Die Jagd auf das chinesische Phantom - Bastian Obermayer - E-Book

Die Jagd auf das chinesische Phantom E-Book

Bastian Obermayer

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Beschreibung

Er steht mit einem Kopfgeld von fünf Millionen Dollar auf der Most-Wanted-Liste des FBI. Er steckt hinter vielen Konflikten dieser Welt. Er wird seit fast zwei Jahrzehnten von Geheimdiensten wie CIA, NSA, MI6, Mossad, BND gejagt: Der Chinese Karl Lee gilt ihnen als gefährlichster Mann der Welt. Es beginnt in Cambridge, Massachusetts. Ein ehemaliger FBI-Analyst meldet sich aus dem Nichts bei den Autoren, international bekannten Investivativreportern. Er berichtet von der langjährigen Suche nach einem Chinesen, der gefährlichste Waffentechnik verkauft. Der alle Embargos unterläuft. Der brutalste Diktatoren unterstützt. Der hinter den Kriegen der Gegenwart und der Zukunft steckt. Die Jagd auf Karl Lee beginnt 2006, noch unter George W. Bush, sie wird ausgeweitet unter Obama, fortgeführt von Trump und Biden. Er reist um die Welt, doch nie gelingt es den Geheimdiensten des Westens, ihn zu fassen. Warum nicht? Wer schützt Karl Lee? Die Autoren nehmen die Spuren auf. Ihre Recherchen führen sie durch Europa, Israel, die USA, bis nach Asien. Sie geraten immer tiefer in die Abgründe der Geheimdienste und blicken hinter die Kulissen der internationalen Politik. In China schließlich verstehen sie, worum es wirklich geht. Das neue Buch der preisgekrönten Investigativjournalisten ist die Geschichte einer spektakulären Recherche, ein Lehrstück über die Machtlosigkeit des Westens und über den Aufstieg Chinas und ein erbarmungsloser Blick auf die neue Weltordnung. »Hellsichtig, spannend und lebendig erzählt« Luke Harding

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Seitenzahl: 326

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Christoph Giesen / Philipp Grüll / Frederik Obermaier / Bastian Obermayer

Die Jagd auf das chinesische Phantom

Der gefährlichste Waffenhändler der Welt oder: Die Ohnmacht des Westens

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Christoph Giesen / Philipp Grüll / Frederik Obermaier / Bastian Obermayer

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Christoph Giesen / Philipp Grüll / Frederik Obermaier / Bastian Obermayer

Christoph Giesen, geboren 1983, ist China-Korrespondent des SPIEGEL. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Helmut-Schmidt-Journalistenpreis und dem Wächter-Preis.

Philipp Grüll, geb. 1982, ist Redakteur beim ARD-Politikmagazin report München und Autor von Dokumentationen und Reportagen für das Erste, BR und arte. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Axel-Springer-Preis, dem Georg-Schreiber-Preis und dem Hermann-Schultze-Delitzsch-Preis.

Frederik Obermaier, geboren 1984, ist Leiter des Recherchebüros paper trail media, das für den SPIEGEL arbeitet. Er ist Mitglied im International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ). Seine journalistische Arbeit wurde unter anderem mit dem Nannen-Preis, dem Reporterpreis, dem CNN-Award, dem Wächterpreis und dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Bastian Obermayer, geboren 1977, ist Leiter des Recherchebüros paper trail media, das für den SPIEGEL arbeitet. Er ist ebenfalls Mitglied des ICIJ. Für seine Reportagen und Recherchen erhielt er unter anderem den Theodor-Wolff-Preis, den Henri-Nannen-Preis, den Wächterpreis sowie – für die »Panama Papers« – den Pulitzer-Preis.

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Über dieses Buch

Er steht mit einem Kopfgeld von fünf Millionen Dollar auf der Most-Wanted-Liste des FBI. Er steckt hinter vielen Konflikten dieser Welt. Er wird seit fast zwei Jahrzehnten von Geheimdiensten wie CIA, NSA, MI6, Mossad, BND gejagt: Der Chinese Karl Lee gilt ihnen als gefährlichster Mann der Welt.

Es beginnt in Cambridge, Massachusetts. Ein ehemaliger FBI-Analyst meldet sich aus dem Nichts bei den Autoren, international bekannten Investivativreportern. Er berichtet von der langjährigen Suche nach einem Chinesen, der gefährlichste Waffentechnik verkauft. Der alle Embargos unterläuft. Der brutalste Diktatoren unterstützt. Der hinter den Kriegen der Gegenwart und der Zukunft steckt.

Die Jagd auf Karl Lee beginnt 2006, noch unter George W. Bush, sie wird ausgeweitet unter Obama, fortgeführt von Trump und Biden. Er reist um die Welt, doch nie gelingt es den Geheimdiensten des Westens, ihn zu fassen. Warum nicht? Wer schützt Karl Lee?

Die Autoren nehmen die Spuren auf. Ihre Recherchen führen sie durch Europa, Israel, die USA, bis nach Asien. Sie geraten immer tiefer in die Abgründe der Geheimdienste und blicken hinter die Kulissen der internationalen Politik. In China schließlich verstehen sie, worum es wirklich geht.

Das neue Buch der preisgekrönten Investigativjournalisten ist die Geschichte einer spektakulären Recherche, ein Lehrstück über die Machtlosigkeit des Westens und über den Aufstieg Chinas und ein erbarmungsloser Blick auf die neue Weltordnung.

Inhaltsverzeichnis

00. Prolog

01. Wanted by the FBI

02. Im Land des Schwarzen Drachen

03. In der Hauptstadt der Spionage

04. Kind der Revolution

05. Raketenwissenschaft an der Themse

06. Die Spur nach Europa

07. »Werdet reich!«

08. Angeklagt in Abwesenheit

09. Rätselhafte Studenten

10. Die Spur in den Panama Papers

11. Im Zeichen des Glücks

12. Unter Agenten

13. Mysteriöse Todesfälle im Iran

14. Exporteure des Todes

15. Offensive gegen Karl Lee

16. Chinas großes Spiel

17. Es regnet Raketen

18. Der Feuerring um Israel

19. Auge in Auge mit Chinas Außenminister

20. Trumps Trumpf

21. Jagen wie die Krokodile

22. Auf nach Heilongjiang

23. Der ferngesteuerte Tod

24. Die Omertà von Dalian

25. Duftender Frühling

26. Wie im Kino

27. Angriff auf die Ukraine

28. Ende mit Schrecken

Dank

Anmerkungen der Autoren

Literaturverzeichnis

00.Prolog

Es ist kurz nach Mitternacht, als das Flugzeug mit dem Schattenkrieger an Bord auf der Landebahn aufsetzt. Aus Sicherheitsgründen hat der General eine gewöhnliche Passagiermaschine genommen; wie immer stehen auf der Boardingliste weder sein echter Name noch die seiner Begleiter. Diesmal jedoch haben Spitzel beobachtet, wie er in Damaskus in eine Maschine der syrischen Airline Cham Wings gestiegen ist. Israelische und amerikanische Geheimdienste können ihn orten, denn sie haben die Daten seiner Handys. Als Flug 6Q501 nach rund einer Stunde auf dem Rollfeld des internationalen Flughafens Bagdad zum Stehen kommt, wissen sie in der CIA-Zentrale in Langley längst Bescheid.

Die Winternacht ist mild, und es weht ein leichter Wind, als Qasem Soleimani aus dem Airbus A320 steigt und die Gangway hinabschreitet: ein grauhaariger Soldat mit kurz geschorenem Bart und dunklen Augen, ein kleiner Mann mit großer Macht. Einer der Staatsfeinde der USA und Israels. Er wird nicht mehr lange leben.

Soleimani kam 1957 in Rabor zur Welt, einem verarmten Bergdorf im Osten des Iran. Nach dem Sturz des Schahs 1979 trat er den Revolutionsgarden bei, einer Art Parallelarmee zu den regulären Streitkräften. Er half mit, im Nordwesten des Landes einen Aufstand der Kurden niederzuschlagen, und als der irakische Diktator Saddam Hussein in den Iran einmarschierte, ging er an die Front. In den Jahren des Krieges mit dem Irak, der bis 1988 dauert und das Land traumatisiert, erlebte Soleimani einen rasanten Aufstieg. Durch Kommandooperationen hinter den feindlichen Linien wurde er zum Helden, und schon bald stand er – noch keine 30 Jahre alt – an der Spitze einer ganzen Division.

1998 übertrug ihm die Führung der Revolutionsgarden den Befehl über die Quds-Brigaden: eine Mischung aus Geheimdienst, militärischen Spezialeinheiten und professionellen Waffenschiebern. Ihr Auftrag: den Einfluss des Iran ausweiten, Gegner ausforschen, sabotieren und ermorden.

Unter seiner Führung versuchen die Brigaden beispielsweise, einen Killer eines mexikanischen Drogenkartells anzuheuern, um den saudischen Botschafter in den USA in die Luft zu sprengen. In Deutschland lassen sie den früheren Präsidenten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Reinhold Robbe, für einen Anschlag ausspähen.

Soleimani ist Teherans Strippenzieher in so ziemlich jedem Konflikt im Nahen Osten – so sehen es die westlichen Geheimdienste. Im Libanon unterstützen seine Quds-Brigaden die Hisbollah-Miliz, im Irak kontrollieren sie die mächtigsten schiitischen Milizen, im Jemen liefern sie Waffen an die Huthi-Rebellen – und in Syrien hält sich Diktator Baschar al-Assad auch dank Soleimanis Leuten an der Macht. Sie schicken Soldaten und Berater, und sie liefern Waffen, zum Beispiel Raketen, die es ihren Verbündeten erlauben, aus der Entfernung zu töten.

»Soleimani ist der mächtigste Einzelakteur im Nahen Osten«, sagte der ehemalige CIA-Agent John Maguire dem Magazin New Yorker. Die Vereinigten Staaten werfen ihm Terroranschläge und zahlreiche Angriffe auf US-Truppen vor – und zwar nicht nur in Nahost, sondern auch in Bangkok, Neu-Delhi, Lagos und Nairobi. Für Zehntausende Tote soll Qasem Soleimani verantwortlich sein.

In jener Januarnacht 2020 erwartet ihn unten an der Gangway sein Vertrauter Abu Mahdi al-Muhandis. Er ist Soleimanis Statthalter im Irak und befehligt die Schiiten-Miliz Kataib Hisbollah, eine Art iranische Stellvertreterarmee. Zwar bekleidet al-Muhandis kein offizielles Amt, dennoch geschieht gegen seinen Willen nicht viel im Irak.

Eine Toyota-Limousine und ein Hyundai-Minibus stehen am Rollfeld bereit. Sie sollen Soleimani und seine Begleiter in die Innenstadt bringen. Weit oben am Nachthimmel kreisen jedoch bereits zwei Drohnen des Typs MQ-9 Reaper. Sie haben einen langen Weg hinter sich: Stunden zuvor sind sie mehr als tausend Kilometer entfernt in Katar von der US-Militärbasis al-Udeid aufgestiegen, wie etliche Medien später berichten. Gesteuert werden sie von Piloten, die auf der anderen Seite der Welt, auf der Creech Air Force Base in Nevada, vor ihren Bildschirmen sitzen. Der Name der Drohnen, Reaper, bedeutet auf Deutsch: Sensenmann.

In Florida, über dem Ferienort Palm Beach, senkt sich in jenen Minuten die Spätnachmittagssonne. Zwei Tage zuvor feierte der damalige US-Präsident Donald Trump in seinem Luxushotel Mar-a-Lago eine große Silvesterparty, vor ein paar Stunden spielte er noch eine Runde Golf. Jetzt beobachtet er Qasem Soleimani live am Flughafen in Bagdad. Auf seinem Bildschirm sieht Trump das Signal der Drohnenkamera, und er hört, wie seine Militärs einen Countdown herunterzählen.

In den Monaten zuvor hatte die Welt voller Sorge auf den Iran und den Persischen Golf geblickt. Im Sommer war es immer wieder zu mysteriösen Attacken auf Öltanker in der Straße von Hormus gekommen – jener Meerenge, durch die ein Fünftel der weltweiten Öltransporte geht. Dann wurden im September in Saudi-Arabien ein riesiges Ölfeld und eine der wichtigsten Raffinerien der Welt mit Drohnen und Raketen angegriffen.

Bis zum Winter verschärften sich die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran dramatisch, bis es kurz nach Weihnachten zu einer gefährlichen Kettenreaktion kam: Nach einem Raketenangriff auf einen US-Militärstützpunkt im Nordirak, bei dem ein Amerikaner gestorben war, machten die USA die irakische Schiitenmiliz von Soleimanis Freund al-Muhandis verantwortlich und bombardierten Stellungen der Kämpfer. Mindestens 25 Menschen wurden nach irakischen Angaben getötet.

Kurze Zeit später, Ende Dezember 2019, stürmte in Bagdad eine aufgebrachte Menge auf das schwer bewachte Gelände der amerikanischen Botschaft. »Nieder mit den USA«, riefen die Demonstranten, sie warfen Steine und Molotowcocktails, sie zerschmetterten Fensterscheiben und legten mehrere Feuer. Am Himmel kreisten Kampfhubschrauber, Marines gingen auf den Dächern der Botschaft in Stellung und schossen Tränengas in die Menge. Die Weltmacht USA – sie wurde bedrängt und gedemütigt von einem wütenden Straßenmob, so schien es. Doch für die US-Amerikaner stand fest, dass es sich nicht um eine spontane Protestaktion handelte, sondern dass der Iran den Angriff orchestriert hatte. Sie glaubten, dass er das Werk von Qasem Soleimani war.

Erst am 1. Januar 2020, nach zwei Tagen, endete die Belagerung – und US-Präsident Donald Trump schäumte vor Wut. Kurz darauf traf er eine Entscheidung, vor der seine beiden Vorgänger Barack Obama und George W. Bush zurückgeschreckt waren und mit der Trump selbst enge Berater überraschte: Er ließ die Reaper-Drohnen starten.

Als der US-Präsident in Mar-a-Lago die letzten Sekunden des Countdowns hört, ist es in Bagdad 00.47 Uhr. Der Konvoi Soleimanis biegt auf eine palmengesäumte Allee, die parallel zur Start-und-Lande-Bahn verläuft und vom Flughafengelände herunterführt. Nur 500 Meter sind es noch, dann macht die Straße eine scharfe Rechtskurve und führt anschließend ins Zentrum von Bagdad. Dort will Soleimani am nächsten Morgen den irakischen Premierminister treffen. So weit wird es aber nie kommen. Denn auf der Creech Air Force Base in Nevada hat jemand den Knopf gedrückt. Sekunden später erhellt auf dem Flughafen Bagdad ein gleißender Blitz die Nacht.

Mehrere Hellfire-Raketen zerstören die Fahrzeuge und töten die Insassen. Alles, was vom Konvoi des Generals bleibt, ist ein brennender Haufen Schrott. Es stinkt nach verbranntem Fleisch, wie Augenzeugen später berichten.

Schon nach kurzer Zeit geht ein Foto um die Welt, aufgenommen von jemandem, der offenbar in den Stunden nach dem Attentat vor Ort war. Das Bild zeigt eine dreckverschmierte Hand im Gras, an deren Mittelfinger ein Ring mit einem großen blutroten Stein steckt. Es ist Soleimanis Ring. Damit wird der Mann identifiziert, der schon als Nachfolger von Präsident Hassan Rohani gehandelt wurde und dessen Leben am 3. Januar 2020 an der Ausfahrt des internationalen Flughafens von Bagdad ein abruptes Ende nimmt.

Als das Pentagon bestätigt, dass das US-Militär den iranischen General getötet hat, sitzt Donald Trump gerade in seinem Luxushotel beim Abendessen. Der US-Präsident lässt sich Hackbraten und Eiscreme servieren.

Die iranische Regierung ordnet eine dreitägige Staatstrauer an. Das geistliche Oberhaupt, Ayatollah Ali Khamenei, und Präsident Rohani schwören den Amerikanern Rache. Die Massenproteste gegen das Mullah-Regime in den Monaten zuvor, die Gewaltexzesse der Sicherheitskräfte gegen das eigene Volk – all das scheint vergessen. Die Iraner sind im Zorn vereint. »Nieder mit Amerika« und »Nieder mit Israel« – so schallt es durch die Straßen und über die Plätze Teherans. Aus der Menge ragen Porträts des Getöteten und unzählige Flaggen in Rot, der Farbe der Märtyrer. Es sind Millionen, die dem General in endlosen Trauerzügen das letzte Geleit geben – und die Welt fragt sich: Was kommt nun?

Für die Washington Post und die israelische Zeitung Haaretz sind die Folgen des nächtlichen Drohnenangriffs »unvorhersehbar«. Auf Twitter trendet der Hashtag #WWIII – die Abkürzung für den Dritten Weltkrieg. Die britische Times spricht von einer »dramatischen Eskalation«, die New York Times sieht die USA und den Iran »am Rande eines Krieges«, und die Neue Zürcher Zeitung fürchtet, die ganze Region könne in Brand geraten.

Tatsächlich erklärt der Iran kurz darauf, sich nicht mehr an internationale Beschränkungen zur Urananreicherung halten zu wollen. Das Atomprogramm, das nach jahrelangen, mühsamen Verhandlungen gestoppt wurde, läuft wieder an. Schon bald könnte der Iran erneut nach der Bombe greifen.

Doch in jenen Tagen gibt es eine weitaus größere Gefahr: die Raketen der Iraner. Noch vor wenigen Jahren galten diese wegen ihrer geringen Reichweite und ihrer miserablen Treffgenauigkeit als militärisch weitgehend nutzlos. Die Wahrscheinlichkeit war lange Zeit hoch, dass sie ihr Ziel um Hunderte Meter oder sogar um mehrere Kilometer verfehlen. Doch das Raketenprogramm des Iran hat gewaltige Fortschritte gemacht. Der US-Militärgeheimdienst DIA geht davon aus, dass Teheran über das größte und vielfältigste Arsenal des Nahen Ostens verfügt. Mehr als tausend ballistische Raketen sollen in den Bunkern und Silos des Landes lagern. Die größten sind wohl bis zu 18 Meter lang, mit Reichweiten von bis zu 2000 Kilometern. Sie können Ziele in Saudi-Arabien und Ägypten erreichen, aber auch in Israel und sogar in südosteuropäischen Ländern wie Griechenland. Und sie treffen mittlerweile bis auf wenige Meter genau.

Wenige Tage nach dem Attentat auf Qasem Soleimani beobachten die US-Geheimdienste, wie der Iran seine Raketentruppen in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Für den Fall eines Angriffs droht Donald Trump dem Regime in Teheran auf Twitter mit brutaler Vergeltung: Die USA hätten bereits 52 »strategisch und kulturell« wichtige Ziele im Visier – eine Zahl mit historischer Bedeutung. Jedes dieser Ziele steht für eine der amerikanischen Geiseln, die iranische Studenten 1979 während der Islamischen Revolution in Teheran festgenommen haben. Und der US-Präsident setzt in Großbuchstaben hinzu: »Der Iran wird sehr schnell und sehr hart getroffen werden.«

Die Welt wartet – fünf Tage und Nächte lang. Dann, in den Morgenstunden des 8. Januar, steigt in der westiranischen Provinz Kermanschah ein Feuerball nach dem anderen auf. Es ist das erste Mal, dass der Iran seine gefürchteten ballistischen Raketen gegen seinen Erzfeind USA einsetzt. Die iranischen Revolutionsgarden starten die Operation »Märtyrer Soleimani«.

Schon am Tag zuvor hat das US-Militär seine Basen in der Region in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Auf dem Stützpunkt Ayn al-Asad im Irak, mehrere Hundert Kilometer westlich von Kermanschah, räumen die Soldaten um elf Uhr abends ihre Schlafquartiere und ziehen sich in die jahrzehntealten Bunker zurück, die noch aus der Zeit Saddam Husseins stammen. Die Basis ist einer der größten amerikanischen Stützpunkte im Irak. Die US-Streitkräfte haben dort 1500 Männer und Frauen stationiert, dazu kommen mehrere Hundert Soldaten aus Ländern wie Dänemark, Norwegen oder Polen, die gemeinsam mit den Vereinigten Staaten die Terrorgruppe Islamischer Staat bekämpfen.

Jetzt, in dieser Nacht, sind nur noch die Wachposten auf Position. Die Drohnenpiloten versuchen unterdessen hektisch, ihre teuren Fluggeräte in die Luft und damit in Sicherheit zu bringen.

Um 1.34 Uhr schlägt die erste Rakete ein. Dann folgen drei weitere. Insgesamt detonieren auf dem Stützpunkt mindestens zehn Raketen.

Es ist eine Attacke, die der Welt ein für alle Mal vor Augen führt, wie präzise und hoch entwickelt das Raketenarsenal der Iraner ist – auch dank der Hilfe eines Phantoms. Eines mysteriösen Chinesen, der Eingeweihten als einer der gefährlichsten Männer der Welt gilt.

Wenn auf einer Militärbasis im Nahen Osten Soldaten der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten in die Bunker hasten, wenn in der Ukraine Menschen im Raketenhagel sterben, wenn in Tel Aviv Sirenen heulen, im Jemen Kinder verhungern und ein steigender Ölpreis nach einem Angriff auf saudische Förderanlagen die Weltwirtschaft erschüttert, dann kann es sein, dass er damit zu tun hat. Wenn in Washington und Peking, Genf und New York Diplomaten über Abrüstung streiten, dann fällt sein Name. Der Mann ist eine Schlüsselfigur im Ringen der Supermächte USA und China um Macht und Einfluss.

Die westlichen Geheimdienste versuchen seit mehr als zwei Jahrzehnten, ihn zu stoppen – mindestens ein US-Präsident hat sich persönlich eingeschaltet und in Peking interveniert.

Doch er scheint unantastbar, die Fahndung nach ihm läuft bis heute, und die wenigsten Menschen haben bislang seinen Namen gehört.

Er ist das chinesische Phantom.

01.Wanted by the FBI

Karl Lee blickt direkt in die Kamera. Den Kopf mit der ausgeprägt breiten Kinnlade hat er leicht in den Nacken gelegt, sein Gesichtsausdruck ist teilnahmslos. Oder ist da die leise Andeutung eines Lächelns? Schwer zu sagen, die Bildqualität ist nicht gut genug.

Seine dichten schwarzen Haare fallen ihm leicht gewellt in die Stirn, berühren die dunklen Augenbrauen. Die Lippen voll, das rechte Augenlid hängt ein wenig, und knapp unter seinem rechten Nasenloch ist ein Muttermal zu erahnen – das haben die Fahnder des FBI auch als »besonderes Kennzeichen« vermerkt. Die Beamten haben außerdem notiert, dass Karl Lee fünf Fuß und sieben Zoll groß sein soll – also umgerechnet 1,70 Meter – und etwa 150 Pfund oder 68 Kilogramm schwer, die Augen: braun, Geschlecht: männlich, Herkunft: asiatisch, Nationalität: chinesisch.

Das Auffallendste an dem Poster ist der gefettete rote Schriftzug direkt über dem Foto: »WANTED BY THE FBI« steht da in Großbuchstaben, »GESUCHT VOM FBI« – von der Ermittlungsbehörde, die gleichzeitig ein Geheimdienst ist. Die US-Ermittler haben Karl Lee auf ihrer legendären Most-wanted-Liste zur Fahndung ausgeschrieben, gemeinsam mit Serienmördern, Missbrauchstätern und Menschenhändlern, mit Millionenbetrügern, ausländischen Spionen und Terroristen. Doch gegen ihn erscheinen fast all die anderen wie kleine Fische, denn auf niemanden ist derzeit ein höheres Kopfgeld ausgesetzt: Wer entscheidend zu Karl Lees Verhaftung beiträgt, kann sich fünf Millionen Dollar verdienen.

Jemanden, den das FBI weltweit mit einem derart hohen Kopfgeld sucht, kann man wohl gemeinhin als einen Staatsfeind der USA bezeichnen. Fünf Millionen – das ist die internationale Topliga des Verbrechens. Auf den Chef des mexikanischen Sinaloa-Kartells, Joaquín »El Chapo« Guzmán, hatten die US-Behörden einst dieselbe Summe ausgesetzt. Auch für Hinweise zur Festnahme von al-Qaida-Chef Osama bin Laden schrieben die USA fünf Millionen Dollar aus, nachdem er 1998 die Anschläge auf die US-Botschaften in Daressalam und Nairobi organisiert hatte.

Karl Lee ist jedoch kein Drogenboss, und er befehligt auch keine Terrorgruppe. Er ist ein unscheinbarer Kaufmann aus einer entlegenen Provinz Chinas.

Seinetwegen stehen wir an einem klaren Tag im Februar 2018 in Cambridge, Massachusetts, auf dem Gelände der ältesten Universität der Vereinigten Staaten – und auch der wohl berühmtesten. Sie hat 161 Nobelpreisträger hervorgebracht. John F. Kennedy hat hier ebenso studiert wie George W. Bush, Barack Obama und fünf weitere US-Präsidenten.

»Veritas« lautet das Motto der 1636 gegründeten Harvard University – Wahrheit. So steht es am gusseisernen Torbogen, durch den wir den Harvard Yard betreten haben: eine Rasenfläche, so groß wie vier Fußballfelder, auf der sich rund ein Dutzend Backsteingebäude befinden. Angela Merkel wird hier ein Jahr später die Abschlussrede für die Absolventen halten, nur ein paar Schritte weiter startete Mark Zuckerberg Facebook; im Currier House, einem Studentenwohnheim auf dem Gelände, lebte Bill Gates, bis er Harvard ohne Abschluss verließ, um eine Firma namens Microsoft zu gründen. Und nebenan, am Harvard Square, kopierte der Whistleblower Daniel Ellsberg 1969 in einem Copyshop die streng geheimen Pentagon Papers, die bewiesen, dass die Öffentlichkeit über den Vietnamkrieg getäuscht wurde.

Und dann ist da noch die Harvard Kennedy School: eine der elitärsten Fakultäten der ohnehin schon elitären Harvard-Universität. Die Schule unten am Charles River ist ein Tummelplatz von Diplomaten und solchen, die es werden wollen, von Geheimdienstangehörigen und Militärs. Hier wird man zur selben Zeit angehende, aktuelle und ehemalige Mitarbeiter des israelischen Geheimdienstes Mossad finden, des britischen MI6 und der US-amerikanischen Geheimdienste NSA und CIA. Aber auch privilegierte chinesische Kader und nahöstliche Autokraten schicken ihre Sprösslinge hierher, oft unter falschem Namen – sogar die Tochter von Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping hat hier studiert.

Wir sind mit einem Mann verabredet, dessen Spezialgebiet die Jagd ist: auf jene, die Diktatoren dieser Welt mit Raketen und Sprengköpfen versorgen. Er hat für das US-Justizministerium gearbeitet, für das Pentagon und das FBI.

Er war auch für Booz Allen Hamilton tätig, die Firma, die vieles erledigt, was das FBI nicht selbst erledigen möchte. Das Unternehmen geriet vor einigen Jahren in die Schlagzeilen, weil dort auch ein gewisser Edward Snowden gearbeitet hatte, bevor er flüchtete, sein Wissen an Journalisten weitergab und zum weltberühmten Whistleblower wurde.

Aaron Arnold hat uns über einen Mittelsmann kontaktiert. Er wolle reden, ließ er uns ausrichten. Worüber? Unklar. Auch wenn man uns schon früh gewarnt hat, dass sich an der Harvard University Mitarbeiter aller möglichen Geheimdienste und Diplomaten rumtreiben, die Journalisten für ihre Sache vereinnahmen wollen, sagen wir zu. Denn eines haben wir in den vergangenen Jahren gelernt: Wenn sich ein so hochkarätiger Experte wie Arnold meldet und sprechen will, sollten wir erst einmal zuhören – man weiß nie, ob daraus nicht eine Geschichte werden könnte.

Wir treffen ihn im »Charlie’s Kitchen«, einer zweistöckigen Bar. Hierher kommen Dozenten, die auf Veröffentlichungen anstoßen wollen, oder Studenten, die ihren Tag bei Tintenfischringen und kräftigem India Pale Ale ausklingen lassen.

Als wir an diesem Dienstagnachmittag den Innenhof der Bar betreten, riecht es nach gebratenen Burgern, aus den Lautsprechern dröhnt Hardrockmusik, auf der Theke reihen sich die Bierflaschen. Und da steht Arnold auch schon vor uns: verspiegelte Sonnenbrille, roter Vollbart, Glatze, schmal geschnittener Anzug. Der Jäger.

Er grüßt mit festem Händedruck und führt uns zu seinem Stehtisch. Er bestellt Bier für alle, lässt einen Korb mit frittierten Tintenfischen kommen, die hier zu so ziemlich allem serviert werden, und dann fängt er an, von einem geheimnisvollen Unbekannten zu erzählen, der angeblich die amerikanischen Behörden an der Nase herumführt. Der sich seit zwei Jahrzehnten verstecken soll und schneller Firmen gründen und abwickeln lässt, als seine Verfolger schauen können. Sein Name ist Karl Lee – ein Waffenhändler, der laut Aaron Arnold in einer kaum durchschaubaren Halbwelt operiert und seine todbringenden Waren um den halben Globus verschifft. »Obwohl ihn Ermittler auf der ganzen Welt seit Jahren suchen, bleibt er ein Phantom«, sagt der ehemalige FBI-Analyst. Und nichts könne seine tödlichen Geschäfte stoppen.

Arnold erzählt, dass er auf Karl Lee gestoßen sei, als er vor einigen Jahren beim FBI Counterproliferation Center – kurz: CPC – angefangen habe. Die Spezialeinheit wurde 2011 gegründet, ihr Logo zeigt einen grimmigen Adler, auf dessen Kopf die US-Flagge projiziert ist; darunter eine Weltkugel und mehrere Zeichen für gefährliche Substanzen, das grelle schwarz-gelbe Atomsymbol etwa und das Warnschild für chemische Giftstoffe. Die Einheit, so die Selbstbeschreibung, soll den Schmuggel sensibler Technologien unterbinden, die für Massenvernichtungswaffen, Raketen, Weltraumwaffen oder konventionelle Waffen verwendet werden können.

Karl Lee stehe schon seit Jahren ganz oben auf der Liste der Ermittler, erzählt Aaron Arnold, während er neues India Pale Ale an den Tisch winkt. Der Chinese stelle fast alle anderen Fälle des FBI in den Schatten.

Die Tintenfischringe lässt der Ex-FBI-Mitarbeiter stehen. Er redet sich in Fahrt.

»Karl Lee ist nicht nur für die Vereinigten Staaten eine Bedrohung«, sagt Arnold. »Er ist eine Gefahr für die ganze Welt.«

Das Geschäft von Männern wie Karl Lee lebt vom Streben nach Macht. Tödlicher Macht. Schon seit Jahrzehnten versuchen die Regierungen einiger Schwellenländer, an Waffen zu kommen, die sie unantastbar machen. Massenvernichtungswaffen, die auf einen Schlag Hunderttausende töten können und die jeden Angriff auf diese Länder zu einem unbeherrschbaren Risiko werden lassen – für Weltmächte wie die Vereinigten Staaten und Russland, aber auch für rivalisierende Staaten in der jeweiligen Weltregion.

Biologische Kampfstoffe, Giftgas oder eine Atombombe dienen allerdings nur dann als wirksame Abschreckung, wenn man sie über weite Strecken hinweg feuern kann. Und hier kommen Raketen ins Spiel – und Männer wie Karl Lee.

Für Länder wie den Iran oder Nordkorea sei es schwierig, an Material für den Bau von Raketen und Sprengköpfen zu gelangen, erklärt Aaron Arnold. Das liege an den Sanktionen, die wegen ebendieser Rüstungsprogramme verhängt wurden. Deshalb seien Geschäftsleute mit Erfahrung und den richtigen Kontakten nötig. Fachleute, die das Vertrauen von Wissenschaftlern und Militärs genießen, die wissen, welchen Beamten sie schmieren und welche Transportrouten sie wählen müssen, um nicht erwischt zu werden. Zuverlässige Spezialisten, die Bauteile und Materialien in höchster Qualität liefern – am besten in großen Mengen und über viele Jahre.

Karl Lee sei ein solcher Spezialist – ja sogar der Spezialist.

Der chinesische Geschäftsmann betreibe dieses Geschäft in einem Ausmaß, das man von anderen Fällen nicht kenne, sagt Arnold. Trotz all der Geheimdienste und Ermittlungsbehörden, die hinter ihm her seien, mache er einfach weiter. »Es ist wie ein Katz-und-Maus-Spiel«, sagt der Jäger, der von Karl Lee erkennbar fasziniert und frustriert zugleich ist. Denn es ist ein Spiel, bei dem bislang immer der Gejagte gewinnt.

»Karl Lee umgibt eine Aura des Geheimnisvollen«, fährt Aaron Arnold fort. Und tatsächlich kenne in der Öffentlichkeit kaum jemand den Namen des Chinesen oder gar sein Aussehen. Es gebe nur wenige Artikel über ihn. Dabei rangiere Karl Lee auf der Liste der CIA so weit oben, dass sich Spezialeinheiten wie jene, die Osama bin Laden getötet hat, schon in ihrer Ausbildung sein Gesicht einprägten. Bereits unter George W. Bush seien die USA auf Karl Lee gestoßen, sagt Arnold, unter Barack Obama hätten ihn das FBI und andere Behörden gejagt, und nun versuchten sie es weiter. Ohne Erfolg. Die Behörden wüssten, dass er den Iran beliefere, wo er sich in China aufhalte, mit welchen Flugzeugen er nach Teheran fliege, wen er dort treffe. Aber Karl Lee scheine unantastbar zu sein. Auch bei US-chinesischen Regierungsgesprächen ist er laut Arnold immer wieder Thema, doch es passiere einfach nichts. Die chinesischen Diplomaten hörten sich seit Jahren die Klagen ihrer amerikanischen Amtskollegen an und ließen sich allerlei Berichte und Depeschen schicken. Karl Lee aber mache einfach weiter.

Zu den Fragen, die weder Arnold noch seine ehemaligen Kollegen beantworten können, gehört, ob Karl Lee auf eigene Rechnung arbeitet oder ob er das Gesicht einer Gruppe von Kriminellen ist, eines chinesischen Geheimdienstes, der chinesischen Behörden – oder sogar mehrerer Regierungen. Und was würde das bedeuten?

Karl Lees Spitzname sei »The Tailor«, sagt Aaron Arnold: »der Schneider« – weil er maßgeschneiderte Lösungen für jedes Problem finde. In der Praxis heißt »Problem« meist: eine Hürde der internationalen Behörden, die diese Art des Schmuggels unterbinden wollen. Grenzkontrollen, Satellitenüberwachung, Zoll. Diese Hürden überspringt Karl Lee offenbar wie kein anderer.

Als hielte jemand seine schützende Hand über den mysteriösen Waffenhändler.

02.Im Land des Schwarzen Drachen

Gannan, ein Landstrich in Chinas hohem Norden: Zur russischen Grenze, dort, wo Sibirien beginnt, ist es nicht mehr weit, und die Provinz Innere Mongolei liegt auch nur ein paar Kilometer entfernt. Eine Einöde, und doch kennen viele Chinesen diese entlegene Gegend – und zwar wegen der Mäuse, die hier einst vom Himmel gefallen sein sollen.

Es sind die späten Abendstunden des 4. April 1952, seit fast zwei Jahren tobt der Koreakrieg, in dem China Hunderttausende Freiwillige aufseiten Nordkoreas kämpfen lässt, als kurz vor Mitternacht Rotorengeräusche eines Flugzeugs zu hören sind, das sich von Südosten nähert. Zuvor registrierte ein chinesischer Luftbeobachtungsposten, wie ein amerikanisches F-82-Nachtjagdflugzeug die Grenze zwischen China und Nordkorea überflog, mit Kurs auf Gannan – eine Maschine, die speziell für geheime Missionen im Schutz der Dunkelheit konstruiert worden war. Am nächsten Morgen finden die Bewohner angeblich Hunderte Wühlmäuse auf den Straßen, in Heuhaufen, in Brunnen, auf Dächern und sogar in den Betten ihrer schlafenden Kinder. Die Tiere sind im Todeskampf oder bereits tot. Es sind keine heimischen Mäuse, sie gehören zu einer Gattung, die in Gannan nicht vorkommt: mit kurzem Schwanz, grauschwarzem Rücken und hellgrauem Bauch.

Als chinesische Wissenschaftler später eine Autopsie mehrerer Tiere vornehmen, finden sie in den Kadavern angeblich Pesterreger. Alle Indizien passen zu einem Verdacht, der sich in China bis heute hält: Haben die Amerikaner infizierte Wühlmäuse vom Himmel geworfen, als biologische Waffe?

China, Nordkorea und die Sowjetunion behaupten damals, die Amerikaner würden im Koreakrieg Biowaffen einsetzen. Eine internationale, von einem Briten geleitete Untersuchungskommission reist daraufhin nach Gannan, lässt sich die Mäuse zeigen, befragt vor Ort Zeugen und bestätigt schließlich die Vorwürfe.

Erst ein halbes Jahrhundert später können Wissenschaftler Akten aus sowjetischen Archiven auswerten, die nahelegen: Peking, Pjöngjang und Moskau haben die Vorwürfe erfunden, um die USA zu diffamieren. Die internationale Untersuchungskommission wurde offenbar in die Irre geführt, unter anderem durch falsche Zeugen.

Gannan, das in China zeitweise zu einem Sinnbild für die Skrupellosigkeit der Vereinigten Staaten wird, gehört zu Heilongjiang. Die Provinz liegt im äußersten Nordosten des Landes und ist größer als Deutschland, ein flacher, endlos weiter Landstrich, in dem die Temperaturen im Winter unter 40 Grad minus fallen. Am ehesten dürften Wildtierexperten von diesem entlegenen Winkel der Welt gehört haben, denn dort befindet sich eines der letzten Reservate des Sibirischen Tigers. Die vom Aussterben bedrohten Tiere streifen durch Wälder und Sümpfe am Heilongjiang. Der Strom gab dieser Provinz ihren Namen, der auf Deutsch »Fluss des Schwarzen Drachen« bedeutet.

In den Dreißigerjahren besetzte Japan Teile Chinas, darunter auch Heilongjiang. Mitte der Vierzigerjahre gehörte die Provinz zu den ersten, die von der chinesischen Volksbefreiungsarmee zurückerobert wurden. Die Kommunistische Partei schickte bald die besten Handwerker und Ingenieure dorthin, sie sollten riesige Industriegebiete aufbauen. So wurde Heilongjiang zu einem Zentrum der Schwerindustrie, mit Bergwerken, Fabriken und anderen Produktionsstätten. Millionen Zwangsarbeiter, aber auch gebildete Jugendliche aus den Städten wurden nach Heilongjiang geschickt. Sie lebten in Arbeitslagern und machten das Land urbar, legten Sümpfe trocken und bauten Straßen. Riesige Gemeinschaftsbetriebe – sogenannte Volkskommunen – entstanden, mit Äckern für Soja, Mais, Weizen oder Sonnenblumen, die bis heute Nahrung für Millionen von Menschen liefern.

In Heilongjiang, wo Mythen und Wahrheit gelegentlich verschwimmen, wird 1972 ein Junge geboren, der bis heute Diplomaten, Ermittler und Geheimdienstmitarbeiter aus aller Welt beschäftigt. Er trägt den Familiennamen Li, und seine Eltern nennen ihn Fangwei, was so viel bedeutet wie »Integrität und Größe«. Bekannt wird er später unter einem westlicher klingenden Namen, den er sich offenbar selbst gibt. Er lautet: Karl Lee.

03.In der Hauptstadt der Spionage

Ein grauer Winternachmittag 2019, am Fenster ziehen die schneebedeckten Ausläufer der Alpen vorbei. Unser Zug rollt von München in Richtung Osten. Im Reisegepäck haben wir so ziemlich alles, was wir im Internet über Karl Lee finden konnten, dazu einen Stapel mit Aufsätzen über unterschiedliche Raketentypen und Lenksysteme.

Unser Treffen mit dem ehemaligen FBI-Analysten Aaron Arnold liegt schon einige Zeit zurück. Die Geschichte, die er uns erzählt hat, lässt uns nicht los: Karl Lee handelt mit dem Tod. Er liefert entscheidende Bauteile für Massenvernichtungswaffen. Seit er elektronische Mess- und Steuerungsgeräte an das Regime in Teheran verkauft, werden die iranischen Raketen Jahr für Jahr leistungsfähiger, präziser und tödlicher. Sie bedrohen Israel und kommen immer häufiger zum Einsatz: im Jemen, in Saudi-Arabien, im Irak oder auch gegen die Vereinigten Arabische Emirate. Karl Lee ist mitverantwortlich für den Tod vieler Menschen, und was noch viel wichtiger ist: Er könnte damit in naher Zukunft mitverantwortlich für den Tod Hunderter, Tausender, Hunderttausender weiterer Menschen sein. Dann nämlich, wenn der Iran durch Karl Lees Bauteile entscheidend vorankommen sollte beim Bau von Atomsprengköpfen und immer leistungsfähigeren Raketen und ein nukleares Duell von bis aufs Blut verfeindeten Ländern vielleicht eines Tages bis zur Vernichtung ausgetragen wird – oder gar ein dritter Weltkrieg.

Dass die Iraner an Atomwaffen arbeiten, zeichnet sich bereits nach der Jahrtausendwende ab. Um 2004 berichtet ein Informant des Bundesnachrichtendienstes (BND) von zwei Geheimvorhaben der iranischen Regierung: »Projekt 110« habe den Bau einer Atombombe zum Ziel, »Projekt 111« einen nuklearen Sprengkopf, der in eine iranische Rakete passt. Die Quelle, so schildert es später die Zeit, ist ein iranischer Raketentechniker. Sein Deckname: Delphin. Immer, wenn er den Iran verlässt – etwa für eine Konferenz –, übergibt er dem BND neue Informationen: Details zum iranischen Atomprogramm. Schon bald zieht der deutsche Geheimdienst den Mossad ins Vertrauen, auch die CIA. Doch dann fliegt der Informant auf. Er wird festgenommen und hingerichtet.

Die Vorstellung, dass der Iran in den Besitz eines Atomsprengkopfs gelangt, der mit einer Rakete auf Israel oder gar Europa abgefeuert werden könnte, treibt seither Diplomaten und Geheimdienstler auf der ganzen Welt um. Schon seit Jahren sollen CIA, NSA und FBI deswegen hinter Karl Lee her sein, ebenso der MI6, der Mossad und auch der BND.

Wenn stimmt, was Aaron Arnold sagt, dann hat er uns auf eine Schlüsselfigur in einem der gefährlichsten Konflikte unserer Zeit aufmerksam gemacht – und auf eine faszinierende Geschichte. Andererseits: Was, wenn es sich bei seiner Kontaktaufnahme um ein PR-Manöver handelt, mit dem die Geschichte eines bösen Chinesen in die Schlagzeilen gebracht werden soll, der den bösen Iranern verheerende Waffen liefert? Was, wenn der ehemalige FBI-Analyst auf uns angesetzt worden ist – von seinem früheren Arbeitgeber zum Beispiel oder von der CIA, mit der er längere Zeit zusammengearbeitet hat? Schließlich regiert damals in Washington seit zwei Jahren Donald Trump – ein Mann, der keine Gelegenheit auslässt, den Iran und China an den Pranger zu stellen. Die Karl-Lee-Geschichte würde perfekt zur Agenda der damaligen US-Regierung passen.

Bevor wir uns also ganz in diese Recherche stürzen, wollen wir eine weitere Meinung einholen – bei jemandem, der sich in der Welt der Atombomben und Raketen ebenso gut auskennt wie Aaron Arnold, der aber nicht aus den Vereinigten Staaten stammt.

Wir fahren also nach Wien. Österreichs Hauptstadt gilt seit der Zeit der Kaiser und Könige als eines der globalen Zentren der Spionage. Vieles von dem, was dort verhandelt wird, soll – wenn es nach Diplomaten, Agenten und Spionen ginge – nie bekannt werden.

Aber von Zeit zu Zeit blitzt etwas aus dem Dunkel auf und wird sichtbar für die Weltöffentlichkeit. Im Juli 2010 zum Beispiel, als ein amerikanisches Charterflugzeug mit zehn enttarnten russischen Spionen auf dem Flughafen Wien-Schwechat landet und neben einer russischen Militärmaschine mit vier Agenten parkt, die für den Westen spioniert haben: der wohl größte Gefangenenaustausch zwischen den USA und Russland seit Ende des Kalten Krieges. An diesem Tag übergeben die Russen unter anderen einen gewissen Sergej Skripal, der später im britischen Salisbury vergiftet wird – und die Amerikaner einen russischen Spion, der wenige Wochen zuvor in Harvard aufgeflogen war.

Oder am 2. Juli 2013, als die Regierungsmaschine des bolivianischen Präsidenten in Wien notlanden muss. Das Flugzeug ist auf dem Weg von Moskau nach La Paz, als plötzlich mehrere europäische Staaten die Überflugrechte verweigern. Der Grund: Angeblich ist die CIA der Auffassung, der NSA-Whistleblower Edward Snowden sei an Bord. Ist er aber nicht.

Nach knapp zwei Stunden rollt unser Zug über eine Brücke; auf einem Hügel rechts von uns thront eine Festung, unter uns sehen wir einen graugrünen Fluss. Wir haben die Grenze passiert und fahren durch Salzburg: Nun sind wir in Österreich.

1955 hat sich das Land offiziell zur »immerwährenden Neutralität« verpflichtet. Das heißt: Österreich ist nicht im westlichen Verteidigungsbündnis NATO, und es werden keinerlei Militärstützpunkte anderer Staaten auf österreichischem Boden zugelassen. Als Hauptstadt eines neutralen Landes, das direkt an den Ostblock grenzt, bleibt Wien im Kalten Krieg eines der wichtigsten Spionagezentren.

Bis heute ist Österreich »internationale nachrichtendienstliche Drehscheibe« und »ein bevorzugtes Operationsgebiet« für die Geheimdienste ausländischer Staaten, wie der Inlandsnachrichtendienst des Landes einräumt. Das liegt auch an den laxen Gesetzen, die der ehemalige österreichische Geheimdienstchef Gert R. Polli als »Einladung zur Spionage« bezeichnet. Denn Spionage ist in Österreich de facto legal. Solange dort Agenten nur einander ausspionieren und nicht ihr Gastgeberland, haben sie nichts zu befürchten.

Dazu kommt, dass es in Wien etliche interessante Spionageziele gibt: Die Stadt ist neben New York, Genf und Nairobi der vierte Amtssitz der Vereinten Nationen, und die Organisation Erdöl exportierender Länder OPEC hat dort ihr Hauptquartier. Allein das sorgt schon für ein immerwährendes diplomatisches Surren, ein Kommen und Gehen und eine internationale Szene, die weltweit ihresgleichen sucht.

Und wenn es dann noch um Waffen geht, insbesondere um Atomraketen, ist Wien so etwas wie die heimliche Welthauptstadt. Dort sitzt das Abrüstungsbüro der Vereinten Nationen, von dort aus werden einige der wichtigsten Abkommen zur Rüstungskontrolle überwacht. Außerdem hat an der Donau, in einem Stadtteil, der Uno-City genannt wird, die Internationale Atomenergiebehörde IAEA ihren Sitz. Sie soll die friedliche Nutzung der Kernenergie fördern und verhindern, dass strahlendes Material für militärische Zwecke missbraucht wird.

Von der Wiener Zentrale schwärmen die IAEA-Kontrolleure zu ihren Inspektionen hinaus in die Welt. Ihre Proben werten sie in einem Labor 30 Kilometer südlich von Wien aus. Dabei interessiert die IAEA-Experten vor allem eine Frage: Stimmen die Angaben der jeweiligen Regierung zu ihrem Atomprogramm, oder droht aus einer zivilen Nutzung eine militärische zu werden? Diese Frage ist vor allem bei zwei Staaten brisant: Nordkorea und dem Iran.

Als unser Zug in den Wiener Hauptbahnhof rollt, ist es längst dunkel. Die Stadt präsentiert sich an diesem Abend, passend zum Spionageimage, wie in einem Film noir. Fast wie in »Der Dritte Mann«, dem Klassiker mit Orson Welles, der im Wien der Nachkriegszeit gedreht wurde, als der Schwarzmarkt blühte und es von Spionen wimmelte. Die Gassen sind zugig, düster und fast menschenleer. Die wenigen Passanten haben Kragen und Kopfbedeckungen ins Gesicht gezogen, um sich vor dem Schneeregen zu schützen. Straßenlaternen spiegeln sich auf dem nassen Kopfsteinpflaster.

Wir sind mit einem Mann verabredet, der für einen westlichen Staat Geheimdienstberichte ausgewertet hat. Heute arbeitet er in einer sensiblen Position bei einer internationalen Organisation. Er ist einer der Experten seines Metiers, insbesondere für die illegale Verbreitung von Raketentechnologie. Seine Bedingung für dieses Gespräch ist, dass seine Identität geheim bleibt.

Unseren Treffpunkt im Zentrum der Altstadt hat er vorgeschlagen – einen Pub, in dem Biere mit vielsagenden Namen wie »Wiener Bubi« oder »Delirium Argentum« serviert werden.

Wir öffnen die Tür des Lokals, das wie ein langer, direkt auf die Bar zulaufender Schlauch aufgebaut ist. Auf einer der mit rotem Leder bezogenen Bänke am linken Rand sitzt ein jugendlich wirkender Mann mit wachen Augen, der die Eingangstür fest im Blick hat. Er mustert uns, wir mustern ihn. Das könnte unser Gesprächspartner sein – zumindest, wenn man nach dem einen verwaschenen Foto geht, das wir von ihm im Internet gefunden haben. Sein Blick hellt sich auf. »Seid ihr …?« – »Ja.« Er ist es.

Der Platz, den er ausgesucht hat, ist maximal weit entfernt von der Bar und von allen anderen Tischen. Gute Voraussetzungen, um diskret über Atomraketen zu sprechen – und um abzuklopfen, ob Aaron Arnold womöglich maßlos übertreibt. Wir wollen herausfinden, ob an der Karl-Lee-Geschichte wirklich etwas dran ist.

Unser Gesprächspartner an diesem Abend nennt den chinesischen Geschäftsmann den »Fantomas« unter den Händlern des Todes. So wie der mysteriöse Superschurke aus der französischen Romanreihe, der es mit den mächtigsten Gegnern aufnimmt und immer wieder entkommt – geheimnisvoll, skrupellos und genial. Seit sich Massenvernichtungswaffen über den Globus verbreiten, habe es nur wenige Akteure gegeben, die wie Karl Lee über Jahrzehnte in diesem Geschäft aktiv sind, erklärt unser Informant bei einem Burger mit Speck und Spiegelei.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in dem die Vereinigten Staaten zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte Atombomben eingesetzt haben, konfiszieren die US-Streitkräfte die letzten intakten deutschen V2-Raketen mitsamt Tausender Seiten Konstruktionsplänen. Und sie bringen Hunderte deutsche Fachleute in die USA. Aus dieser Keimzelle erwächst das amerikanische Raketenprogramm.

Die Sowjetunion zündet 1949 ihre erste Atombombe. Etwa zur selben Zeit beauftragt Machthaber Josef Stalin seine besten Wissenschaftler damit, Raketen zu entwickeln. Raketen, die nicht nur mehrere Hundert, sondern Tausende Kilometer fliegen können – bis aufs amerikanische Festland. Damals gibt es eine klare Aufteilung der Welt – und der Atomraketen: die Amerikaner hier, die Sowjets dort. Die beiden Lager haben die größten Armeen, die meisten Experten, die umfangreichsten Militärbudgets. Doch bald beginnen auch Großbritannien und Frankreich damit, Raketen und Atombomben zu testen. Die Sowjets wiederum kooperieren mit den Chinesen, die 1964 ihre erste Atombombe zünden und kurze Zeit später erstmals erfolgreich eine Rakete erproben.

Anfangs bleibt das Wissen um die Atom- und Raketentechnologie in diesem kleinen Kreis, doch dann sickert es durch. Plötzlich tauchen in Nahost und Nordkorea Raketen auf, die den chinesischen und russischen Modellen verblüffend ähnlich sehen. Immer mehr Staatenlenker und Militärs haben nun den Wunsch, selbst Atomraketen zur Abschreckung bereitzuhalten. Die US-Geheimdienste gehen 1963 in einem Bericht davon aus, dass