Die Irren mit dem Messer - Verena Lugert - E-Book + Hörbuch

Die Irren mit dem Messer Hörbuch

Verena Lugert

4,9

Beschreibung

"In den Küchen der Spitzengastronomie wird ebenso viel geweint und gelitten wie gekocht …" Diese Erfahrung ist Verena Lugert von Anfang ihrer Kochkarriere in der Haute Cuisine an vertraut. In ihrem mitreißenden Memoir gibt sie eine Antwort auf die Frage, was einen Menschen wie sie dazu bringt, mit Ende dreißig ihre erfolgreiche Karriere als Journalistin aufzugeben und sich in die Küche eines Sternekochs wie Gordon Ramsay zu stellen, dort sechzehn Stunden am Tag zu malochen, körperliche Schmerzen und Erniedrigung zu erdulden und sich einem unvorstellbaren Anspruch nach Perfektion auszusetzen? Verena Lugert erzählt vom gnadenlosen Druck in den Küchen der Spitzenrestaurants, von Adrenalin-Junkies, die jeden Neuen in der Küche argwöhnisch auf Herz und Nieren prüfen, und von ihrem Selbstbehauptungswillen inmitten dieser unbarmherzigen Männerwelt. "Die Irren mit dem Messer" ist die faszinierende Geschichte einer mutigen Frau, die in London im "Le Cordon Bleu", der weltweit bekannten Kochschule, das Kochen für die Spitzengastronomie lernt, um anschließend in einem Restaurant der Haute Cuisine tagelang Schweinsköpfe zu zerlegen, glutheiße Herde zu schrubben – und es mit viel Schmerz und Tränen zu schaffen, endlich anerkannt und Teil eines Teams zu werden, das jeden Tag lukullische Kunstwerke auf den Teller zaubert.

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Zeit:8 Std. 38 min

Sprecher:Beate Rysopp
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Verena Lugert

Die Irren mit dem Messer

Mein Leben in den Küchen der Haute Cuisine

Knaur e-books

Über dieses Buch

Verena Lugert war eine erfolgreiche Journalistin und jettete für ihre Reportagen um die Welt. Doch sie hatte noch einen Traum: Sie wollte Köchin sein – aber nur in der Haute Cuisine. Also schmiss sie mit 39 ihren Job hin, zog nach London und lernte dort kochen. Ihr erstes Engagement brachte sie in ein Restaurant des Celebrity-Kochs Gordon Ramsay – es war ein Job in des Teufels Küche: 16 Stunden am Tag ackern und Höchstleistungen erbringen, stundenlang Schweinsköpfe zerlegen und heiße Herde schrubben, um sich als einzige Frau unter jungen Männern in einer gnadenlosen Hackordnung zu bewähren. »Die Irren mit dem Messer« ist die faszinierende Geschichte einer mutigen Frau, die es mit viel Schmerz und Tränen schaffte, Teil eines Küchenteams zu werden, das jeden Tag lukullische Kunstwerke auf den Teller zaubert.

Inhaltsübersicht

MottoEinleitungKochen lernen in LondonProbeschichtWeiße BrigadeMise en PlaceService!Sand im GetriebeThunfischkriseEndlich KollegenWe’re chefs!RangordnungThe world is your oysterEs ist vorbei, bye, byeTry (Just a little bit harder)Let the games beginFinaleGeschafft!NachwortLiteraturDank
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»Die Küche ist nichts für Feiglinge, nichts für die Lauwarmen, die Kleingläubigen, sondern sie ist ein Platz für die Wagemutigen, für die Furchtlosen des Feuers, die Helden des flüssigen Stickstoffes, die Beherzten des Grills, für die Kühnen der Messer, die Unerschrockenen der Passier- und der Vakumiermaschinen und die Wackeren der Sphärifikation.«

Pau Arenós, katalanischer Gastrosoph,in: La cocina de los valientes – (dt.: Die Küche der Kühnen)

 

 

»Fuck, fuck, fuck.«

Gordon Ramsay, schottisch-englischer Drei-Sterne-Koch,in: der Küche

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Einleitung

Viele von ihnen sind tot«, sagt Hannah, vierunddreißig, meine Chefin, Küchenchefin, Superköchin, auf meine Frage, was denn all die Jungs jetzt so machen, mit denen sie im Laufe ihrer Karriere eine Küche geteilt hat. Hannah hebt ihr Bier, wir sitzen an der Bar eines Pubs in Soho, es ist früher Nachmittag. »Der Stress, du weißt schon. Der Alkohol und die Drogen.« Ich nicke. Klar weiß ich: Küche! Ist gleich: Stress. Und mehr: Bandscheibenvorfälle, Halluzinationen, Herzinfarkte. Aber auch: magischer Ort, Adrenalin-Arena. Triumphbogen aus stainless steel.

Noch ein Bier, wir stoßen an. »Jetzt aber erst mal: Congratulations!«, sagt sie und strahlt, wir lassen die Gläser klirren. »Und jetzt zeig die Dinger her!«, sagt Hannah und ich packe meine Beute auf den Tresen, entrolle das Bündel, schlage die eingeklappten Seiten des Polyesterstoffs sanft um. Da liegen und glänzen und gleißen sie. Vier Messer, aus siebzigfach gefaltetem Stahl. Von einem japanischen Meister geschmiedet, der seinen Namen in filigranen Schriftzeichen in die Klinge geritzt hat. Jedes einzelne ist jetzt meins. Gleich morgen werde ich meinen Namen eingravieren lassen, der Vorname reicht, es wird in der jetzigen Küche und auch in künftigen Küchen keine Missverständnisse geben, Verena heißt in England kein Mensch. Sie werden mir Respekt verschaffen, diese Messer, in mir schwappen Wogen heißer Genugtuung. Respekt für den fucking idiot, den Küchentrottel, wie mich meine Kollegen anfangs nannten, diese Messer werden sie in ihre Schranken verweisen. Die bösartigen, ehrlichen, streetsmarten, Zoten reißenden Pitbulls aus der Hölle, die in der Umkleide wettfurzen und in der Küche Gebilde von ätherischer Schönheit schaffen. Meine Nemesis. Meine Brigade.

Aufreibende Wochen liegen hinter mir, erst die Qualifikation zum Gordon Ramsay Award of Excellence, dann das Semifinale, dann das Finale. Ich habe wie eine Verrückte geübt, nachts um drei, nach meinen sechzehnstündigen Doppelschichten in der Restaurantküche, nach dem Alles-Umfüllen, Neu-Verpacken, Neu-mit-Schildchen-und-Datum-Versehen. Nachdem ich auf Knien die Kühlschränke gereinigt habe, die immer noch hitzeglühenden Herde geschrubbt, mich hinter dem Vorhang, der den Damen- und Herrenbereich in der Personalumkleide des Restaurants voneinander trennt, umgezogen und mit schmerzenden Füßen über die Battersea Bridge, die sich über die nächtliche Themse spannt, nach Hause gelaufen war. Wenn ich um halb eins angekommen, meine Uniform mit Fleckenlöser besprüht und in die Waschmaschine verfrachtet hatte, wenn ich all das hinter mich gebracht hatte: Dann konnte es losgehen.

Erst einmal Truppenbesichtigung: Was tun sie denn, meine Sude, meine Jus, meine Coulis und meine Fonds? Wie entwickeln sie sich, meine Patienten, meine Kindchen, meine Araberhengste? Wer muss noch länger ziehen, wer gerettet werden, wer endet im Ausguss? Wie viel Butter verträgt eine weiße Apfelemulsion, bevor sie sich trennt? Passt Szechuanpfeffer, dieser Zungen betäubende Dr. Seltsam, zu einem Saft, den ich aus Brombeeren extrahiert habe – und, mit Crème de Mûre angereichert, erst einmal schön habe infusen lassen? Jawoll, der Saft ist perfekt, was mache ich mit ihm? Reduzieren, ja klar, aber dann? Sirup, Marshmallows, Gelee-Sphären? Oder eine Zuckerwatte mit Brombeergeschmack? Warum nicht? Und noch einmal eine neue Ladung Rosen aus Blätterteig und marinierten hauchdünnen Apfelscheiben durchbacken, vielleicht fünf Grad mehr, aber eine Minute kürzer?

Der Blätterteig ist selbst gemacht, neunhundertdreiundsiebzig Lagen hat er, das weiß ich genau, denn ich habe ihn nach der beurrage, nach dem Einbringen der Butter, in drei Lagen geschichtet. Die werden immer wieder gefaltet, wieder in drei Lagen, ausgewellt, wieder drei Mal gefaltet, so potenzieren sich die Lagen und es ergibt sich bei sechsmaligem Falten die Zahl neunhundertdreiundsiebzig. Im Kontakt mit der Hitze steigt erst der Teig auf, da das Wasser aus der Butter in den Lagen zu Dampf wird und Schicht um Schicht aufbläht. Das Fett der Butter in den Lagen frittiert die Teigwände, das Gebilde wird fest, wird Struktur, Dreidimensionalität. Temperatur-Architektur: vom Fladen zum Luftschloss.

Dazwischen filetiere ich ein paar Makrelen, zu treuen Händen mitgegeben vom Souschef. »Üben! Und bring den armen Fisch nicht ein zweites Mal um!«, hat er mir gesagt. Mein Gefrierfach im Kühlschrank trägt schwer an den Makrelen- und Wolfsbarschfilets, die aus meinem Übungseifer hervorgegangen sind. Aber was mache ich, wenn dann da ein Perlhuhn hingestreckt sein wird im mystery basket, wie der Teil des Wettbewerbs genannt wird, bei dem einem ein Korb mit dem großen IRGENDWAS überreicht wird, das man zu einem sinnvollen Hauptgericht verkochen soll? Wenn Gott Lamm würfelt, wenn die Stunde der Kalbsleber schlägt? Wenn Fortuna Bries pendelt? Das Orakel den Hummer ins Rennen schickt? Wenn ein Hase zu richten ist (mein Gott, diese winzigen Ripplein!), eine Wachtel, eine Taube? Wie kriege ich bei den zähen Biestern das Schlüsselbein raus, hat meine Küchenpinzette die nötige Kraftübersetzung?

Schlafen jetzt, denke ich, schlafen, ich lege mich hin, halb drei ist es schon, ich falle in den Schlaf wie in einen dunklen Schacht und werde wach von einer Idee.

Im Schlafanzug zurück in die Küche, ich packe gefriergetrocknete Brombeeren in meinen Hochleistungsmixer. Siebe den Brombeerstaub, mische ihn mit Puderzucker in unterschiedlichen Mengen, siebe wieder, habe plötzlich pastellrosa Puder in fünf, sechs Intensitäten, siebe die verschiedenen Rosés über einen weinroten Teller, immer mehr Schichten, immer tiefere Rosés, entstanden durch die Überlappung. Töne, ja, denke ich, so könnte es gehen, das hier könnte unter Umständen eine Idee für eine erste Tellergrundierung sein für das Dessert. Und lege mich wieder ins Bett.

Vier Stunden habe ich, um sieben geht es raus, ich muss noch bügeln, um acht blitzblank in gestärktem Leinen in der Restaurantküche stehen. Und mich dann wieder, altes Spiel, quälen und anschreien lassen. Denn ich bin in dem Beruf noch relativ neu und nicht so gut, wie man das sein muss in unserer Küche, wie gesagt, fucking idiot, wahlweise retard hatten sie mich am Anfang genannt, meine zehn bis – tja! – fast zwanzig Jahre jüngeren Kollegen. Was zwar nicht angenehm ist, einem aber unbedingt egal sein muss, sonst kann man sie gleich bleiben lassen, die rauschhafte Fahrt im Edelstahlnarrenschiff. Und sie haben ja auch oft recht, die Biester, zu langsam bin ich auch noch, mir fehlt die jahrelange Übung meiner Kollegen, von denen einige schon in der Küche stehen, seit sie vierzehn sind. Ich mache den Irrsinn noch nicht so lange, habe mich im Alter von neununddreißig für die Küche entschieden.

Warum ich das tat und warum ich das tun musste, warum so viele Menschen der Küche verfallen und was den Wahn, die Schönheit und den Suchtfaktor dieses Berufes ausmachen, warum sich in ihm so viele Adrenalin-Junkies finden, warum Köchen das Streben nach Perfektion zur Religion wird und schon die Annäherung an die selbige Zustände mystischer Verzückung auslöst wie auch die Einsicht ihrer Unerreichbarkeit tiefe Depressionen herbeiführt, warum sich Köche in Sechzehn-Stunden-Tagen ausnutzen lassen für einen Lohn, der ein Witz ist, oder warum sie für einen der ganz Großen einige Monate sogar komplett umsonst arbeiten, warum Kochen tatsächlich etwas Zauberisches hat – um all dies soll es in den nächsten Kapiteln gehen.

Um das Wunder der Küche. Und um den Bauplan dieses Wunders, seine Hierarchien, seine Posten. Sein Personal, die Köche. Ihre scharfen Messer und ihre irrlichternden Gemüter. Um ihr Streben und Fallen. Und ihre Jagd nach den Sternen.

Und um mich. Eine noch unwürdige, aber eifrige, die unterste Küchenklasse repräsentierende Quereinsteigerin. Und dennoch Mitglied der weißen Brigade, wie man unsere Bruderschaft nennt. Uns Logenmitglieder. Uns Köche.

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Kochen lernen in London

Eigentlich bin ich Journalistin. Aber ich habe auch ein Leben lang das Kochen geliebt. Im Kindergartenalter durfte ich meiner Tante, die schon in den Siebzigern nach einem Bocuse-Kochbuch kochte, zur Hand gehen. Und in der Grundschule habe ich mit Freundinnen einen Kochclub gegründet.

Ich wollte Köchin werden, habe mich aber nach der Schule für ein Literaturstudium entschieden, denn Bücher mochte ich exakt genauso gerne wie das Kochen. Irgendwie haben das Kochen und das Schreiben auch etwas gemeinsam: Aus einer endlichen Zahl an Zutaten wie auch an Buchstaben kann man eine – weil unendlich kombinierbar – unendliche Anzahl von Gerichten oder Geschichten anfertigen. Diese Idee hatte mich schon als Kind fasziniert, als ich Michael Endes Unendliche Geschichte las. Da werfen in einer Szene Wahnsinnige mit Würfeln auf Bretter, auf denen sich Buchstaben befinden. Wenn man dieses Spiel nur lang genug spielt, entstehen durch Zufall Wörter, Gedichte, Geschichten. Spielt man es in alle Ewigkeit, müssen sich daraus alle Gedichte und Geschichten ergeben, die überhaupt möglich sind. Und wenn man die Kombinationen erst planvoll vollzieht, was mag dann alles möglich sein?

Als Studentin habe ich in einer Kneipe gekocht. Dann mit einer Freundin einen Partyservice gegründet, wir waren die »Delicats«, unser Logo war eine Katze mit Servierhaube, die eine dampfende Schüssel trug. Aber als es nach dem Studium mit dem wirklichen Arbeiten losging, lösten wir den Partyservice auf. Es folgten Umzüge, Anstellungen, Bürogründungen. Geschichten und Reportagen reihten sich aneinander, Deadlines gaben den Rhythmus meines Lebens vor. Irgendwann, sagte ich mir immer, irgendwann bist du Köchin! Bis mir klar wurde: Köchin ist man nicht irgendwann. Köchin muss man werden. Einen Prozess durchlaufen. Eine Ausbildung.

Wenn du es jetzt nicht machst, machst du es nie mehr, stellte ich fest, als ich mal ganz ehrlich Bilanz zog. Warten und Aufschieben und im Internet ziellos nach Tipps suchen? Bringt nichts. Ich musste ganz einfach mal in eine professionelle Küche rein, um auszuprobieren, ob ich nicht vielleicht einem Traum hinterherrannte, der gar nicht mehr meiner war. Ich war neununddreißig Jahre alt.

Ich fing also, als Testlauf, als Küchenhilfe in einem Restaurant an, 7,50 Euro Stundenlohn gab es. Ich war hochnervös, als ich zum Probearbeiten kommen sollte. Zu Hause probierte ich meine neue Kluft an, die ich mitbringen sollte: rutschfeste Gummischuhe, eine Kopfbedeckung, die ich beim Textildiscounter gekauft hatte – eine Art buntes Kopftuch mit Gummizug, dazu eine Schürze. Ich sah aus wie eine komplett andere Person. Und nicht unbedingt gut: Als ich mein neues Ich im Spiegel betrachtete, kam mein Bruder rein, schaute erschrocken und fragte, was das soll. Ich sagte ihm, dass ich als Küchenhilfe in der »Nachtigall« anfangen würde. Ob mit mir alles in Ordnung sei, jobmäßig und überhaupt, hatte mein Bruder direkt danach meine Schwester gefragt, als er sie besorgt anrief, da war ich schon unterwegs, ins Restaurant.

Mir schlug das Herz bis zum Hals, ich kam mir vor wie jemand, der gerade seine Identität tauschte. Ich stellte mich dem Eigentümer vor, wurde kaum was gefragt – bloß, ob ich schon mal in einer Küche gearbeitet hätte, das konnte ich bejahen. Dann zog ich mich um und wurde eingearbeitet, von der dienstälteren Küchenhilfe, einer fidelen, kugelrunden Ukrainerin um die sechzig. Sie hatte weißes Haar, mit einem Kopftuch zurückgebunden, und war bestens gelaunt. Ansonsten war da nur Mariella, die Köchin. Wir hatten es nett in der Küche, das Essen schmeckte toll und nach Schichtende trank man noch ein Glas Rotwein zusammen. Eine gemütliche, kleine Küche, in der die Nudeln und die Gnocchi handgemacht waren, in der ein großer Fondstopf vor sich hin köchelte und in der kein rauer Ton herrschte. Schnell war ich angefixt – auch wenn ich die ersten Male bloß Spülerin war und mich erst langsam an die Vor- und Nachspeisen hocharbeitete. Nach Dienstende trug ich meine Zeiten ins Personalheft ein, 41 Euro 50 Cent machte ich in einer Schicht. Nicht viel Geld – aber für mich war das andersrum: Geld für einen Abend Spaß! Jedes Mal, wenn ich gegen elf Uhr nachts nach Hause kam, war ich bester Dinge. Mir war sehr schnell klar: Ich will richtig kochen lernen.

Nach Wochen des Haderns, während derer ich ab dem späten Nachmittag als Küchenhilfe arbeitete und tagsüber als Journalistin, fällte ich endlich den Entschluss. Ich kam von der Schicht, checkte meine Mails und da war eine Nachricht: der Newsletter vom »Le Cordon Bleu«, den ich seit Jahren abonniert hatte. Das »Cordon Bleu« ist die wohl berühmteste Kochschule der Welt, eine legendäre Pariser Institution mit über hundertzwanzig Jahren auf dem Buckel und über sechsundzwanzig Niederlassungen weltweit. Seit bald neunzig Jahren unterhält sie auch eine Dependance in London. In drei Trimestern wird da hochintensiv ausgebildet, entweder in der Disziplin Cuisine oder Pâtisserie. Seit langer Zeit hatte sich das »Cordon Bleu« in meinem Kopf festgesetzt. Aber erstens war es teuer. Außerdem: Ein Jahr lang meinen Beruf ruhen lassen? Traute ich mich das? War das klug? Käme ich danach wieder rein ins Schreiben? Würde ich meine Kontakte behalten? Mir schien dieses eine Jahr immer als ein so wuchtiger Felsbrocken, den ich mich nicht anzupacken traute. Ein erratischer Block in meiner Lebenslandschaft, um den ich seit geraumer Zeit herumschlich.

Und dann kam die Nacht nach der »Nachtigall«, der Newsletter hatte schon eine so verheißungsvolle Betreffzeile, dass ich ihn sofort anklickte: »New!« hieß es da. »Diplôme de Cuisine Fast Track: Intensive Course now available«. Ich las gierig weiter: Es wurde ein neues Programm angeboten, das Diplôme de Cuisine als extremer Intensivkurs – auch in drei Trimestern, ohne eine einzige Unterrichtsminute weniger – sechs Tage die Woche, von morgens bis nachts. Sieben Monate sollte die Sache dauern. Sieben Monate? Bingo. So lange traute ich mich weg, in ein anderes Leben. Noch im Auto mailte ich sofort ans »Cordon Bleu«, um mich nach den Modalitäten zu erkundigen.

Es kam rasch eine freundliche Mail mit allen Konditionen. Und dann musste ich mich nur noch entscheiden, wo ich mich bewerben würde: am »Le Cordon Bleu« in London oder am Mutterschiff in Paris. Ich entschied mich reflexartig für London. Denn mir war wichtig, dass die Stadt, in der ich leben würde, kulinarisch besonders innovativ war, dass ich dort die interessantesten Konzepte kennenlernen würde, die Trends, die von London über den Rest Europas schwappten. Das Curriculum ist in Paris und London dasselbe, es besteht aus den Techniken der französischen Küche – die aber später, wenn man sie beherrscht, auf jegliche Länderküche angewandt werden können, auf vegetarische Küche, vegane, es sind Techniken, die jedem neuen Foodtrend eine solide Basis verleihen.

Der Israeli Yotam Ottolenghi, the man who sexed up veg, Gastronom, Kolumnist und Kochbuchbestsellerautor, der sich besonders auf vegetarische, höchst raffiniert gewürzte Gerichte, die geschmacklich oft von seiner Jerusalemer Heimat beeinflusst sind, spezialisiert hat, hat am Londoner »Cordon Bleu« gelernt – um sich danach von der französischen Küche freizuschwimmen, sich aber weiterhin ihrer Techniken zu bedienen. Auch Mario Batali, ein amerikanischer Celebrity-Chef, wie man in den angelsächsischen Ländern die Köche nennt, die zu Starruhm aufgestiegen sind, hat am Londoner »Le Cordon Bleu« gelernt – um sich später auf die italienische Küche zu spezialisieren. Und Gastón Acurio, der Erneuerer der peruanischen Küche, der zwischen Süd- und Nordamerika ein Restaurantimperium besitzt, ist ein Cordon-Bleu-Eleve. Ebenso wie die in den USA kultisch verehrte Julia Child, Kochbuchautorin und erste Fernsehköchin Amerikas.

Ich bewarb mich samt Motivationsschreiben und Lebenslauf. Und hatte ein Argument, das hoffentlich überzeugen würde: Ich sei eine Journalistin, die viel über Reisethemen schreibe und die sich nun in das Thema Food von der Pike auf einarbeiten wolle, um mit wahrer Kompetenz übers Kochen und Essen schreiben zu können. Es sei ja auch im Sinne der Branche, wenn sich künftige Kritiker richtig auskannten und einen Kalbs- von einem Hühnerfond zu unterscheiden wussten, weil sie ihn selbst zubereiten konnten. Außerdem, befand ich, sei ich Literaturkritikerin und Essen und Literatur seien doch in gewisser Weise ähnlich.

Ich war im Urlaub in Indonesien, als das Okay kam. Ich stieß erst überglücklich mit dem Palmenschnaps Arrak auf mein baldiges neues Dasein in London an, träumte von sinnlichen Saucen und duftenden Kräutern. Füllte unzählige Formulare aus (der Umfang meines Kopfes in Inch?), scannte die Formulare im Internet-Café, einer Bruchbude, in der der Strom ständig ausfiel. Schrieb in diesem Internet-Café an verranzten Computern auf verklebten Tastaturen alle Menschen an, die ich kannte: ob jemand eine WG in London wüsste, ich würde da demnächst hinziehen.

»Warum ziehst du nach London?«, fragten viele. Wegen eines Kochkurses, schrieb ich zurück.

Aber warum denn bloß Kochen in England?, fragten sie weiter. Englands Küche habe doch einen ganz schrecklichen Ruf!

Das war schon lange nicht mehr so. Aber natürlich musste man sich fragen: War denn nicht Englands Küche jahrelang mit dem Beans-on-Toast-Stigma behaftet? Fettige Fish and Chips mit Malzessig, zerkochtes Fleisch mit ordentlich Minzsauce obendrauf? Marmite, die Hefepaste, die nach Brühwürfel schmeckt, als Brotaufstrich? Kartoffeln, Kartoffeln, Kartoffeln in allen Aggregatszuständen?

Wie konnte es geschehen, dass der Schulversager England, der kulinarisch jahrzehntelang auf der Eselsbank Marmite-Toast mümmelnd vor sich hin gelungert hat, heute Frankreich, der Grande Nation, den Rang abgelaufen hat? Ganz einfach: Paris, die alte Dame, hat es sich bequem gemacht im Lehnstuhl ihrer Tradition und Fama, hat sich nicht weiterentwickelt. London hingegen vibriert vor Kreativität, Innovationsfreude und Elan. Joël Robuchon, den (durch seine diversen Restaurants) insgesamt siebenundzwanzig Michelin-Sterne umkränzen, mehr hat kein Mensch auf der Welt, ein Franzose von Geburt und Überzeugung, der sein Leben lang französisch gekocht hat, ausgezeichnet mit dem Titel Meilleur Ouvrier de France, dem »Besten Handwerker Frankreichs«, dem MOF, ein Akronym, für dessen Besitz jeder französische Koch morden würde – jener Joël Robuchon, getriebener Perfektionist, für den es kein perfektes Essen gibt, denn man kann alles, alles immer noch besser machen –, zieht den Hut vor denen, die es gerade besser machen als seine Landsleute: den Anglais. London sei, sagte er dem London Evening Standard, das kulinarische Epizentrum der Welt. »Nur in London findet man absolut jeden erdenklichen Kochstil. Wenn es um Trends in der Küche geht, um das Neue, um innovative cuisine – dann ist London die Antwort.«

Deswegen London, erklärte ich meinen Freunden. Dort spielt die Musik.

Bald kam auch die erlösende Mail einer Freundin: Ihre Freundin Sarah vermiete ein Zimmer. Ich kannte Sarah sogar von einem früheren Partywochenende, Sarah würde sich freuen, sagte sie. Und so packte ich meine Sachen und zog nach England.

Sarah war ebenso warmherzig wie lustig. Ihre Wohnung war ein Schmuckstück (Sarah war Textildesignerin) und lag auch noch perfekt. Praktischerweise an der gleichen U-Bahn-Linie, der Piccadilly Line, wie das »Le Cordon Bleu«. Deswegen dauerte mein Schulweg immer nur gute fünfzehn Minuten, Lichtgeschwindigkeit in London, wo manch einer bis zu zwei Stunden Pendelzeit in Kauf zu nehmen hat. Der kurze Schulweg war ein Segen, weil die Unterrichtszeiten am »Cordon Bleu« so lang waren: Um sieben Uhr morgens ging es raus, meist kam ich erst um elf Uhr nachts wieder nach Hause.

 

Mein erster Schultag: allein der Schulweg! Raus aus der U-Bahn, dann durch die winzige Sicilian Avenue mit ihren Türmchen und Zinnen, magisch! Durch den Bloomsbury Garden, hinein in das stolze, weiße Gebäude des »Cordon Bleu« mit der flatternden blauen Fahne. Schneeweiß gekleidete Kocheleven rauschten durch die Gänge und ernste Köche mit hohen Hüten, hier war die Burg der Küchen-Zauberlehrlinge, das Hogwarts der Köche!

Wir saßen zu dreizehnt in einem Hörsaal, in dem mindestens fünf Mal mehr Leute Platz gefunden hätten. »Welcome to the Rock ’n’ Roll Course«, sagte die Direktorin. Der hieße so, weil es in selbigem tatsächlich ziemlich zur Sache gehen würde, es habe diesen Intensivkurs schon einmal, vor zwanzig Jahren gegeben, man habe ihn aber wieder abgeschafft, weil sich die Studenten über ebendiese Intensität beschwert hätten. Man habe sich aber entschieden, ihn wieder anzubieten, und wir – dreizehn Menschlein mit eingeschüchtertem Dulderblick – seien die Pioniere, die nun beweisen sollten, dass der Intensivkurs durchaus praktikabel sei! Wir seien keine Waschlappen, das sähe sie schon auf den ersten Blick (schon setzten wir uns gerade hin, bogen die Rücken durch), also frisch ans Werk! Normalerweise würden in den Theorieklassen siebzig bis achtzig Novizen sitzen, sagte sie, die dann zum Kochen in die verschiedenen Küchen in Gruppen à sechzehn aufgeteilt würden. Aber wir hätten Glück, eine so kleine Gruppe sei schierer Luxus. »Fair enough«, murmelte sie, es würde ja schließlich auch nicht leicht werden.

Die Köche stellten sich vor, es waren Engländer und Franzosen, dann ratterten wir unsere Namen und Nationalitäten herunter: Lynn und Wu aus China, sie Psychologie-Studentin mit dem Ziel Food-Psychology, er Food-Fotograf. João, Ingenieur aus Lissabon, der aber schon seit zwei Jahren in London als Koch arbeitete. Vladimir aus der Ukraine, der bereits in Kiew als Koch gearbeitet hatte. Leah, eine Londoner Investmentbankerin, Alison, eine Londoner Unternehmensberaterin, die das Vermögen von Prince Charles betreute, Claudine, eine Harvard-Juristin aus Toronto, Chimananda aus Nigeria, die in London ein nigerianisches Restaurant eröffnen wollte, Bella, ebenfalls aus Nigeria, deren Familie in Abuja ein Restaurant besaß, das sie übernehmen sollte. Nasreen aus Dubai, die dort einen Catering-Service gründen wollte, Thibault aus Frankreich, Theaterregisseur am Londoner National Theatre, der an einem interaktiven Stück über das Kochen arbeitete. Hussein aus Istanbul, dessen Eltern ein riesiges Catering-Unternehmen hatten, das er übernehmen sollte. Und ich.

Es war keine Zeit für Smalltalk, nach einer Feueralarm-Übung (der Nationalsport der Engländer, runter über die Feuertreppe, Sammelpunkt neben dem Britischen Museum, wieder nach oben, vierter Stock) bekam jeder seine Messertasche ausgehändigt, fünfzig Teile beinhaltete sie, die Messer, Tüllen, Apfelausstecher, Pinzetten, Thermometer, Magnete, mit denen man das Backpapier auf dem Blech fixierte – und natürlich den Schleifstahl. Sie wog sieben Kilo. In den nächsten Monaten waren wir wie verwachsen mit diesen Taschen. Wenn wir sie mit in die U-Bahn nahmen, mussten wir sie mit einem Schloss gesichert haben und wir hatten einen Ausweis mit uns zu führen, der uns als zukünftige Köche und die Messer als unser Handwerkszeug kennzeichnete. Wie oft haben wir uns anfangs mit den fabrikneuen, höllisch scharfen Messern geschnitten! Wie viel Blut da geflossen ist, wie selbstverständlich der Gang nach vorne wurde, zu den Köchen am Pass, um um Heftpflaster, Verband oder Kunststoff-Fingerling zu bitten, wenn es gar nicht mehr aufhören wollte zu bluten. Wie wir darum kämpfen würden, die richtige Handgelenksbewegung zu lernen, die das Schleifen erfolgreich machen würde. Wie wir sie lieben und hassen würden, unsere Messer.

Wir bekamen auch unsere Uniform-Sets. Unsere Ordner mit den Rezepten und der Theorie. Dann, husch, husch, umziehen in den überfüllten Umkleideräumen. Und schon ging es los: Hygiene. Und Kitchen Safety. Abends fand schon das Examen statt, abgenommen von der Industrie- und Handelskammer.

Und so ging es die nächsten Monate weiter. Im hysterischen Schweinsgalopp, ich wusste manchmal nicht, welcher Tag es war, welche Tageszeit: drei Stunden Kochtheorie, vom Koch vorgeführt in der Hörsaalküche. Im Affenzahn alles mitschreiben, runter in die Umkleide hetzen, Messerset holen, rein in die Küche, in drei Stunden nachkochen, abgeben, bewertet werden. Küche putzen, Herde schrubben, Kühlschränke auswischen, alles polieren. Das eben Gekochte – Langustinen im Safranschaum, Kalbsbries mit Morcheln – die Treppe hochrennend mit den Fingern in den Mund schieben, wieder in die Umkleide, wieder umziehen, Ordner holen, denn weiter ging’s mit der nächsten Theorie-Einheit. Wieder drei Stunden. Wer zu spät kam, durfte bei der nächsten Praxis-Einheit nicht mitmachen, wer bei drei Einheiten fehlte, wurde aus dem Kurs ausgeschlossen, für immer. Und konnte wieder heimfahren, nach Grönland oder Germany oder wo immer man auch herkam, die Schule kannte kein Pardon.

 

Schon nach zwei Wochen waren wir nur noch zwölf, Hussein weilte wieder zu Hause im schönen Istanbul, er war einfach ein paar Mal zu oft zu spät erschienen. Nach drei Wochen wollte Chimananda aussteigen, nach der vierten reiste der Onkel von Bella aus Nigeria an, um mit der Direktorin zu sprechen, die Unterrichtszeiten seien purer Wahnsinn. Die Direktorin blieb unerbittlich. Nach sieben Wochen wollte Leah nicht mehr, die Investmentbankerin, insane sei das Ganze, sagte sie. Und dennoch: Wir blieben zu zwölft. Bestärkten uns. Nannten uns das A-Team, schickten Grüße per SMS, wenn mal wieder einer von uns in der Notfall-Ambulanz in Covent Garden genäht werden musste, weil er sich mit den wahnsinnig scharfen Messern geschnitten hatte, ertrugen unsere Brandblasen und Seelenblessuren, die die Bewertungen der Köche hinterließen (»Hörrible taste, ehhh!«).

Und wir lernten. Sehr viel, wie mit einem Trichter wurden wir wie Gänse bei einer gavage mit Wissen gestopft. Das Ergebnis sollte bloß keine Foie gras sein, sondern ein solider Commis de Cuisine, wie der Jungkoch im Küchenfranzösisch heißt.

Wir lernten das Zerlegen am Beispiel eines ganzen Rinderrumpfes. Wir filetierten Fische, die wie Urzeitmonster aussahen, brachten Hummer mit Genickstich und mit kochendem Wasser um, knackten Austern und hackten Knochen, die wir für die Fonds, Elixiere des Geschmacks, brauchten. Wir falteten Blätterteig, schnitzten Pommes cocottes, Kartoffelzylinder, sechs Zentimeter Länge, zwei Zentimeter Durchmesser, sieben Facetten, oben und unten sich zu einer Spitzkuppel verjüngend. Von morgens bis nachts, auch am Samstag; am Sonntag bügelten wir unsere Uniformen.

Es waren der militärische Drill, der Zeitdruck und die eingeforderte, ins Absurde getriebene Akkuratesse, durch die wir so viel gelernt haben: Jeden Tag wurden wir zwei Mal benotet, jedes Gericht auf Geschmack, Gargrad, Aussehen und Technik evaluiert (mit einer langen Nadel wurde die Viskosität der Sauce geprüft, mit einem Lineal die geforderten drei mal drei Millimeter bei den Gemüsewürfeln, das sogenannte Brunoise-Schneiden, gemessen). Es war der Punktabzug bei Spritzern auf dem Teller oder für jede Minute, die er zu spät abgegeben worden ist. Es war das Geheimnis des Kochens mit Temperaturen, in das wir Staunenden eingeweiht wurden, diese alchemistische Kunst, nach deren Beherrschung man die Klaviatur der Aromen, Zucker und Salze, die in den rohen Ingredienzien unerkannt stecken, durch den Einsatz von Hitze mit voller Wucht bespielen kann. Nicht umsonst nennt der Spitzenkoch Daniel Boulud seinen Herd sein »Piano« und sagt über die Hitze, über das Feuer: Wie gut dein Essen ist, hängt davon ab, wie gut du diese Naturgewalt kontrollierst.

Und weil wir auf alles vorbereitet sein sollten, lernten wir auch, im Tandoori-Ofen zu braten, wir backten Naan-Brot, schabten Spätzle, zogen Strudelteig auseinander, bis er papierdünn war, und bliesen für die Pekingenten die toten Tiere vor dem Glasieren mit Luftpumpen zu makabren Ballons auf. Ich war hingerissen.

 

Dann kam das dritte Trimester am »Le Cordon Bleu«. Der Name hat übrigens nichts mit dem deutschen Wirtshauskracher aus Schinken, Käse und Schweinefleisch in schwerer Panade zu tun. Er geht auf die erste französische Feinschmeckerzeitschrift La Cuisinière Cordon Bleu von 1895 zurück, über die auch Kochkurse angeboten wurden. Aus der Zeitschrift und den Kursen entwickelte sich in der Folge die Kochschule »Le Cordon Bleu« in Paris. Der Titel geht auf den Ordre du Saint-Esprit, den Ritterorden vom Heiligen Geist, zurück, gegründet im 16. Jahrhundert in Frankreich. Das Ordenszeichen war ein goldenes Kreuz, das an einem blauen Band hing, dem cordon bleu. Da die Ritter regelmäßig zu festlichen Gelagen zusammenkamen, entstand bald der Ausdruck un repas de cordons bleus, ein Mahl von blauen Bändern, soll heißen: ein besonders gutes.

Ein besonders gutes Mahl wurde auch von uns Kochschülern erwartet, und zwar bei der Abschlussprüfung, vor der wir alle panische Angst hatten. Ente, x-fach geübt, am Knochen gegart, die Brust innen perfekt roséfarben, die Schenkel geschmort, dann vom Knochen gelöst, verpackt erst in Wirsing und dann in Schweinenetz, die Rundlinge sollten aussehen wie winzige Kohlköpfe. Dazu Zylinder vom Topinambur, frittiert. Und Pommes mousseline, der High-End-Kartoffelbrei.

Drei Stunden Nervenkrieg, Schnitte, zitternde Finger, die die Pinzette hätten ruhig halten müssen, um den Mikro-Kerbel auf die Topinamburzylinder zu platzieren.

Keiner von uns zwölf ist durchgefallen. Nicht immer geht die Abschlussprüfung so glimpflich aus: Vor ein paar Jahren rastete ein Prüfling aus, als er merkte – an der Uhrzeit und an dem, was er aus dem Ofen zog –, dass es wohl nichts werden würde mit dem Diplom. Hysterisch richtete er sein großes, frisch geschärftes Kochmesser gegen sich, schreiend, dass er sich umbringen würde, wenn er nicht bestünde. Die Polizei riegelte die Straße ab, stürmte die Küche, überwältigte den jungen Mann und führte ihn ab.

Das erzählte mir die Schulrektorin bei der Abschlussfeier anlässlich unseres Diploms. Wir feierten in einem Hotel in Bloomsbury, gleich um die Ecke vom British Museum, also ganz in der Nähe vom »Le Cordon Bleu«. Ein Londoner Traditionshotel mit knarzenden Holzböden und Feuerstellen, mit befrackten Kellnern und gerahmten Ölschinken, auf denen Jagdhunde im Bischofsornat abgebildet waren. Es gab Lamm mit Minzsauce und etliche Toasts. Als die Köche und die Honoratioren gegangen waren, saßen wir noch einmal zu zwölft beisammen, der Sekt floss in Strömen. Wir wärmten die alten Anekdoten auf, zeigten uns noch einmal unsere Narben. Lagen uns ein letztes Mal in den Armen, gerührt, erleichtert, wir hatten es geschafft, die meisten mussten aus Visa-Gründen schon am nächsten Tag in ihre Heimat aufbrechen: nach Dubai, nach Nigeria, nach China, in die Ukraine. Und ich? Wollte ich auch wieder heim, wieder rein in den Journalismus? »Nein«, hörte ich mich zu meinem eigenen Erstaunen bei der Abschlussfeier zu den Kollegen sagen, »ich will jetzt erst mal rein in den Beruf!« Ich hatte das Diplôme de Cuisine und das Zertifikat der Britischen Industrie- und Handelskammer in den Händen, das bestätigte, dass ich jetzt Köchin war. Von wegen! Ich war Novizin, eine Fahranfängerin, die gerade ihren Führerschein ausgehändigt bekommen hatte, aber von der Straße nicht den leisesten Schimmer hatte. Da musste ich jetzt rein, ins wirkliche Leben. Augen zu und einfach rein, los, SPRING!

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Probeschicht

In Deutschland wäre es total plemplem und fast unmöglich, im Alter von vierzig Jahren in irgendeiner guten Küche als Jungkoch anzufangen. Genau das würde ich sein: Jungköchin, Commis de Cuisine, weit, weit unten in der Küchenhierarchie. Doch England ist nicht Deutschland. Und England hat ein sehr lässiges Verhältnis zu Berufswechslern, zum Quereinsteigertum, das in Ländern wie Frankreich und Deutschland, die die klassische Lehre für unumgänglich halten, nicht vorstellbar wäre. In England darf man einfach mal probieren und schauen, wie weit man damit kommt. Das kann sehr weit sein, wie der Chefkoch und Eigentümer des Restaurants Hedone gezeigt hat: Mikael Jonsson war Anwalt und wurde ohne Ausbildung Koch in seinem eigenen Restaurant, das in kürzester Zeit mit einem Stern ausgezeichnet worden ist. Auch Nationalheiligtum Heston Blumenthal (seine Restaurants: »The Fat Duck« mit drei, »Dinner« mit zwei Sternen) hat sich alles selbst beigebracht, ebenso wie der Innereien-Papst Fergus Henderson. Sie alle sind self-taught chefs, wie man immer wieder bewundernd erwähnt.

In Deutschland hieße so etwas nur Laie – und würde den hochachtungsvollen Unterton vermissen lassen. Diese Durchlässigkeit, die die Herkunft aus einer anderen Disziplin nicht kategorisch als Mangel an Erfahrung, sondern unter Umständen als Bereicherung sieht, setzt ganz andere kreative Impulse frei als die sture Lehre in anderen Ländern, die man im Alter von fünfzehn beginnt. Und bis zum Ruhestand nichts anderes als die Küche zu Gesicht bekommt. Diese Fokussierung fördert zwar Technik und Schnelligkeit, aber nicht die Innovation.

Die Quereinsteiger-Chance in England wollte ich ergreifen. Ich schaute im Internet nach Stellen – und fand eine, die sich super anhörte: Gordon Ramsay, Drei-Sterne-Mann, Celebrity-Chef und Fernsehkoch (in Shows mit Namen wie Kitchen Nightmares oder Hell’s Kitchen, die mich eigentlich hätten misstrauisch machen müssen), hatte gerade ganz in der Nähe meiner neuen Wohnung in Chelsea, die ich nach dem Abschluss des »Cordon Bleu« bezogen hatte, ein neues Restaurant eröffnet. Die Küchenchefin war eine Frau! Und jung! Und cool! Was in den Interviews und Zeitungsartikeln, die ich über sie fand, deutlich wurde. Das Restaurant sah super aus, wie ich mich vergewisserte, als ich bei einem Spionagegang daran vorbeischlich. Und eine Stelle war frei: die des Commis de Cuisine – nach den Lehrlingen und Spülern das kleinste Licht in der Küche.

Auf die bewarb ich mich also. Ich solle zum Probearbeiten kommen, hieß es am nächsten Tag in einer Mail. In der kommenden Woche.

Um neun sollte ich zum Probekochen eintreffen, nicht um acht, dem normalen Schichtanfang. Ich lief die Themse entlang, meine Messertasche vom »Cordon Bleu« schwang an meiner Schulter. Außerdem hatte ich meine gebügelte Uniform dabei, für die ich am Abend zuvor noch ein Turbo-Bügeleisen erstanden hatte. Und meine Kochschuhe, die ich für ein besonders blendendes Weiß in der Waschmaschine gewaschen hatte. Ich trug ein T-Shirt und Jeans, es war wunderbar warm. Ich war ungeschminkt, trug weder Ringe noch Ohrschmuck oder Nagellack, das hatte man uns im »Cordon Bleu« früh genug ausgetrieben. Schmuck, lange Nägel, Nagellack und falsche Wimpern waren aus Hygienegründen in Küchen streng verboten, eine Tatsache, die von den Cordon-Bleu-Schülerinnen aus dem orientalischen Kulturkreis mit tiefer Trauer zur Kenntnis genommen wurde. Unsere Kurskollegin Nasreen aus Dubai hatte mir erzählt, dass sie geweint hat, als sie ihre Nägel abgeschnitten hat.

Das Wasser glitzerte im Frühlingslicht, ich hörte über Kopfhörer Musik, It’s Amazing von Jem, die Motivationshymne für die Zögerlichen und Kleingläubigen. »Do it now, you know who you are, you feel it in your heart and you’re burning and wishing.« Kitschig, pathetisch, ich weiß, aber mir gingen nun mal wirklich fast die Nerven durch. Über die Battersea Bridge rumpelten die schrulligen Londoner Doppeldecker-Busse wie freundliche rote Riesenkäfer. Es war ein wunderschöner Tag und mir war schlecht vor Angst. Zu Recht, wie ich wenig später herausfinden sollte. »It’s amazing, it’s amazing, all that you can do«, war das so? Konnte ich was? »It’s amazing, it’s amazing, makes my heart sing«, schön, gut, meines singt nicht, meines verkrampft gerade, »now it’s up to you!«. Up to me? Das war ja genau das Problem.

Ich kam am Restaurant an und die Tür war offen, weil eine Floristin gerade die Blumenlieferung gebracht hatte. Sie stand am Tresen und war mit dem Richten der Gestecke und Binden der Sträuße beschäftigt. Sie trug kurzes schwarzes Haar und schien keine Frau großer Worte. Außer ihr war niemand in dem beeindruckend großen Gastraum. Ich begrüßte sie höflich, stellte mich als die neue Jungköchin vor, die heute ihren ersten Tag hatte, was heißt neue, erst mal sehen, haha, Probetag, selbstverständlich, hahaha, of course. Meine Ausführungen wurden mit einem Schweigen beantwortet. Wortlos deutete sie mit ihrem Finger hinter sich, ins Dunkle, in das ein schmaler Gang über drei Stufen führte. Ich stieg die drei Stufen empor, ging den Gang entlang bis zu einem Vorraum: Eine moderne Bonnierkasse stand da zu meiner Linken, in Regalen waren Schubfächer für Besteck, auf einer Ablage stapelten sich Leinenservietten. Und rechts vor mir war sie, zum ersten Mal stand ich vor ihr, vor der Schwingtür, die in das fensterlose Stahlmonster führt, die Tür, die die Welt in zwei Hälften teilt, in Restaurantbesucher und Köche.

Es gibt nur die beiden Spezies. Und es gibt die Kellner, Boten, die zwischen den beiden Sphären wandeln wie die Engel auf der Jakobsleiter. Oder wie unerlöste Seelen, die nicht in diese, aber auch nicht in die andere Welt gehörten. Es ist diese hölzerne Schwingtüre mit den beiden Bullaugenfenstern, die wie eine magische Schwelle das Restaurant, den Ort des gehobenen Genusses, der gut angezogenen Menschen, des perlenden Lachens, der unangestrengten Pointen, der honiggleich fließenden Konversation, die nur vom Gläserklang unterbrochen wird, von der Küche trennt. Der Küche, der Parallelwelt, in der in denselben Minuten Blut fließt, weil sich jemand geschnitten hat, in der geschluchzt wird, weil die Nerven kapitulieren, wo gebrüllt und getobt und gelitten wird. Aber auch jubiliert.

Diese Tür stoße ich jetzt auf. Niemand nimmt mich zur Kenntnis. Da stehen sechs Jungs in den verschiedenen Ecken der Küche, sie arbeiten schweigend, den Blick auf ihren Brettern, sie schauen nicht hoch. Ich betrete die Küche, gehe einen Schritt hinein, dann zwei, dann drei. »Hello«, sage ich, meine Stimme klingt hohl, die Belüftungsanlage übertönt sie. Ich gehe noch weiter hinein in die Küche, rufe: »Sorry!«, da blicken sie mich an. »Raus, raus hier mit den Straßenklamotten!«, ruft ein langer Blonder, dessen Stirn von tiefen Furchen durchzogen ist. Es ist Josh, wie ich später noch erfahren würde, der Souschef, er ist zweiundzwanzig. Der stellvertretende Küchenchef steht in der Hierarchie direkt unter dem Head Chef, dem Küchenchef. Ich husche zurück, auf die Schwelle der Schwingtür, halte ihre Flügel mit beiden Armen geöffnet. »Ich bin hier zum Probearbeiten!«, sage ich. Josh schaut mich an, die anderen auch. Alle schweigen. »Okay«, sagt Josh schließlich, ich solle ihm folgen. Hannah, die Chefin, sei heute nicht da, werde ich aufgeklärt, sie käme aber am Abend. Ich solle ihm folgen. Er bringt mich durch ein Gängelabyrinth zur Personalumkleide. »Zieh dich um«, sagt er, gibt mir ein gebügeltes Geschirrtuch und eine dieser blau-weiß gestreiften Schürzen, die man über der Uniform trägt. Das Geschirrtuch ist seitlich am Körper zu tragen, gehalten vom Schürzenband. Er schließt die Tür, ich atme erst einmal durch. Ziehe mich umständlich um, »was ist denn, wie lange brauchst du noch?«, ruft Josh ungeduldig von draußen. Ich öffne die Tür, Josh schreitet schon voran, durch die Gänge, durchs Restaurant, durch die Schwingtür, die Schicksalspforte. »Okay, Jungs, das hier«, er schaut auf einen Zettel, »ist Venera, no Verona, no, Verana, what a strange name, fuck it, die ist zum Probearbeiten da. Sie gehört heute dir, Smart!«

Smartson, genannt Smart, Brasilianer, muskulös, zurückhaltend, misstrauisch, war der Demi Chef de Partie. Der Demi Chef ist derjenige, der unter dem Chef de Partie arbeitet, dem Postenchef, demjenigen, der die Verantwortung für eine bestimmte Sektion in der Küche hat, die da sein kann: Gardemanger, also Vorspeisen. Oder Fleisch. Oder Pâtisserie. Demi Chef Smart war nur eine Hierarchiestufe über mir, aber ich musste wie ein Hündchen seinen Anordnungen folgen und wenn ich was falsch machte, bekam er den Anpfiff. Und zwar nicht von ganz oben, sondern von dem, der wiederum eine Stufe höher war als er.