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»Anarchy!«, brüllen sie in naiver Begeisterung am Bimmelsdorfer Strand und rennen los. Die Vorgarten-Rasenmäher im Nacken, werden Horsti und seine Clique von Ordnungsmenschen, Altnazis und der bleiernen Zeit nach dem Wirtschaftswunder schikaniert – bis sie lernen, sich zu wehren. Sie beginnen auszubrechen, dahin, wo es Freiräume gibt. Horsti wird Profi im Überlisten von Cheftypen. Immer geschickter bastelt er an dadaistischen Täuschungskonzepten, verweigert den Wehrdienst und flieht in die Großstadt. "Gemeinsam sind wir stark!" Zwischen letzten bürgerfeindlichen Stadtteilen und selbst geschaffenen Strukturen suchen die "genialen Dilettanten" nach einer kollektiven Haltung. Gegenkultur, »penniless jetset«, Anti-Kunst und ganz viel schlecht mitsingbare Musik. In ihrer Angriffslust steckt die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach Scheißebauen und lebenswerten Utopien. Und dann die Reibung an den Institutionen: Horsti inszeniert Opern, lernt alles kennen, was in der Welt der Hochkultur Rang und Namen behauptet – und bleibt Aktivist und Zweifler. Am Ende erkennt er, dass all die Widersprüche Teil seines Lebens geworden sind. Schorsch Kameruns Geschichten sind die Erinnerung an eine rasende Biografie, wie er sie selbst erlebt hat. Er erzählt von rauschhaften Experimenten und unerforschten Kampfzonen bei ständiger Haltungsüberprüfung, von einer »Ästhetik des Widerspruchs«, vor allem aber von dem Ringen um Integrität. »Bitte versteh das nicht falsch, ich möchte Dir nicht zu nahe treten, aber Du bist wirklich ein großer Künstler, so sage ich einfach Danke.« Dein Christian Kracht »Kameruns Buch ist ein Schelmen- und Künstlerroman, der die Abenteuer einer Spaßguerilla auf gesellschaftskritischer Mission schildert – und die Freuden und Schmerzen einer Entertainerkarriere.« Der Spiegel, Wolfgang Höbel »In Hamburg hat Schorsch Kamerun die befreienden Momente einer Subkultur erfahren, die er maßgeblich mitgestaltete. Von ihr und anderen Dingen des Lebens erzählt er in seinem Roman 'Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens'.« taz am Wochenende, Tania Martini »Kamerun gelingt es, das Versprechen des Punk nachvollziehbar zu machen, die Befreiung, die es trotz aller Fallstricke bedeuten kann, sich für eine stolze Existenz als Störfaktor zu entscheiden.« Süddeutsche Zeitung, Luise Checchin
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Das Buch
»Jene Zeit war aus Blei. Sie war ein luftdichtes Tuch, unter dem alles erstickte, was sich zu bewegen versuchte. Und genau deshalb war das Versprechen der urplötzlich heranschwappenden Neuen Welle mit ihren spöttischen Tönen von so mitreißender Bedeutung. Auf einmal funkelte Verheißung. Wie der erste Lichtstrahl nach einer nicht enden wollenden Dunkelheit. Es entstand eine große kollektive Identität.
Ich/Du /Alle/Wir
Werden: nie wieder allein sein!
Hört ihr das?
Tatsächlich, es sind noch andere da draußen!«
Mit dieser Erkenntnis beginnt für Horsti eine beschleunigte Biografie. Er wird Profi im Überlisten von Cheftypen und bastelt immer geschickter an dadaistischen Täuschungskonzepten. Zwischen letzten bürgerfeind-lichen Stadtteilen und selbst geschaffenen Strukturen suchen er und Gleichgesinnte nach einer gemeinsamen Haltung. Gegen-kultur, »penniless jetset«, Anti-Kunst und ganz viel schlecht mitsingbare Musik. In ihrer Angriffslust steckt die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach Scheißebauen und lebenswerten Utopien. Und dann die Reibung an den Institutionen: Horsti inszeniert Opern, lernt alles kennen, was in der Welt der Hochkultur Rang und Namen behauptet – und bleibt Aktivist und Zweifler. Am Ende erkennt er, dass all die Widersprüche Teil seines Lebens geworden sind.
Der Autor
Schorsch Kamerun, 1963 in Timmendorfer Strand geboren, ist einer der besten 17 Menschen. Er lebt in Hamburg und an der Ostsee. Seit über 30 Jahren ist er Sänger der Band »Die Goldenen Zitronen«. Neben der Musik ist er mit seiner außergewöhn-lichen Arbeit als Theaterregisseur und Hörspielautor erfolgreich. Kamerun erhielt eine Gastprofessur an der Münchner Akademie der Bildenden Künste, wurde mit dem Hör-spielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet und gründete zusammen mit seinem Jugendfreund Rocko Schamoni den Hamburger »Golden Pudel Club«.
Schorsch Kamerun
Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens
Roman
Ullstein
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ISBN: 978-3-8437-1316-0
© 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinCovergestaltung: Katja Eichbaum, HamburgUmschlagabbildung: © Katja Eichbaum
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Denen, die sich auf die Suche nach Umwegen gemacht haben. Weg von einem Leben geprägt von Dominanzen aus Uhren, Zahlen und anderen Feststellungen. Allen, die probiert haben, den Ohrfeigen, Schönschreibklubs und Schuldspiralen eine überraschende, grenzenlose Welt entgegenzusetzen. Ohne Eiche Rustikal, Dauerbenotung und optimiertes Schaffen.
»Anarckeeey!« Genau! »Anarckey!« Kein Zweifel. Das war es. Das musste es einfach sein. Horsti hatte das erste Mal wirklich Alkohol getrunken. Also nach Eierlikör oder Alsterwasser. Weinbrand war das. So geht es wohl vielen. Der erste echte Suff. Da will man dann später nix mehr mit zu tun haben. Die erste Zigarette war »Peter Stuyvesant«. Weinbrand ist grausam. Horstis alter Herr trank sehr gern Weinbrand. »Napoleon« von Aldi. Wegen des guten Preis-Leistungs-Verhältnisses.
»Anarckey!« Nie mehr aufhören müssen, dieses eine Wort zu rufen. Auf der Strandparty an der Bimmel, dem Grenzbach zwischen dem Bimmelsdorfer Strand und dem Nachbarort Scharbe, wo Horsti nun einmal herkam. Schreien! Brüllen! Auch schon vor dem Trinken. Immer wieder. Einfach aus einer Ahnung heraus. Horsti und seine Freunde hatten kaum eine Vorstellung davon, was das genau sein könnte: Anarchie. Überhaupt, ihr Wissen über radikale Versuche von umgesetzter Freiheit ging gegen null. Sie verstanden es aber trotzdem sofort, das herausgeschleuderte »Anarchy« des Sängers Johnny Rotten. Den sägenden Schrei der Sex Pistols, der Band, die ein Stachel war im Hintern Englands. Genau da steckte drin, was auch sie brauchten. Wie in einem freigelegten Instinkt. Alles, alles hatte diese Stimme. Maßlos befreiender Spott. Jede Menge Unmoral. Und so viel Berechtigung dazu. Nie zuvor und nie danach hat etwas so sehr nach Pisse gestunken und gleichzeitig so lecker geschmeckt. Johnny Rotten war in jeder Faser verführerisches anti. Er versprühte eine solch großartige Verachtung mit seinen höhnischen Gesten und Blicken. Beim Singen war sein Körper extra verdreht, so dass er sich genüsslich zu winden schien in seinem meckernden Schimpfen. Nichts Komma nichts hätte auflehnender und gleichzeitig einnehmender daherkommen können, als die verführerische Attacke gegen jenen schrecklichen Würgegriff, in dem sich Jugendliche wie Horsti und seine Freunde eingeklemmt sahen. Bis dahin.
Es war exakt der passende Moment, in dem Johnny Rotten sein maßgeschneidertes Grienen auf die Welt loswetterte. Wie genau man so eine Wirkung entfacht, wie man solch schneidendes Spotten herstellt, wie tiefste Verzweiflung in eine hoffnungsfrohe, utopische Stimme umgelenkt werden kann, der man – wie süchtig geworden – unbedingt zuhören will, all das durchschauten die Bimmelsdorfer und viele andere zu dem Zeitpunkt noch längst nicht. Alles Reflektieren kam viel später. Seit diesem Moment gab es kein Zurück mehr, und wenn auch nicht im Ausmaße der Sex Pistols’schen Vehemenz, so gelang es fortan einigen aus Horstis Szene doch, ein paar kleine, eigene Treffer zu landen – nun, da ihnen Ohren, Köpfe und Herzen geöffnet worden waren.
Die ersten erwähnenswerten Erfolge passierten dabei eher im Zufall. Zum Beispiel hatten Horstis Freunde ihm mit wasserfestem Stift heimlich das Wort »Polizei« auf den Rücken seiner Jacke geschrieben und dazu noch zwei kräftige Bullenhörner über den Buchstaben O gesetzt, plus kleine Schweinsöhrchen an den Seiten. Da Horsti die Schmiererei nicht bemerkt hatte, wunderte er sich nicht schlecht, als ihn Dorfpolizist Anton – Spitzname Froggy (die froschgrüne Uniformfarbe war hier wohl ausschlaggebend gewesen) – am nächsten Tag heftig anging. »Sofort stehen bleiben!«, quakte er quer über den ganzen Marktplatz. Als Nächstes verlangte der aufgebrachte Wachtmeister mit einem derart wütenden Gesicht, wie Horsti es noch nie bei irgendjemandem gesehen hatte, nach seinem Ausweis, was ihm augenblicklich klarmachte, dass dem Behördenmann nicht zum Scherzen zumute war. »Den Personalausweis! Aber zack! Zack!« Welch ein Unsinn, wo doch Froggy – leider – nur allzu gut wusste, wer Horsti war, hatte dieser doch schon die ein oder andere Ermahnung von ihm erhalten. Wegen Kleinkram wie Fußbälle ins Café schießen oder dem Betreten von angeblich verbotenen Flächen. Diesmal aber, nach diesem ersten »richtig amtlichen« Vorfall, wie der tobende Amtsträger sich ausdrückte, würde es ein empfindliches Verwarnungsgeld geben. Und zwar 30 D-Mark, das könne er direkt sagen. Aber diesmal verstand Horsti gleichzeitig auch noch etwas anderes, viel Wichtigeres: Die Dinge ließen sich aus der Reserve locken. Man musste nur wissen, wie sie zu kitzeln sind. Dann kamen sie ganz von selbst aus ihrer Ecke heraus.
Von jenem Moment an, jenem kleinen Ereignis in den frühen Bimmelsdorfer Tagen, ließ Horsti nie wieder davon ab auszutesten, wie und mit welchen Mitteln er sich zur Wehr setzen konnte – wenn immer etwas dringend Luft bekommen musste. Dabei lernte er schnell, dass es nicht verkehrt ist, wenn die Gegenseite anfangs gar nicht richtig nachvollziehen kann, worum es eigentlich genau geht. Denn das landet dann umso nachhaltiger.
Seine ersten, obschon mit starkem Ehrgeiz verbundenen Versuche, sind allerdings schlicht ungelenk zu nennen. So malte er im Morgengrauen in riesigen schwarzen Lettern den als saftigen Protest gemeinten Satz »Bimmelsdorfer Cafés haben keine Ahnung von Kaffee« sehr gut sichtbar auf das schneeweiße Bimmelsdorfer Ratsgebäude. Gleich neben die große Eingangstür, wo sonst immer die Brautpaare herauskamen. Sein Angriff sollte als gerechte Strafaktion verstanden werden. Dazu muss man wissen, dass er Tage zuvor aus einem Café, dem Café Götter Eck, herausgeflogen war. Vor den Augen der versammelten Bimmelsdorfer Szene. Wegen einfach nur: nichts konsumieren wollen. Jetzt also seine Rache. Gemeint wie eine Kriegserklärung. Den Strafaktion-Begriff hatte er sich dabei von einer spanischen Separatistengruppe ausgeliehen, die in einem Buch über »Kämpfende Gruppen in Europa« vorgekommen und darin als besonders durchsetzungsstark hervorgehoben worden war.
Das Café Götter Eck war Horsti und seinen Freunden ohnehin seit längerem und nicht erst seit Horstis Rauswurf ein Dorn im Auge. Ein verhasstes Symbol der Scheiß-Bimmelsdorfer-Touri-Maschine. Da waren sich alle einig von der Gegenseite, als die Horsti und seine Clique sich von Anfang an empfanden. Das Götter Eck hieß im Dorfjargon nur Café Gottesgleich, weil es das teuerste Café am Platze war und auch weil dort immer viel Hamburger Prominenz abstieg. HSV-Spieler oder im gesamten Norden äußerst beliebte, oft sehr besoffene NDR-Moderatoren und Mundart-Witzeerzähler. Am schlimmsten aber waren die Stars der sogenannten Bäder-Tourneen, mit denen sich die nationale Schlagerbranche zusätzliche, saisonale Sommersaläre abholte. Einen zynischen, ordinären Kackehaufen, so nannte Horstis Freund Morten diese Veranstaltungen, die in Wirklichkeit »Singen und Klatschen im Sommerwind mit all Ihren beliebten Stars aus der Hitparade« hießen.
»Bimmelsdorfer Cafés haben keine Ahnung von Kaffee.« Horsti hatte sich eine Menge erhofft von seiner Aktion. Das musste einfach ein fetter Skandal werden bei dem Klartext der Ansage. Es kam aber nicht zu der gewünschten Resonanz. Eine kleine Aufregung entstand nur wegen der Beschmierung des Ratsgebäudes, nicht aber wegen der Botschaft selbst. Womöglich ging die Aktion auch deshalb unter, weil in derselben Woche, in der Horsti zuschlug, auch noch das beliebte Hafenfest im Ortsteil Needorf stattfand und zu diesem Ereignis viele in der Gegend immer heftig betrunken waren.
Trotz der schmerzlichen Schlappe ließ Horsti sich keinesfalls entmutigen. Und tatsächlich war sein in der Schule ausgeführter nächster Versuch, den er als »Umkartografieren« bezeichnete, ein richtig schöner Achtungserfolg. Möglicherweise auch deshalb, weil es sich um eine von ihm empfindlich veränderte Landkartenrolle des Heiligen Landes, der wichtigsten Schautafel für den Religionsunterricht, handelte. Und weil der See Genezareth nach Horstis Eingriff direkt mit dem Toten Meer verschmolzen war. Alles war mit einem dicken, blauen Farbstreifen verbunden, den Horsti grob mit dem Malerquast aufgetragen hatte. Der heilige Fluss Jordan war über den Jordan gegangen, sozusagen. Auslöser für diese als gerechte Strafaktion Numero Dos bezeichnete Maßnahme waren diesmal die Schikanen des verhassten Deutsch- und Religionslehrers Fritz Schmidke, hinter vorgehaltener Hand auch als Nazi-Schmidke diffamiert, mit dem es ständig heftigen Ärger gab. Jedenfalls mit bestimmten Schülern.
Horsti war – das ist unbestritten – im Falle Schmidke und dessen Lehrmethoden keinesfalls allein mit seinen Anpassungsunwilligkeiten. Es waren Protagonisten wie jener autoritäre Lehrkörper, die aus den Bimmelsdorfer Bürgerkindern erst Abweichler machten. Einige waren wirkliche Alt-Nazis, die einfach nur übernommen worden waren in den nächsten Staat. »Erst haben sie Millionen Juden umgebracht, jetzt wollen sie Köpfe abschneiden, wenn sie dir sagen, dass du dir die Haare kürzen sollst«, schrieb ein Zeitgenosse von Horsti in sein Tagebuch. Solch Nachkriegs-Überbleibsel mit ihren Rügen und Strafen trieben sie zu ersten Ungehorsamkeiten, ließen die Reflexe aufkommen, die sie schließlich zur Gegenseite machten. Vielerorts. Ganz sicher war der Bimmelsdorfer Strand keine besonders verdrehte Gegend, die zwangsläufig extra Verdrehte hervorbringen musste. Es brodelte überall, und der Grund für die auffällige Aufmüpfigkeit war kein Zufall. Das nach dem Zerfall des Dritten Reiches längst nicht ausgefegte Land zeigte in großer Breite altgesinnte Fratzen. Ganz eindeutig waren viele vorgestrige Scheiß- Bestimmer verantwortlich für diese von ihnen bestimmte Scheiß-Zeit. Sie verursachten den Widerstand, der kommen musste, auch wenn die neuen Rebellen von Haus aus überhaupt keine Ahnung davon hatten.
Not macht erfinderisch. Im Bimmelsdorfer Raum nannten Horsti und seine Clique ihre frühen aufmüpfigen Einfälle »Falsche Fische machen«. Vielleicht, um so große Ausdrücke wie Subversion oder dergleichen zu vermeiden, wohl aber auch, weil solche Begriffe ihnen als zu ernst, zu ambitioniert erschienen. Die Versuche der Falschen Fische wucherten wild in Qualität und Wirkung. Auf jeden Fall grassierte eine massive, hochansteckende Scheißebauwut, einer Seuche gleich, in dem bis dahin beschaulichen Küstenstreifen. Bimmelsdorfer Strand, Needorf, Scharbe, Haffke – die ganze Bucht und auch das Hinterland waren infiziert. Wenn auch nur recht kurz. Bei ihrem Ausbruch konnten alle gar nicht genug davon bekommen, möglichst zahlreiche aneckende Viren zu produzieren. Der Eifer ließ aber schnell nach. Vielen Aktiven fehlte der Durchhaltewille, und sie empfanden ziemlich bald ein schlechtes »Aufwand-Nutzen-Verhältnis« – das hat einer der Neuaktivisten wirklich genau so gesagt, bevor er ins Lager der konsumbegeisterten Discotypen überlief. Die meisten hörten nach kurzer Entflammung in Wahrheit aber deshalb so schnell wieder damit auf, weil sie schlicht keine Ideen mehr hatten.
Einige wenige haben hingegen nie wieder nachgelassen, nach immer neuen Falschen Fischen, nach launigen, spottenden und gebrauchsfesten Alternativen zum Vorherrschenden zu forschen. Und diese Minderheit, das waren diejenigen, die eine stechende Notwendigkeit empfanden, sich einmischen zu müssen. Für sie begann ein endloser Zickzacklauf. Angestoßen durch eine ungerechte Ohrfeige oder eine andere demütigende Berührung begannen sie, gegen den Strom zu schwimmen. Sie begaben sich auf einen langen, wackeligen Weg. Das war manchmal großartig, dann wieder nur kleinfühlig. Und dabei sehr nervös. Naiv. Befindlich, arrogant, unsicher, getrieben. Angeschlagen, Rache nehmend, Hilfe schreiend. Ideenreich, platt, maßlos, besserwissend. Jammernd. Abseits, frontal, kämpferisch. Ehrgeizig. Witzig, hart, ironisch, bitterernst, ganz süß und ganz verletzend. Schnell und gehetzt. Und auf der Stelle tretend. Von da an. Und noch immer.
Wie lässt sich ein losgetretenes Schaukeln von verschiedenen Leben gut beschreiben? Im Falle von Horsti und seinen Mitstreitern und Mitstreiterinnen könnte es Sinn ergeben, unterschiedliche Proben aus unterschiedlichen Phasen zu entnehmen. Weil sich ihre Geschichten nicht ganz so sauber aufgereiht erzählen lassen. Ihre Biografien sind auf vielen Ebenen Vergangenheit und Gegenwart gleichzeitig, zeigen Tempo und Stillstand in einem. Oben ist unten. Vorne ist hinten. In eigenen Höhen und fremden Tiefen. Manche von ihnen winden und spreizen sich in einer nicht enden wollenden Grätsche. Ein permanentes Abwägen ist das. Schlecht zu zügeln, aber irgendwann gewöhnen sie sich an Parallelen voller Widersprüche. Werden Profis – selbst im Unprofessionellen. Man trifft sie irgendwo zwischen Straßenkrach und Konzerthausklang. Hin und her wippend. Um Flexibilität bemüht.
In so ein kompliziertes Spannungsfeld des Nichtrichtigen im womöglich Totalfalschen stolperte Horsti vom Bimmelsdorfer Strand völlig ungeschützt hinein. Ahnungslos. Glaubte er jedenfalls. Oder war er ganz bewusst dort hineingeraten, allein schon, weil da am meisten geboten wurde? Es lässt sich jedenfalls festhalten, dass in jenen besonderen Bimmelsdorfer Erweckungsmomenten die Dinge auch schon nicht nur eindeutig waren. Brennende Langweile lautete der Filmtitel über eine englische Musikgruppe, die in derselben Zeit durch deutsche Provinzen zog, in der Horsti und Konsorten aufwachten. Das traf es ganz gut. Angezündet in der Lethargie. Und Flammen, die gab es, das steht fest. Stillstände auch. Zwischendurch war auch Zauber. Manchmal im Sommer, die völlige Action. Ausprobieren. Experimentieren mit gänzlich unbekannten Rohstoffen. Immerhin wusste man, was man nicht wollte, gegen wen und was man war.
Die Angriffe aber verliefen extrem unsortiert. Vieles verging bereits im Ansatz. Anderes misslang vollständig. Für ein Flugblatt mit Namen von Lehrern darauf, die mit dem bereits genannten Deutschlehrer Nazi-Schmidke womöglich privat in Kontakt standen, schämt sich Horsti bis heute. Auch für die superlahme Hausbesetzung in einem leerstehenden Teppichhaus, gleich neben dem damals für die Szene sehr wichtigen Wienerwald-Restaurant an der Bimmelsdorfer Promenade. Heute verkauft dort eine Sylter Fischspezialitäten-Kettengastro Seafood, andere Rolexzeugs oder Edelmodekram ab, und ein eklig mit Geld um sich werfender Mann, der mal HSV-Präsident war und einer Populisten-Partei vorstand, baut, weil er irgendwie Asia-Fan ist, ein prahlendes Gebäude nach dem anderen – strikt in Buddhistenweiss getüncht – an den Strand oder auch schon mal ins Meer. Damals endete die Inbesitznahme des zentral gelegenen Ex-Kaufhauses damit, dass Horsti und seine einzigen zwei Mitbesetzer gleich in der ersten Nacht wieder abzogen. Freiwillig. Wegen zu kalt. Und wegen Hunger und Durst. Sie hatten nicht bedacht, dass der Wienerwald am Tag ihrer Aktion – einem Montag – geschlossen bleiben würde und sie deshalb weder halbe Hähnchen noch Einbecker Mai-Ur-Bock erwerben konnten. Viel besser gelangen dagegen die Touristen-Tretfallen aus großen Mengen von Quallen, die ein paar Gleichgesinnte aus dem nahe gelegenen Needorf zur Anwendung brachten. Sie schaufelten die glibberigen Seetiere in metertiefe Gruben und tarnten sie an der Oberfläche mit etwas Strandsand, damit die super ungeliebten Touris schreiend darin versackten. Dieselben Kollegen tauschten auch Nummernschilder von Popper-Karren aus und probierten ein paar Dinge mit Urin in zu teuren Longdrinks. Das funktionierte in seiner Direktheit.
Mehr Subtilität kam erst mit der Idee auf, trojanische Geschichten unters Volk zu bringen. Bis zum heutigen Tag wird Horsti nicht müde zu behaupten, dass mit ihnen die »öffentliche Ordnung empfindlich gestört« wurde. Auch für diese kernige Aussage hatte er die spanische Separatistengruppe bemüht. Immerhin gab er seiner ausnahmsweise mal wirklich eigenen Erfindung, einer Abwandlung der Trojaner, einen starken Namen – das fanden wirklich alle. »Falscher-Kuckuck-beim-Schwarzfahren-entwischt« lautete der Slogan, mit dem Horsti Unfrieden ohne Ende stiften wollte. Den Kuckucks-Satz, an dem er wochenlang gefeilt hatte, hinterließ er, wo er nur konnte: als unauffällig fallen gelassenes Zettelchen oder als Kritzelei im Schulklo. Er sprühte ihn sogar als Graffiti an Mauern, was damals im ländlichen Raum noch äußerst selten vorkam. Tatsächlich war das eigene Graffiti gleichzeitig das erste echte, was er je gesehen hatte, neben denen aus dem Fernsehen von Berichten über die New Yorker Bronx oder so. Die simple Grundidee für Falscher-Kuckuck-beim-Schwarzfahren-entwischt war es, unkorrekte Nachrichten oder Geschichten zu verbreiten in dieser ohnehin auf puren Lügen aufgebauten Schweinegesellschaft, wie es Horstis Freund Stephan nannte, der die Dinge stets wesentlich radikaler aussprach. Und den Horsti für genau solche Ansagen heimlich bewunderte. Auf jeden Fall versuchte man mit diesen ungünstigen Märchen die Glaubwürdigkeit einer Person anhaltend zu destabilisieren, also wenn diese nachweisbar als ungerechte – als ein Chefschwein zum Beispiel – identifiziert worden war. Und davon gab es in Bimmelsdorf einige.
Schon nach kurzer Zeit gelang es Horsti, unter seinen Zielpersonen eine beachtliche Menge Unruhe zu stiften, und schnell fingen weitere aus der Clique an, mit der erfreulich gut funktionierenden Kuckucks-Methode zu arbeiten. Horstis Klassenkameradin Kathrin agierte dabei am effizientesten. Unvergessen ihr über eine Lokalzeitung gestreutes Gerücht, es werde »bereits in der kommenden Saison« im nahen Klein-Bimmelsdorf eine »neue Autobahnanbindung« gebaut. Wegen »ständig steigenden Verkehrsaufkommens«. Der nötige Bebauungsplan sei von der Politik schon »so gut wie durchgewunken«. Gleich nach Aussetzung dieser Falschmeldung herrschte richtig große Empörung im Ort: »So etwas kann man doch nicht im Ernst wollen in einem ausgewiesenen Luftkurort.« Starker Unmut machte sich breit, meist in den Cafés vorgetragen oder als Kommentare in demselben Lokalblatt. Die Autobahnanbindung führe »unweigerlich« zu einer »immensen Wertminderung« für viele Immobilien und Grundstücke in der »gesamten Region«, so ein Kommentar in der Zeitung. Obendrein sei man dann nicht mehr »wettbewerbsfähig gegenüber Scharbe« und anderen »mitkonkurrierenden« Erholungsorten. »Kaum wiedergutzumachen« sei es, wenn sich »so ein Schwachsinn« durchsetzen würde. Ohne genauer nachzuschauen, woher die Meldung eigentlich kam, kochte die Stimmung immer bedrohlicher. Die ganze Aufregung fand ihren absurden Höhepunkt in einer Ohrfeige, die ein aufgebrachter Ferienwohnungsbesitzer aus NRW einer ansässigen Hotelierstochter verpasste, weil sie etwas abschätzig angemerkt hatte, es würden doch erst einmal mehr Touristen nach Bimmelsdorf kommen, da es durch den angedachten Schnellstraßenausbau ungleich bequemer werden würde, das verpennte Kaff mit dem Auto zu erreichen.
Die Wogen glätteten sich erst, als in dem damals noch einzigen Lokalblatt Strandläufer, wo auch Kathrins ursprünglicher Text erschienen war, eine gegenteilig lautende »persönliche Garantie« für »ehrenwörtlich, kein geplantes Autobahnanbindungsbauvorhaben der Gemeinde Bimmelsdorfer Strand« vom amtierenden Kurdirektor ausgesprochen wurde. Trotzdem, Kathrins Coup blieb unvergessen und hatte einmal mehr deutlich werden lassen, welch flache Gesinnung vorherrschte. Aktuell diskutiert eine Gemeinde in der Nähe von Bimmelsdorf eine geplante Flüchtlingsunterkunft, die in einer leerstehenden Kaserne am Ortsrand entstehen soll. Die Argumente der lokalen Inländer tönen verblüffend ähnlich veränderungsunwillig wie damals.
Horsti war zum Höhepunkt des Autobahnanbindungs-Schwindels total aus dem Häuschen und hat ihn – wohl auch um das Ganze noch weiter anzufachen – mit seinem ersten musikalischen Projekt »Immergrün« (der Name sollte darauf hinweisen, dass Leute wie er keinesfalls stoppen werden, nur weil zum Beispiel eine Ampel rotes Licht anzeigt) in dem Songtext »Kalte Meldung / Heiße Köpfe« verewigt. Er ist mit Immergrün allerdings niemals aufgetreten, auch weil er damit noch ganz allein dastand, ohne irgendeinen weiteren Mitmusikanten.
In der Folgezeit wurden noch einige weitere richtig gut funktionierende Lügengeschichten aufgetischt, die dann jeweils ein klein bisschen Atem verschafften in ihrem – da gibt es nichts zu beschönigen – meist farblosen Provinzleben. Denn trotz einiger gelungener Ablenkungen: Was auf jeden Fall in fester Erinnerung bleibt, ist das Gefühl an ein graues Unwohlsein, latente Schwere und eine diffuse Undurchdringbarkeit des Daseins. Die Sinnfreiheit jener Tage war dabei kaum auszuhalten, in ihrer alles in sich aufsaugenden Taubheit. Jene Zeit war aus Blei. Sie war ein luftdichtes Tuch, unter dem alles erstickte, was sich zu bewegen versuchte. Und genau deshalb war das Versprechen der urplötzlich heranschwappenden Neuen Welle, die schrillen Töne etwa in Gestalt des lauten A-Wortes und was sie alle erst mal frei interpretierend damit verbanden, von so mitreißender Bedeutung. Auf einmal funkelte Verheißung. Wie der erste Lichtstrahl nach einer nicht enden wollenden Dunkelheit. Es entstand eine große kollektive Identität.
Ich / Du / Alle / Wir
Werden: nie wieder allein sein!
Hört ihr das?
Tatsächlich, es sind noch andere da draußen! Und diese anderen werden das auch nicht länger so mitmachen. Es vertrockneten nicht nur sie dort am Klein-, Groß- und Bimmelsdorfer Strand. Nur ließ sich das alles eben noch nicht sauber zu einer patentierbaren Rettungsinsel ausbauen. Deshalb war erst mal nur ungerichtetes Gezappel. Und pures Staunen. Einordnen konnte warten. Geschlafen wird, wenn gestorben ist. Wahrscheinlich ist das auch schon immer so gewesen mit dem unwissenden Losspringen und nachträglichen Nachmessen. Der Schriftsteller Oskar Maria Graf entfloh über ein halbes Jahrhundert zuvor der klammen bayrischen Provinz und somit den Misshandlungen des elterlichen Betriebes – ähnlich unvorbereitet auf alles Weitere. Nach langem Erdulden in der Backstube hatte der junge Herr Graf dem despotischen, vorgesetzten Bruder ein Backblech über den Kopf geschlagen und war sofort auf in die Stadt, nach München. Dort trugen sich in jenen Tagen die aufregenden Ereignisse zu, aus denen dann die Münchner Räterepublik wurde, jener Versuch unterschiedlichster Leute, sich selbst und unbedingt unautoritär zu regieren. Oskar Maria Graf also, nach seiner impulsiven Flucht frisch angekommen in diesem Pulverfass, fragte als Erstes ausgerechnet einen Polizisten nach dem Ort, »an dem sich immer diese Anarchisten treffen«, Später beschrieb er jenen Moment des Ausbrechens aus seiner nicht mehr zu ertragenden, zugeschnürten Zwangslage mit den Worten »als das Blut brach«. Wie ein überlauter Weckton habe das gewirkt.
Eben. Und vergleichbar erweckend war das, was in Horstis Provinz an naive, superbereite Ohren schrillte. Sicher waren Horsti und die Seinen im Augenblick, da bei ihnen das Blut brach, weniger existentiell bedroht als die Menschen in den vorrevolutionären Tagen des Münchner Umsturzes. Horstis Clique hatte trotzdem eine auf sie stark zutreffende Aufforderung verstanden, in diesem Moment der klaustrophobischen Windstille, in dieser repressiven BRD der späten 70er Jahre. Es war eine wundersame Rettung aus höchster Not. Sie alle waren am Verdursten und am Absaufen im selben Moment, verkeilt in der Verklemmtheit der Nachkriegsbeauftragten, die ihre Nächsten, Lehrer, Ausbilder oder Politiker waren. Nicht viel attraktiver zeigten sich die genauso Unbrauchbaren, auf eine ganz andere Art Entblößten: jene ausglimmenden Hippies oder Guatemala-Korrekten. Die waren zwar inhaltlich erbverwandt, erschienen aber nicht wirkungsrelevant genug in den Augen und Ohren der jungen Horstis und Mortens, Kathrins und Martinas. Es musste jetzt mal etwas bedingungslos laut knallen. Heftig angegriffen werden. Die angebotene Mische der sich weiter knüppelhagel spätpreußisch aufführenden, in weiten Teilen starrgeistigen, autoritären Gesellschaft, die sich nur in frivolen, beschwipsten Bürgerspäßen auflockerte, war als Orientierungsbild insgesamt super unattraktiv.
Ein riesiges bizarres Schützenfest mit marschierenden Schellenbäumen und verkrochenem, anzüglichem Partykeller. Kegelvereinsmeiereien und Vatertagssaufmüllerchen. Was heute neo-kultigen Eventcharakter hat, in massentauglichen Eventparaden, als Schlagermusikumzüge mit zigtausend Schunkelnden, war damals unlustige Angehörigenschändung. Mindestens für Frauen und Kinder. Die aus dieser hässlichen Soße herauswachsenden Sprösslinge konnten gar nicht anders, als riesige, stinkende Haufen darauf zu kacken und einen rücksichtslosen Pogo darüber hinweg zu tanzen. Und sie kackten und tanzten so hysterisch, dass sie sich manchmal dabei verletzten. Und andere gleich mit. Alle sollten unbedingt sehen, dass es hier jetzt welche wirklich ernst meinten. Und es musste kapiert werden, dass in diesem deutlichen Auftritt gleichzeitig gar nichts mehr ernst genommen werden wird, nichts in Betracht zu ziehen ist, von der lebensverlogenen Erwachsenenweltwüste, der schönen Leere, wie die Sex Pistols sie besangen.
Keine Zukunft mehr dafür!
Wozu auch.
Für was auch.
Für welche Naturbeschädigung / Ausbeutung / Artenvernichtung / Aufrüstung / Angestelltenverbrauchung.
In welcher Anstalt.
Für welche Seite des Kalten Krieges.
Für welchen Stammtisch.
Für welchen Rassismus.
Für welchen Machismus.
Für welches Angebot von gerahmter Verplanung / Schule / Ausbildung / Arbeit / Endstation.
Horsti fragte sich das wieder und wieder: Wer bestimmt, wie wir wo reinpassen, um wie mitmachen zu müssen? Wer entscheidet, was wir wann machen müssen, um wessen Existenz zu existieren? Und so weiter. Wieso arbeiten müssen, um leben zu können?
»Anaaaaaaarckeeeeey!« Horsti wünschte jedem Wesen, wenigstens ein einziges Mal dieses Gefühl zu haben. In diesem Sinne loslassen zu können. Mit aller Wucht hochspringen. Mit allem Recht »Nein!« schreien. Das tut dann überhaupt nicht weh beim Hinfallen. Weil der Hall des Aufschlagens selbsterzeugt ist und so zum Schutz wird für den nächsten Sprung. Und verstummen wird so ein purer Sound nie mehr. Wobei Horsti eines schon recht bald ahnte: Nichts lässt sich konservieren. Und auch die schlaue Kathrin war derselben Meinung, und sie konnte das auch noch gut begründen. Als Horsti einmal zu ihr sagte, er habe eine Art universelle Methode entdeckt, wie man struppige Lieder schreiben konnte, die auch noch in 100 Jahren genauso un-mitsingbar sind, antwortete sie weitsichtig, dass es vergebene Liebesmühe sei, Förmchen anfertigen zu wollen zum Sperrigsein. Es gebe keinen haltbaren Baukasten zum Rebellieren, alles noch so Abseitige würde mit der Zeit zwangsläufig wie ein aufgewärmtes Süppchen schmecken, prophezeite sie. Er werde schon sehen. Horsti verstand das noch nicht so ganz zu jener Zeit. Vielleicht wollte er auch einfach nicht. Die zugehörigen Erkenntnisse, die Kathrin anscheinend bereits damals hatte, erlebte er erst viel, viel später.
Machen, machen, krachen lassen. Und in Frage stellen: »Wie kann ich neu auf die Welt kommen, wenn mir meine erste Geburt so gar nicht gefallen hat?« Zuerst einmal brauchten sie vernünftige Namen. Denn wer sich nicht fühlte wie Morten, Stephan und Horsti oder Kathrin, Tanja und Martina, der musste auch nicht länger so heißen. Aus Kathrin wurde Kitty. Kurze Zeit später dann noch besser: Kitty against Kitty. Stephan nannte sich nun Nerve R. – sehr zu seinem Charakter passend. Horsti fand nicht gleich etwas Passendes. Er wühlte sich durch die Welten seiner Heroen und versuchte, daraus etwas Verbindendes zu schrauben. Win Che gefiel ihm ganz gut. Gesprochen: Winschi. Eine Kombination aus Winnetou und Che Guevara. Kitty against Kitty fand das super peinlich, anmaßend und nicht mal cool. Dann eben direkter. Explosion! Krawall! Gefahr? Genau, Gefahr! Denn so fühlte er sich, gefährlich. Ein gefährlicher Angreifer auf die Verhältnisse. Horsti Danger! Das tat richtig gut. Oder doch nicht? Zu leicht zu entschlüsseln. Zu unsubtil. Besser, weil irritierender: irgendetwas mit dem Wort Germany! Horsti from Germany? Fast. Hm. Stevie? Joe? Franki? Tommi!? Genau, das war stärker. Tommi from Germany! Internationale Verwegenheit. Dabei aber auch irgendwie einfach. Sein Name sollte kritisch sein. Mit umgedrehtem Spieß. Tommi from Germany. Dem Teufel den Spiegel vorhalten. Sich freiwillig auf das beziehen, was man böse findet. In jenen Tagen entstanden unzählige weitere Pseudonyme. Doktor Onkel! Cat the Cat! Das Wichtigste an den Umbenennungen war das Spektakuläre daran. Dem Kinde einen eigenen, selbstgewählten, einen größeren Namen geben. Damit hatte man den ersten echten Abstand geschaffen von der lähmenden Vorsehung, die ihre Herkunft weiterführen sollte.
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