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Die Macht des mittelalterlichen Frauenbildes – und wie wir uns endlich von ihm befreien Wie sieht die ideale Frau aus? Wie sollte sie lieben, fühlen, sein? Über diese Fragen zerbrachen sich im Mittelalter vor allem Männer den Kopf. Attraktiv wie die mythische Helena von Troja wünschten sich die etablierten Denker die Frauen. Zugleich verspotteten sie »Evas Töchter« als übersexualisierte Sünderinnen – unersättlich und von Natur aus schwach. Die Historikerin Eleanor Janega stellt diesen männlichen Theorien reale Frauen gegenüber – berühmte wie Eleonore von Aquitanien und Hildegard von Bingen, aber auch solche, deren Leben in den Quellen verborgen blieben. Wir erfahren, wie die Frauen dieser Zeit wirklich lebten: Sie waren nicht nur Mütter, sondern auch fleißige Bäuerinnen, Bierbrauerinnen, Textilarbeiterinnen, Künstlerinnen, Kunsthandwerkerinnen. Als solche ebneten sie den Weg für neue Ideen über die Natur, den Intellekt und die Fähigkeiten von Frauen. Die ideale Frau zeigt, wie mittelalterliche Vorstellungen von Weiblichkeit entstanden und fragt, wie es sein kann, dass sie ihre Wirksamkeit bis heute nicht verloren haben. Wollen wir uns nicht endlich von den einengenden Geschlechterklischees befreien?
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Die ideale Frau
Eleanor Janega lehrt mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte an der London School of Economics. Ihre Forschung konzentriert sich auf Sozialgeschichte mit den Schwerpunkten Sexualität, Propaganda und apokalyptisches Denken im Spätmittelalter. Sie betreibt den erfolgreichen Blog Going Medieval und lebt in London.
»Auf den ersten Blick ist es deprimierend, dass sich seit dem Mittelalter so wenig verändert hat, doch gesellschaftliche Konstrukte sind genau das – Konstrukte. Wenn wir diese Beschränkungen geschaffen haben, können wir sie grundsätzlich auch wieder dekonstruieren. Die Vergangenheit zu sehen und sie abzulehnen erlaubt uns, uns eine zukünftige Alternative vorzustellen und genau die Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind, um eine gleichberechtigtere Welt zu schaffen. Lasst uns anfangen, diese andere Zukunft zu erschaffen.«Eleanor Janega
»Eine kluge und gnadenlose Analyse mittelalterlicher Misogynie und die Aufforderung an uns, alte Vorurteile nicht länger zu recyceln.«Wall Street Journal
Eleanor Janega
Wie uns mittelalterliche Vorstellungen von Weiblichkeit noch heute prägen
Aus dem Englischen von Karin Schuler
Ullstein
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Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel The Once and Future Sex bei W. W. Norton & Company Ltd, London.© Eleanor Janega, 2023© Copyright der deutschsprachigen Ausgabe: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Grafik-Design Büro Morian & Bayer-Eynck nach einer Vorlage von Jennifer Heuer unter Verwendung einer Miniatur aus dem Salzburger Missale,Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 15710, fol. 60vAutorinnenfoto: © Robin Silas ChristianE-Book-Konvertierung by pepyrusISBN 978-3-8437-3083-9
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Einführung
1 Zurück zu den Anfängen
Theoretisieren über den weiblichen Körper: Hippokrates
Philosophieren über Frauen: Platon
Philosophieren über den weiblichen Körper: Aristoteles
Pathologisieren von Frauen: Galen
Gebildete Frauen der Antike
Mittelalterliche Bildung
Das Dogma der Erbsünde
Kloster- und Domschulen
Hildegard von Bingen und Christine de Pizan
Predigten und Literatur
2 Der männliche Blick auf die Frauen
Das Ideal
Körperform
Alter
Kunst
Schönheitsinterventionen
Beschränkungen
3 Wege der Liebe
Theologie und Sexualität
Sexualpraktiken
Sexuelles Interesse
Sexuelles Begehren
Sexuelle Untreue
Sexuelle Lust
Sexuelle Gesundheit
Solo-Sex
Sexuelle Magie
4 Frauen und Arbeit
Mutterschaft und Ehe
Bauern und Bäuerinnen
Die Arbeit der Frauen in der Landwirtschaft
Frauenarbeit
Städtische Arbeiterinnen
Künstlerinnen
Medizinische Berufe
Sexarbeiterinnen
Religiöse Frauen
Die Herrschenden
5 Was bedeutet das für uns?
Die weibliche Natur oder: Inwiefern sind Frauen minderwertig? Eine Aufzählung
Das »weibliche« Gehirn
Der sich verändernde Schönheitsstandard
Veränderungen in der Sexualität
Neue Rechtfertigungen, alte Erwartungen
Danksagung
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Einführung
Im Prag des späten 14. Jahrhunderts stattete der Erzdiakon Pavel von Janovice allen Gemeindekirchen der prächtigen Residenzstadt einen Besuch ab und fragte auch nach etwaigen religiösen Problemen, um die man sich kümmern müsste. In der Andreas-Gemeinde in der Altstadt wurde der Erzdiakon auf »eine bestimmte Frau namens Domka« aufmerksam gemacht. Den anderen Gemeindemitgliedern der Pfarrei zufolge lebte Domka mit einer Gruppe von »verdächtigen Frauen« im Haus eines Mannes namens Jindrˇich und leitete die Gruppe sogar, obwohl sie mit einem Kammerherrn des Königs verheiratet war. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, verkauften die Frauen gesegnete Kräuter an Kunden, die an Kopfschmerzen litten.1 Dieses Arrangement stellte aus verschiedenen Gründen eine »verdächtige« religiöse Notlage dar: Erstens lebte Domka außerhalb der Kontrolle ihres Ehemannes, während die anderen Frauen offenbar überhaupt keinem Mann außer ihrem Vermieter verpflichtet waren; zweitens war zwar ihr Kräutergeschäft grundsätzlich erlaubt, doch die Tatsache, dass eine Gruppe von Frauen es ausübte, schien die Grenzen üblicher Kräutermedizin hin zu magischen Heilmitteln zu verschieben; und drittens mussten Frauen, die so zusammenlebten, ganz sicher ein unerlaubtes Bordell führen und darin arbeiten.
Die Sorgen der Gemeinschaft in Bezug auf Domka und ihre Mitbewohnerinnen zeigen uns, dass es Frauen im mittelalterlichen Europa schwer hatten – allerdings nicht so, wie wir es uns meist vorstellen. Wir wissen, dass sie es schwer hatten, weil unsere Gesellschaft auf ihrer aufbaut und Frauen noch immer gegenüber Männern benachteiligt sind. Heute bekommen Frauen unter anderem weniger Lohn für die gleiche Arbeit; sie übernehmen überproportionale Anteile der Hausarbeit; medizinische Fachleute glauben ihnen nicht, wenn sie Schmerzen haben; man erwartet, dass sie stets sexuell attraktiv wirken, aber Sex immer nur mit ihren richtigen, festgelegten Partnern und genau in der richtigen Menge haben; und sie ertragen sexuelle Belästigungen und die große Gefahr eines sexuellen und körperlichen Übergriffs, während sie ihren Alltagsaufgaben nachgehen. Wenn wir jetzt, im Zeitalter des Feminismus, mit alldem zu kämpfen haben, können wir doch davon ausgehen, dass es den Frauen des Mittelalters noch schlechter ging – ohne die Pille, die Gleichberechtigung und Dolly Partons Nine to Five, ein Aufruf zur Gleichbehandlung von Frauen am Arbeitsplatz. Und doch nehmen wir uns selten die Zeit, herauszufinden, wie die Frauen des Mittelalters in ihrer eigenen Zeit betrachtet und behandelt wurden und warum dies so war. Stattdessen gehen wir einfach davon aus, dass sie mit einer drakonischeren Version unserer eigenen Probleme konfrontiert waren. Das stimmt auch in gewisser Hinsicht, da Domka und ihre Gefährtinnen beim Erzdiakon angeschwärzt wurden, der die Macht hatte, sie zu exkommunizieren und aus ihrem Heim zu vertreiben. In diesem Fall scheint allerdings überhaupt nichts passiert zu sein. Waren diese Frauen »verdächtig«, standen sie unter Beobachtung in ihrer Gemeinde und wurde über sie geklatscht? Ja! Und griff die Kirche deswegen ein? Nein. Schließlich taten diese Frauen offenbar nur, was Frauen normalerweise taten – verdächtiges Zeug. Es gab keine Möglichkeit, dies wirksam zu unterbinden.
Wenn wir – also die Gesellschaft als Ganze – historische Begebenheiten wie diese ignorieren und annehmen, dass Frauen stets auf ebenjene bestimmte Art und Weise behandelt wurden, die wir erst jetzt allmählich überwinden, gehen wir fälschlicherweise davon aus, dass unsere Gesellschaft immer so gewesen ist und im Grunde so sein sollte. Unsere Welt als Ganze reagiert in dieser Perspektive schlicht und einfach auf die natürlichen Defizite der Frauen und organisiert sich so, dass sie sie ausgleicht. Wir neigen zu der Ansicht, dass unsere Gesellschaft heutzutage allmählich beginnt, diese Unzulänglichkeiten anzugehen. Und gehen dabei davon aus, dass Frauen in der Vergangenheit so behandelt wurden, wie wir behandelt werden – aus denselben Gründen, nur ohne die Vorzüge der modernen Welt, die uns helfen, unsere angeblich angeborenen und natürlichen Defizite zu kompensieren.
Der Fatalismus solcher Annahmen macht mich wütend. Die Vorstellung, dass die Dinge immer so waren und dass unsere gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen sich als das Ergebnis einer unveränderlichen Wahrheit in Bezug auf mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung entwickelt haben, ist einfach zu bequem. Schlimmer noch: Sie ist auch falsch und entbehrt jeder historischen Basis. Welche Probleme unsere Gesellschaft auch immer heute mit Frauen haben mag – wir halten sie nicht ganz allgemein für so sexbesessen und häretisch, dass sie, wenn man sie gewähren lässt, ein Bordell mit einem netten kleinen Nebenerwerb durch den Handel mit magischen Kräutern eröffnen. Ganz offensichtlich hat sich doch manches geändert.
Wenn wir verstehen wollen, wie die westliche Gesellschaft zu ihren gegenwärtigen Einstellungen in Bezug auf Frauen kommt, müssen wir sie bis ins mittelalterliche Europa zurückverfolgen. Leider betrachten wir die damalige europäische Geschichte als den Gipfel an obskurem oder unnötigem Wissen. Wir verwenden den Begriff mittelalterlich als Kürzel für »rückständig« oder »barbarisch«, als etwas, aus dem wir gelernt und das wir längst hinter uns gelassen haben, wodurch wir letztendlich besser geworden sind. Wir sind so selbstgewiss in unserer Überzeugung, was wir fänden, wenn wir einen vertiefenden Blick auf die mittelalterliche Geschichte werfen würden, dass wir uns oft gar nicht mehr die Mühe machen. Doch diese Haltung ist nicht nur falsch, sie ist auch ein Grund dafür, dass unsere Gesellschaft sich nicht auf eine gleichberechtigte Zukunft zubewegt.
Mittelalter bedeutet ja im Grunde »mittleres (Zeit-)Alter«. Es beschreibt eine Spanne von mehr als einem Jahrtausend, vom Fall Westroms im Jahr 476 bis zum Ende des 15. Jahrhunderts – die Zeit zwischen dem Altertum und der Neuzeit. Es fungiert mit anderen Worten als eine Art Brücke und erklärt, wie die Gesellschaft der antiken Welt sich zu ihrer heutigen Form wandelte – oder würde das vielmehr erklären, wenn wir uns dafür interessieren würden. Weil dieses Zeitalter zwischen zwei anderen liegt, können wir durch die Beschäftigung mit seinen Geschlechternormen sehen, woher einige unserer fortbestehenden Gender-Annahmen stammen. Dass wir Frauen als »von Natur aus« schwach und minderwertig betrachten und deshalb annehmen, sie bräuchten Schutz und Führung, ist ein Überbleibsel aus der Antike und dem Mittelalter. Wenn wir das verstehen, können wir fragen, warum wir noch immer daran glauben. Wenn wir die Menschen des Mittelalters für so rückständig halten, warum sind wir dann in dieser Hinsicht einer Meinung mit ihnen?
Zudem können wir bei der Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Gender-Normen feststellen, dass viele Annahmen über Frauen sich in Wirklichkeit seit dem Mittelalter drastisch geändert haben. Wenn wir das bewusst wahrnehmen, können wir unsere schlimmsten und rückständigsten Verhaltensweisen hinter uns lassen. Die einzige ungebrochene Tradition in Bezug auf Geschlechternormen besteht schließlich darin, dass Frauen als minderwertig behandelt werden. Und damit können wir jederzeit aufhören.
In diesem Buch untersuchen wir das historische Problem unseres gesellschaftlichen Beharrens darauf, dass Frauen X sind und wir deshalb mit Y reagieren. Zunächst werden wir uns auf den intellektuellen Unterbau der mittelalterlichen Vorstellungen konzentrieren. Die antiken philosophischen Schriften eines Platon, Aristoteles, Galen und Hippokrates prägten die Auffassungen der mittelalterlichen Gesellschaft zu Frauen und Geschlecht. Außerdem werden wir uns, um die religiösen Grundlagen des mittelalterlichen Europa zu verstehen, mit Kirchenvätern wie Augustinus und Hieronymus beschäftigen, deren Werke den Rahmen der christlichen Theologie lieferten. Ausgerüstet mit einem guten Verständnis der antiken Denker können wir uns ihren mittelalterlichen Nachfolgern zuwenden. Dazu gehören Theolog:innen wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Hildegard von Bingen, aber auch weltliche Autor:innen wie Geoffrey Chaucer und Christine de Pizan, deren literarische Werke Ansichten widerspiegeln, über die gebildete Zeitgenoss:innen debattierten.
Sobald wir klar erfasst haben, wessen Vorstellungen das waren und wie sie weitergegeben wurden, werden wir zu einer Betrachtung der Schönheit übergehen, jener angeblich wichtigsten aller weiblichen Eigenschaften. Wir werden sehen, dass die Menschen des Mittelalters nicht nur bei der Vermittlung von Wissen auf die Vergangenheit schauten, sondern auch bei der Bewertung weiblicher Schönheit. Wenn wir die mittelalterliche Checkliste für attraktive Attribute kennen, hilft uns das, die Körperpflege und die Mode mittelalterlicher Frauen zu verstehen, und erlaubt uns, den Aufwand zu bewerten, den sie betrieben, um dem damals gängigen Schönheitsideal zu entsprechen. Man sagte ihnen einerseits, dass es genau einen Weg gebe, attraktiv zu sein, machte ihnen andererseits aber auch klar, dass sie sich unter keinen Umständen anstrengen sollten, um jener Erwartung gerecht zu werden. Frauen sollten einfach mühelos schön sein. Wenn sie aktiv versuchten, dieses Ideal zu erreichen, machten sie sich lächerlich oder setzten sogar ihr Seelenheil aufs Spiel. Mittelalterliche Frauen sahen sich zu einer Gratwanderung gezwungen – zwischen den strengen Kriterien, die zu öffentlicher Bewunderung und erfolgreichen Eheschließungen führten, und dem, was als ein unziemliches Interesse an jenen Hilfsmitteln galt, die sie dabei unterstützen konnten, dieses Ziel zu erreichen.
Frustrierenderweise wurde die Schönheit, die Frauen verkörpern sollten, oft auch verurteilt, weil sie die Aufmerksamkeit der Männer von erhabenen politischen und religiösen Gedanken auf das niederste und weiblichste aller Themen, den Sex, lenkte. Um die mittelalterlichen Einstellungen zur Sexualität besser zu verstehen, müssen wir uns mit den theologischen Erwartungen befassen, an denen sich die Menschen des Mittelalters orientierten. Allerdings setzten die meisten mittelalterlichen Christen ab und an ganz gern ihr Seelenheil für ein bisschen Vergnügen aufs Spiel und sagten, es seien die Frauen, die gegen die von der heiligen Kirche gesetzten sexuellen Normen verstießen. Anders als heutzutage galten Frauen sowohl als sexbesessen wie auch als unersättlich in ihren Forderungen. Deshalb hatte man ständig Angst, Frauen würden Ehebruch begehen. Man glaubte sogar, sie würden Magie einsetzen, wenn man ihren sexuellen Forderungen nicht nachkam. Insgesamt sieht das mittelalterliche Konzept der weiblichen Sexualität ganz anders aus als unseres, außer dass weibliche Lust ebenso als seltsam galt.
Nachdem wir ermittelt haben, wie Frauen aussehen und lieben sollten, werden wir uns allgemeiner den Erwartungen an mittelalterliche Frauen außerhalb des Schlafzimmers zuwenden. Zuerst und vor allem wurden Frauen als Ehefrauen und Mütter wahrgenommen, während die Kirche manchmal zu intervenieren versuchte, um sie auf einen Pfad der religiösen Kontemplation und Ehelosigkeit zu führen.
Die meisten Frauen heirateten also und bekamen Kinder, doch man erwartete auch, dass sie sich intensiv an verschiedenen Arbeiten beteiligten. Die Mehrheit der mittelalterlichen Frauen waren Kleinbäuerinnen und verrichteten landwirtschaftliche Arbeit, die sich Monat für Monat und Jahr für Jahr wiederholte. Abgesehen von der Landarbeit waren Frauen auf dem Lande wie in der Stadt womöglich mit Heimarbeiten wie Weben, Backen und Bierbrauen beschäftigt. Manche Frauen arbeiteten in exklusiveren Berufen als Künstlerinnen und Kunsthandwerkerinnen, als Ladenbesitzerinnen und Händlerinnen, als medizinische Fachkräfte und, wenn die Kirche ihren Willen durchsetzte, als Nonnen. Auch reiche Frauen führten kein Leben in Muße. Eine Adlige oder Angehörige eines Königshauses zu sein, war an und für sich schon eine Form besonderer und belastender Arbeit. Während also Frauen zuerst und vor allem Ehefrauen und Mütter waren, wurden sie niemals nur als solche betrachtet. Im Mittelalter Frau zu sein, hieß, nützlich sein zu müssen, auch wenn diese Arbeit nicht notwendigerweise so geschätzt wurde wie die Arbeitskraft eines Mannes.
Und schließlich wollen wir uns unseren eigenen Erwartungen auf ebenjenen Gebieten zuwenden. Wir werden sehen, wie die philosophischen und akademischen Rechtfertigungen, die wir in Bezug auf das Wesen der Frau entwickelt haben, verwendet werden, um darauf zu pochen, dass unsere Einstellungen zu Frauen immer schon da waren, dass wir aber jetzt in einem goldenen Zeitalter für Frauen leben. Wenn wir die Annahmen über mittelalterliche Frauen wie auch die Realitäten ihres Lebens kennen, werden die gegenwärtigen Erwartungen, die wir an Frauen haben, alles andere als »traditionell« erscheinen. Unsere Vorstellungen von der idealen Frau haben sich im Laufe der Zeit stark verändert, wie auch unsere Idee davon, was genau mit Frauen nicht stimmt. Beharrlich geblieben ist leider das gesellschaftliche Verlangen, Frauen zu unterjochen – sie nach den härtestmöglichen Standards zu beurteilen und mangelhaft zu finden. Die Einschätzung ist dieselbe geblieben – nur die Rechtfertigung hat sich geändert.
Und doch ist diese Arbeit nicht fatalistisch. Wenn die Vorstellungen zu Frauen ständig so angepasst werden, dass sie ihre schlechte Behandlung rechtfertigen, können sie auch so umgearbeitet werden, dass sie die Fähigkeiten und Wünsche von Frauen respektieren. Sobald wir verstehen, dass unsere Vorurteile Frauen gegenüber kulturell bedingt sind, können wir sie dekonstruieren und neu beginnen.
Setzen wir also in Kapitel 1 ganz am Anfang an: bei den philosophischen Grundlagen für das mittelalterliche Verständnis von Frauen.
Im Jahr 1371 setzte sich Geoffroy de La Tour Landry daran, ein Buch für seine Töchter zu schreiben. Im Vorwort schilderte er seine überwältigende Liebe für und Hingabe an ihre Mutter, die »geübt war in aller Ehrsamkeit und jeder Vortrefflichkeit; und sie besaß höfische Haltung und Gebaren; von den Guten war sie die Beste«. Ihr Tod ließ ihn in eine jahrzehntelange Depression über den Verlust seiner »vollkommenen Liebe« versinken, und gleichzeitig führte er ihm vor Augen, was er alles tun musste, um seine Töchter so zu erziehen, dass sie auf ihren Spuren wandelten. Seiner »Seele Wunsch war, dass ihnen alle Ehre und jeder Vorzug zuteilwerden möge; sie waren noch jung und klein, … so dass es erforderlich war, sie früh an die Hand zu nehmen und sanft zu brechen«. Also beschloss er, »ein Buch zu machen, in dem [er] die denkwürdigen Beispiele bewundernswerter Frauen zusammenstellen werde … um durch ihr Vorbild zu zeigen, was wahre Weiblichkeit und gutes Benehmen sei; und also wie sie aufgrund ihrer Tugenden in Ehren und Hochachtung gehalten wurden und ewig weiterhin gehalten werden«.2
Indem er diese Worte aufs Pergament brachte, schuf Geoffroy nicht nur einen gesellschaftlichen und moralischen Ratgeber für seine Töchter; er lieferte auch ein perfektes Beispiel für die Haltung seiner Gesellschaft Frauen gegenüber. Jede Frau hatte die Möglichkeit, den Gipfel der Weiblichkeit zu erreichen – eine geliebte Ehefrau und Mutter zu sein, mit einem treu ergebenen Ehemann, der Gedichte für sie schrieb und noch Jahre nach ihrem Tod liebevoll an sie dachte. Allerdings wurden solche Frauen nicht geboren, sondern durch das frühzeitige Eingreifen ihrer männlichen Familienmitglieder und mithilfe von Vorbildern aus der Vergangenheit gemacht. Die Männer wussten, wie Frauen sein sollten, die Männer verstanden das Wesen von Frauen am besten und konnten sie so zähmen, dass sie genau das waren, was sie von ihnen erwarteten. Damit eine geliebte Tochter eine hochgeschätzte Ehefrau wurde, mussten Männer ihre schlechtesten weiblichen Eigenschaften brechen, um sie zu einer Begleiterin und Gehilfin zu formen – der höchste Status, den eine Frau des Mittelalters erreichen konnte. So klang es zumindest, wenn man die Männer des Mittelalters fragte (und manchmal sogar, wenn man das nicht tat).
Wenn also ideale Frauen gemacht werden konnten, waren sie logischerweise ohne gezielte Intervention ausdrücklich nicht ideal. Die idealen Standardmenschen waren die Männer. Frauen waren ein Anhängsel oder ihr Spiegel, sie sollten für das dominante Geschlecht arbeiten und es ergänzen. Zudem fehlte es ihnen dieser Betrachtung zufolge an den vorteilhaften Eigenschaften der Männer. Wo Männer stark, beständig, vernünftig und fromm waren, endeten auf sich allein gestellte Frauen als schwache, flatterhafte, eitle, wollüstige Geschöpfe und blieben – das war das Allerschlimmste daran – deshalb unverheiratet. Die Ankunft eines kleinen Mädchens in der Welt war daher nicht unbedingt unwillkommen, bedeutete aber, dass Eltern wie Geoffroy alle Hände voll zu tun hatten, wenn sie wollten, dass ihre Töchter ein funktionierender Teil der Familie und Gesellschaft wurden.
Diese Vorstellungen über Frauen und ihr Wesen waren nicht einfach voll ausgeprägt dem Kopf des Zeus entsprungen, sondern leiteten sich vielmehr aus den Werken antiker Gelehrter ab. Die Intellektuellen der Zeit glaubten, sie säßen »auf den Schultern von Riesen«, ein Ausdruck, den der Gelehrte und Philosoph Bernhard von Chartres († nach 1124) am Anfang des zwölften Jahrhunderts prägte, um auszudrücken, dass Wissen kumulativ war und spätere Gelehrte kontinuierlich auf dem Fundament der großen Philosophen und Denker der alten Welt aufbauten.
Tatsächlich hatte man das gesamte mittelalterliche Bildungssystem auf und rund um die Autoren des antiken Griechenland und Rom errichtet. Wenn es um Unterschiede zwischen den Geschlechtern ging, hatten die Vorstellungen einer kleinen Gruppe antiker Männer einen übermäßigen Einfluss. Die Denker des Mittelalters verehrten ihre Vorväter, weil sie in ihren Augen ein philosophisches System besessen hatten, das dem ihrigen nicht nur überlegen, sondern sogar aufgrund seines ehrwürdigen Alters fast göttlich zu nennen war. Sie standen dem Garten Eden, in dem Gott gegenwärtig gewesen war, zeitlich einfach näher. Seit damals hatte sich die Menschheit immer weiter von jener Zeit und jenem Ort der Göttlichkeit entfernt und dabei stetig an Wissen verloren.
Den Philosophen und Theologen des europäischen Mittelalters lieferte der Schöpfungsmythos einen fruchtbaren theologischen Ausgangspunkt. Allerdings war er nur ein Teil eines komplizierten christlich geprägten theologischen Systems aus dem Zeitalter der Kirchenväter (das grob zwischen 100 und 450 n. Chr. zu datieren ist), auf dem sie aufzubauen versuchten.
Um zu verstehen, wie die Menschen des Mittelalters über Frauen dachten, müssen wir erst nachvollziehen, woher sie ihre Vorstellungen hatten. Und das heißt, dass wir in die Antike zurückschauen müssen, um die Riesen zu sehen, auf deren Schultern die Menschen des Mittelalters saßen.
Der älteste Autor, den die mittelalterlichen Denker verehrten, war der griechische Arzt Hippokrates von Kos (um 460–370 v. Chr.). Noch heute wird Hippokrates, der so bekannt ist, wie man nach 2500 Jahren nur sein kann, als »der Vater der Medizin« gefeiert.3 Sein Name ist auf ewig mit dem hippokratischen Eid verbunden, an dem sich alle Ärzt:innen orientieren und der sie unter anderem dazu verpflichtet, »alles zu unterlassen, was den Patienten schädigt«, »alle Maßnahmen anzuwenden, die zum Wohle des Kranken nötig sind«, und »daran zu denken, dass sie ein Mitglied der Gesellschaft bleiben, mit besonderen Verpflichtungen gegenüber allen ihren Mitmenschen«. Die von Hippokrates gegründete Ärzteschule brachte gut ausgebildete medizinische Fachkräfte hervor, die großen Wert auf ihre Professionalität und die sorgfältige Beachtung von Systemen und Techniken legten. So kommt es, dass viele »hippokratische« Texte nicht unbedingt von diesem einen Mann verfasst wurden, sondern vielmehr ein Textkorpus bilden, das seine Anhänger und nach hippokratischen Methoden ausgebildeten Schüler zusammenstellten.
Sie fragen sich vielleicht, wie die Menschen im Europa des Mittelalters über Hippokrates lesen und schreiben konnten, der als, nun ja, alter Grieche natürlich Altgriechisch gesprochen und geschrieben hatte. Die Antwort lautet, dass sie ihn in Übersetzung lasen, wie Generationen von Studenten es seit Jahrhunderten getan hatten. Hippokratische Texte bildeten schon lange das Rückgrat der medizinischen Ausbildung in der klassischen Welt. Sie waren in Alexandria Unterrichtsmaterial, als die Stadt zum Wissenszentrum der römischen Welt wurde. Die Römer sprachen, wie Sie wissen, Latein und legten großen Wert darauf, wichtige Werke in ihre Muttersprache zu übersetzen, um nicht Griechisch lernen zu müssen. Die hippokratischen Texte gelangten also in ihrer Sprache in römische Bibliotheken.
Auch als das Weströmische Reich unterging, blieb Hippokrates beliebt.4 Die Ostgoten (die sogenannten Barbaren, die dem im Sterben liegenden Weströmischen Reich den Todesstoß versetzten) kopierten das alexandrinische hippokratische Modell, um ihre Ärzte in ihrer neuen Hauptstadt Ravenna auszubilden. Tatsächlich liebten die Ostgoten Hippokrates so sehr, dass sie keine Mühen scheuten, um auch Texte zu übersetzen, die den Sprung ins Lateinische bisher noch nicht geschafft hatten. Dazu gehörten Arbeiten wie Über die Frauenkrankheiten sowie seine Aphorismen, darunter kurze, prägnante Anleitungen für Ärzte, angefangen mit: »Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang, der rechte Zeitpunkt ist knapp bemessen, der Versuch ist trügerisch, die Entscheidung ist schwierig. Man muss aber darauf sehen, dass man nicht nur in eigener Person das Erforderliche tut, sondern auch der Kranke und die Assistenten, und dass auch die äußeren Umstände dem entsprechen.«5
Die hippokratische Schule und ihre Texte sind absolut grundlegend, um das klassische und mittelalterliche medizinische Denken zu verstehen, doch obwohl dieses System auf Beobachtung gründete, würden wir es heute nicht als »Medizin« oder »Wissenschaft« bezeichnen. So war etwa ein Eckstein des hippokratischen Denkens die sogenannte Humoraltheorie, die Lehre von den »Körpersäften«.6 Dahinter stand die Vorstellung, dass in jedem menschlichen Körper vier Flüssigkeiten zu finden sind: Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle. Diese Körpersäfte wurden mit den vier Elementen Luft, Wasser, Feuer und Erde in Verbindung gebracht. Auch vier Temperamente wurden mit den Körpersäften assoziiert: sanguinisch, phlegmatisch, cholerisch und melancholisch.
Alle menschlichen Körper enthielten nach dieser Vorstellung alle vier Körpersäfte, doch die Humoraltheorie lehrte, dass sie in den Körpern von Männern und Frauen in unterschiedlicher Menge vorhanden seien. Männer galten als heiß und trocken oder als von Natur aus sanguinisch und gesellschaftlich nützlich. Frauen dagegen waren kalt und feucht und deshalb eher phlegmatisch – oder sanft. Die Tatsache, dass alle Menschen alle vier Körpersäfte in sich hatten, räumte ihnen allerdings einen gewissen Verhaltensspielraum ein. Die Historikerin Sherry Sayed Gadelrab hat diese Unterschiede als eine »gleitende Skala« zwischen den Geschlechtern charakterisiert und meint damit, dass Hippokrates und seine Anhänger »die Möglichkeit« akzeptierten, »dass eine Person männlicher oder weiblicher sein konnte als andere in seinem oder ihrem Geschlecht«.7 Das Gleichgewicht der Körpersäfte einer Person veränderte sich zudem im Laufe ihres Lebens wie die Jahreszeiten im Laufe des Jahres. Junge Menschen galten als trockener und wärmer, ältere Menschen als kälter und feuchter. Und dies waren nicht nur Beschreibungen oder Beobachtungen; aus ihnen ergab sich ein System dafür, wie die Körpersäfte miteinander interagieren sollten. Frauen sollten kalt und feucht sein und sich in einer bestimmten Weise verhalten, doch es konnte passieren, dass man Frauen begegnete, die heißer und trockener waren als der Durchschnitt. Es konnte weibliche Männer und männliche Frauen geben.
Das Temperament der Geschlechter konnte sich durch bestimmte Aktivitäten ändern. Und mit »bestimmte Aktivitäten« meine ich natürlich Sex.
In seiner Abhandlung Über den Samen erklärte Hippokrates, Frauen sollten »Geschlechtsverkehr mit Männern haben, [weil] ihre Gesundheit dann besser ist, als wenn sie keinen haben … Geschlechtsverkehr gibt der Monatsblutung durch das Erhitzen des Blutes und dadurch, dass er es flüssiger macht, einen leichteren Durchfluss; wenn dagegen die Monatsblutung nicht fließt, sind die Körper der Frauen anfällig für Krankheiten.«8 Dies ist in verschiedener Hinsicht lehrreich. Es sagt uns, dass dem hippokratischen Konzept zufolge weibliche Körper (a) seltsam und (b) störanfällig sind, vor allem, weil sie mit einer Gebärmutter ausgestattet sind. Das ist sinnvoll vom Standpunkt eines Arztes aus, der anderen Ärzten zu erklären versucht, wie Körper funktionieren. Das Problem bei Frauen, im Gegensatz zu Männern, war, dass sie all diese Besonderheiten hatten, die Männer nicht aufwiesen, und dass sie in ihnen waren, wo man sie schwer beobachten konnte. Deshalb richtete sich die Sorge hippokratischer Gelehrter vor allem auf die schwer kontrollierbare und unbegreifliche Gebärmutter und ihre Funktion im Inneren des geheimnisvollen weiblichen Körpers.
Für sie war die Gebärmutter ein unabhängiges und schwer zu kontrollierendes Gebilde. Sie konnte herumwandern und medizinische Probleme verursachen, die Männer nicht hatten, einschließlich eines Zustands, den man als Hysterie bezeichnete und der ein Erstickungsgefühl, Zittern, Beklemmungen und in extremen Fällen Krämpfe und Lähmung hervorrief.
Ein absolut sicherer Weg, Hysterie zu lindern, war in der Vorstellung dieser Ärzte die Schwangerschaft. In dieser Zeit konnte die Gebärmutter nicht wandern, weil sie an einer Stelle feststeckte, während der Fötus wuchs.
Eine Frau nach der Pubertät, die gerade nicht schwanger, aber idealerweise verheiratet war, sollte regelmäßig Geschlechtsverkehr haben, um die Gebärmutter gut befeuchtet und warm zu halten. Sonst konnte es passieren, dass die Gebärmutter nicht zur richtigen Zeit blutete oder zu den anderen, feuchteren Organen im Körper – dem Gehirn, dem Herz, der Leber – wanderte, um deren Feuchtigkeit aufzunehmen. Eine Frau, deren Gebärmutter ihr Gehirn belastete, konnte irrational handeln und allen um sie herum das Leben schwer machen. Frauen mit unterentwickeltem Sexualtrieb waren daher eine Angelegenheit von öffentlichem Belang.
In der hippokratischen Welt – und damit in der mittelalterlichen Welt – war eine Leber eine Leber und ein Gehirn ein Gehirn, doch Frauen hatten noch ein zusätzliches unheimliches Ding, weshalb man sie nicht mit Männern vergleichen konnte. Frauen waren physisch komplizierter, und das, was sie so kompliziert machte, war rätselhaft und unverständlich, weil es in ihrem Inneren verborgen lag. Damit war es medizinischen Studien praktisch unzugänglich, denn die anatomische Sektion kannte man im alten Griechenland kaum. Leichen galten als potenziell verunreinigend, besonders, wenn die Haut aufgeschnitten wurde. Rechtliche wie religiöse Verbote wahrten die Unantastbarkeit der Toten. Insgesamt blieb also die innere Anatomie der Frau in dieser Zeit ein »Geheimnis«.9
Ärzte waren nicht die einzigen antiken Denker, die sich über Geschlecht und Sex ausließen. Auch der Philosoph Platon hatte einiges dazu zu sagen.10 Was Platon über Frauen dachte, war besonders einflussreich, weil er ähnlich wie Hippokrates vor ihm nicht in einem Vakuum philosophierte; er gründete eine Schule und sicherte somit sein Erbe. Platons Schule, die Akademie, lag außerhalb von Athen. Dort entwickelte er ganze Studiengänge und rief die europäische Tradition der Dialektik und des Lehrdialogs ins Leben. Und er dachte über die Geschlechter nach.
Man kann durchaus sagen, dass Platons Schriften für die Philosophen in der antiken Welt ebenso wichtig waren wie die des Hippokrates für die Ärzte. Und sein Dialog Timaios übte ebenso einen großen Einfluss auch auf mittelalterliche Denker aus.11 Der Timaios war im Mittelalter vor allem deshalb beliebt, weil er in lateinischen Übersetzungen im Umlauf war. (Es zirkulierten zwei Fassungen, beide aus dem vierten Jahrhundert, wobei die dem römischen Philosophen Calcidius zugeschriebene Übersetzung allgemein als besser galt.)
Das mittelalterliche Interesse am Timaios ist für uns wichtig, weil Platon Frauen darin als ein spirituelles Dilemma behandelte. Hier präsentierte er seinen Schöpfungsmythos, der die physische Welt als ein moralisches Testgelände darstellte, in dem Männer – die als die einzigen Menschen galten – einen höheren Seinszustand zu erreichen suchten. Wer dabei scheiterte, wurde der Erde zurückgegeben, um noch einmal zu leben. (Ja, es ist mehr oder weniger eine altgriechische Fassung des buddhistischen Konzepts der Reinkarnation.) Aber Sie werden nicht glauben, was mit den Männern geschah, die zurückgeschickt wurden! Sie wurden für ihre Unfähigkeit, ein moralisch gutes Leben zu führen, damit bestraft, dass sie als Frauen wieder auf die Erde kamen.
Sobald es neben den Männern auch Frauen gab, schufen die Götter das sexuelle Verlangen. Platon war der Ansicht, sexuelles Verlangen sei je nach Geschlecht verschieden. In den Männern öffneten die Götter einen besonderen Durchgang, der vom Gehirn aus an der Wirbelsäule entlangführte und dem Samen erlaubte, vom Kopf in die Hoden zu kommen. Der Samen selbst hatte eine Seele und wollte in der Gebärmutter freigesetzt werden, um neues Leben zu schaffen. Das entsprechende Verlangen war der Eros. Das Problem mit dem Eros war, dass er die Penisse der Männer ganz unabhängig von ihrem Willen agieren ließ. Für Platon war der Penis im Grunde außer Kontrolle – eine Art lebendiges, vorsätzlich agierendes Tier. Dies wiederum spiegelte sich in seinem Konzept von der Gebärmutter. Ganz ähnlich wie die hippokratischen Denker vor ihm hatte Platon den Eindruck, das entsprechende Fortpflanzungsorgan für Frauen sei ein unberechenbares Geschöpf, das im Körper umherwanderte und von einem entsprechenden weiblichen sexuellen Verlangen beseelt war. Wie Hippokrates war er der Ansicht, dass die Gebärmutter durch Schwangerschaft beruhigt und am Platz gehalten werden müsse. Deshalb konnten die unkontrollierbaren Aspekte des Penis wie der Gebärmutter durch sexuelle Fortpflanzungsaktivität beruhigt werden.12
Die Tatsache, dass Platon auch dem Penis eine solche Unkontrollierbarkeit zuschrieb, könnte vielleicht als eine Art Entwicklung oder Fortschritt gegenüber dem hippokratischen Modell aussehen. Das stimmt nicht. Während der unkontrollierbare Penis in seinen Darstellungen nur kurz auftaucht, spielt die wandernde Gebärmutter eine wichtige Rolle, ebenso die Notwendigkeit, sie durch Schwangerschaften am Ort zu halten. Gleichzeitig gibt es eine Hierarchie in der Art, wie Platon das Fortpflanzungsverlangen dieser Organe beschreibt. Der männliche Samen will freigesetzt werden, weil er eine Seele hat. Die Gebärmutter indessen verlangt nach diesem Material und seiner Seele, um Kinder zu bekommen.
Platon verstand Frauen als gefallene Männer und als deshalb den Männern von Natur aus unterlegen. Dementsprechend argumentierte er, die Gesellschaft solle sich so organisieren, dass die Männer die Frauen kontrollieren könnten. Schließlich hätten sich die Frauen schon als unfähig erwiesen, richtige moralische Entscheidungen zu treffen, denn sonst wären sie ja gar keine Frauen.
Platons Timaios war im Mittelalter durchaus von Bedeutung; für einen Philosophen jedoch schwärmten die mittelalterlichen Denker mehr als für alle anderen, und das war Aristoteles (384-322 v. Chr.).13 Aristoteles ist noch immer so bekannt, dass er auch heute kaum vorgestellt werden muss. Er ist der andere Philosoph, den jeder kennt. Und auch bei ihm ist dies zum Teil darauf zurückzuführen, dass er seine eigene Schule leitete, an der seine Ideen Schüler und Erben fanden. Das Lykeion war gleichzeitig Unterrichtsgebäude und ein dem Gott Apollon geweihter Tempel. Hier wurden Philosophen der Peripatetischen Schule ausgebildet, so genannt nach dem peripatos, der Wandelhalle des Lykeion. Die Peripatetiker konzentrierten sich vor allem darauf, die Werke des Aristoteles nach seinem Tod zu bewahren und zu kommentieren, und sie schafften es, die Schule bis ins dritte nachchristliche Jahrhundert weiterzuführen. Auch die Römer, die nur allzu gern zeigten, dass sie die logischen Erben der hellenistischen Welt waren, griffen Aristoteles’ Werke begierig auf.
Es wäre untertrieben, einfach zu sagen, dass die Intellektuellen des Mittelalters Aristoteles verehrten. Sie waren so verliebt in ihn, dass er für sie oft einfach nur »der Philosoph« war. Deshalb kann auch ein großer Teil der mittelalterlichen Philosophie als peripatetisch gelten. Um es ganz klar zu sagen: Alle, die im Mittelalter lesen und schreiben konnten (was im Grunde hieß, dass sie des Lateinischen mächtig waren), waren im Wesentlichen mit Aristoteles ausgebildet und sahen sich verpflichtet, seine Tradition fortzusetzen.
Wie Hippokrates und Platon hatte Aristoteles seine Werke natürlich auf Griechisch verfasst, und die mittelalterlichen Gelehrten lasen sie in lateinischer Übersetzung. Boethius (um 477–524), ein Philosoph und Konsul im frühmittelalterlichen Rom, hatte viele seiner Schriften übertragen, und so befassten sich die Menschen des Frühmittelalters ohne Griechischkenntnisse vor allem mit dem, was in den Augen des Boethius übersetzenswert gewesen war. Vor allem die Categoriae und De Interpretatione (Lehre vom Satz) waren weithin verbreitet. Über die Übersetzungen hinaus arbeitete man im Hoch- und Spätmittelalter mit vielen Erläuterungen und Deutungen des Aristoteles aus der Feder des arabischen Universalgelehrten Ibn Sina (um 980–1037) oder Avicenna, wie er in der lateinischen Welt genannt wurde.
Wie Platon war auch Aristoteles davon überzeugt, dass Männer im Grunde die Standardmenschen waren. Männer waren der Maßstab, nach dem alle Menschen beurteilt werden sollten, und Frauen waren ihr blasser Abklatsch. In seiner Politik heißt es: »Ferner ist im Verhältnis (der Geschlechter) das Männliche von Natur aus das Bessere, das Weibliche das Geringerwertige, und das eine herrscht, das andere wird beherrscht.«14 So frustrierend es auch ist, so etwas zu lesen: Laut Aristoteles sollten gesellschaftliche Rollen auf der menschlichen Natur aufbauen.
Aristoteles war wie jeder gute griechische Denker, der die hippokratischen Texte verinnerlicht hatte, der Ansicht, dass die Menschen von ihren Körpersäften kontrolliert wurden. Weil Frauen kalt und feucht waren, waren sie, so glaubte er, auch »sanfter, verschlagener, weniger durchschaubar, impulsiv … Deshalb ist die Frau mitleidvoller … eher zum Weinen geneigt … neidischer, hat immer etwas an ihrer Lage auszusetzen, ist zanksüchtiger und neigt zu Handgreiflichkeiten. Das weibliche Geschlecht ist auch weniger leicht in Wut zu bringen … und verzweifelt leichter, außerdem ist es unverschämter und verlogener, es ist zum Täuschen veranlagt und hat ein besseres Gedächtnis, … ist … wachsamer und zögerlicher … passiver … und bedarf weniger Nahrung« als das männliche.15 Sie werden bemerkt haben, dass Aristoteles in diese Beschwerdeliste über das, was »von Natur aus« nicht mit Frauen stimmt, ein paar kleine Komplimente einstreute. Sicher, Frauen waren kreischende Harpyien, die gerade einmal so lange mit dem Heulen aufhören konnten, um dir eine Lüge unterzujubeln, aber sie hatten ein gutes Gedächtnis und waren komplex! Allerdings mussten Männer sie unter ihrer Kontrolle halten, weil man Frauen einfach nicht trauen konnte.
Der Beweis dafür lag laut Aristoteles in der Physiognomie der Frauen. Sie hätten, so behauptete er (fälschlich), weniger Zähne als Männer. Außerdem hätten Frauen keine äußeren Geschlechtsorgane. (Das gilt als ein ganz offenkundiges Negativum, aus Gründen, die er nicht ausführlich darlegt.) Deshalb, so Aristoteles, seien Frauen umgedrehte Männer, die im Prozess des Umkrempelns einen Teil ihrer Kraft verloren hätten.
Noch vor dem Mittelalter wurden Aristoteles’ Grübeleien über Frauen und Geschlecht von Claudius Galenos (129– um 216) festgeschrieben. Galenos von Pergamon, auch bekannt als Galen, Aelius oder Claudius Galenus, war ein überaus einflussreicher Arzt. Wie die drei Männer, die wir schon kennengelernt haben, war Galen Grieche, doch seine Welt sah ganz anders aus als ihre, denn er wurde mehrere Jahrhunderte später in eine durch und durch römische Zeit hineingeboren. Er entstammte einer reichen Familie in Pergamon (dem heutigen Bergama in der Türkei), war umfassend gebildet und weit gereist. Wie jeder soziale Aufsteiger auf dem Höhepunkt der römischen Macht ließ auch Galen sich schließlich in der Ewigen Stadt nieder. Dennoch schrieb er auf Griechisch. Die Menschen des Mittelalters lernten den Großteil seiner Werke kennen, nachdem sie zunächst ins Arabische und dann im zwölften Jahrhundert vom Arabischen ins Lateinische übersetzt worden waren, gefolgt von einer zweiten Welle im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert.16
In Rom machte sich Galen daran, das vorhandene medizinische Wissen der hippokratischen und aristotelischen Vier-Säfte-Lehre mithilfe von Obduktionen zu erweitern. Leider war im Römischen Reich die Sektion von Menschen verboten, und so sezierte er Affen und Schweine, um die Theorie der Körpersäfte weiterzuentwickeln. Damals war man der Ansicht, Menschen ähnelten äußerlich den Bären oder den Menschenaffen und innerlich den Schweinen.
Diese Obduktionen waren ein großer Schritt nach vorn. Allerdings stand für Galen die physiologische Arbeit nicht im Widerspruch zu philosophischen Überzeugungen, und ganz sicher konnten physiologische Erkenntnisse die philosophischen Grundsätze nicht anfechten. Stattdessen betrachtete er sie als Entsprechung und Erweiterung der Philosophie seiner Vorgänger. Davon war er so überzeugt, dass er sogar eine Abhandlung mit dem Titel Dass der beste Arzt auch Philosoph ist verfasste.17 In Anbetracht dessen kann es kaum überraschen, dass all diese Obduktionen absolut nichts dazu beitrugen, das aristotelische Konzept von Frauen als umgekrempelten Männern zu verbessern.
Galen hielt vielmehr die peripatetische Tradition am Leben und ermutigte seine Leserschaft, bei Frauen »zuerst … an die [Genitalien] des Mannes zu denken, eingedreht und sich innen zwischen dem Enddarm und der Blase ausdehnend. Dann würde der Hodensack notwendigerweise den Platz der Gebärmutter einnehmen, wobei die Hoden außen an beiden Seiten anliegen.«18
Man beachte, dass zwar nach dieser Vorstellung alle Menschen Geschlechtsorgane hatten und sogar mehr oder weniger die gleichen (wenn auch an verschiedenen Orten), dass man aber zuerst an die männlichen denken sollte. Noch so viele Obduktionen sollten daran nichts ändern, denn Galens Behandlung von Frauen als zweitrangig hatte nichts mit medizinischen Tatsachen zu tun. Die Frauen mit ihren kalten feuchten Körpersäften, nach innen gestülpten Geschlechtsorganen und irrationalen Gehirnen waren gar keine richtigen Menschen.
Nach allgemeiner antiker Meinung waren Frauen nicht gefestigt genug, um zu wählen, und ganz sicher nicht in der Lage, sich an gelehrten Debatten über die Frage, ob sie nun Menschen waren oder nicht, zu beteiligen.19