

Die Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Umgang mit ihr gehören für mich zu den Höhepunkten meiner Präsidentschaft. Mir imponierte die Qualität ihrer Führung und ich sah in ihr eine Quelle der Inspiration.

Angela zeichnet sich nicht nur in ihrer deutschen, sondern auch in ihrer globalen Führungsrolle aus. Sie hat die deutsche Politik geprägt und einen unauslöschlichen Eindruck in der Weltpolitik hinterlassen. Sie inspiriert mich weiterhin. Ich prophezeie, dass noch lange nach Angelas Ausscheiden aus der deutschen Regierung ihre Lebensgeschichte und ihre Führungsqualitäten Frauen und weibliche Führungskräfte auf der ganzen Welt motivieren und inspirieren werden.

Angela wird aus dem Amt scheiden, aber sie wird nicht vergessen werden. So tief sind ihre Spuren, die sie in der Welt hinterlässt.

Eine liebevolle Erzählerin der europäischen Politik: ­Angela ­Merkels Rolle in der Weltpolitik

Von Donald Tusk

Während der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der am 25. März 1957 unterzeichneten Römischen Verträge habe ich eine sehr persönliche Botschaft an die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gerichtet. Ich begründete dies damit, dass ich ein Altersgenosse der Union bin, der im selben Jahr geboren wurde. Ich sagte damals, dass manchmal der Geburtsort noch wichtiger ist als das Geburtsdatum. In meinem Fall ist es die Stadt Gdańsk, die mit Beharrlichkeit über Hunderte von Jahren von den Polen und den Deutschen, von den Holländern und den Juden und von den Schotten und den Franzosen aufgebaut wurde. Im Jahr 1945, zufällig auch im Monat März, haben Hitler und Stalin meine Stadt in nur wenigen Tagen zerstört. Sie wurde bis auf die Grundmauern niedergebrannt.

Ich war acht Jahre alt, als die Europäische Gemeinschaft durch den Fusionsvertrag einen gemeinsamen Rat und eine gemeinsame Kommission gründete; der Weg, den ich damals jeden Tag zur Schule nahm, führte noch immer durch die Ruinen der verbrannten Stadt. Für mich war der Zweite Weltkrieg nicht abstrakt.

­Angela ­Merkel saß mir direkt gegenüber und hörte meinen Worten aufmerksam zu. Und mit echten Emotionen. Kein Wunder, sprach ich doch über eine Stadt, in der ihr Großvater Willi Jentzsch Senator gewesen war. Auf dem Weg zur Schule kam ich an den Trümmern einer Villa vorbei, die dem Senatspräsidenten der Freien Stadt Danzig gehörte und in der Willi Jentzsch sicher ein häufiger Gast war. Und buchstäblich hundert Meter weiter die Straße hinunter befand sich das Tor Nr. 2 der Danziger Werft, ein symbolischer Geburtsort der Solidarność-Bewegung, wo der Prozess des Zerfalls der Sowjetmacht begann. ­Merkel betonte immer wieder in unseren privaten Gesprächen, aber auch öffentlich, dass es ohne den Aufstand der Danziger Arbeiter keinen Fall der Berliner Mauer, keine Vereinigung Deutschlands und (fast) ganz Europas gegeben hätte. Sie verstand wie kaum eine andere die universelle Bedeutung der Solidarität. Nicht als Parole, die man in Reden und offiziellen Dokumenten findet, sondern als kollektive Erfahrung von Millionen von Menschen, die die Geschichte unseres Kontinents im besten Sinne geprägt hat.

Ein Gespür für Geschichte zu haben, ist eine seltene und eine ausgesprochen wünschenswerte Eigenschaft für einen Politiker. Und ich spreche hier nicht von einer trivialen Geschichtskenntnis, wie sie von vielen Führungspersönlichkeiten demonstriert wird. Schließlich sind viele von ihnen, mich eingeschlossen, ausgebildete Historiker. Aber es gibt einen wesentlichen, wenn auch subtilen Unterschied zwischen historischem Wissen und einem Verständnis von Geschichte, genauer gesagt, einem Gefühl für Geschichte. Vielleicht war es ­Angela ­Merkels Ausbildung, die sie befähigt hat, etwas zu begreifen, was wir als gute Chemie zwischen Menschen, zwischen Nationen und zwischen ihren Führern bezeichnen könnten. Auf diesem Gebiet ist sie eine echte Meisterin geworden. Einfühlungsvermögen, im tiefsten Sinne dieses Wortes, ist zweifellos ihr Markenzeichen, während ihre Geduld im Umgang mit anderen Führungspersönlichkeiten es ihr ermöglicht hat, eine einzigartige Position in der europäischen und weltweiten Politik einzunehmen.

Geschichtsbewusstsein und Einfühlungsvermögen sowie die ständige Bereitschaft, nach einem Kompromiss zu suchen, sind seltene und wertvolle Eigenschaften, besonders bei dem Führer, der Führerin eines mächtigen Staates. Und ziemlich einzigartig in der Geschichte der deutschen Politik. Als Pole könnte ich endlos darüber reden. Daher rührt die verständliche Sorge in vielen europäischen Hauptstädten über die Zukunft unseres Kontinents nach dem Ausscheiden der Bundeskanzlerin aus dem Amt.

Es gehört ein außergewöhnliches politisches Talent dazu, die Position zu erreichen, die ­Angela ­Merkel über viele Jahre in der Weltpolitik aufgebaut hat, ohne das Argument der Gewalt zu nutzen. Die Europäische Union ist ein permanenter Ausgleich widerstreitender Interessen, historischer Ressentiments und divergierender politischer Ambitionen durch endlose Verhandlungen, Überzeugungsarbeit und gegenseitige Zugeständnisse und kein dauerhaftes und präzises politisches System. Der Rücktritt von der Macht als Mittel zur Lösung von Konflikten widerspricht der Natur der Politik. Er ist eher die Ausnahme als die Regel und verlangt von uns eine ständige positive Anstrengung. Er hängt in hohem Maße vom guten Willen ab, von der Bereitschaft, einen Teil der eigenen Interessen zu opfern, und davon, Europa als eine Einheit zu denken. Als eine Einheit in einem politischen, aber auch in einem axiologischen Sinne. Jeder weiß, dass wir ohne diese Anstrengung nicht überleben können, und doch sind wir nicht immer bereit, im Sinne der Idee der Solidarität zu handeln. ­Angela ­Merkels europäische Karriere war dieses ungewöhnlich seltene Beispiel eines Triumphs einer originellen Kombination aus Pragmatismus, Sanftmut und Beharrlichkeit.

Heute erleben wir die Rückkehr einer brutalen, egoistischen und zunehmend unverantwortlichen Politik. Populismus und Nationalismus gewinnen immer mehr neue Anhänger, und ein Mangel an Empathie und Verständnis für die Argumente anderer wird wieder als Zeichen der Stärke und als politische Tugend angesehen. Demagogen sind auf dem Vormarsch, und die Verfechter von Vernunft, Mäßigung und Toleranz stehen im Verdacht, nationale Interessen zu verraten oder bestenfalls Schwäche zu zeigen.

­Angela ­Merkel war viele Jahre lang eine Garantin dafür, dass dieser Trend gestoppt werden konnte, auch wenn wir anerkennen, dass er ein Ausdruck der Natur der Politik ist.

Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen, an einen dieser langen, anstrengenden Abende in Brüssel. Die Staats- und Regierungschefs hatten die Nase voll von einer Diskussion, die fast zehn Stunden lang ununterbrochen angedauert hatte. Einige nickten ein, andere gingen sich gegenseitig an die Gurgel, wieder andere wollten die Gespräche abbrechen und standen kurz davor, den Raum zu verlassen. In dieser Situation erhob ­Angela ­Merkel ihre Stimme, was an sich schon eine Seltenheit ist, und sagte jene vielsagenden Worte, die uns allen noch immer als Warnung dienen können: »Wenn wir Europäer nicht lernen können, so lange miteinander zu reden, wie es nötig ist, um eine gemeinsame Lösung zu finden, dann werden wir wieder lernen müssen, aufeinander zu schießen.«

Die polnische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Olga ­Tokarczuk betitelte ihre Rede zur Verleihung des Nobelpreises »Der liebevolle Erzähler«. ­Angela ­Merkel hat sich über die Jahre bemüht, eine liebevolle Erzählerin der europäischen Politik zu sein, und könnte tatsächlich die Autorin dieser Worte aus Olga Tokarczuks Essay sein: »Wir sind alle unser eigenes Ich, also tun wir alles Böse, das wir anderen antun, auch uns selbst an.«

Zielstrebig für ein stabiles Deutschland in einem starken Europa

Von Christine Lagarde

Es war ein kühler Aprilabend in Berlin 2017. Musikliebhaber aller Art versammelten sich an diesem Abend in der Berliner Staatsoper Unter den Linden, um dem erstklassigen Orchester unter der Ägide des Maestros Daniel Barenboim und der Geigerin Anne-Sophie Mutter zuzuhören. Unter den vielen Gästen des Abends waren auch ­Angela ­Merkel und ich. Ich war gerade für verschiedene Treffen in der Hauptstadt, insbesondere diesem mit ­Angela ­Merkel. Sie fragte spontan, ob wir am Abend gemeinsam ins Konzert gehen wollten. Gesagt, getan. Doch statt des für Spitzenpolitiker üblichen protokollarischen Prozederes wurden wir zusammen in ihrem Auto ­ohne viel Aufhebens zur Staatsoper gefahren und gingen fast unbeachtet zu den uns zugewiesenen Plätzen. Es wurde ein geselliger Abend. ­Anne-Sophie Mutter spielte eine beeindruckende Interpretation des Violinkonzerts von Ludwig van Beethoven, und das Orchester gab sein Bestes für den Maestro.

Diese unkomplizierte und pragmatische Art ­Angela ­Merkels überraschte immer wieder. Sie ist jedoch bezeichnend für diese Ausnahmepolitikerin. ­Angela ­Merkel regierte als erste Frau die Geschicke Deutschlands, der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt, und das 16 Jahre lang. Nur Helmut Kohl blieb gleich lange im Amt. Während der Kalte Krieg, die Wiedervereinigung Deutschlands und die Einführung des Euro Helmut Kohls Amtszeit prägten, steuerte ­Angela ­Merkel ihr Land durch die Finanz- und Schuldenkrise, die Flüchtlingskrise und schließlich durch die schwerste Pandemie des vergangenen Jahrhunderts. Am Ende ihrer Amtszeit hinterlässt sie vor allem eins: Stabilität. Wenn die deutsche Volkswirtschaft all diesen Stürmen standhielt, dann ist es zu einem großen Teil ihr Verdienst.

Gleichzeitig wurde sie zu einer treibenden Kraft in Europa und der Welt, spielte die zentrale Rolle bei wegweisenden politischen Entscheidungen.

In den vergangenen Jahren kreuzten sich unsere Wege vielfach, oft arbeiteten wir an den gleichen Themen, bewegten uns auf dem gleichen politischen Terrain.

Was durch all diese Begegnungen deutlich geworden ist, ist Folgendes: ­Angela ­Merkels Führungsstil wurde durch ihre Herkunft definiert, ist geleitet von einem tiefen Verantwortungsbewusstsein für Freiheit und Demokratie und angetrieben von ihrer inneren Stärke und Entschlossenheit. Auf diese Aspekte möchte ich im Folgenden näher eingehen.

Verantwortungsbewusstsein und Standhaftigkeit

Das erste Mal begegneten ­Angela ­Merkel und ich uns bei einem deutsch-französischen Gipfeltreffen im Amtssitz des französischen Präsidenten, dem Élysée-Palast, im Jahr 2005. ­Angela ­Merkel war gerade zur ersten deutschen Kanzlerin gewählt worden. Sie war 51 Jahre alt, als sie dieses Amt antrat, jünger als alle ihre Vorgänger. Ich war als Handelsministerin Mitglied der französischen Delegation der Regierung des damaligen Präsidenten Jacques Chirac. Bei dem Treffen wurde entschieden, das erste gemeinsame deutsch-französische Geschichtsbuch herauszugeben. ­Angela ­Merkel lobte die Initiative, die die deutsch-französische Freundschaft stärke. Alles, so hob sie hervor, beginne mit Bildung. ­Angela ­Merkel, etwa 22 Jahre jünger als Chirac, war auf Augenhöhe mit dem damaligen französischen Präsidenten. Sie sah mutig aus. Als weibliche Regierungschefin betrat sie Neuland. Präsident Chiracs Sorge, dass er mit seiner neuen deutschen Amtskollegin nicht mehr das eine oder andere Bier trinken könne, wie er es ausgiebig mit Gerhard Schröder getan hatte, erwies sich übrigens als unbegründet. In den darauffolgenden Jahren tranken die beiden des Öfteren ein Bier zusammen.

Für sie selbst begann alles im Osten des geteilten Deutschlands, hinter dem Eisernen Vorhang, in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Hier ging sie zur Schule, studierte Physik, promovierte, lernte, was sie im kommunistischen System lernen musste und was sie unabhängig von der herrschenden Ideologie lernen wollte. Sie las auch das, was sie nur auf Umwegen bekommen konnte, über Politik, Philosophie, Geschichte und die klassische Literatur. Das Wichtigste, so sagte sie mir einmal, lernte sie auswendig, um keine Spuren oder Notizen zu hinterlassen. Die ständige und versteckte Überwachung der Stasi führte dazu, dass sie sich eine gehörige Portion Misstrauen aneignete. Im Tagesgeschäft der Politik machte sie sich diese Eigenschaft später zunutze.

35 Jahre Diktatur lehrten sie jedoch vor allem eines: den Wert der Freiheit, der Demokratie, der sozialen Marktwirtschaft. Hermann Hesse schrieb einmal in seinem Gedicht »Im Nebel«: »Wahrlich, keiner ist weise, der nicht das Dunkel kennt.« ­Angela ­Merkel kennt das Dunkel der DDR. Und sie kennt die Strahlkraft des friedlich geeinten Deutschlands. Es ist dieses geeinte Deutschland, dem sie sich verpflichtet hat. »Ich will Deutschland dienen,« sagte sie in ihrer ersten Regierungserklärung als Kanzlerin. Sie wolle Deutschland zu einem starken Partner für Europa und die Welt machen. Und dabei ist ihr die Verantwortung, die Deutschland trägt, bewusst. »Vor dem Leid anderer verschließen wir weder unsere Augen noch unsere Herzen«, sagte sie damals im Bundestag.

Als der Strom von Flüchtlingen im Sommer 2015 aufgrund von Krieg, Vertreibung und Armut anschwillt, lässt ­Angela ­Merkel die Grenzen offen. Dafür wurde sie im eigenen Land von einigen heftig kritisiert, international gewann sie durch diese Entscheidung an Ansehen. Sie tat das, was man von den vielen Männern in Verantwortung erwartet hätte. So war sie in gewisser Weise der einzige Mann im Raum. Und zwar einer mit Prinzipien.

Dem Staat zu dienen, dieses Gefühl ist mir selbst sehr vertraut. Es rührt von einer tiefen inneren Überzeugung, eine Verantwortung zu tragen, die weit über das Persönliche hinausgeht. Eine Verantwortung, der man sich nicht entziehen kann, wissend, dass es dabei weniger um die eigene Zukunft als um die der anderen geht. Dabei werden die eigenen Interessen nebensächlich. Wer die Chance bekommt, seinen Teil beispielsweise zu einem stärkeren Europa beizutragen, der wird nicht zögern. In meiner beruflichen Laufbahn wurde ich bereits mehrere Male vor die Wahl gestellt, dem Ruf des Staates zu folgen oder meiner bisherigen beruflichen Tätigkeit weiter nachzugehen. Jedes Mal entschied ich mich – ohne zu zögern – für das öffentliche Amt. Als ich zur Präsidentin der Europäischen Zen­tralbank berufen wurde, motivierte mich besonders, in einem öffentlichen Amt der Einigung Europas dienen zu können.

­Angela ­Merkel formulierte es bei ihrem Regierungsantritt folgendermaßen: »Es geht um uns alle, es geht um unser Gemeinwesen, um unsere gemeinsame Zukunft.«

Und so ist es bei ­Angela ­Merkel dieses Verantwortungsbewusstsein für ihr Land, in dessen Dienst sie getreten ist. Es leitet sie bei den Entscheidungen, die sie mit großer Entschlossenheit und Standhaftigkeit umsetzt.

Wie standhaft sie sein kann, konnte ich als Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) beim G20-Treffen in Cannes 2011 erleben. Das Gipfeltreffen fand während einer extrem kritischen Phase der europäischen Schuldenkrise unter französischer Präsidentschaft statt. Griechenland und Italien standen damals im Mittelpunkt der Schuldenkrise und drohten unter dem Druck der Finanzmärkte zusammenzubrechen. Es wurde um eine gemeinsame europäische Lösung gerungen. Es ging um weitere Rettungsgelder. Doch die Interessenlage unter den Regierungschefs war sehr unterschiedlich. ­Angela ­Merkel machte keine Anstalten, von ihrer Position abzuweichen. Für sie war klar, dass Solidarität keine Einbahnstraße sein kann. Diese Position war unbequem. Der Druck, der bei diesem Treffen auf ­Angela ­Merkel seitens der anderen Regierungschefs ausgeübt wurde, war enorm. Sie war isoliert. Aber sie gab nicht nach.

Im Abschlussdokument des Gipfels verpflichteten sich alle Mitglieder zu weiteren Strukturreformen, um die Leistungsfähigkeit ihrer Länder zu steigern. Um dem Reformkurs nicht länger im Weg zu stehen, lenkte der griechische Premierminister Giorgos Papandreou ein und zog seine Pläne für ein Referendum zum zweiten Rettungspaket Griechenlands zurück. Wenige Tage später musste er zurücktreten. Der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi, unter Druck, die Glaubwürdigkeit seines Landes an den Finanzmärkten wiederherzustellen, willigte schließlich ein, dass der IWF die Umsetzung der versprochenen Reformen beaufsichtigt. Auch er trat wenig später zurück.

­Angela ­Merkel und ich waren damals bei diesem G20-Treffen die einzigen Frauen im Raum. Während der Verhandlungen trat sie allein einer Riege von Männern entgegen. Eine Situation, die wohl viele Frauen in Führungspositionen so oder ähnlich schon erlebt haben. Ich auch. Es ist eine von vielen Hürden, die Frauen auf ihrem Weg an die Spitze meistern müssen. Einsam und isoliert zu sein. Allerdings scheint ­Angela ­Merkel diese Art von Hindernissen nicht als solche wahrgenommen zu haben. Aus der Isolierung kann man sich befreien, und eine Frau zu sein, ist kein Hindernis.

Das liege daran, so erklärte sie mir einmal, dass es in der DDR keine Rolle gespielt habe, ob jemand weiblich oder männlich war, wenn es darum ging, was man beruflich erreichen konnte. Als junges Mädchen in der DDR habe sie gleiche Rechte und Chancen gehabt, sagte sie. Und so fiel es ihr auch sichtlich schwer, bei einer Podiums­diskussion auf dem von ihr organisierten Women20 Summit 2017 in Berlin eine passende Antwort zu finden, als die Moderatorin sie fragte, ob sie Feministin sei. Sie wich aus. Obschon alle Frauen auf dem Podium, ich eingeschlossen, sich selbst als Feministinnen bezeichneten und sie ermunterten, Ja zu sagen.

Es scheint fast, als ob ­Angela ­Merkel ganz nebenbei all die Hürden mit Leichtigkeit nahm, mit denen viele Frauen in Führungspositionen hadern: unterschätzt zu werden, die einzige Frau in Sitzungen zu sein, mangelndes Selbstvertrauen, oder auch sich mit einem anderen, eher konsensorientierten Führungsstil durchsetzen zu müssen. Als Naturwissenschaftlerin ist sie es gewohnt, Probleme analytisch, rational und zielstrebig anzugehen. So auch in Cannes.

Innere Stärke und ultimativer Pragmatismus