Die Hortensie - Anna-Katharina Plach - E-Book

Die Hortensie E-Book

Anna-Katharina Plach

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Beschreibung

Auf der Suche nach einer besseren Zukunft beginnen nach dem Ersten Weltkrieg zwei Familien ein neues Leben. Die Familie Hartmann zieht nach Wien, um dort gesellschaftlich aufzusteigen. Die Familie Schwarz versucht, als Landgreißler eine Existenz aufzubauen. Doch es kommt anders als gedacht. Der Alltag ist gezeichnet von Elend und Unsicherheit. Nach einer Kindheit voller Widersprüche trifft die junge Ilse Hartmann auf eine Gruppe radikaler Sozialisten, die für Gerechtigkeit kämpft. Sie begegnet der Familie Schwarz und findet neue Freunde, die ihr den Weg zu einer anderen Welt zeigen. Doch ihre Eltern wollen davon nichts wissen. Die politische Lage spitzt sich immer weiter zu und Ilse muss sich entscheiden, wohin sie gehört. Der erste Teil der Familiensaga, der eine noch wenig bekannte Seite der österreichischen Geschichte erzählt.

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Seitenzahl: 380

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Anna-Katharina Plach

Die Hortensie

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Erster Teil Die Stammhalter

1905

1908

1911

1914

1916

1918

1919

Zweiter Teil Neuordnung

1921

1925

1926

1927

Dritter Teil Die Kunst der Formen

1930

1931

1932

Vierter Teil Alles ändert sich

1933

1934

1935

Fünfter Teil Neue Freunde

1936

1937

Sechster Teil Die Hortensie

1938

1939

Epilog

Anmerkungen

Impressum neobooks

Prolog

Anna-Katharina Plach

Die Hortensie

Anna-Katharina Plach

Die Hortensie

Roman

Impressum

Texte: © 2024 Copyright by Anna-Katharina Plach

Umschlag:© 2024 Copyright by Anna-Katharina Plach, Grafik: Peter Klein

Verantwortlich

für den Inhalt: Anna-Katharina Plach

Langackergasse 5

2191 Gaweinstal

[email protected]

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Die Personen

Ilse Hartmann

Tochter von Josef und Elisabeth Hartmann.

Geboren 1921 wuchs sie in der Zwischenkriegszeit in Wien auf und suchte ihren Platz in den Wirren des Austrofaschismus, aufkommenden Nationalsozialismus und einer sozialistischen Untergrundbewegung.

Josef Hartmann

Gastwirt, Deutschmeister, Ehemann von Elisabeth und Vater von Ilse und Pepi.

Aufgrund seines gesellschaftlichen Abstiegs wurde der überzeugte Monarchist für den Nationalsozialismus offen und Mitglied der (noch) illegalen NSDAP.

Elisabeth Hartmann (geb. Rausch)

Köchin, Ehefrau von Josef Hartmann, Mutter von Ilse und Pepi, Tochter von Katharina Rausch.

Eine Geschäftsfrau, die für ihren gesellschaftlichen Aufstieg viel auf sich nahm.

Josef Hartmann (junior, Pepi)

Ilses Bruder. Er war der ersehnte Stammhalter. Später wurde er Mitglied der Hitlerjugend.

Fritz Ammersdorfer

Cousin von Ilse. Er lebte mit seinen Eltern in Nürnberg und war Flieger der Deutschen Luftwaffe.

Albert Altenbach (Bert)

Architekturstudent, reicher Erbe und Ilses Verlobter.

Katharina Rausch (Großmama)

Ilses und Pepis Großmama, Elisabeths Mutter, Bäuerin.

Als Ilse geboren wurde, verpachtete sie ihre Landwirtschaft und zog zu der Familie ihrer Tochter nach Wien, um sich um die Kinder zu kümmern.

Emmerich Schwarz

Geschäftsführer der Textilfabrik Ernst Stein & Co und überzeugter Sozialist.

Louise Schwarz (geb. Rückle)

Ehefrau von Emmerich Schwarz und überzeugte Sozialistin.

Wilhelm Schwarz

Emmerichs Bruder und Erbe des elterlichen Geschäfts. Wirbt um Ilse.

Emmerich Schwarz (senior)

Geschäftsmann und Vater von Emmerich und Wilhelm.

Marie Schwarz (geb. Klampfl)

Geschäftsfrau und Ehefrau von Emmerich Schwarz senior, Mutter von Emmerich und Wilhelm.

Leopold Rausch (Onkel Leopold)

Sohn von Katharina Rausch, Bruder von Elisabeth Hartmann. Onkel von Ilse, Fritz und Pepi.

Theresia Ammersdorfer (geb. Rausch)

Mutter von Fritz, Tochter von Katharina Rausch, Schwester von Elisabeth Hartmann und Leopold Rausch. Lebt mit ihrer Familie in Nürnberg.

Friedrich Ammersdorfer

Ehemann von Theresia Ammersdorfer und Vater von Fritz.

Hilde Bründl

Freundin von Ilse aus Gumpoldskirchen und Tochter des Weinlieferanten des Hotelrestaurants Thalia.

Claudia Gaffuri

Freundin von Ilse und Tochter des Fleischhauers, der das Hotelrestaurant Thalia beliefert.

Paul Gaffuri

Bruder von Claudia Gaffuri, Journalist bei der Zeitung Die Sozialistische.

Max Weiss

Jus-Student und Sozialist.

Dass es so enden würde, hätte er nicht gedacht. Er und Anna waren das perfekte Paar. Die Tochter des Kaufmanns und er. Zusammen hatten sie es geschafft, die Wirtschaft seines Vaters zu einem großen Gasthaus zu machen. Josef Hartmann war beliebt und gewann immer mehr Einfluss. Schließlich wurde er mit nur 35 Jahren Bürgermeister von Vösendorf.

Seine Eltern hatte Josef in einem kleinen Grab beerdigt. Aber er würde im Ersten liegen, das man sieht, wenn man den Friedhof betritt.

Vösendorf lag im Süden von Wien, gleich neben Siebenhirten, unweit vom Kurort Baden und dem schönen Laxenburg. Josef war stolz, Bürgermeister dieses besonderen Ortes zu sein. Vor allem deshalb, weil Vösendorf das Zentrum der Ziegelindustrie war. Von hier kamen die Ziegel für die prunkvollen Wiener Ringstraßenbauten. Seit 1866 gab es eine Eisenbahnstreckei von den Ziegelwerken bis zur Wiener Ringstraße, um das Material effizienter liefern zu können.

Etwas fehlte aber zu seinem und Annas Glück. Sie hatten keine Kinder und es gab niemanden, der Josefs Werk, seine Arbeit weiterführen würde. Nach langer Zeit des Wartens kam endlich ein Kind. Ein Bub. Er wurde nach dem Vater benannt. Josef. Doch im Alter von vier Jahren erkrankte der Junge an einer Lungenentzündung und starb. Viele Kinder starben. Der Tod war allgegenwärtig, ständig starben Menschen an irgendwelchen Krankheiten, egal wie alt oder gesund sie waren.

Es vergingen zwei Jahre. Dann wurde Anna erneut schwanger. Es war ein Mädchen. Die Freude war mäßig. Doch was blieb ihnen anderes übrig? Sie nannten das Kind Josefa. Der Name sollte unter allen Umständen weitergeführt werden, wenn auch nur von einem Mädchen. Drei weitere Jahre mussten sie warten, dann kam wieder ein Sohn. Der Stammhalter Josef.

Jetzt standen sie da, an seinem Bett und warteten darauf, bis er einschlafen würde. Für immer.

Josefa legte ihrem Vater ein frisches Tuch auf die Stirn. Doktor Berger hatte keine Hoffnung mehr. »Ich kann nichts mehr für ihn tun«, sagte er, als er Lungentuberkulose diagnostizierte.

Sie waren noch so jung. Die 16-jährige Josefa wurde allmählich heiratsfähig, und er würde seinen Schwiegersohn nie kennenlernen. Er konnte ihnen nicht seinen Segen geben. Niemand würde bei ihm um die Hand seiner Tochter anhalten.

Und Josef? Der Bub war erst 13, er wollte ihm noch so viel beibringen. Als seine Mutter starb, war er acht. Sie fehlte ihm sehr, und er konnte sie nicht ersetzen, diese Warmherzigkeit, die nur Anna hatte.

Er war streng. Da war dieser Schmerz über den Verlust seiner Frau und gleichzeitig musste er die Kinder auf das Leben vorbereiten. Der Rohrstock stand immer bereit, ebenso wie das Holzscheit. Dennoch sie hatten es immer gut, ihnen hatte es an nichts gefehlt. Und sie würden auch jetzt nicht mit leeren Händen dastehen. Das stimmte ihn zufrieden. Bald würde er bei seiner Anna sein. Im ersten Grab am Friedhof seiner Stadt.

Noch ein Atemzug. Dann ging Josef Hartmann.

Erster Teil Die Stammhalter

1905

Mit Schnee bedeckt betrat die junge Frau das Geschäft. Es war Februar und es schneite schon seit Tagen, als wollte es nicht mehr aufhören. Emmerich hatte gerade den Boden aufgewischt.

»Ich brauche weißen Stoff für Wäsche. Meine Herrschaft meinte, Sie wissen, welchen«, sagte die Frau. In dem Augenblick kam Johann Pemsel, Emmerichs Chef und Lehrmeister, aus seinem Büro. Er bemerkte den fragenden Blick seines Angestellten und erklärte: »Die Herrschaft ist die Witwe Nawratil.« Dann nickte er der jungen Frau freundlich zu: »Grüß Gott, Fräulein Marie.« Marie nickte zurück.

Emmerich wusste nun, welche Ballen er ihr zeigen musste. Als er sie auf den Verkaufstisch legte, sah er Marie kurz an. Und dann gleich wieder auf die Ballen. Ihre braunen Augen und ihr Mund, der sich zuspitzte, wenn sie die Stoffe anfasste. Sie wusste genau, was sie wollte.

»Wenn Sie mir bitte vier Meter davon herunterschneiden«, sagte sie und zeigte auf einen der Ballen. Als Herr Pemsel merkte, dass er überflüssig war, verschwand wieder in seinem Büro.

Bei Frauen war Emmerich bisher eher zurückhaltend gewesen. Keine hatte es ihm besonders angetan. Doch plötzlich hatte er sich verliebt. In die Augen und in den Mund dieser jungen Frau. Marie. Er schnitt ihr die vier Meter vom Stoff ab und wickelte sie in Papier. Dabei musste er sich konzentrieren, um keinen Fehler zu machen. Auf keinen Fall durfte sie sehen, wie nervös er war. Dann verrechnete er und sie gab ihm das Geld. »Vielleicht sehen wir uns bald wieder«, sagte sie zum Abschied. Emmerich hatte es die Sprache verschlagen. Er brachte lediglich ein »Auf Wiedersehen« heraus.

Als die Tür hinter Marie zufiel, kam Herr Pemsel wieder aus seinem Büro.

»Kennen Sie Marie?«, fragte Emmerich seinen Chef.

»Warum wollen Sie das wissen?« Herrn Pemsels Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen, erzählte dann aber: »Marie Klampfl ist die Tochter eines reichen Bauern. Eine gute Partie, aber auch sehr eigensinnig. Nach ihrem Abschluss wollte sie unbedingt in Wien zur Schule gehen. Sie besuchte die Dienstmädchenschule im ersten Bezirk. Sehr nobel. Als wenn man für so etwas eine Schule bräuchte. Was für eine Geldverschwendung. Diese Arbeit lernt man doch auch zu Hause… Jetzt ist sie damit fertig und arbeitet in der Nawratil-Villa. Vermutlich bis sie heiratet. Ihr Vater ist ein guter Kunde.«

Die Nawratil-Villa war in der Kaiser-Franz-Josef-Straße, gleich hinter dem Vermischtwarengeschäft von Johann Pemsel. Emmerich kannte das große Haus, das in einem prachtvoll angelegten Garten lag, und beschloss, von nun an auf seinem Weg zur Arbeit daran vorbeizugehen. Er wartete immer eine Weile davor und setzte dann erst seinen Weg fort. Irgendwann würde er Marie begegnen.

Es verging beinahe ein halbes Jahr, aber nichts geschah. Bis auf einmal Marie wieder vor Emmerich im Geschäft stand. Herr Pemsel war gerade dabei, Bänder einzuordnen, als sie ihm einen Einkaufszettel gab, damit er ihr die Sachen, die darauf standen, zusammensuchte. Dann wandte sie sich Emmerich zu, der wie angewurzelt dastand und sie mit gesenktem Kopf ansah, um schnell wieder wegsehen zu können.

Marie war nicht schüchtern. »Ich habe heute um sieben Uhr frei. Wie wäre es, wenn Sie mich abholen und wir zusammen einen Spaziergang machen? Dann brauchen Sie nicht mehr vor der Villa zu stehen.«

Sie hatte ihn also bemerkt. Offenbar war es doch zu etwas gut gewesen.

»Sehr gerne«, entgegnete er und wurde nun etwas gelöster.

Als Herr Pemsel die Sachen zusammengesucht hatte, bat er Marie zur Kassa. Beim Hinausgehen warf sie Emmerich noch einmal einen Blick zu und lächelte: »Auf Wiedersehen.«

Punkt sieben Uhr stand Emmerich vor der Villa Nawratil. Der Sommer hatte seinen Höhepunkt erreicht und die Bauern brachten mit ihren Fuhrwerken das Getreide in ihre Speicher oder fuhren wieder aufs Feld hinaus. Emmerich war sich nicht sicher, ob er Marie etwas mitbringen sollte. Blumen? Vielleicht war das zu aufdringlich. Dann sah er auf dem Weg wilde Margeriten blühen und entschied sich, doch einen kleinen Strauß zu pflücken.

Da stand er nun mit seinem Margeriten-Strauß und wartete. Fünf Minuten später kam Marie aus dem Haus. Verlegen reichte Emmerich ihr die Blumen. »Die sind für Sie.«

»Sind die aber schön, vielen Dank.« Sie schien sich drüber zu freuen. Marie lief damit gleich wieder ins Haus und rief ihm zu: »Ich stelle sie schnell ins Wasser. Schließlich möchte ich länger etwas davon haben.« Es dauerte nicht lange, bis sie wieder zurückkam. »Alles erledigt. Jetzt können wir gehen.«

Marie trug ein himmelblaues Kleid mit kurzen Ärmeln. Eigentlich sah sie nicht aus wie ein Dienstmädchen. In der Sonne glänzten ihre braunen Augen noch schöner als im schummrigen Licht des Geschäfts. Emmerich war sich unsicher, wie er die Unterhaltung beginnen sollte. Als ein beladenes Fuhrwerk an ihnen vorbeifuhr, begann Marie: »Vor ein paar Jahren bin ich auch noch mit aufs Feld gefahren. Meine Eltern haben eine Landwirtschaft. Und wenn Erntezeit war, mussten wir alle mithelfen. Als wir Kinder noch zur Schule gingen, bekamen wir sogar während dieser Zeit frei. Wir wussten nicht, was besser war.« Sie musste lachen. »Zwar hatten wir Knechte und Mägde, aber es wurde jede Hand gebraucht.«

»Wie viele Geschwister haben Sie denn?«, wollte Emmerich wissen.

»Zwei, einen Bruder und eine Schwester. Mein Bruder wird die Landwirtschaft übernehmen. Woher kommen Sie?«

»Meine Eltern haben in Zlabings eine Mühle. Das ist in Südmähren.«

»Das kenne ich. Ich war dort einmal mit meiner Großmutter. Ich kann mich aber nicht mehr erinnern, warum. Ich war noch klein.«

»Tatsächlich?«, wunderte sich Emmerich. »Normalerweise kennt Zlabings niemand.«

»Und was hat Sie hierher ins Weinviertel verschlagen?«

»Ich wollte nicht in Zlabings bleiben und war dann bei meiner Schwester in Retz. Dort habe ich auch in einem Geschäft gearbeitet. Aber – was soll ich sagen – auch Retz wurde mir irgendwann zu eng. Ich möchte einmal mein eigenes Geschäft haben. Vielleicht sogar in Wien.«

»Na dann kommen sie ja immer näher.« Nach einer kurzen Pause meinte sie: »Das kann ich gut verstehen. Ich wollte auch keine Bäuerin werden, obwohl mir die Arbeit nichts ausmacht. Aber es ist mir zu wenig.«

Die beiden gingen die Oberhoferstraße entlang in Richtung Waldrand. Marie erzählte weiter: »Ich konnte meinen Vater überreden, in Wien die Schule besuchen zu dürfen. Eigentlich wollte ich die Matura machen. Aber mein Vater meinte, es sollte etwas Nützliches sein. Deshalb bin ich auf die Dienstmädchenschule gegangen. Ich habe bei meiner Großtante gewohnt, die gleich über den Ring im dritten Bezirk ihre Wohnung hat. Das war praktisch.« Mit Begeisterung erzählte Marie nun über Wien: »Der verstorbene Mann meiner Großtante war Professor für Philosophie an der Universität. Und auch meine Tante kennt sich mit Philosophie aus. Sie hat viele gebildete Freundinnen, mit denen sie sich regelmäßig trifft und über Gott und die Welt redet. Im wahrsten Sinne… Ich war oft dabei. Und es war – ich möchte jetzt nicht pathetisch sein – es war wirklich erleuchtend.«

Emmerich verstand nicht ganz. »Was meinen Sie mit erleuchtend?«

Sie waren bereits am Wald angekommen. Dort stand eine Bank zum Rasten, auf der sie sich hinsetzten. Von hier aus sahen sie auf die Martinskirche, die jetzt in das Licht der untergehenden Sonne getaucht war.

»Erleuchtend. Na ja, das ist so ein Gefühl, wenn man auf einmal ganz wach ist, wenn man etwas hört und sich verstanden fühlt. Zum Beispiel etwas, mit dem man immer schon Probleme gehabt hat.«

»Wie meinen Sie das?« Emmerich verstand immer noch nicht. Als er bemerkte, dass Marie auf einmal nervös zu werden schien, war ihm seine Frage unangenehm und er wünschte sich, er hätte sie nicht gestellt. Marie sah ihn von der Seite an und dann wieder nach vorne. Aus ihrer Unsicherheit wurde plötzlich Entschlossenheit: »Bei mir ist es das mit den Frauen und Männern. Ich habe nie verstanden, warum Männer so viel dürfen und Frauen nicht. Mit der körperlichen Kraft ist es etwas anderes. Aber warum dürfen wir nicht wählen? Ich sehe keinen Grund dafür. Oder warum dürfen wir nicht studieren? Wir sind ja nicht dümmer, nur weil wir Frauen sind… Meine Großtante versteht das auch nicht. Wir können stundenlang über so etwas sprechen. Und das ist schön, weil ich mich damit nicht allein fühle.«

Nun wusste Emmerich, was Herr Pemsel damit meinte, als er sagte, Marie wäre eigensinnig. Was sie sagte, würden andere Frauen nicht wagen auszusprechen. Er war unsicher, wie er reagieren sollte. Deshalb sagte er: »Ich verstehe. Na ja…ich bin ja ein Mann…aber vielleicht haben Sie recht.«

Sie machten sich wieder auf den Rückweg. »Wo wollen Sie denn Ihr Geschäft aufmachen? Haben Sie schon etwas in Aussicht?«, wechselte Marie das Thema.

»Nein, bisher hat sich noch nichts ergeben.«

»Ich finde es gut, wenn eine Frau an allem gleich beteiligt ist wie der Mann. Warum muss eine Frau immer nur die Frau von jemandem sein? Sie sollte für sich stehen können, wie der Mann auch.« Emmerich wunderte sich über Maries offene Worte. Es klang beinahe so, als wollte sie damit etwas im Voraus klarstellen. Wohin würde das Gespräch führen? Wie wenn sie schon ihre gemeinsame Zukunft planen würde, redete Marie weiter: »Auf jeden Fall würde ich auch das Handwerk lernen. Ich muss ja wissen, worum es geht. Mein Vater sagt immer: Bevor man Arbeit abgibt, muss man sie selbst können. Sonst kann einen jeder übers Ohr hauen.«

»Das ist wohl wahr.« Emmerich gefiel dieser Satz.

Als sie bei der Villa ankamen, dämmerte es bereits und die Luft wurde allmählich kühl. Emmerich und Marie standen vor dem großen Haus, unsicher, wie sie sich verabschieden sollten. Schließlich meinte er: »Sie wissen ja, wo Sie mich finden.« Er lächelte sie an. Marie, die nun auch ein wenig angespannt war, lächelte erleichtert zurück. Schließlich kam von beiden gleichzeitig: »Auf Wiedersehen.«

1908

Emmerich und Marie wurden ein Paar. Wenn sie ein geeignetes Geschäftslokal fänden, würden sie heiraten. Maries Mitgift war beachtlich, und beide legten von ihrem Lohn zurück so viel sie konnten. Von ihrem Vater wusste Marie, dass es am besten sei, in Land zu investieren und es zu verpachten. Denn nichts hätte am Ende so viel Wert wie Grund und Boden. Noch vor ihrer Hochzeit kauften sie Äcker und ein Presshaus. Die Pacht reichte für das Notwendigste. Wie sie von Beginn an gesagt hatte, war es für Marie wichtig, als gleichberechtigte Miteigentümerin eingetragen zu sein.

Durch Zufall hörte Emmerich ein Gespräch zwischen Herrn Pemsel und Herrn Schirnböck mit an. Herr Schirnböck hatte ebenfalls ein Geschäft. Einen kleinen Greißlerladen in einem Ort in der Nähe, Richtung Wien, und hatte keinen Nachfolger. »Meine Tochter ist mit einem Bauern verheiratet und mir wird es langsam zu viel«, konnte Emmerich hören. Als Herr Schirnböck das Geschäft verließ, lief ihm Emmerich auf der Straße nach. Er wollte sich den Greißlerladen zusammen mit Marie ansehen.

»Das Geschäft gibt es seit 1848«, erzählte Herr Schirnböck den beiden. Hinter dem Verkaufsraum befanden sich ein Schlafzimmer und eine Küche. Dahinter waren neun Magazine. Man konnte Tiere halten und im Garten etwas anbauen. Es war perfekt.

Marie und Emmerich heirateten und eröffneten noch im selben Jahr das Geschäft. Die Eheleute erwiesen kaufmännisches Geschick. Sie waren fleißig und wussten, ihre Ware einzukaufen und wieder zu verkaufen. Vor allem verkauften sie Düngemittel und das Notwendige für die Landwirtschaft sowie Stoffe, die etwa die Hälfte der Regale einnahmen.

Aber etwas fehlte Emmerich. Er wollte nicht irgendeinen Laden haben, er wollte etwas Besonderes. In Wien hatte er Geschäfte mit elektrischer Beleuchtung und sogar einem beleuchteten Schild gesehen. In Zeitschriften hatte er schon viel über Elektrizität gelesen. Die Sache mit dem Strom, mit Gleichspannung und Wechselspannung interessierte ihn. So wie damals, als sie in der Mühle bei seinen Eltern das neue Mahlwerk bekommen hatten. Er hatte stundenlang zugesehen, wie das Korn gemahlen wurde. Schließlich kannte er sich so gut damit aus, dass er schon als Zehnjähriger die anfallenden Reparaturarbeiten vornahm.

Emmerich wartete gespannt auf die Lieferung, die für den Nachmittag angekündigt war. Marie wunderte sich über die Nervosität ihres Mannes. »Was ist denn heute mit dir los?« Sie stemmte sich gerade von ihrem Stuhl hinter dem Verkaufspult hoch. Bis zur Entbindung würde es nicht mehr lange dauern, und sie brauchte ihn für die Arbeit. Stattdessen lief er umher wie ein närrisches Huhn.

Endlich. Da kam der Wagen, der alles bringen sollte. Aufgeregt rannte Emmerich hinaus, um die Kisten entgegenzunehmen.

»Was ist denn das? Ich hatte keine Ahnung, dass heute etwas kommen würde.« Marie trat aus dem Geschäft.

»Das ist Licht«, sagte Emmerich stolz.

»Was meinst du damit?«

»Das ist alles, was ich brauche, um ein Stromaggregat zu bauen. Und dann haben wir Licht im Geschäft. Licht, das heller ist als Kerzen und das man nicht ständig wechseln muss. Es wird alles heller machen. Du wirst schon sehen.«

»Aber wohin soll das denn. Wir haben doch keinen Platz.«

»Ich habe das Neuner-Magazin leergeräumt. Da war ohnehin nur Gerümpel drinnen. Das, was man noch brauchen kann, ist jetzt aufgeteilt im Siebener- und Dreier-Magazin.«

»Wenn das nur gut geht.« Marie schüttelte den Kopf und ließ ihren Mann mit den Kisten allein. Dann rief sie den Lehrbuben und wies ihn an, Emmerich zu helfen.

Wenn sich Emmerich etwas ausgedacht hatte, war er so vertieft in die Sache, dass er sogar aufs Essen vergaß. Die nächsten Tage kam er nur aus dem Magazin, wenn er so müde wurde, dass gar nichts mehr ging. Marie war mit dem Lehrbuben und einer Angestellten allein im Geschäft, als sie plötzlich ein Ziehen im Bauch verspürte.

»Das geht schon wieder vorüber«, hatte sie gemeint, als die Angestellte die Hebamme rufen wollte.

»Sind Sie sich sicher? Bei meiner Mutter hat es auch immer so begonnen.«

In dem Augenblick kam Emmerich. Beladen mit unzähligen Kabeln und Glühbirnen. Nun ging es los. Er würde das Geschäft elektrifizieren, und bald würden die Glühbirnen alles ausleuchten.

Schon wieder dieses Ziehen. Marie stieß einen Schrei aus.

»Was ist denn los?«, fragte Emmerich besorgt.

Die Angestellte kam ihr mit der Antwort zuvor: »Ich denke, es ist soweit.«

»Und warum sind Sie dann noch hier?! Holen Sie die Hebamme! Schnell!«

»Es ist nichts. Das bisschen Ziehen…«, warf Marie ein.

Emmerich sah die Angestellte an. »Gehen Sie schon!«, befahl er.

Er half Marie in das Schlafzimmer und wartete, bis die Hebamme kam. Dann musste er den Raum verlassen.

Er hatte die Stunden nicht gezählt, bis irgendwann das Schreien eines Babys zu hören war. Die Freude war groß, als die Hebamme die Nachricht überbrachte, dass es ein Sohn sei. Emmerich. Nun gab es einen Junior, der einmal das Geschäft übernehmen sollte. Marie hatte gehofft, dass es kein Mädchen würde. Denn sie hatte die Erfahrung gemacht, dass es Mädchen immer schwerer hätten als Jungen. Sie waren immer abhängig, entweder von ihrem Vater oder von ihrem Ehemann. Ohne einen Mann an ihrer Seite durften sie nichts.

Marie blieb nicht lange im Wochenbett. Bereits am nächsten Tag war sie wieder im Geschäft und machte die Buchhaltung, das Baby in einer Wiege daneben. Plötzlich zischte es. Dann noch einmal. Und auf einmal war alles hell. Emmerich hatte es geschafft, er hatte sein eigenes Stromaggregat, mit dem er sein Geschäft beleuchten konnte.

Vier Jahre später gebar Marie einen zweiten Sohn. Wieder ein Junge. Gott sei Dank. Er wurde nach Maries Vater Wilhelm benannt.

1911

An einem Nachmittag im November fuhr Josefa nach Wien. Sie hatte Einkäufe zu erledigen und genoss es, einmal nicht arbeiten zu müssen. Seit dem Tod ihres Vaters führte sie zusammen mit ihrem Bruder Josef das Gasthaus in Vösendorf. Er war noch sehr jung und musste früh erwachsen werden. Die Zeit war hart und Josefa war für jede Abwechslung dankbar.

Die Luft war kalt und es roch nach verfaultem Laub und dem Rauch, der aus den Schornsteinen der Häuser quoll. Der Nebel breitete sich wie eine Decke über der Stadt aus.

Josefa bummelte entlang der Einkaufsstraßen und Märkte, den Kai, den Schwedenplatz hinauf zum Stephansplatz und über den Graben in die Kärntnerstraße. Dabei beobachtete sie die feinen Damen, wie sie vor den Schaufenstern standen und tratschten.

»Eines Tages werde ich dazugehören«, sagte sie sich. Ihr Vater hatte ihr eine beachtliche Summe als Mitgift hinterlassen und auch ihr Bruder würde dafür sorgen, dass es ihr an nichts fehlte. Sie war sehr hübsch und zwei attraktive Männer aus Unternehmerfamilien machten ihr bereits den Hof. Aber sie konnte sich nicht entscheiden.

Der Nachmittag verging. Es wurde früh dunkel und der Rauch der Häuser verband sich mit dem Novembernebel, sodass man kaum drei Meter weit sehen konnte. Langsam ging Josefa in Richtung Bahnhof, um den nächsten Zug zurück nach Vösendorf zu nehmen. Beim Überqueren der Straßen war sie sehr vorsichtig. Sie wusste, dass es auf den Wiener Straßen turbulent zuging, vor allem seit die Tramway in kürzeren Intervallen fuhr. Plötzlich spürte sie einen heftigen Stoß, einen unbeschreiblichen Schmerz. Josefa hatte nach links geschaut und die Tramway kam von rechts.

Sie wurde 22 Jahre alt.

Der elterliche Betrieb war nun alles, was Josef geblieben war. Am liebsten wäre es ihm gewesen, das Gasthaus zu verkaufen und irgendwo neu anzufangen. Aber er machte weiter. Es war das letzte Stück Familie – das, was sich sein Vater so sehr gewünscht hatte. Josef konnte ihn nicht enttäuschen. Er nahm sich eine Küchenhilfe, die Kroatin Ljubica. Sie konnte gut kochen, aber seine Schwester dennoch nicht ersetzen.

1914

Der 29. Juni begann wie jeder andere Tag. Ljubica war die erste im Gasthaus von Josef Hartmann. Sie musste die Küche vorbereiten, Mehlspeisen backen und alles herrichten, um die Bestellungen schnell zubereiten zu können. Dann kamen die Lieferungen mit frischem Obst und Gemüse. Das Fleisch suchte sie beim Fleischer selbst aus. Josef kümmerte sich um die Büroarbeit und nahm die Tageszeitungen entgegen, um sie auf dem Zeitungstisch neben der Schank aufzulegen. Als der Gastwirt einen Blick darauf warf, erschrak er. Alle Titelseiten berichteten das Gleiche:

Das Thronfolgerpaar wurde gestern

in Sarajewo ermordet!

Josef war klar, was das bedeutete. Es würde Krieg geben. Er brauchte ein paar Minuten, um sich wieder zu fangen, bevor er in die Küche lief. Er musste es Ljubica erzählen: »Stellen Sie sich vor, der Thronfolger wurde gestern in Bosnien ermordet!«

Ljubica wurde starr. Auch sie wusste, was das bedeutete. Einen Moment lang stand sie einfach nur da. Dann sagte sie ruhig: »Entschuldigen Sie bitte, Herr Hartmann. Aber ich muss jetzt gehen.« Sie legte den Kochlöffel, mit dem sie gerade in einem Topf gerührt hatte, zur Seite, machte das Feuer aus und verließ das Gasthaus. Sie kehrte nach Kroatien zurück, bevor sie ihre Familie nie wieder sehen würde.

Um sieben Uhr kamen die ersten Gäste. Sie wollten frühstücken, aber es war nichts vorbereitet. Außer Kaffee konnte Josef nichts kochen, und der Kellner, die einzige Hilfe, die er jetzt hatte, war damit beschäftigt, die Leute zu vertrösten. Dafür gab es Neuigkeiten. Große Neuigkeiten.

»Ach was, das haben wir im Handumdrehen erledigt. Der Kaiser weiß schon, was er tut«, meinte einer der Stammgäste, der sich mit einem Bier vertrösten ließ. Es war die richtige Stimmung dafür. »Die Bosnier werden sich mit den Serben zusammentun«, überlegte er. Ein anderer, der gerade sein Krügerl geleert hatte, warf ein: »Vielleicht auch mit den Kroaten, Slowenen und weiß der Teufel mit wem noch.« Und so wurde über Kriegsstrategien und mögliche Bündnisse nachgedacht.

»Wen haben Sie denn jetzt in der Küche?« Leopold Rausch lehnte wie jeden Morgen an der Bar und schlürfte seinen Kaffee. Er wohnte in Siebenhirten, ein Ort neben Vösendorf, und kam jeden Tag, um bei Hartmann seinen Kaffee zu trinken und Zeitung zu lesen.

»Ich werde jemand anderen suchen müssen. Es wird nicht leicht werden, eine gute Köchin zu finden«, meinte Josef, während er Gläser abtrocknete. Da meinte Leopold: »Ich weiß jemanden.«

»Ach, tatsächlich?«

»Meine Schwester ist gerade aus der Schule draußen und sucht Arbeit. Ich sag Ihnen, die kann vielleicht kochen. Das hat sie von unserer Mutter.«

»Dann bringen Sie sie am besten gleich vorbei.«

Die 14-jährige Elisabeth kam am nächsten Tag. Um halb acht stand sie in der Gaststube und fragte den Kellner nach dem Chef. »Um was geht es denn?«, wollte der wissen.

»Mein Bruder hat mir gesagt, dass hier eine Köchin gesucht wird.«

»Setzen Sie sich einen Moment, ich hole Herrn Hartmann.« Mit diesen Worten verschwand der Kellner in dem Raum hinter der Schank. Es dauerte nicht lange, bis er wieder kam. Der Mann, der ihm folge, musste Herr Hartmann sein. Er sah gut aus.

»Grüß Gott. Sind Sie Leopolds Schwester?«, begrüßte er sie höflich und reichte ihr die Hand.

»Elisabeth Rausch. Es wäre mir eine Freude, bei Ihnen arbeiten zu dürfen.«

»Ihr Bruder hat von Ihren Kochkünsten nur so geschwärmt. Wenn Sie wollen, können Sie gleich beginnen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo die Küche ist.« Elisabeth folgte ihm. Sie sah sich um und machte sich sofort an die Arbeit.

Es dauerte nicht lange, bis sie sich zurechtfand. Elisabeth brachte ihren eigenen Speiseplan mit. Sie fand, Fisch sollte es nur freitags geben, und es sollte mehr Gemüse angeboten werden. Die Gäste mochten es, sie konnte tatsächlich gut kochen. Ihr Bruder hatte nicht übertrieben.

Neben der Küche zeigte Elisabeth auch Geschick im Haushalt. Eigentlich wollte Josef nicht, dass sie in seine Privaträume geht. Doch einmal bat er sie, ein Notizbuch zu holen, das er in seinem Schlafzimmer vergessen hatte. Da sah sie, wie sehr ihr Chef eine helfende Hand notwendig hatte und schlich, nachdem sie abends die Küche fertiggemacht hatte und Josef noch in seinem Büro saß, in seine Räume, um sich dort nützlich zu machen.

Ab nun machte sie das jeden Tag. Josef ließ es zu, sagte aber kein Wort. Schon nach kurzer Zeit waren die beiden aufeinander eingespielt, ohne sich abgesprochen zu haben. Er tat das seine, und sie das ihre.

An einem Montagmorgen sortierte Josef wie immer die Zeitungen. Da fiel ein Blatt aus dem Stoß. Als er es nahm, um es wieder hineinzulegen, warf er einen Blick darauf:

Aufruf an die Wiener Bevölkerung!

Es war ein Aufruf von den Deutschmeistern, sich beim Infanterieregiment Nr. 4, dem Schützenkorps, zu melden, um den Kaiser im Krieg zu verteidigen. Die Deutschmeister, die Soldaten des Kaisers, die Eliteeinheit mit der schönsten Uniform. Der Gastwirt fühlte sich angesprochen, denn zu den Deutschmeistern zu gehören – zum k.u.k. Infanterieregiment Nr. 4 – wäre schon etwas Besonderes. Er würde ohnehin bald eingezogen werden, und bevor er ein einfacher Soldat sein würde, wollte er zumindest der Eliteeinheit angehören.

Also stellte sich Josef in der Kaserne vor. Er wurde gemustert und Deutschmeister des k.u.k. Infanterieregiments Nr. 4, Schützenkorps. Danach wurde gefeiert. Josef und seine neuen Kameraden bekamen einen Hut aufgesetzt, auf dem ein kleiner Blumenstrauß gesteckt wurde. Mit diesem Hut und leicht angetrunken gingen die jungen Deutschmeister zum Fotografen und ließen sich ablichten. Sie waren alle sehr stolz. Als Hintergrund für das Foto wählten sie Arkaden und Säulen im Barockstil. »So prunkvoll wie die Monarchie ist wollen wir es haben«, meinte einer der jungen Männer. In den Vordergrund wurde eine Balustrade gestellt, mit der sie sich in Pose brachten.

Jetzt musste Josef vorsorgen. Obwohl er vorerst in Wien stationiert war und sich zum Teil um das Geschäft kümmern konnte, würde er bald einberufen werden. Er stellte noch ein Mädchen für die Küche ein, um Elisabeth mehr Zeit für das Geschäftliche zu geben.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Hartmann, ich schaffe das schon«, beruhigte ihn die Köchin.

Und dann war es soweit. Josef musste in den Krieg ziehen. Aber der würde ja sowieso nicht lange dauern.

1916

I

Es war immer noch Krieg. Beinahe alle Männer waren eingezogen und die Kundschaft blieb aus. In den Fabriken arbeiteten jetzt viele Frauen. In dem Werk unmittelbar bei Hartmanns Gasthaus war nur noch der Besitzer Herr Wolf da und ein paar Männer, die einen Grund angeben konnten, um nicht an die Front zu müssen, weil ihre Arbeit kriegswichtig war.

»Fräulein Elisabeth, Sie müssen nicht hierbleiben. Gehen Sie zu Ihrer Mutter nach Hause«, sagte Josef, als er einmal auf Heimaturlaub war. Doch Elisabeth dachte nicht daran. Sie wollte mit allen Mitteln im Gasthaus bleiben. Aber sie war sich dessen bewusst, dass sie sich etwas einfallen lassen musste, wenn es diesen Krieg überstehen sollte. Auf die Lebensmittelmarken konnte man sich nicht verlassen. Nie gab es die angegebenen Mengen. Die Menschen hatten Hunger und die Soldaten hatten Vorrang. Zuerst mussten sie satt werden, was übrig blieb, bekam das Volk, hieß es an den leeren Mittagstischen.

Elisabeth hatte bereits alle Angestellten entlassen. Oft musste sie improvisieren, da nie alle Zutaten da waren. Das Meiste holte sie sich von der Landwirtschaft ihrer Mutter Katharina. Sie führte seit dem Tod ihres Mannes die Landwirtschaft in Siebenhirten allein mit nur zwei Mägden und drei Knechten, und ihre fünf Kinder mussten helfen, wo Not am Mann war. Elisabeth war die jüngste der Geschwister – sie hatte zwei Brüder und zwei Schwestern. Ihr Bruder Franz ging nach Amerika und machte dort Geld, ihre Schwester Theresia heiratete den Geschäftsmann Friedrich Ammersdorfer aus Nürnberg. Leopold und Margarete blieben zu Hause in Siebenhirten und heirateten dort.

Seit dem Tod ihres Mannes hatte Katharina zahlreiche Heiratsanträge von Bauern aus der Umgebung bekommen. Da ihre Wirtschaft eine beachtliche Größe hatte und sie viele Hektar Ackerland besaß, war sie eine gute Partie, trotz der fünf Kinder. Aber das interessierte sie nicht. Sie war eine stolze Frau, die es allein schaffen wollte. Schon als Kind hatte sie sich nicht gerne helfen lassen ‑ ob beim Baumklettern, bei den Schulaufgaben oder bei der Wahl ihres Mannes. Denn Katharinas Eltern hatten andere Pläne für sie gehabt. Sie sollte Markus, den Sohn des Fleischers heiraten. Sie aber hatte sich in den Bauern Leopold verliebt und sich gegen ihre Eltern gestellt. So wie sie es nicht mochte, wenn andere für sie Entscheidungen trafen, wollte sie auch ihren Kindern nicht vorschreiben, wen sie zu heiraten oder wie sie zu leben hatten. Sie sollten ihren Weg selbst wählen.

Elisabeth wuchs mit der Überzeugung auf, für sie wäre alles möglich, unabhängig davon, woher man kam. Sie war sich aber auch darüber im Klaren, dass die anderen anderer Meinung waren. Vor dem Gesetz war ein Mann immer noch Entscheidungsträger. Also brauchte sie einen Mann. Leopold, ihr Bruder, hatte ihr die Stellung als Köchin in Herrn Hartmanns Gasthaus vermittelt. Ihr Chef gefiel ihr. Obwohl er streng sein konnte, war er auf seine Weise unbeholfen. Er kam Elisabeths Wünschen nach und ließ sie auch Entscheidungen treffen. Das war ungewöhnlich, machte ihn aber sympathisch. Und deshalb musste sie zusehen, dass dieses Gasthaus den Krieg überstand.

Die Knechte ihrer Mutter waren eingerückt, weshalb für die Arbeit nur mehr die Mägde da waren. Deshalb half Elisabeth, wann immer sie konnte. Die Ernte, die Katharina nicht verkaufte, nahm sie für das Gasthaus. Kartoffeln etwas Gemüse und Eier.

Aber was nutzte es ihr, wenn sie Essen hatte, aber die Gäste ausblieben? Irgendwann fragte sie sich, ob sie überhaupt noch etwas vorbereiten sollte.

Elisabeth versuchte, ihren Tagesablauf beizubehalten, um nicht nachlässig zu werden. Man hörte ja, dass die Menschen, wenn sie nichts zu tun hätten, langsamer und schlampiger werden. Das durfte sie auf keinen Fall. Deshalb nahm sie auch an diesem Montagmorgen den Besen und ging vor die Eingangstür, um den Schmutz wegzufegen, den die Fuhrwerke aufgewirbelt hatten. Als eine Kutsche vorbeifuhr, musste sie einen Moment warten. Die Hufe der Pferde hatten die trockene Straße erneut in eine Staubwolke gehüllt, sodass sie sich räuspern musste. Die einzelnen Körner funkelten in der aufgehenden Aprilsonne und sanken langsam zu Boden. Elisabeth sah zu der Fabrik hinüber, wo gerade die Arbeiterinnen ihre Schicht antraten. Sie waren dünn. Wie sollten diese zarten Körper bloß die schwere Arbeit verrichten?

Natürlich! Das war die Lösung. Ohne lange nachzudenken, lehnte sie den Besen an die Hausmauer und ging hinein. Seit Herr Hartmann weg war, wohnte sie hier. Sie zog ihr bestes Kleid an, machte sich die Haare und setzte ihren größten Hut auf. Er war schon in die Jahre gekommen. Aber es war Krieg und selbst die Reichen mussten ihre Gürtel enger schnallen. Nach einem flüchtigen Blick in den Spiegel ging sie hinüber, wie die Arbeiterinnen zuvor durch das Tor von Herrn Wolfs Fabrik.

An dem Schranken, von wo aus man das Gelände betreten konnte, wurde sie aufgehalten. Eine dicke Frau kam auf sie zu und fragte nach ihrer Marke.

»Ich habe keine Marke. Mein Name ist Elisabeth Hartmann. Sie wissen schon, der Bürgermeister. Gott hab ihn selig.« Elisabeth deutete in die Richtung des Gasthauses, wo immer noch der Besen an der Hausmauer lehnte. Sie dachte sich, wenn sie sich als eine Hartmann ausgab, klang es besser. Und der Bürgermeister war ‑ obwohl Josefs Vater schon lange tot war ‑ noch immer ein Begriff in der Kleinstadt.

»Na und? Was wollen Sie hier?«, fragte die Frau barsch.

»Ich möchte gerne mit Herrn Wolf sprechen.«

Die Frau brach in ein überzeichnetes Gelächter aus. Beinahe theatralisch versuchte sie Elisabeth deutlich zu machen, dass ihre Anfrage absurd sei. Aber das störte Elisabeth nicht. So souverän sie konnte meinte sie: »Ich habe ihm ein Angebot zu machen. Er wird interessiert sein.«

Aber das beeindruckte die Frau noch immer nicht. Mit verschränkten Armen stellte sie sich vor den Schranken. Da half nur eines: Gleichgültig drehte sich Elisabeth um und sagte beiläufig: »Dann werde ich ihn eben am Samstag beim Kaffee darauf ansprechen. Und ich werde mich auch über Ihre Personalien erkundigen. Vielen Dank.«

Mit einem leichten Lächeln entfernte sie sich langsam. Es dauerte ziemlich lange, bis sie die energische aber nun auch irritierte Stimme der Frau hörte: »Was meinen Sie damit?«

Elisabeth drehte sich wieder um. »Nichts weiter. Ich bin am Samstag mit seiner Frau zum Kaffee verabredet. Da kann ich ihn ja darauf ansprechen. Ich dachte nur, dass sich das Geschäftliche besser im Geschäft erledigen lässt. Aber wenn das nicht geht, macht es auch nichts. Auf Wiedersehen.« Sie drehte sich wieder um.

Nachdem sie ein paar Schritte gemacht hatte, rief sie die Frau zurück: »Wenn das so ist, dann bitte…« Sie kurbelte nervös den Schranken hoch und ließ Elisabeth auf das Gelände.

Gott sei Dank! Es hatte funktioniert. Unsicher, in welchem Gebäude sie Herrn Wolf suchen sollte, steuerte Elisabeth jenes an, das für sie am ehesten wie ein Bürogebäude aussah. Der einstöckige Ziegelbau hatte nicht wie die anderen große Fenster, sondern viele kleine, wie ein normales Haus. Hier könnte ein Chef in sein Büro gehen, stellte sie sich vor.

Sie trat ein und stand in einem Foyer. Von hier kam man in einen großen Raum. Die Flügeltür stand offen, sodass man die vielen Schreibtische und Sekretärinnen bei ihrer Arbeit sehen konnte. Auf der rechten Seite führte eine geschwungene Treppe in den ersten Stock. Eine Rezeptionistin fragte, was sie für sie tun könne. »Ich möchte gerne Herrn Wolf sprechen«, antwortete Elisabeth.

»Haben Sie einen Termin? Wen darf ich melden?«

»Elisabeth Rausch. Ich komme in geschäftlichen Angelegenheiten.« Hier zu lügen, käme wohl nicht gut. Wenn sie eine Geschäftsbeziehung anstrebte, musste sie bei der Wahrheit bleiben.

»Es tut mir leid, ohne Termin kann ich Sie nicht zu Herrn Wolf lassen.«

»Ich bin mir sicher, dass er meinen Besuch begrüßen wird.«

»Aber…«

»Ist schon gut, Toni. Was wollen Sie denn von Herrn Wolf?«, unterbrach eine Stimme von hinten die Empfangsdame und wandte sich Elisabeth zu.

Sie hatte den Mann gar nicht bemerkt. »Ich bin geschäftlich hier«, antwortete sie knapp.

Der Mann musterte sie kurz. »Kommen Sie mit.«

Er führte sie die Treppe hinauf in ein geräumiges Arbeitszimmer. Der Mann setzte sich hinter den Schreibtisch, der mitten im Raum stand, und bat Elisabeth, davor Platz zu nehmen. Sie las die goldenen Buchstaben auf dem Schild: Emil Wolf. Das hätte sie sich eigentlich denken können.

»Nun, Fräulein, was führt Sie zu mir? Wollen Sie Arbeit?«

»Na ja, nicht direkt. Mein Name ist Elisabeth Rausch und ich bin Köchin im Gasthaus Hartmann.«

»Das kenne ich. Die Küche ist wirklich gut.« Herr Wolf nickte ihr anerkennend zu.

»Vielen Dank.« Elisabeth spürte, wie eine leichte Röte in ihr Gesicht stieg. »Ich bin gekommen, weil ich Ihnen einen Vorschlag machen möchte.«

»Ich bin gespannt, Fräulein Rausch.«

»Nun, ich habe Essen. Aber wie Sie sich vielleicht vorstellen können, kommen nicht mehr so viele Gäste und ich bleibe darauf sitzen. Ihre Arbeiter haben bestimmt Hunger bei der harten Arbeit, und Essen ist rar geworden in diesen Zeiten…«

»Worauf wollen Sie hinaus, Fräulein Rausch?«

»Ich biete Ihnen an, für einen bestimmten Betrag Ihr Werk mit Essen zu versorgen. Dann arbeiten Ihre Leute auch bestimmt besser.«

Herr Wolf schwieg. Er sah Elisabeth lange an. Zu lange, wie sie fand.

»Also gut. Wir wollen es versuchen. In diesen Zeiten müssen wir doch zusammenhalten«, sagte er schließlich mit verschwörerischem Ton. »Ich spreche mit meinem Sekretär. Er wird sich bei Ihnen melden und alles Weitere klären.« Damit hob sich Herr Wolf aus seinem Stuhl und reichte Elisabeth die Hand.

Als sie das Bürohaus verließ und in die Morgensonne trat, musste sie blinzeln. Die wohlige Wärme der Sonne breitete sich in ihrem Körper aus. Das war ja gar nicht so schwer. Zufrieden ging Elisabeth durch den Schranken an der dicken Wächterin vorbei. Hoffentlich würde sie Herrn Wolf nicht enttäuschen.

Zwei Tage nach dem Besuch in der Fabrik, stand ein kleiner hagerer Mann in der Gaststube. Elisabeth war in der Küche und schälte gerade Kartoffeln.

»Hallo, ist hier jemand?«, hörte sie es plötzlich lautstark rufen. Mit einer Kartoffel in der Hand ging sie in die Gaststube. Um diese Zeit hatte sie niemanden erwartet. »Was kann ich für Sie tun?«

»Novak, mein Name. Herr Wolf schickt mich, um die Einzelheiten bezüglich der Essenslieferung zu besprechen.« Die nasale Aussprache von Herrn Novak ließ Elisabeth vermuten, dass er aus Wien kam. Vermutlich aus besseren Kreisen.

»Ah ja. Ich habe Sie schon erwartet.« Sie legte die Kartoffel auf die Schank und bat Herrn Novak, an einem der Tische Platz zu nehmen.

Er gab ihr ein zwei Seiten langes Schreiben und erzählte ihr, was darin stand. »Das sind nur Formalitäten. Herr Wolf ist sich sicher, dass Sie das Essen täglich liefern können. Aber Sie müssen verstehen, dass, wenn etwas dazwischenkommt, er sich vorbehält, den Verlust zurückzuverlangen.«

Das verstand Elisabeth. Sie wusste, dass Geschäfte immer auch Risiken bedeuteten, vor allem im Krieg. Aber sie musste es riskieren. Sie nickte und unterschrieb an der leeren Stelle am Ende des Schreibens.

II

Am Anfang hatte er noch mitgezählt, wie viele er sterben sah. Aber irgendwann wurde es ihm zu viel. Was er sah, erschütterte ihn. Nicht die vielen Toten waren es und auch nicht die Angst zu sterben. Josef hatte gewusst, worauf er sich einließ, als er sich bei den Deutschmeistern gemeldet hatte. Schließlich war ein Krieg immer blutig. Aber niemand hatte geahnt, wie es mit den neuen Waffen sein würde. Die Gewehre waren viel schneller als bisher. Sie ratterten ohrenbetäubend, nicht zu schweigen von dem, was sie anrichteten. Dann gab es Flammenwerfer, die einen bei lebendigem Leib verbrennen ließen. Außerdem wurde Giftgas eingesetzt, dem nicht zu entkommen war. Auch die Schützengräben waren sinnlos. Das Gas drang bis in die kleinste Ritze vor. Selbst Gasmasken halfen nicht immer. Panzer, Bomben und auch die Militärflugzeuge waren neu. Darauf waren sie nicht vorbereitet.

Die Armee des Kaisers konnte mit der Modernität und auch mit den Strategien der Gegner nicht mithalten. Schon zu Beginn des Krieges gab es Produktionsschwierigkeiten in der Munitionsindustrie, und die Geräte und Waffen waren großteils veraltet.

Gleich nach der ersten Schlacht hatte Josef das Karl-Truppenkreuz verliehen bekommen. Das erhielt man automatisch nach 12 Wochen Dienst in der Armee und Teilnahme an einer Schlacht. Außerdem wurde er mit der Tapferkeitsmedaille Silber 1. Klasse und der Tapferkeitsmedaille Silber 2. Klasse ausgezeichnet. Nachdem er immer wieder an diesem Krieg und seiner Sinnhaftigkeit gezweifelt hatte, erfüllten ihn diese Abzeichen dennoch mit Stolz.

III

»Nein, leider. Ich habe noch immer keinen Dünger bekommen.«

»Aber die ganze Ernte geht uns ein!«

»Es tut mir sehr leid, ich habe keinen.«

Marie musste viele solcher Gespräche führen. Sie bekam einfach nichts, was sie verkaufen konnte. Ein paar Meter Stoffe hatte sie noch. Doch so schnell würde sie keine Ballen nachbekommen. Es wurde alles für die Front gebraucht. Die Soldaten brauchten Kleidung und vor allem Verbände.

Das letzte Jahr hatte sie noch die Ernte von ihren Äckern, die sie verkaufte oder eintauschte. In Scharen kamen die Frauen aus der Stadt, um gegen Geschirr oder Schmuck Lebensmittel zu tauschen. Aber dieses Jahr würden die Erträge schlecht werden. Das Frühjahr war zu trocken gewesen und der Sommer war nun zu nass.

In ihrem Nachthemd öffnete Vroni Schmid die Tür. »Heute seid ihr aber früh. Es ist halb fünf.« Zumindest eine Weste hätte sie sich überziehen können, dachte Marie. Sie brachte ihre Söhne jeden Dienstag zu ihrer Freundin, um Besorgungen zu machen.

Marie plagte ohnehin das Gewissen. Vroni hatte vor zwei Wochen ein Schreiben vom Militär bekommen. Ihr Mann wäre bei einem Angriff ums Leben gekommen. Ein paar Tage später hatte man ihr seine Sachen gebracht. Sie wusste nicht, was sie damit tun sollte. Aufheben konnte sie sie nicht und wegwerfen auch nicht. Deshalb hatte sie sie zu Marie gebracht, die sie aufhob, bis ihre Freundin so weit war. Die Landwirtschaft des Schmid-Bauern war klein. Nach dem Ausbruch des Krieges hatte Vroni die Mägde entlassen. Sie war am Ende ihrer Kräfte und jetzt war auch noch ihr Mann gefallen. Obwohl sie immer noch unter Schock stand, nahm sie Maries Kinder.

Marie war fest entschlossen, ihr zu helfen. Sie würde Vroni einstellen. Das konnte sie aber erst, wenn die Zeiten für das Geschäft besser werden. Außerdem musste sie abwarten, ob Emmerich gesund nach Hause kommt. Sie rechnete mit allem.

»Ich weiß. Ab jetzt muss es früher sein«, entschuldigte sie sich für ihr frühes Erscheinen.

Vroni kam ein Stück näher und flüsterte: »Schaust du, ob du wieder Kaffee bekommst?«

»Natürlich.«

»Na dann kommt herein, Buben. Wollt ihr eine warme Milch?«

Marie hatte den Einspänner schon bereitgestellt. Schwungvoll hob sie ihren langen Rock und sprang auf die Sitzbank. Wenn sie den großen Wagen genommen hätte, wäre es zu auffällig gewesen. In der kleinen Kutsche musste sie alles unterbringen, ohne aufzufallen. Dafür hatte sie sich ein zusätzliches Fach gezimmert und am Boden angeschraubt, sodass man es nicht sehen konnte. Am Tag zuvor hatte sie darin den Schmuck, den sie von den Stadtfrauen bekommen hatte, verwahrt. Schließlich brauchte sie Zahlungsmittel.

Die letzten Male, als sie in die Halle kam, war das Beste schon weg. Deshalb musste sie ab jetzt früher losfahren. Bis zu der alten scheinbar verlassenen Markthalle war es ein gutes Stück, aber dort gab es die besten Sachen.

Marie stellte den Wagen etwas entfernt ab und sah sich um, ob sie beobachtet wurde. Schnellen Schrittes steuerte sie mit dem Jutesack voll Schmuck auf das Eingangstor zu, als sie plötzlich am Arm gepackt wurde. Sie erschrak und ließ den Sack fallen.

»Was bekomme ich, wenn ich nichts sehe?«, fragte der Gendarm.

»Nehmen Sie den Sack. Da ist Schmuck drinnen.«

»Schmuck interessiert mich nicht.« Die Augen des Mannes wanderten tiefer.

Marie wusste, dass so etwas passieren konnte. Viele, die am Schwarzmarkt erwischt wurden, wurden eingesperrt. Einige erschoss man gleich. Sie musste dem Gendarm entgegenkommen, wenn sie nach Hause zu ihren Kindern wollte.

Ohne ein weiteres Wort zerrte er sie hinter einen Holunderstrauch, schmiss sie zu Boden und riss ihre Bluse auf. Dann machte er ihre Beine frei. Marie ließ alles geschehen, jede Wehr würde vergebens sein.

Die Holunderbeeren über ihr waren schon reif. Die in ihrem Garten würden bestimmt auch schon gut sein. Morgen würde sie sie schneiden, einkochen und den Saft machen, den ihre Kinder so gern mochten. Hoffentlich würde sie dann drüben in der Halle ordentlichen Zucker bekommen. Und wenn ihr Mann wieder Heimaturlaub hatte, wird er sich bestimmt auch über Saft freuen. An der Front bekamen sie doch nur schmutziges Wasser. Als er das letzte Mal zu Hause war, hatte ihm der Kirschkuchen so gut geschmeckt. Vielleicht wird sie das nächste Mal etwas mit Äpfeln machen. In ein paar Wochen konnte sie die hinter dem Haus ernten. Seit seinem letzten Urlaub war schon wieder viel Zeit vergangen. Bald müsste es wieder so weit sein…

Als der Gendarm verschwunden war, richtete Marie ihre Haare und streifte ihren Rock glatt. Gott sei Dank hatte sie das große Tuch mitgenommen für den Fall, dass es windig wurde. Das band sie sich vor die zerrissene Bluse und ging in Richtung Halle. Nach den ersten Schritten spürte sie einen heftigen Druck im Unterleib und musste für einen Moment stehen bleiben. Etwas Nasses rann ihr die Beine hinunter. Marie zwang sich wieder, an etwas anderes zu denken.