Vom Glück geträumt - Bastian Obermayer - E-Book

Vom Glück geträumt E-Book

Bastian Obermayer

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Bastian Obermayer geht für seine Reportagen dorthin, wo schon lange niemand mehr ist: Er trifft einen der letzten Wilderer in den Bayerischen Alpen, spricht mit einem hochqualifizierten Manager, der seit fünf Jahren keine Arbeit findet und von Hartz IV lebt, und unterhält sich mit Lothar Matthäus, der die Joghurtbecher in seinem Kühlschrank in Abwehrformationen schiebt, um seinem Leben Struktur zu geben. Obermayer schreibt Geschichten, die bewegen; einfühlsam, dicht und außergewöhnlich.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 334

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bastian Obermayer

Vom Glück geträumt

Begegnungen mit der deutschen Wirklichkeit und Lothar Matthäus

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Über Bastian Obermayer

Inhaltsübersicht

WidmungAnmerkung des AutorsVom Kämpfen und vom WeitermachenEs frisst dich aufBis zum letzten SchlagZwischen Himmel und HölleEiner von unsVon der Liebe und ihren FolgenDer Mann fürs LebenHaus geträumtEin Mensch wenigerNach dem SchweigenVon Ruhm und ProminenzDie BegleitungDer AndereEine ErscheinungAuf der LauerLothar, c’est moiVon Abschied und UnrechtDer Tod kommt von obenDas deutsche HausWas soll das?Geschlossene GesellschaftDie Zerstörer des GlücksDie Achse des BösenGeschäftsmodell HoffnungDer lange Schatten der SchuldQuellennachweis

Für Wolfgang Budig, Alexa Walden und all die anderen.

In allen mit * gekennzeichneten Fällen wurden die persönlichen Daten der jeweiligen Protagonisten geändert.

Vom Kämpfen und vom Weitermachen

Im Juni 2013

Es frisst dich auf

Alexa Walden lebt mit Bulimie, seit 28 Jahren. Und mit der dauernden Angst aufzufliegen.

Bevor sie bestellt, geht Alexa Walden im Restaurant auf die Toilette. Immer. Sie muss die Lage dort kennen: nur eine Toilette? Schwierig. Zwei? Schon besser. Drei oder mehr: perfekt.

Die Frage ist: Kann sie kotzen, ohne aufzufallen? Der Geruch ist nicht das Problem, Alexa Walden hat immer Streichhölzer dabei, dann riecht es höchstens nach Schwefel. Ihren Atem neutralisiert sie mit zwei Kaugummis. Aber auch wenn sie sich leise übergibt, ganz geräuschlos geht es nicht, außerdem muss sie meist öfter spülen. Und das alles dauert seine Zeit. Eine Warteschlange vor ihrer Klotür wäre ein Problem. Dann lieber nur einen Salat. «Der darf drinbleiben», sagt sie und verzieht die Mundwinkel.

Beim Kotzen erwischt zu werden, aufzufliegen, wäre eine Katastrophe. Aber das ist Alexa Walden, 43 Jahre, blonde lange Haare, sehr schlank, noch nie passiert.

In 28 Jahren Bulimie.

«Ich bin Profi», sagt sie, «Profi-Bulimikerin». Was für ein furchtbares Wort: Bulimikerin. Es beschreibt eine Frau, die beherrscht wird von der krankhaften Angst zuzunehmen, und gleichzeitig getrieben von einem Hunger, der kaum zu stillen ist – und der immer und immer wieder zu Fressanfällen führt. Wörtlich bedeutet Bulimie «Ochsenhunger». Wenn der gestillt ist, irgendwann, hängt Alexa Walden meist über einer Kloschüssel und würgt alles wieder heraus. In schlechten Zeiten dreimal am Tag, in besseren Zeiten einmal die Woche. «Ich kämpfe jeden einzelnen Tag gegen diese Krankheit», sagt sie. Aber sie verliert, jeden einzelnen Tag. «Es ist stärker als ich.»

Man trifft sich in einem italienischen Restaurant in einer großen deutschen Stadt, die nicht genannt werden soll. Alexa Walden heißt in Wirklichkeit anders, sie schämt sich für ihre Krankheit, von der nur eine Handvoll Menschen weiß. Sie schämt sich dafür, dass sie so schwach ist und lächerliche Probleme hat. Scheinbar. Aber sie will über all das reden, weil sie darunter leidet, dass Bulimie vielen eher als Schwäche denn als Sucht gilt. Als könnte man sich mal eben zusammenreißen und normal essen – wie alle anderen auch. Und doch ist es genau das, was sie insgeheim von sich selbst erwartet: dass sie sich nicht so gehenlässt.

«Ist das nicht absurd?», fragt sie und bestellt einen Salat mit Ziegenkäse und Feigen. Nicht wegen der Toilettensituation, die wäre nicht schlecht hier, sondern weil sie gerade bessere Zeiten erlebt: Sie hat ihren Fressdruck gerade ganz gut im Griff. Deswegen schafft sie es, den Brotkorb, der direkt vor ihr steht, nicht anzufassen. Alexa Walden liebt Brot, vor allem Weißbrot, so knusprig außen, so fluffig innen.

Aber: Brot ist böse. Voller leerer Kohlehydrate, die machen dick. Also kein Brot.

Es ist einfach: Solange sie keine bösen Lebensmittel isst, muss sie auch nicht kotzen. «Aber diese Disziplin bringe ich nicht immer auf.» Ihr gesamtes Leben ist der Krankheit untergeordnet, wie fast alle Bulimie-Kranken beschäftigt sie sich den ganzen Tag mit dem Thema Essen: Was ist erlaubt, was nicht, wie viel wovon, und wo kann man das andere loswerden? Jedes Nahrungsmittel, jeder Bäcker und jeder Supermarkt sind Versuchungen. Normal essende Menschen wissen gar nicht, wo überall Essen lauert. Aber Alexa Walden erlaubt sich höchstens 1000 Kalorien am Tag, seit Jahren. Sie lebt mit einer im Grunde lebensgefährlichen Dauerdiät.

Erlaubt sind: Salat, Vollkornbrot, ungezuckertes Müsli, Cola light und Kartoffeln, aber nicht abends.

Es gibt diesen Sketch der RTL-Comedyserie «Switch», man kann ihn sich im Internet ansehen: Eine falsche Heidi Klum, Moderatorin der Castingsendung «Germanys next Topmodel», schärft einer Teilnehmerin ein, auf ihre Ernährung zu achten. Das Mädchen fragt, was sie denn essen dürfe: Ab und zu was Süßes? Einmal die Woche? Einmal im Monat? Diabetiker-Schokolade? Fettarme Diabetiker-Schokolade? Einen zuckerfreien Kaugummi? Einen halben, zu Weihnachten? Die Antwort der Klum-Imitatorin ist immer dieselbe: nein.

Eine Parodie, natürlich. Aber eine gute Parodie legt den Blick auf die Realität frei. Und die Realität ist, darin sind sich Forscher einig, dass Sendungen wie «Germanys next Topmodel» dazu beitragen, Mädchen ein abartiges Körperempfinden nahezubringen – als ein Mosaiksteinchen eines riesigen Bildes, eines Posters voller superdünner, photogeshopter Frauen. Fest steht auch, dass die Zahl der Essstörungen heute erheblich höher ist als vor 30 Jahren, weil Dünnsein zum Idealbild wurde: Jedes vierte deutsche Mädchen ist essgestört, etwa 600000 Menschen, zumeist Frauen, haben Bulimie. Gleichzeitig werden die Deutschen immer dicker. Wunsch und Wirklichkeit passen also immer weniger zusammen, das macht es so gefährlich.

Bei Alexa Walden war es so: Sie wechselt mit 15 Jahren auf ein Mädcheninternat, anspruchsvoll, ein bisschen elitär. Wie es zu einer Tochter aus dem gehobenen Bildungsbürgertum passt. Aber sie fühlt sich unsicher, einsam und beginnt aus Frust zu essen. Sie nimmt zu, nicht viel, aber doch. Sie macht in den Ferien eine Diät, ihre erste. Erheblich schlanker kommt sie zurück – und plötzlich schauen sie alle an.

Wow. Wie dünn du bist! Toll!

Diese Lektion wird sie nicht mehr vergessen. Dünnsein gleich Anerkennung. «Bis heute hängt meine Stimmung von meinem Gewicht ab», sagt Alexa Walden. «Wenn ich dünn bin, geht es mir gut, ich fühle mich freier.» Sie hat sich seit drei Jahren nicht mehr gewogen – und weiß trotzdem genau, was sie wiegt: 53 Kilogramm, bei einer Körpergröße von 1,69 Meter. Sie spürt, wenn sie 200 Gramm zugenommen hat, und sie spürt, wenn diese 200 Gramm wieder runter sind.

Nach ihrem Abitur – mit Einser-Schnitt – geht sie ins Ausland. Dort fehlt die soziale Kontrolle, und auch dort ist sie einsam. Haltlos. Also isst sie und nimmt zu, bis sie 86 Kilogramm wiegt – «ein Albtraum!» –, dann, wieder in Deutschland, hungert sie sich runter, bis es nur noch 42 Kilogramm sind. Ihrer Hausärztin hat sie es zu verdanken, dass sie nicht ins Krankenhaus muss, sie darf zu Hause an den Kaliumtropf.

Aber nur hungern funktioniert nicht für sie, denn da ist diese Leere in ihr, diese furchtbare Leere, von der sie nicht weiß, woher sie kommt, derentwegen sie aber schon zweimal versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Und das Einzige, was gegen ihre Depression immer hilft, ist Essen. Essen. Essen.

Essen vertreibt die Leere, Essen überdeckt die Einsamkeit, Essen ist Entspannung, ist Belohnung, ist Ablenkung. Essen ist alles. Aber Alexa Walden will dünn sein.

Die Lösung ist die Bulimie. Sie isst, was sie will, in unheimlichen Mengen. Eine ganze Torte, dann eine Supermarktgroßpackung Raffaelo und Berge von Kroketten mit Apfelmus. Nach dem Essen meldet sich die Panik, dann kommt das Kotzen und die Erleichterung. Und die Scham, aber die lässt sich mit einem zufriedenen Blick in den Spiegel verdrängen. «Ich dachte anfangs ehrlich, ich hätte die perfekte Lösung für mich gefunden», sagt sie.

Heute hasst sie sich dafür, dass sie es so weit hat kommen lassen, und dieser Selbsthass, die Verachtung, die sie sich entgegenbringt, ist wiederum Teil ihres Problems. Und ein weiterer Grund für Depressionen.

Dabei hätte sie doch, denkt sie, allen Grund, glücklich zu sein. Sie hat einen verständnisvollen Mann und drei süße kleine Jungen von drei bis zehn Jahren. Nur ein paar Minuten sind es mit dem Wagen von dem Italiener zu dem Haus, das ihnen gehört. Vor der Einfahrt stehen zwei teure Autos, im Garten das Trampolin, das Fußballtor, die Tischtennisplatte. Die Kinder sind gesund – obwohl Alexa Walden auch in den Schwangerschaften gefressen und gekotzt hat. «Dafür schäme ich mich wahnsinnig», sagt sie, «und ich hatte furchtbare Angst, dass etwas mit ihnen ist. Aber die Krankheit war stärker.»

Auf dem Klavier lehnt ein Familienfoto: Vater, Mutter, drei Kinder. Das Blau der Pullunder der Kinder korrespondiert mit den Schals der Eltern, die Hemden sind in den gleichen Pastelltönen gehalten, die Frisuren sitzen perfekt, das Lächeln wirkt echt. Eine makellose Familie.

Und doch teilt Alexa Walden ihr Leben vor allem mit ihrer Krankheit. Der Kampf gegen die Bulimie verbraucht ihre Kraft fast restlos. Seit Jahren arbeitet sie nicht mehr, obwohl die Kinder bis 16 Uhr betreut werden. «Das sage ich niemandem, offiziell arbeite ich freiberuflich, das ist mir peinlich», erzählt sie und öffnet die Terrassentür. Ihr ältester Sohn hat tags zuvor den Rasen gemäht, ein paar Gänseblümchen hat er stehen gelassen, in Herzform. Für die kranke Mama.

Die Kinder wissen nicht, was ihre Mutter hat. Aber wohl, dass es ihr nicht gutgeht – wie sollten sie das auch nicht mitbekommen? Den Alltag übernimmt weitgehend Alexa Waldens Mann, sie braucht unendlich viel Schlaf, und schon Spülmaschine einräumen oder Duschen sind für sie an manchen Tagen eine unendliche Überwindung. Erst recht früh aufstehen. Also weckt ihr Mann die Kinder und bringt sie in die Schule, er isst mit ihnen zu Abend und steckt sie ins Bett. Am Wochenende verlässt Alexa das Bett manchmal erst am Nachmittag. Die Erschöpfung.

Ihr Mann weiß von der Bulimie, aber sie ist selten Thema. Was soll er auch tun? Ihr sagen: Jetzt iss doch mehr? Geh nicht kotzen? «Das würde ich nicht ertragen», sagt Alexa Walden, «wir haben die unausgesprochene Vereinbarung, dass er es ignoriert.»

Natürlich hat Alexa Walden immer wieder versucht, die teuflische Krankheit loszuwerden. Sie war in drei verschiedenen Gesprächstherapien, in einer Verhaltenstherapie und in tiefenpsychologischer Therapie. Sie war acht Wochen stationär in der Klinik, acht Wochen, in denen ihr Mann alleine war mit den Kindern, acht Wochen, in denen sie ein einziges, kotzendes, schlechtes Gewissen war. Sie versuchte es mit Hypnose-Therapie, mit Akupunktur, Homöopathie und Fasten. Mit Selbsthilfegruppen und Sport, mit Büchern und mit Beten. Aber nichts half wirklich.

Wenig später kniete sie wieder über einer Toilette, irgendwo. «Es gibt wahrscheinlich nicht viele Menschen, die so viele Klos wie ich aus dieser Perspektive kennen,» sagt sie und hält ihre Hände neben dem Gesicht, sich an einer imaginären Klobrille festhaltend. Sie lacht, aber nicht bitter, es ist eher ein Lachen, mit dem sie sich von ihrer absurden Welt distanziert.

Wahrscheinlich gibt es auch nicht viele Krankheiten, die so demütigend sind. Einmal, nach einem Grillabend – bei dem sie lauter verbotene Sachen gegessen hatte – wollte sie das Erbrochene hinunterspülen. Aber die Toilette war verstopft, alles lief auf den Boden, verdünnt mit Wasser, vermischt mit Klopapier.

Alexa Walden probierte alle Medikamente, die ihr gegen die Bulimie und die damit einhergehenden Depressionen verschrieben wurden: Moclobemid, Trevilor, Mirtazapin, Seroxat, Cipralex, Amitriptylin, Nortrilen, Elontril. Mal schlugen sie nicht an, mal setzte sie sie wegen der Nebenwirkungen wieder ab. Eine Nebenwirkung von vielen Psychopharmaka ist ja: Man wird dicker.

Aber Alexa Walden kann, sie will, sie darf nicht dicker werden, auf keinen Fall. Also keine Psychopharmaka.

Nur einmal war da Hoffnung: Als sie anfing, Fluoxetin zu nehmen, ein Antidepressivum, das besser bekannt ist unter dem Namen Prozac. Plötzlich war der Fressdruck weg, und in ihrem Leben entstand so etwas wie Normalität. Sie aß, wenn sie hungrig war und so viel, bis sie satt war. Wie im Traum. Nach drei Monaten ließ die Wirkung nach, alles war wie zuvor.

Man muss es an dieser Stelle einmal sagen: Es gibt Menschen, die sich von der Bulimie befreien können. Manche Ärzte sprechen von ungefähr einem Drittel der Betroffenen.

Aber wie unfair ist auch eine Sucht, der du nicht aus dem Weg gehen kannst? Alkohol, Zigaretten und Glücksspiel – all das kannst du irgendwie vermeiden.

Essen kann nichts ersetzen.

Jeder Mensch muss essen. Jeden verdammten Tag. Du kannst davon nicht clean werden, nicht einfach darauf verzichten. Du bist dem Suchtmittel ständig ausgesetzt, und du musst irgendwie die richtige Dosis finden. Aber wie, wenn der körpereigene Dosiercomputer längst kaputt ist?

Alexa Walden zuckt mit den Achseln. «Ich kann es nicht.» Ab und an erlaubt sie sich Verbotenes, eine kleine Mousse au Chocolat zum Beispiel. Aber schon das Gefühl, einen einzigen Löffel zu viel gegessen zu haben, lässt das sorgsam austarierte Gleichgewicht zwischen Genuss und Diät kippen. «Dann macht es ‹klick› im Kopf», erzählt sie. Von da an ist klar: Sie wird nach dem Essen kotzen. Also kann sie essen, so viel sie möchte. Gekotzt wird ja sowieso.

Noch eine Mousse au Chocolat, noch ein Creme-Törtchen, noch ein Tiramisu.

In Restaurants oder auf Partys bleibt das nicht unbeobachtet. Vor allem Frauen, die sich selbst viel Gedanken um die Figur machen, beobachten genau, was andere essen. Wenn Alexa Walden die zweite Portion Panna Cotta nimmt, hört sie oft: «Wie machst du das nur, du bist so schlank?»

Sie könnte sehr genau erklären, wie sie das macht. Manchmal hätte sie darauf sogar Lust: «Weißt du, ich geh gleich kotzen. Kommst du mit?»

Aber sie sagt das nicht. Natürlich nicht. Sie lächelt und erzählt von «viel Sport».

In ihren 28 Jahren Bulimie wurde sie nur zweimal direkt auf die Krankheit angesprochen. Vor ein paar Jahren fragte ein Zahnarzt sie – vor drei Arzthelferinnen –, ob sie eine Essstörung hätte. Ihm waren ihre von der Magensäure ruinierten Zahnhälse aufgefallen. «Und im vergangenen Jahr sagte eine Freundin: ‹Hör mal, ich mach mir Sorgen. Du siehst krank aus.›»

Zweimal in 28 Jahren. Kann man sich so gut verstellen?

Tatsächlich sieht man es Alexa Walden nicht an: Sie ist eine hübsche, modisch gekleidete schlanke Frau mit kräftigem Händedruck, die viel und laut lacht. Eine Frau, mit der man sich gerne unterhält, weil sie Witz hat und Esprit. Krank? Keine Spur.

Andere Bulimiker haben raue Stellen oder schon Hornhaut an den Händen, vom dauernden Finger in den Hals stecken. Alexa Walden kann sich einfach so übergeben, ohne Finger. Sie hat auch nicht die geschwollene Augenpartie und keine geplatzten Äderchen. Haben die meisten Bulimiker, vom inneren Druck beim Erbrechen. Auch Alexa Waldens Zähne sind wieder makellos, weil künstlich. Der Schein stimmt.

Und doch hat sie ihre Gesundheit ruiniert. Die Speiseröhre ist vom Erbrechen dauergereizt, die Speicheldrüsen sind angeschwollen, die Kau-Muskulatur ist enorm ausgeprägt. Die jahrelange Mangelernährung und die vielen Diäten haben zu Hormon- und Stoffwechselstörungen geführt, das Bindegewebe ist durch die extremen Gewichtsschwankungen ausgeleiert. Sie hat Kreislaufprobleme, Blähungen, das Reizdarmsyndrom und diese Müdigkeit.

Warum richtet man sich so zugrunde?

Erklärungen gibt es viele, jede Therapie brachte eine andere. Angst vor Kontrollverlust, verzerrtes Selbstbild und mangelndes Selbstvertrauen, vielleicht unerkannter Missbrauch, Narzissmus oder eine Aufmerksamkeitsstörung. Und weil auch ihre Schwester eine Essstörung hatte, stellte sich auch die Frage: ein Familienproblem?

Alexa Walden weiß es nicht, aber sie ist froh, keine Tochter zu haben. Vor kurzem hörte sie eine Zehnjährige im Bus sagen, sie esse keine Kohlehydrate mehr. «Das ist doch Wahnsinn», sagt sie, auf der Terrasse vor ihrem Garten, kurz bevor ihr Mann und ihre Kinder nach Hause kommen.

Nicht dass Alexa Walden Kohlehydrate essen würde – aber sie ist 43.

Vielleicht kann man sich darauf einigen: Das ganze Leben ist ein Wahnsinn. Ein Wahnsinn, dem du schutzlos ausgeliefert bist, den du nicht ansatzweise im Griff hast. Du kannst das perfekte Familienfoto arrangieren, du kannst dir die Zähne richten lassen und den Schein wahren, nur am Ende, vor dir selbst, hilft dir das alles nichts. Aber eines kannst du kontrollieren, wenn du gnadenlos genug bist: dein eigenes Gewicht. Und wenn es das Einzige ist, was du unter Kontrolle hast.

Immerhin hat Alexa Walden in den Jahren gelernt, dass sie sich um ihren Körper kümmern muss, «ihn instand halten», so sagt sie es. Seitdem achtet sie darauf, möglichst gesund zu essen. Das heißt auch, beim Essen die richtige Reihenfolge einzuhalten: am Anfang die gesunden Sachen, die der Körper braucht. Wenn sie später kotzt, wird zumindest ein Teil davon drinbleiben. Am Ende isst sie, was auf jeden Fall wieder rausmuss, die Kalorien.

Die Fressattacken sind durchdacht bis ins letzte Detail. Dazu gehört auch: viel trinken, sonst wird das Würgen mühsam. Ideale Lebensmittel sind Sternchennudeln oder Eis, schwierig sind Spätzle, weil die im Magen aufquellen.

Alexa Walden muss wieder lachen, während sie das erzählt. Sie hat das Gefühl nicht verloren dafür, wie befremdlich solche Details klingen. Vielleicht kann sie auch lachen, weil sie seit einiger Zeit das Gefühl hat, durch ihren Glauben auf einem richtigen Weg zu sein. Wenn da oben jemand ist, sagt sie sich, liegt nicht alles in meiner Macht, dann kann ich nicht alles kontrollieren. Das macht sie gelassener. «Ich weiß nicht, ob ich jemals normal werde», sagt sie, aber: Sie sieht einen Weg. Das war 28 Jahre lang anders.

Mit Anfang zwanzig saß Alexa Walden in einer Selbsthilfegruppe einer Frau um die vierzig gegenüber und dachte sich nur: Oh mein Gott. Oh mein Gott.

Im Dezember 2008

Bis zum letzten Schlag

Wenn ein neues Herz die einzige Chance ist: die Geschichte eines schwerkranken Mannes, der lange wartete und nie aufgab.

Der Frühling drängt, der März beginnt, und Wolfgang Budig wartet darauf, dass ein Mensch stirbt. «Es regnet, das ist schlecht», sagt er und schaut aus dem Fenster, «bei Regen fahren keine Motorradfahrer.» Er lächelt matt. Wenn sie nicht fahren, verunglücken sie nicht. Krankenhaushumor. Budig ist schwer herzkrank, aber er ist 1,94 Meter groß und fast 95 Kilo schwer, er braucht das Herz eines Menschen, der mindestens seine Ausmaße hat. Solche Herzen sind selten. Alle zehn Stunden stirbt in Deutschland ein Motorradfahrer bei einem Unfall, Motorradfahrer sind meistens männlich, und Männer sind im Schnitt größer und schwerer. Nur regnet es jetzt.

Wolfgang Budig, 39, braune Haare, sanfte Stimme, verheiratet mit Anja Budig, 35, zwei Kinder, Florian, drei, und Nina, eineinhalb, wartet also. Er wartet im dritten Stock des Münchner Krankenhauses Großhadern, in der Herzchirurgie, in einem schmalen Zimmer, kaum größer als sein Bett. Um ihn gruppieren sich medizinische Apparaturen. Er wartet dort, weil ihn seit Ende Februar nur noch ein Kunstherz am Leben hält: Ein mobiler Druckluftmotor neben dem Bett treibt – keuchend und zischend, als würde ein Roboter schlecht Luft bekommen – zwei faustgroße Herzkammern aus durchsichtigem Hartplastik an, die auf seinem Bauch liegen. Sie tun, was sein krankes Herz nicht mehr kann, sie pumpen das Blut durch seinen Körper. Wenn er aus dem Fenster blickt, sieht er nur die graue Wand des gegenüberliegenden Trakts, keinen Himmel. Wenn er das Zimmer verlässt, sein Kunstherz wie einen Trolley neben sich herziehend, traut er sich nicht, an die Sonne oder an die Luft zu gehen, sondern nur auf den Gang der Station. Sicher ist sicher. Wie lang er mit dem Kunstherz leben kann, weiß er nicht und wissen auch die Ärzte nicht. «Sein neues Herz wird bald kommen, wir rechnen im Prinzip jeden Tag damit», sagt in seinem Büro drei Stockwerke tiefer Bruno Reichart, 65, dunkelblondes Haar, hellwacher Blick. Er ist Chef der Münchner Herzchirurgie und einer der besten Herzspezialisten weltweit. «Herr Budig wird nicht lang hier sein, er steht auf der HU-Liste, da hat noch niemand länger als drei Monate gewartet.» Wolfgang Budig steht auf dieser HU-Liste für Organspenden, HU wie «high urgent», auf Deutsch: höchste Dringlichkeit, seit er an das Kunstherz angeschlossen werden musste. Und weil er kurz nach dieser Operation auch noch einen kleinen Schlaganfall erlitt, rangiert er auf der Liste sogar relativ weit oben. Gut für ihn. Und schlecht. Denn wer auf dieser Liste so weit oben steht, ist todkrank. Permanente akute Lebensgefahr, sagen die Ärzte. Einem Menschen mit Kunstherz kann vieles zum Verhängnis werden, ein Gerinnsel, eine Entzündung, eine banale Infektion. Nur zwei Drittel der Patienten mit Kunstherz schaffen es überhaupt auf den OP-Tisch.

Die anderen sterben vorher. Während sie auf das Herz warten. 27. Mai 2008. Fast drei Monate später. Wolfgang Budig liegt noch immer in seinem Zimmer. Aber jetzt ist ein Mensch hirntot, irgendwo bei Ulm. Gegen 16.30 Uhr steht die Kardiologin Sieglinde Kofler, 37, blond, energisch, leichter Südtiroler Akzent, in Wolfgang Budigs Zimmer und sagt: «Ich hab ein Organ für Sie. Laborwerte, Pumpfunktion, Blutgruppe, Alter und Größe des Spenders passen. Allerdings haben wir es noch nicht gesehen.» Budigs Puls und Blutdruck machen sich sofort auf und davon, er sieht das auf dem Monitor neben sich, der rund um die Uhr seine Werte anzeigt. Und er spürt es: Ihm wird schwummerig, in seinem Kopf tanzt das Glück. Endlich ist da ein echtes Herz! Er ermahnt sich: Nicht zu früh freuen! Ruhig bleiben! Beides fällt ihm schwer. Mit zittrigen Fingern nimmt er den Telefonhörer ab und wählt die Nummer seiner Frau. «Ich bin’s, die haben ein Herz, es geht los», sagt er.

17 Uhr. Budig bekommt ein leichtes Beruhigungsmittel, etwas Starkes darf er nicht nehmen, er soll ja bald eine Narkose bekommen – wenn das Herz auch aus der Nähe noch gesund aussieht und wenn nach der sogenannten Kreuzprobe feststeht, dass es in Budigs Blut keine Antigene gegen das Blut des Spenders gibt. Währenddessen organisiert Sieglinde Kofler vom Büro der Transplantationsambulanz im Erdgeschoss aus den Einsatz. Sie schickt einen Hubschrauber nach Ulm, wo die Organe des potenziellen Spenders am Leben gehalten werden. An Bord das Entnahmeteam: Oberarzt Ingo Kaczmarek und ein Perfusionist, der das Herz für den Transport konserviert. Gleichzeitig alarmiert Kofler die Mannschaft, die das neue Herz dann in Großhadern sofort einsetzen soll: drei Herzchirurgen, ein Anästhesist, eine Anästhesieschwester, zwei OP-Schwestern und ein Herz-Lungen-Maschinist. 17.30 Uhr. Wolfgang Budig wird am ganzen Körper gewaschen, rasiert und mit einer alkoholischen Lösung desinfiziert, in OP-Hemd und OP-Mütze gesteckt. Seine Frau Anja und seine Mutter Gertraud Budig sitzen neben ihm am Bett. Mutter Budig nickt viel vor sich hin und sagt alle fünf Minuten: «Jetzt hast du es bald hinter dir, Bub.» Noch immer fehlt das Okay aus Ulm. Gegen 18 Uhr schiebt eine Schwester Budig in den OP-Trakt, gleiches Stockwerk, nur ein paar Gänge und Ecken weiter. An der letzten Schiebetür küsst Anja Budig ihren Mann – «wird schon hinhauen», sagt sie und lächelt. Er nickt, kaum mehr ansprechbar vor Aufregung. Die Schwestern drängen, er hebt noch einmal die Hand. Wenn sie sich das nächste Mal sehen, wird er ein neues Herz haben. Das ist der Plan.

19 Uhr. In einem Vorbereitungsraum vor dem OP-Saal wird Budig in der Leiste ein Schlauch eingesetzt und festgenäht, zur Blutdruckdauermessung während der Operation; außerdem werden ihm am ganzen Oberkörper Elektroden aufgesetzt. Dann ist er bereit. Auch das Implantationsteam ist bereit. Alle warten auf den einen Anruf aus Ulm, darauf, dass Budig ein paar Meter weitergeschoben, anästhesiert, an ein Beatmungsgerät angeschlossen und sein Brustkorb geöffnet wird. Anschließend käme er an eine Herz-Lungen-Maschine, das Kunstherz würde abgetrennt und das alte Herz entfernt. Das neue Herz müsste nur noch eingesetzt werden. Es ist 20.30 Uhr. Der Anruf aus Ulm soll gegen 21 Uhr kommen. Anja Budig räumt derweil das Zimmer ihres Mannes aus, nach der OP soll er auf die Intensivstation. Viel ist es nicht, er wollte ja nicht lang bleiben: drei Zeichnungen von Florian, ein paar Bücher, einen Stapel Kicker und Handballmagazine, Kulturbeutel und Unterwäsche.

21 Uhr. Im OP-Vorbereitungsraum versucht Wolfgang Budig ruhig zu atmen. Im Aufenthaltsraum sprechen seine Frau und seine Mutter über das Danach. Im Transplantationsbüro erfährt Sieglinde Kofler, dass sich alles um eine halbe Stunde verzögert: Das Münchner Entnahmeteam darf den Brustkorb des Toten noch nicht öffnen, die Ärzte anderer Krankenhäuser, die dem Spender ebenfalls Organe entnehmen wollen, sind noch nicht angekommen. Kurz nach 21.30 Uhr ruft Oberarzt Ingo Kaczmarek aus Ulm an und sagt: «Das Herz ist nichts. Die Coros sind verkalkt.» Coros sind Koronararterien, und ein derart verkalktes Herz hält nicht lang. Wolfgang Budig sieht den zwei Schwestern die schlechte Nachricht schon an ihren vorsichtigen Blicken an, als sie an seine Liege treten. Ihr «War nichts, Herr Budig, leider» nimmt er noch wahr, bevor ein Rauschen in seinem inneren Ohr zu einem Dröhnen anschwillt und ihn davonträgt. Dann wird es wieder still in ihm, und er spürt einen eisenharten Klumpen im Bauch. Er will nicht weinen. «Für Sie ist ein besseres Herz reserviert», sagt eine Schwester, während sie den stillen, erstarrten Wolfgang Budig von den Geräten nimmt. Als er gegen 22.15 Uhr zurück in sein Zimmer geschoben wird, schaut er in die enttäuschten Gesichter seiner Frau, seiner Mutter und seiner beiden Geschwister, die gerade erst aus der Schweiz angekommen sind. Die Mutter sagt: «Das wird schon», weil sie nicht weiß, was sie sonst sagen soll, «das wird schon.» Anja Budig verteilt die Sachen ihres Mannes wieder im Zimmer. Es ist nicht vorbei.

Wolfgang Budig – nie geraucht, selten Alkohol getrunken – bekam mit 28 Jahren einen Herzinfarkt, weil sich bei ihm wegen eines Gendefekts leicht Gerinnsel bilden. Sein Herz war danach schwächer als das anderer Menschen, aber er lebte elf Jahre ein normales Leben: Er wachte auf in einem Reihenhaus in Unterhaching, fuhr morgens zur Arbeit und abends zurück, wurde Vater zweier Kinder und drückte am Wochenende dem FC Bayern die Daumen. Seinen Sohn Florian nannte er sogar mit zweitem Namen Christian, sodass dessen Initialen FCB lauten. Dann, am 26. Februar 2008, wurde Wolfgang Budig auf der Straße ohnmächtig. Als es ihm am nächsten Tag nicht besserging, überwies ihn sein Arzt nach Großhadern, zur Beobachtung. Budig gehorchte, sagte den Ärzten aber gleich, dass alles gar nicht so schlimm sei. In der Nacht darauf brach sein Körper völlig zusammen – Multiorganversagen – und er kam erst fünf Tage später wieder zu Bewusstsein, mit einem künstlichen Herzen, auf der Intensivstation. Seither wartet er. Seine Tage sind immer gleich, im März, im April, im Mai. Budig liest viel, sieht fern und hat Besuch, er schläft tagsüber wenig, damit er nachts schlafen kann, alle vier Stunden messen die Schwestern Blutdruck, Temperatur und Sauerstoffsättigung. Alle paar Tage wird Blut abgenommen, einmal am Tag ist Visite der Stationsärzte, einmal die Woche Chefarztvisite: 7 Uhr, grelles Licht: «Guten Morgen!» Jeden Mittag bringt Gertraud Budig ihrem Sohn ein selbstgekochtes Essen vorbei. Jeden Abend verabschiedet sich Anja Budig am Telefon von ihrem Mann mit den Worten: «Vielleicht bis später.» Später: falls in der Nacht ein neues Herz kommt.

Den ersten Tagen im März begegnet Budig mit einem Lächeln, die Aussichten auf ein Herz scheinen gut. «Wir reden hier von Tagen», sagen die Ärzte. Ende März verschlechtert sich seine Laune, er bekommt Nasenbluten: jeden Tag, weil er hohe Dosen Blutverdünnungsmittel braucht, um einem weiteren Schlaganfall vorzubeugen. Einmal rinnt über Nacht so viel Blut von der Nase die Kehle hinunter, dass er am nächsten Tag Magenprobleme hat und Husten, weil die Lunge verklebt ist. Das Herz wird bald kommen, sagt er sich und sagen ihm alle. Er versucht, nicht bei jedem Klopfen an der Tür zu hoffen, dass eine Schwester die Nachricht vom neuen Herzen bringt. Er versucht: nicht zu warten. Aber er wird leerer. Er kann sich nicht mehr auf seine Krimis konzentrieren, starrt stattdessen aus dem Fenster, an die graue Wand. Nachrichten schaut er schon länger nicht mehr; wenn Freunde ihm Neuigkeiten erzählen, hört er nicht wirklich zu. Er will nichts von einer Welt wissen, an der er kaum mehr Anteil hat.

Früher war er am Vatertag mit Freunden unterwegs, feiern, Bier, was man so macht. In diesem Jahr fragt Budig am Vatertag, dem 1. Mai, seine Ärzte, ob auch betrunkene Motorradfahrer als Spender in Frage kommen. Kein Problem, sagen die. Wolfgang Budig wünscht niemandem den Tod, aber er wartet nun mal bereits seit mehr als zwei Monaten darauf, dass ein Mensch stirbt. Der Stillstand in Budigs Leben trifft auch seine Familie. Sohn Florian versteht nicht, warum der Papa nicht endlich nach Hause kommt und mit ihm Fahrradfahren übt wie andere Väter. Anfangs freut sich Florian noch auf das Krankenhaus, vor allem wegen der automatischen Tür der Herzchirurgie: Wenn er ihr nahekommt und sie sich surrend öffnet, behauptet sein Vater, die Tür gehe nur auf, weil Florian einen Keks in der Hand habe. «Nein», kreischt der und beweist begeistert das Gegenteil. «Dann wegen deinem blauen Pulli!», sagt der Vater, und so geht es immer wieder, auf, zu, auf, zu. Inzwischen ist die Tür eine Tür. Langweilig. Jetzt spielen sie meistens Autoquartett, zusammen gegen die Mama, und fast immer einigen sie sich auf Unentschieden. Damit keiner traurig ist.

Anja Budig und ihr Mann kämpfen gemeinsam und doch allein. Sie, blond, Brille, sportlich, früher Assistentin der Geschäftsführung eines Verlags, seit drei Jahren zu Hause, bei den Kindern, muss draußen alles auf die Reihe bekommen. Sie kümmert sich um Mann und Kinder, um jeden Anruf, jedes Formular, spricht mit Krankenversicherung, Ärzten und dem Arbeitgeber ihres Mannes, einer Versicherung. Sie steht unter Dauerstress, sie kommt nicht zum Nachdenken. Wolfgang Budig hat viel Zeit, um zu grübeln. Darüber, warum es ausgerechnet ihn getroffen hat, oder ob das alles die Ehe belasten wird. Mit solchen Gedanken muss er allein fertig werden, da helfen die Stimmungsaufheller wenig, die er jeden Tag schluckt. 28. Mai 2008, der Tag nach dem abgebrochenen ersten Transplantationsversuch. Die Aufregung der Nacht ist verhallt, Sieglinde Kofler steht auf dem Gang vor Wolfgang Budigs Zimmer. Sie weiß, dass ihr Patient verzweifelt ist, erschöpft vom Hoffen. «Aber er muss jetzt durchhalten, und wir müssen ein Lächeln auf sein Gesicht bringen. Dieser Kampf wird im Kopf gewonnen», sagt sie. Und sie hat etwas, was ihm zumindest über diesen Tag helfen wird: Budig ist mittlerweile auf der europaweiten HU-Liste die Nummer eins. Alle vor ihm haben ein Herz bekommen oder sind gestorben. Jetzt steht Budig ganz oben, das heißt: Jedes zu vergebende Herz aus den sieben Ländern, die der Vereinigung Eurotransplant angehören, wird darauf geprüft, ob es ihm passen würde. Und allein in Deutschland werden 400 Herzen pro Jahr vergeben, was zwar viel zu wenig ist für die 600 bis 800 Menschen, die auf ein Herz warten – von denen jeder Fünfte stirbt, während er wartet –, andererseits ist das im Schnitt mehr als ein Herz pro Tag, und Budig ist auf Platz Nummer eins. Aber er braucht eben ein sehr starkes Herz, der Spender muss fast zwei Meter groß sein, das ist das Problem.

Bevor Budig auf die Warteliste kam, musste er mit einem Psychologen sprechen. Es haben sich schon Menschen umgebracht, weil sie es nicht ertrugen, das Organ eines anderen Menschen in sich zu tragen. Eine solche Verschwendung von Organen wollen die Ärzte verhindern, dafür gibt es zu wenige. Anfang Juni. Seit über drei Monaten hat Wolfgang Budig den dritten Stock des Krankenhauses nicht mehr verlassen. Die Ärzte sagen: Es kann sich nur noch um Tage handeln. Das sagen sie seit März. Es ist ein bisschen wie beim Roulette, wenn man immer wieder auf Rot setzt, und jedes Mal kommt wieder Schwarz: Es ist klar, dass irgendwann Rot kommen wird. So lang muss Budig am Leben bleiben. Darum geht es. 6. Juni 2008, das zweite Herz. 12 Uhr, draußen scheint grell die Sonne. «Nierchenwetter», sagen Sanitäter, wenn sie an solch schönen Tagen dauernd von Motorradfahrern überholt werden. Budig wartet gewaschen, rasiert, desinfiziert, in OP-Hemd und OP-Mütze in seinem Zimmer, die Krankenakte schon aufs Bett gepackt. Da stürzt Sieglinde Kofler herein: «Passt nicht, falsche Antikörper, tut mir leid.» Wieder Schwarz.

10. Juni 2008, das dritte Herz. Gewaschen, rasiert, desinfiziert, in OP-Hemd und OP-Mütze, mit Arterienzugang und aufgesetzten Elektroden liegt Wolfgang Budig vorm OP-Saal, im Kreislauf ein Beruhigungsmittel, das kaum wirkt. Um Mitternacht erfährt er, dass das Herz nicht passt. Eine Kammer war krankhaft vergrößert. Er wollte nicht hoffen dieses Mal, einfach nicht darauf hoffen, mit neuem Herzen aus der Nacht zu kommen und ein Leben hinter sich zu lassen, das sein früheres nicht einmal mehr imitiert. Er braucht eine Tablette, um einzuschlafen.

Dreimal kam das Herz. Dreimal. «Es dringt langsam weiter nach innen bei mir, es wird härter», sagt Budig. Er hat das Vertrauen in das eine, das rettende Herz verloren. Wenn seine Mutter wieder einmal «wird schon» sagt und dass es beim nächsten Mal doch klappen muss, fährt er sie an: «Sei endlich still!» Er kann das hilflose Gerede seiner Besucher nicht mehr hören. «Ich weiß selber, dass ich arm dran bin, das muss mir keiner sagen. Die machen die Tür hinter sich zu, ich muss hierbleiben.» Er bekam in den vergangenen Monaten mehr Hoffnung und Trost zugesprochen, als er vertragen konnte. Nachts wacht er auf, weil seine Beine zucken. Wohl eine Nebenwirkung eines seiner vielen Medikamente. Oder Nervensache. 12. Juni 2008, ein Tag nach dem EM-Spiel Deutschland gegen Österreich. Oberarzt Ingo Kaczmarek fragt Budig bei der Visite, ob er das Spiel gesehen hat. «Ich kann ja nicht weg», sagt der. Ein Witz, den er schon so oft gemacht hat, dass er nicht mehr mitlacht. Am 20. Juni, einem Donnerstag, spielen die Deutschen gegen Portugal. Sie führen zur Halbzeit 2:0. Dann fällt im Krankenhaus das Fernsehen aus. Dass die Deutschen 3:2 gewonnen haben, wird später per Lautsprecher durchgesagt. Um 23.30 Uhr ruft Anja Budig an, auch sie will ihrem Mann das Ergebnis durchgeben. «Bis später vielleicht», sagt Budig zum Abschied.

Später, kurz nach Mitternacht, weckt ihn eine Schwester – «wir haben ein Herz», sagt sie. Das vierte. Um 1.15 Uhr wird Budig OP-fertig gemacht, ab 2.15 Uhr sitzen seine Frau Anja, Mutter Gertraud und Bruder Thomas bei ihm. Sie reden über Wolfgang Budigs Schwester, die gerade auf Bali ist, über die Fußball-EM und über die teigigen Krankenhaussemmeln. Über alles, nur nicht über das Herz. Seiner Mutter fällt es am schwersten, sie würde am liebsten mit allen gemeinsam hoffen. «Aber wenn man was sagt, regt er sich nur auf, also hab ich meinen Mund gehalten», wird sie später sagen. Nachts fühlt sich ein Krankenhaus anders an, dunkel, leiser, nichts rührt sich. In einem der wenigen erleuchteten Zimmer wartet Wolfgang Budig auf sein neues Leben. Um 5.30 Uhr sollte er eigentlich in den OP geholt werden. Gegen 5 Uhr heißt es, es dauere doch länger, Herz und Spender seien weiter weg. Budig schließt die Augen und versucht, das nicht als schlechtes Zeichen zu sehen. Es wird hell. Um 6.30 Uhr fehlt das Okay des Entnahmeteams noch immer, aber eine Krankenschwester soll ihn in den OP-Bereich schieben. Mutter Gertraud will ihm noch einmal über die Backe streicheln, er zuckt weg. «Lass, Mama!», sagt er. Er zittert vor Nervosität, auch wenn es das vierte Mal ist, dass er der Operation entgegengeschoben wird. Anja Budig geht mit ihm, sie hält seine Hand, die eiskalt ist, sie hält sie, bis er durch die letzte Schiebetür gleitet.

Zurück im Zimmer, weigert sich Anja Budig, die Sachen ihres Mannes zu packen – «erst, wenn er wirklich operiert wird», sagt sie.

Um 8.15 Uhr tritt eine OP-Schwester an Wolfgang Budigs Bett und sagt: «Das Herz passt. Sie werden operiert.»

Ein paar Minuten später erfahren die Wartenden draußen davon. Sie fallen sich um den Hals, endlich ist es so weit, endlich, endlich. Anja Budig räumt zum zweiten Mal das Zimmer ihres Mannes. 10.30 Uhr. Das Herz, das Wolfgang Budig bekommen soll, ist noch nicht in München, aber es soll jeden Moment kommen, sagt Kofler. Dann ist es da: Am 21. Juni 2008 um 10.45 Uhr bringt Oberarzt Paolo Brenner das Herz in den OP-Saal, es wurde erst geflogen, dann im Auto gefahren, mehr dürfen die Ärzte nicht sagen. Um 11.30 Uhr legt jemand Budigs 39 Jahre altes krankes Herz auf einen Beistelltisch.

Um 11.55 Uhr betritt Professor Bruno Reichart – feine Schuhe, graue Anzughose, darüber blauer Klinikkittel – das Aufenthaltszimmer, in dem die Budigs warten. Reichart sagt guten Tag, er wirkt konzentriert, angestrengt. Er nickt allen zu und setzt sich an den Tisch. Dann erklärt er: «Ich komme mit guten Nachrichten. Das alte Herz ist draußen, das neue Herz schlägt schon. Es sieht gut aus.» Budigs Mutter schnauft tief auf, «oh Gott», sagt sie, ihr treten Tränen in die Augen. Anja Budig beugt sich im Stuhl nach vorn, fragt sofort nach: «Wie geht es weiter?» – «Gegen 14 Uhr dürften wir fertig sein. Gehen Sie nach Hause, rufen Sie um 18 Uhr hier an, da müsste Ihr Mann schon auf der Intensivstation liegen, 2633 ist die Nummer.» Anja Budig schüttelt den Kopf, irgendetwas sagt ihr: Das geht zu glatt. «Keine Blutungen?», fragt sie, die Stimme fest. «Nein, alles gut», sagt Bruno Reichart. Anja Budig bleibt angespannt, sie wird nicht nach Hause fahren. «Erst, wenn er auf der Intensivstation liegt», sagt sie. In Wolfgang Budigs altem Zimmer wird gerade der Boden gewischt, das Bett ist schon neu bezogen. 15 Uhr. Sieglinde Kofler kommt zu den Wartenden. Sie sagt, es habe Schwierigkeiten beim Abschalten der Herz-Lungen-Maschine gegeben, die rechte Herzkammer wolle nicht richtig mitschlagen, ein Hilfsapparat musste eingesetzt werden. Budig bekomme starke Medikamente, die ihn am Leben halten, die man ihm aber nur ein paar Tage geben könne. Wenn es bis dahin nicht besser wird, wäre das sehr schlecht, sagt die Ärztin. Anja Budig presst ihre Lippen zusammen. «Wie schlecht?», will sie wissen. «Wir müssen mit allem rechnen», sagt Kofler. Am frühen Abend besucht Professor Reichart noch einmal die drei Wartenden. Zu diesem Zeitpunkt wird Wolfgang Budig seit fast acht Stunden operiert. Reichart erklärt leise noch einmal, was passiert ist. Sagt, dass sie alles Menschenmögliche tun werden und dass ihnen schon etwas einfallen wird.

19 Uhr. Budig wird auf die Intensivstation gebracht, sein Zustand ist kritisch. Er schläft. Es ist seine erste Nacht mit dem neuen Herzen. Für ihn hat das Warten ein Ende.

Tags darauf steht Anja Budig zur Besuchszeit um 15 Uhr am Bett ihres schlafenden Mannes in der Intensivstation, ein großer Raum mit sechs Behandlungsboxen, die mit blauen Vorhängen voneinander abgetrennt sind. Hinter Wolfgang Budig hängen an einer Wand automatische Spritzen, Flaschen und Tröpfe, die 23 verschiedene Medikamente in seine Blutbahn pumpen. Er wird von einem ECMO-Gerät, einer Art kleiner Herz-Lungen-Maschine, einem Dialysegerät und einem Beatmungsapparat am Leben gehalten. Anja Budig, mit blauem Mundschutz und Besucherkittel, streichelt seinen Arm, erzählt, wie es ihr geht, grüßt ihn von den Kindern und denkt sich: Seltsam, da schlägt jetzt ein anderes Herz in meinem Mann.

Die nächsten Tage verlaufen lähmend. Budigs Organismus ist stark geschwächt, die Ärzte halten ihn die meiste Zeit im künstlichen Schlaf. Er wird von der Beatmungsmaschine genommen und einige Tage später wieder drangehängt, weil er Schleim in der Lunge hat und kaum Luft bekommt. Einmal ist Budig so wach, dass er einfache Fragen durch Blinzeln beantworten kann, am nächsten Tag liegt er im Bett wie ein Wachkomapatient, reißt den Kopf herum, stöhnt laut, der Speichel läuft aus dem hängenden Mundwinkel, die Lider sind nur einen Spalt geöffnet, die Pupillen irren umher. Die Ärzte wissen nicht, ob sein Körper das Herz abstoßen will, sie wissen nur, welche Probleme sie haben: Die Nieren funktionieren nicht. Die Leber funktioniert schlecht. Der Entzündungswert steigt.

Fünf Tage, zehn Tage, 15 Tage vergehen. Florian erzählt im Kindergarten stolz, dass sein Papi ein neues Herz hat, aber noch nicht sofort nach Hause kann, weil es so neu ist. So in etwa hat Anja Budig es ihm erklärt. Das neue Herz, das ersehnte Herz, das verdammte Herz ist da und Anja Budig einem Zusammenbruch nahe. «Das ist schlimmer als die Warterei», sagt sie, «davor wusste ich, dass er kämpft, dass er leben will, weil er seine Kinder aufwachsen sehen will. Jetzt weiß ich überhaupt nicht, was in ihm vorgeht. Wahrscheinlich nicht viel, so wie er aussieht», sagt sie. Zuvor waren sie ein Team, konnten gemeinsam scherzen, reden, sich drücken, heulen und wütend sein. Jetzt ist sie allein. Ihr Mann ist weit weg, und niemand kann sagen, ob er wieder zurückkommt.