Die Kammer - John Grisham - E-Book

Die Kammer E-Book

John Grisham

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Beschreibung

»John Grisham in Höchstform.« The New York Times

Im Hochsicherheitstrakt des Staatsgefängnisses von Mississippi wartet Sam Cayhall auf seine Hinrichtung. Er ist wegen eines tödlichen Bombenanschlags verurteilt. Seine Lage ist hoffnungslos. Nur der Anwalt Adam Hall kann ihm noch eine Chance bieten. Es geht um Tage, Stunden, Minuten.

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Inhaltsverzeichnis

DANKSAGUNGENKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Werkverzeichnis der im Heyne Verlag erschienenen Titel von John GrishamDer AutorDie RomaneCopyright

DANKSAGUNGEN

Ich war früher Rechtsanwalt und habe Leute vertreten, die aller möglichen Verbrechen angeklagt waren. Glücklicherweise hatte ich nie einen Mandanten, der wegen Mordes vor Gericht stand und zum Tode verurteilt wurde. Ich brauchte nie einen Todestrakt aufzusuchen, nie das zu machen, was die Anwälte in dieser Geschichte tun.

Weil ich Recherchen hasse, habe ich das getan, was ich beim Schreiben eines Romans sonst auch immer tue: Ich habe mir erfahrene Anwälte gesucht und mich mit ihnen angefreundet; ich habe sie zu jeder Tages- und Nachtzeit angerufen und um Rat gefragt. Und an dieser Stelle möchte ich ihnen danken.

Leonard Vincent, der viele Jahre lang der Anwalt des Mississippi Department of Corrections war, ließ mich freimütig Einblick in seine Arbeit nehmen. Er erklärte mir die Gesetze, zeigte mir seine Akten, nahm mich in den Todestrakt mit und führte mich in dem riesigen Staatsgefängnis herum, das allgemein einfach Parchman genannt wird. Er erzählte mir viele Geschichten, die irgendwie ihren Weg in diese fanden. Leonard und ich kämpfen nach wie vor mit der moralischen Fragwürdigkeit der Todesstrafe, und ich vermute, das wird immer so bleiben. Dank auch seinen Mitarbeitern und den Wärtern und anderen Angestellten von Parchman.

Jim Craig ist ein überaus mitfühlender Mann und ein hervorragender Anwalt. Als Leitender Direktor des Mississippi Capital Defense Resource Center ist er der offizielle Anwalt der meisten Insassen des Todestrakts. Er steuerte mich gekonnt durch das undurchdringliche Labyrinth des Rechtsschutzes für bereits Verurteilte und der Habeas-Corpus-Taktik. Die unvermeidlichen Fehler habe ich gemacht, nicht er.

Ich habe mit Tom Freeland und Guy Gillespie zusammen Jura studiert, und ich danke ihnen für ihre bereitwillige Hilfe. Marc Smirnoff ist ein Freund und der Herausgeber von The Oxford American und er hat wie gewöhnlich das Manuskript durchgesehen, bevor ich es nach New York schickte.

Ich danke auch Robert Warren und William Ballard für ihre Hilfe. Und wie immer ein ganz spezielles Dankeschön an Renee, meine beste Freundin, die nach wie vor jedes neue Kapitel als erste begutachtet.

1

Der Entschluß, das Büro des radikalen jüdischen Anwalts in die Luft zu sprengen, wurde relativ mühelos getroffen. Nur drei Leute waren an der Ausführung beteiligt. Der erste war der Mann mit dem Geld. Der zweite war ein Einheimischer, der das Terrain kannte. Und der dritte war ein junger Patriot und Fanatiker mit einem Talent für Sprengstoffe und einer erstaunlichen Fähigkeit, spurlos zu verschwinden. Nach dem Bombenanschlag flüchtete er aus dem Land und tauchte sechs Jahre in Nordirland unter.

Der Name des Anwalts war Marvin Kramer, ein Jude, dessen mit Handel wohlhabend gewordene Familie seit vier Generationen in Mississippi lebte. Er wohnte in einem Vorkriegshaus in Greenville, einer Stadt am Fluß mit einer kleinen, aber einflußreichen jüdischen Gemeinde, einem netten Ort, der nur wenige Rassenunruhen erlebt hatte. Er war Anwalt geworden, weil der Handel ihn langweilte. Wie den meisten Juden deutscher Abstammung war es auch seiner Familie ohne große Mühe gelungen, sich an die Kultur des Tiefen Südens anzupassen, und sie hielten sich für nichts anderes als für typische Südstaatler, die nur zufällig eine andere Religion hatten. Sie verschmolzen mit dem Rest der etablierten Gesellschaft und gingen ihren Geschäften nach.

Marvin war anders. Sein Vater schickte ihn Ende der fünfziger Jahre auf die Universität Brandeis im Norden. Dort verbrachte er vier Jahre und anschließend drei Jahre an der juristischen Fakultät der Columbia University, und als er 1964 nach Greenville zurückkehrte, war die Bürgerrechtsbewegung in Mississippi in vollem Gange. Marvin stürzte sich ins Getümmel. Knapp einen Monat nach Eröffnung seiner kleinen Kanzlei wurde er zusammen mit zwei Mitstudenten aus Brandeis verhaftet, weil er versucht hatte, schwarze Wähler zu registrieren. Sein Vater war wütend. Seine Familie war peinlich berührt, aber das kümmerte Marvin nicht im geringsten. Er erhielt seine erste Todesdrohung im Alter von fünfundzwanzig Jahren und legte sich eine Waffe zu. Er kaufte eine Pistole für seine Frau, die aus Memphis stammte, und wies ihr schwarzes Dienstmädchen an, immer eine Waffe in der Handtasche bei sich zu tragen. Die Kramers hatten zwei Söhne, zwei Jahre alte Zwillinge.

Die erste Zivilklage, die 1965 von der Kanzlei von Marvin B. Kramer und Partner (noch gab es keine Partner) eingereicht wurde, richtete sich gegen eine Unmenge angeblich diskriminierender Wahlpraktiken lokaler Amtsträger. Sie machte Schlagzeilen im ganzen Staat, und Marvins Foto erschien in den Zeitungen. Außerdem wurde sein Name vom Ku-Klux-Klan auf eine Liste zu verfolgender Juden gesetzt. Er war ein radikaler jüdischer Anwalt mit einem Bart und entschieden zu liberalen Ansichten, ausgebildet von Juden im Norden und jetzt damit beschäftigt, mit den Negern im Mississippi-Delta zu marschieren und sie zu vertreten. Das würde man nicht dulden.

Später gab es Gerüchte, daß Anwalt Kramer aus eigenen Mitteln Kautionen für Freedom Riders und andere Bürgerrechtler stellte. Er reichte Klagen ein gegen Einrichtungen, die nur für Weiße zugänglich waren. Er bezahlte für den Wiederaufbau einer vom Klan gesprengten Schwarzenkirche. Er wurde sogar dabei beobachtet, wie er Neger in seinem Haus willkommen hieß. Er hielt Reden vor jüdischen Vereinigungen im Norden und drängte sie, sich am Kampf zu beteiligen. Er schrieb flammende Briefe an Zeitungen, von denen nur wenige gedruckt wurden. Anwalt Kramer marschierte tapfer seiner Vernichtung entgegen.

Die Anwesenheit eines Nachtwächters, der friedlich zwischen den Blumenbeeten patrouillierte, verhinderte eine Attacke auf das Haus der Kramers. Marvin bezahlte den Wachmann damals bereits seit zwei Jahren. Er war ein ehemaliger Polizist und schwer bewaffnet, und die Kramers ließen ganz Greenville wissen, daß sie von einem Meisterschützen bewacht wurden. Natürlich wußte der Klan über den Wachmann Bescheid, und er wußte auch, daß er gegen ihn nichts ausrichten konnte. Deshalb wurde der Beschluß gefaßt, anstelle von Marvin Kramers Haus sein Büro in die Luft zu sprengen.

Die eigentliche Planung des Unternehmens dauerte nicht lange, in erster Linie deshalb, weil nur so wenige Personen daran beteiligt waren. Der Mann mit dem Geld, ein wortgewaltiger Prophet der weißen Vorherrschaft namens Jeremiah Dogan, war damals Imperial Wizard und damit Anführer des Klans in Mississippi. Sein Vorgänger war im Gefängnis gelandet, und Jerry Dogan genoß es, die Bombenanschläge zu organisieren. Er war nicht dumm. Im Gegenteil, das FBI gab später zu, daß Dogan als Terrorist Beachtliches geleistet hatte, weil er die schmutzige Arbeit an kleine, autonome Gruppen von Ausführenden delegierte, die völlig unabhängig voneinander operierten. Das FBI hatte es geschafft, den Klan mit Informanten zu infiltrieren, und Dogan traute niemandem außer Angehörigen seiner Familie und einer Handvoll Komplizen. Ihm gehörte die größte Gebrauchtwagenfirma in Meridian, Mississippi, und er machte eine Menge Geld mit allen möglichen zwielichtigen Geschäften. Manchmal predigte er in ländlichen Kirchen.

Der zweite Angehörige des Teams war ein Klansmann namens Sam Cayhall aus Clanton, Mississippi, in Ford County, drei Autostunden nördlich von Meridian und eine Stunde südlich von Memphis. Das FBI wußte über Cayhall Bescheid, nicht aber über seine Verbindung zu Dogan. Das FBI hielt ihn für harmlos, weil er in einem Teil des Staates lebte, in dem es kaum Klan-Aktivitäten gab. In letzter Zeit waren in Ford County ein paar Kreuze angezündet worden, aber es hatte keine Sprengstoffanschläge gegeben, keine Morde. Das FBI wußte, daß auch Cayhalls Vater dem Klan angehört hatte, aber aufs Ganze gesehen schien die Familie ziemlich passiv zu sein. Daß Dogan Sam Cayhall anwarb, war ein brillanter Schachzug.

Der Anschlag auf Kramers Büro begann mit einem Telefonanruf am Abend des 17. April 1967. Weil er mit gutem Grund argwöhnte, daß sein Telefon angezapft war, wartete Jeremiah Dogan bis Mitternacht und fuhr dann zu einem Münzfernsprecher an einer Tankstelle südlich von Meridian. Außerdem argwöhnte er, daß das FBI ihn beschattete, was übrigens zutraf. Sie beobachteten ihn, aber sie hatten keine Ahnung, wen er anrief.

Sam Cayhall hörte am anderen Ende aufmerksam zu, stellte ein oder zwei Fragen, dann legte er auf. Er kehrte in sein Bett zurück, ohne seiner Frau etwas zu sagen. Sie wußte, daß sie nicht fragen durfte. Am nächsten Morgen verließ er früh das Haus und fuhr in die Stadt Clanton. Er frühstückte wie jeden Tag in The Coffee Shoppe, dann telefonierte er von einem Münzfernsprecher im Gerichtsgebäude von Ford County.

Zwei Tage später, am 20. April, verließ Cayhall bei Anbruch der Dunkelheit Clanton und fuhr zwei Stunden nach Cleveland, Mississippi, einer College-Stadt im Delta, eine Fahrstunde von Greenville entfernt. Dort wartete er vierzig Minuten auf dem Parkplatz eines belebten Einkaufszentrums, konnte aber keinen grünen Pontiac entdecken. Er aß ein gebratenes Hähnchen in einem billigen Restaurant, dann fuhr er nach Greenville, um die Kanzlei von Marvin B. Kramer und Partner auszukundschaften. Cayhall hatte zwei Wochen zuvor einen Tag in Greenville verbracht und kannte die Stadt ziemlich gut. Er fand Kramers Büro, dann fuhr er an seinem stattlichen Haus vorbei und danach zurück zur Synagoge. Dogan hatte gesagt, die Synagoge käme möglicherweise als nächstes an die Reihe, aber zuerst müßten sie dem jüdischen Anwalt eine Lektion erteilen. Um elf war Cayhall wieder in Cleveland, und der grüne Pontiac stand nicht auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums, sondern vor einer Raststätte am Highway 61, einem Ort, der als zweite Wahl vorgesehen war. Er fand den Zündschlüssel unter der Bodenmatte auf der Fahrerseite und machte sich zu einer Spritztour durch die üppigen Felder des Deltas auf. Er bog auf eine Farmstraße ab und öffnete den Kofferraum. In einem mit Zeitungspapier abgedeckten Karton fand er fünfzehn Stangen Dynamit, drei Sprengkapseln und eine Zündschnur. Er fuhr zurück und wartete in einem Lokal, das die ganze Nacht geöffnet hatte.

Um genau zwei Uhr erschien das dritte Mitglied des Teams in der belebten Raststätte und ließ sich Sam Cayhall gegenüber nieder. Sein Name war Rollie Wedge; er war ein junger Mann, nicht älter als zweiundzwanzig, und dennoch ein vertrauenswürdiger Veteran des Krieges gegen die Bürgerrechtsbewegung. Er sagte, er käme aus Louisiana und wohnte jetzt irgendwo in den Bergen, wo ihn niemand finden konnte, und obwohl er sich nie mit seinen Taten brüstete, hatte er Sam Cayhall mehrmals erzählt, daß er fest damit rechnete, im Kampf um die Vorherrschaft der Weißen ums Leben zu kommen. Sein Vater gehörte zum Klan und besaß eine Abbruchfirma, und von ihm hatte Rollie den Umgang mit Sprengstoff gelernt.

Sam wußte kaum etwas von Rollie Wedge und glaubte nicht viel von dem, was er ihm erzählte. Er fragte Dogan nie, wo er den Jungen aufgetrieben hatte.

Sie tranken Kaffee und unterhielten sich eine halbe Stunde über Belanglosigkeiten. Cayhalls Becher zitterte gelegentlich vor Nervosität, aber Rollie war ganz ruhig. Er zuckte nicht einmal mit den Augenlidern. Es war nicht ihr erstes Zusammentreffen dieser Art, und Cayhall staunte über soviel Gelassenheit bei einem derart jungen Mann. Er hatte Jeremiah Dogan berichtet, daß der Junge nie in Aufregung geriet, nicht einmal dann, wenn sie sich ihrem Ziel näherten und er mit dem Dynamit hantierte.

Wedge fuhr einen Wagen, den er am Flughafen von Memphis gemietet hatte. Er holte einen kleinen Beutel vom Rücksitz, verschloß den Wagen und ließ ihn an der Raststätte stehen. Der grüne Pontiac mit Cayhall am Steuer verließ Cleveland und fuhr auf dem Highway 61 in Richtung Süden. Es war fast drei Uhr, und es herrschte keinerlei Verkehr. Ein paar Meilen südlich des Dorfes Shaw bog Cayhall auf einen dunklen Feldweg ab und hielt an. Rollie wies ihn an, im Wagen zu bleiben, während er den Sprengstoff inspizierte. Sam gehorchte. Rollie nahm seinen Beutel mit zum Kofferraum, wo er das Dynamit, die Sprengkapseln und die Zündschnur begutachtete. Er ließ den Beutel im Kofferraum, machte ihn zu und befahl Sam, nach Greenville zu fahren.

Gegen vier Uhr fuhren sie zum erstenmal an Kramers Kanzlei vorbei. Die Straße war dunkel und menschenleer, und Rollie sagte etwas in dem Sinne, daß dies sein bisher einfachster Job sein würde.

»Ein Jammer, daß wir nicht sein Haus in die Luft jagen können«, meinte er leise, als sie am Haus der Kramers vorbeifuhren.

»Ja, ein Jammer«, sagte Sam nervös. »Aber du weißt doch, er hat einen Wachmann.«

»Ja, ich weiß. Aber der Wachmann wäre kein Problem.«

»Ja, kann sein. Aber da drin sind Kinder.«

»Man muß sie umbringen, solange sie noch jung sind«, sagte Rollie. »Aus kleinen Judenjungen werden große Judenschweine.«

Cayhall parkte den Wagen in einer Gasse hinter Kramers Büro. Er schaltete den Motor aus, und die beiden Männer öffneten leise den Kofferraum, holten den Karton und den Beutel heraus und schlichen an einer Hecke entlang zur Hintertür.

Sam Cayhall brach mit einem Stemmeisen die Hintertür des Büros auf, und binnen Sekunden waren sie drinnen. Zwei Wochen zuvor hatte Sam vorgegeben, er hätte sich verlaufen, und die Empfangsdame nach dem Weg gefragt, dann hatte er darum gebeten, die Toilette benutzen zu dürfen. Auf dem Hauptflur, auf halbem Wege zwischen der Toilette und dem, was offenbar Kramers Büro war, stand ein schmaler, mit Stapeln von alten Akten und anderem juristischen Abfall gefüllter Schrank.

»Bleib an der Tür und beobachte die Gasse«, flüsterte Rollie gelassen, und Sam hielt sich nur allzugern an diese Aufforderung. Ihm war es lieber, einfach nur Wache zu schieben, statt selber mit dem Sprengstoff herumzuhantieren.

Rollie stellte rasch den Karton auf den Boden des Schrankes und verdrahtete das Dynamit. Es war ein riskantes Unternehmen, und Sams Herz raste, während er wartete. Er wendete dem Sprengstoff immer den Rücken zu, für den Fall, daß etwas passierte.

Sie hielten sich keine fünf Minuten in dem Büro auf. Dann waren sie wieder in der Gasse und schlenderten in aller Ruhe zu dem grünen Pontiac. Es war alles so einfach. Sie hatten das Büro eines Grundstücksmaklers in Jackson in die Luft gesprengt, weil der Mann ein Haus an ein schwarzes Ehepaar verkauft hatte. Es war ein jüdischer Makler gewesen. Sie hatten eine kleine Zeitungsredaktion gesprengt, weil der Herausgeber sich neutral über die Rassentrennung geäußert hatte. Sie hatten eine Synagoge in Jackson zerstört, die größte im ganzen Staat.

Im Dunkeln fuhren sie durch die Gasse, und als der grüne Pontiac eine Nebenstraße erreicht hatte, schaltete Sam die Scheinwerfer ein.

Bei sämtlichen früheren Anschlägen hatte Wedge eine Fünfzehn-Minuten-Zündschnur benutzt, eine, die einfach mit einem Streichholz angezündet wurde, ähnlich wie ein Feuerwerkskörper. Und ein Teil der Übung war gewesen, daß die beiden Attentäter mit heruntergekurbelten Fenstern irgendwo am Ortsrand herumfuhren, wenn die Sprengladung hochging. Sie hatten jede der früheren Explosionen gehört und gespürt, in angemessener Entfernung, während sie sich in aller Seelenruhe in Sicherheit brachten.

Aber in dieser Nacht würde es anders sein. Sam bog irgendwo falsch ab, und plötzlich standen sie an einem Bahnübergang mit blinkenden Warnlichtern, während vor ihnen ein Güterzug vorbeirumpelte. Ein ziemlich langer Güterzug. Sam sah mehr als einmal auf die Uhr. Rollie sagte nichts. Der Zug war vorbei, und Sam bog abermals falsch ab. Sie waren in der Nähe des Flusses, mit einer Brücke in einiger Entfernung, und die Straße war mit heruntergekommenen Häusern gesäumt. Sam schaute einmal mehr auf die Uhr. In weniger als fünf Minuten würde die Erde erbeben, und er zog es vor, in der Dunkelheit eines einsamen Highways zu verschwinden, wenn es passierte. Rollie zappelte einmal, als wäre er verärgert über seinen Fahrer, sagte aber nichts.

Und wieder um die Ecke in die nächste Straße. Greenville war keine sonderlich große Stadt, und Sam dachte, wenn er auch weiterhin immer neue Abzweigungen nahm, würde er schon irgendwann wieder in eine vertraute Gegend kommen. Die nächste Kehre aber erwies sich als die letzte. Sam stieg auf die Bremse, sobald ihm bewußt wurde, daß er in der falschen Richtung in eine Einbahnstraße abgebogen war, und als er auf die Bremse trat, setzte der Motor aus. Er riß den Schalthebel auf Parken und drehte den Zündschlüssel. Der Anlasser lief einwandfrei, aber der Motor wollte einfach nicht starten. Dann Benzingeruch.

»Verdammt!« sagte Sam mit zusammengebissenen Zähnen. »Verdammt!«

Rollie saß tief in seinem Sitz und schaute aus dem Fenster.

»Verdammt! Er ist abgesoffen!« Er drehte abermals den Zündschlüssel, mit dem gleichen Ergebnis.

»Mach die Batterie nicht leer«, sagte Rollie langsam, gelassen.

Sam war einer Panik nahe. Obwohl er sich verirrt hatte, war er ziemlich sicher, daß sie nicht weit von der Innenstadt entfernt waren. Er holte tief Luft und beobachtete die Straße. Noch ein Blick auf die Uhr. Es waren keine anderen Fahrzeuge in Sicht. Alles ruhig. Es war die perfekte Szenerie für ein Sprengstoffattentat. Er konnte das Feuer sehen, das sich auf den Fußbodendielen entlangfraß. Er konnte die Erschütterung der Erde spüren. Er konnte das Getöse von berstendem Holz und Gipsplatten, Ziegelsteinen und Glas hören. Verdammt, dachte Sam, während er versuchte, sich zu beruhigen, wir könnten sogar von den Trümmern getroffen werden.

»Man hätte meinen sollen, daß Dogan uns einen anständigen Wagen schickt«, murmelte er. Rollie reagierte nicht, sondern hielt den Blick auf etwas außerhalb des Wagens gerichtet.

Seit sie Kramers Büro verlassen hatten, waren mindestens fünfzehn Minuten vergangen, und es wurde Zeit für das Feuerwerk. Sam wischte sich Schweißperlen von der Stirn und versuchte noch einmal, den Wagen zu starten. Zu seiner großen Erleichterung klappte es. Er grinste Rollie an, der einen vollkommen gleichgültigen Eindruck machte, und setzte den Wagen ein paar Meter zurück, dann gab er Gas. Die erste Straße kam ihm bekannt vor, und zwei Blocks weiter waren sie auf der Main Street. »Was für eine Zündschnur hast du benutzt?« fragte Sam schließlich, als sie auf den Highway 82 abbogen, kaum zehn Blocks von Kramers Büro entfernt.

Rollie zuckte die Achseln, als wäre das seine Sache und Sam hätte nicht zu fragen. Sie wurden langsamer, als sie ein stehendes Polizeifahrzeug passierten, dann hatten sie den Stadtrand erreicht, und Sam beschleunigte. Minuten später lag Greenville hinter ihnen.

»Was für eine Zündschnur hast du benutzt?« fragte Sam noch einmal mit einem Anflug von Gereiztheit in der Stimme.

»Ich habe was Neues ausprobiert«, erwiderte Rollie, ohne ihn anzusehen.

»Was?«

»Würdest du nicht verstehen«, sagte Rollie, und Sam wurde allmählich richtig wütend.

»Einen Zeitzünder?« fragte er ein paar Meilen weiter.

»So etwas Ähnliches.«

Sie fuhren in völligem Schweigen nach Cleveland. Ein paar Meilen lang, während die Lichter von Greenville in der flachen Landschaft verschwanden, hatte Sam halb damit gerechnet, einen Feuerball zu sehen oder ein fernes Rumpeln zu hören. Nichts passierte. Wedge brachte es sogar fertig, ein Nickerchen zu machen.

Die Raststätte war voll, als sie ankamen. Wie immer ließ Rollie sich einfach von seinem Sitz gleiten und machte die Beifahrertür hinter sich zu. »Bis zum nächsten Mal«, sagte er mit einem Lächeln durch das offene Fenster hindurch, dann ging er zu seinem Mietwagen. Sam schaute ihm nach und staunte abermals über seine Unerschütterlichkeit.

Inzwischen war es kurz nach halb sechs, und im Osten durchbrach ein Anflug von Orange die Dunkelheit. Sam lenkte den grünen Pontiac auf den Highway 61 und fuhr südwärts.

Der Horror des Kramer-Attentats begann ungefähr um die Zeit, als sich Rollie Wedge und Sam Cayhall in Cleveland trennten. Er fing an mit dem Wecker auf dem Nachttisch, nicht weit von Ruth Kramers Kopfkissen entfernt. Als er wie üblich um halb sechs klingelte, wußte Ruth sofort, daß sie krank war. Sie hatte leichtes Fieber, heftige Schmerzen in den Schläfen, und ihr war sehr schlecht. Marvin half ihr in das nicht weit entfernte Badezimmer, wo sie eine halbe Stunde blieb. Ein gemeiner Grippevirus machte seit ungefähr einem Monat die Runde durch Greenville und hatte jetzt seinen Weg ins Haus der Kramers gefunden.

Um halb sieben weckte das Dienstmädchen die Zwillinge Josh und John und hatte sie schnell gebadet, angezogen und mit Frühstück versorgt. Marvin hielt es für das beste, sie wie vorgesehen in den Kindergarten zu bringen, damit sie aus dem Haus kamen und, wie er hoffte, weg von dem Virus. Er bat einen befreundeten Arzt telefonisch um ein Rezept und gab dem Mädchen zwanzig Dollar, damit es in einer Stunde das Medikament in der Apotheke abholen konnte. Dann verabschiedete er sich von Ruth, die mit einem Kissen unter dem Kopf und einem Eisbeutel auf dem Gesicht auf dem Badezimmerfußboden lag, und verließ mit den Jungen das Haus.

Seine Kanzlei befaßte sich nicht ausschließlich mit Bürgerrechts-Prozessen; von denen gab es 1967 in Mississippi nicht so viele, daß man davon leben konnte. Er bearbeitete ein paar Kriminalfälle und eine ganze Reihe von Zivilsachen – Scheidungen, Grundstücksauflassungen, Konkurse, Immobilien. Und ungeachtet der Tatsache, daß sein Vater kaum mit ihm redete und der Rest der Familie kaum jemals seinen Namen aussprach, verbrachte Marvin ein Drittel seiner Zeit im Büro mit der Arbeit an Familienangelegenheiten. An diesem speziellen Morgen sollte er um neun Uhr vor Gericht erscheinen, um einen Antrag in einem Prozeß zu begründen, bei dem es um den Immobilienbesitz seines Onkels ging.

Die Zwillinge liebten seine Kanzlei. Der Kindergarten wurde erst um acht geöffnet, also konnte Marvin noch eine Weile arbeiten, bevor er die Jungen ablieferte und sich anschließend ins Gericht begab. Das passierte vielleicht einmal im Monat. In der Tat verging kaum ein Tag, ohne daß einer der Zwillinge Marvin bat, sie in sein Büro mitzunehmen und erst danach in den Kindergarten zu bringen.

Sie kamen gegen halb acht im Büro an, und sobald sie drinnen waren, steuerten die Zwillinge sofort auf den Schreibtisch der Sekretärin los und auf den dicken Stapel Papier, der darauf wartete, geschnitten, kopiert, zusammengeheftet und in Umschläge gesteckt zu werden. Die Kanzlei war ziemlich weitläufig und mit Anbauten im Laufe der Jahre hier und dort erweitert worden. Durch die Vordertür gelangte man in eine kleine Diele, in der, fast unter einer Treppe, der Schreibtisch der Empfangsdame stand. An der Wand standen vier Stühle für wartende Mandanten. Auf den Stühlen lagen Zeitschriften herum. Rechts und links der Diele befanden sich kleine Büros – inzwischen arbeiteten drei weitere Anwälte für Marvin. Von der Diele aus führte ein Flur durchs Zentrum des Erdgeschosses, so daß man von der Vordertür aus die ungefähr fünfundzwanzig Meter entfernte Rückfront des Gebäudes sehen konnte. Marvins Büro war der größte Raum im Erdgeschoß, die letzte Tür auf der linken Seite, direkt neben dem vollgestopften Schrank. Dem Schrank genau gegenüber lag das Büro von Marvins Sekretärin. Sie hieß Helen und war eine attraktive junge Frau, von der Marvin seit achtzehn Monaten träumte.

Oben, im ersten Stock, lagen die engen Büros eines der anderen Anwälte und zweier Sekretärinnen. Im zweiten Stock gab es weder Heizung noch Klimaanlage; er wurde als Speicher benutzt.

Marvin traf normalerweise zwischen halb acht und acht im Büro ein, weil er gern eine ruhige Stunde zum Arbeiten hatte, bevor seine Mitarbeiter kamen und das Telefon zu läuten begann. Wie immer war er auch am Freitag, dem 21. April, der erste.

Er schloß die Vordertür auf, schaltete das Licht ein und blieb in der Diele stehen. Er ermahnte die Zwillinge, auf Helens Schreibtisch kein Chaos anzurichten, aber sie waren bereits den Flur entlanggestürmt und hörten kein Wort. Als Marvin zum erstenmal den Kopf hineinsteckte und sie nochmals ermahnte, hatte Josh bereits die Schere in der Hand und John den Hefter. Er lächelte, dann begab er sich in sein Büro, wo er bald darauf tief in Recherchen versunken war.

Ungefähr Viertel vor acht, wie er sich später im Krankenhaus erinnerte, war Marvin die Treppe zum zweiten Stock hinaufgestiegen, um eine alte Akte zu holen, die, wie er glaubte, für den Fall, an dem er gerade arbeitete, relevant war. Er murmelte etwas vor sich hin, während er die Treppe hinaufeilte. Wie sich die Dinge entwickelten, rettete diese alte Akte ihm das Leben. Die Jungen lachten irgendwo auf dem Flur im Erdgeschoß.

Die Detonation schoß mit etlichen hundert Metern pro Sekunde aufwärts und in die Horizontale. Fünfzehn Stangen Dynamit verwandeln ein Haus mit Holzkonstruktion binnen Sekunden in Splitter und Geröll. Es dauerte eine volle Minute, bis die zerfetzten Balkenteile und andere Trümmer auf die Erde zurückkehrten. Der Grund schien zu zittern wie bei einem kleinen Erdbeben, und Glasscherben regneten, wie Zeugen später erklärten, eine Ewigkeit lang auf die Innenstadt von Greenville herab.

Josh und John Kramer waren keine fünf Meter vom Epizentrum der Detonation entfernt und bekamen glücklicherweise nichts von dem mehr mit, was passierte. Sie mußten nicht leiden. Ihre zerschmetterten Körper wurden von Feuerwehrleuten unter einer zwei Meter dicken Geröllschicht gefunden. Marvin Kramer wurde zuerst an die Decke des zweiten Stocks geschleudert und fiel dann bewußtlos zusammen mit den Trümmern des Daches in den rauchenden Krater im Zentrum des Gebäudes. Er wurde zwanzig Minuten später gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Drei Stunden später hatte man ihm beide Beine an den Knien amputiert.

Die Detonation erfolgte genau um sieben Uhr sechsundvierzig, und das war gewissermaßen ein Glück. Helen, Marvins Sekretärin, verließ gerade das vier Blocks entfernte Postamt und spürte die Druckwelle. Zehn Minuten später, und sie wäre im Haus gewesen und hätte Kaffee gemacht. David Lukland, ein junger Anwalt, der für Marvin arbeitete, wohnte drei Blocks entfernt und hatte gerade seine Wohnungstür abgeschlossen, als er die Detonation hörte. Zehn Minuten später, und er hätte in seinem Büro im ersten Stock seine Post durchgesehen.

In dem Bürohaus nebenan brach ein kleines Feuer aus, und obwohl es schnell wieder gelöscht wurde, trug es erheblich zu der allgemeinen Aufregung bei. Der Rauch war ein paar Augenblicke lang sehr dick, und die Leute eilten heraus.

Zwei Passanten waren verletzt worden. Ein knapp einen Meter langes Balkenstück landete hundert Meter entfernt auf einem Gehsteig, prallte ab und traf das Gesicht von Mrs. Mildred Talton, die gerade von ihrem geparkten Wagen zurücktrat und in die Richtung der Explosion schaute. Sie trug eine gebrochene Nase und eine große Fleischwunde davon; beides heilte jedoch im Laufe der Zeit.

Die zweite Verletzung war geringfügig, aber sehr bedeutsam. Ein Fremder namens Sam Cayhall ging langsam auf Kramers Büro zu, als die Erde so stark erbebte, daß er das Gleichgewicht verlor und über einen Bordstein stolperte. Als er sich wieder auf die Beine mühte, trafen ihn herumfliegende Glassplitter einmal ins Genick und einmal in die linke Wange. Er ging hinter einem Baum in Deckung, während um ihn herum Trümmer und Scherben herabregneten. Er starrte auf die Verheerung vor sich, dann rannte er davon.

Blut tropfte von seiner Wange und rann auf sein Hemd. Er stand unter Schock und konnte sich später kaum an Einzelheiten erinnern. Wieder in demselben grünen Pontiac verließ er eiligst die Innenstadt, und wenn er aufgepaßt und nachgedacht hätte, wäre es ihm wahrscheinlich gelungen, zum zweitenmal ungesehen aus Greenville zu verschwinden. Zwei Polizisten in einem Streifenwagen jagten auf die Explosionsmeldung hin in das Geschäftsviertel, als sie einen grünen Pontiac sahen, der sich aus irgendeinem Grund weigerte, aufs Bankett auszuweichen und ihnen Platz zu machen. Die Sirenen des Streifenwagens heulten, das Warnlicht blinkte, die Hupe dröhnte, und drinnen fluchten die Polizisten, aber der grüne Pontiac blieb einfach auf seiner Spur stehen und rührte sich nicht von der Stelle. Die Polizisten hielten an, rannten auf ihn zu, rissen die Tür auf und fanden einen blutüberströmten Mann. Handschellen schlossen sich um Sams Handgelenke. Er wurde grob auf den Rücksitz des Streifenwagens gestoßen und ins Gefängnis gebracht. Der Pontiac wurde beschlagnahmt.

Die Bombe, die die Kramer-Zwillinge tötete, war von der allerprimitivsten Art. Fünfzehn Stangen Dynamit, mit grauem Isolierband fest zusammengeschnürt. Aber es gab keine Zündschnur. Rollie Wedge hatte statt dessen einen Zeitzünder benutzt, einen billigen Wecker zum Aufziehen. Er hatte den Minutenzeiger von dem Wecker entfernt und zwischen den Ziffern sieben und acht ein kleines Loch gebohrt. In dieses kleine Loch hatte er einen Metallstift gesteckt, der, wenn er von dem Stundenzeiger berührt wurde, den Stromkreis schloß und die Bombe detonieren ließ. Rollie wollte mehr Zeit, als eine Fünfzehn-Minuten-Zündschnur liefern konnte. Außerdem hielt er sich für einen Experten und wollte mit neuen Vorrichtungen experimentieren.

Vielleicht war der Stundenzeiger ein bißchen verbogen. Vielleicht war das Zifferblatt des Weckers nicht völlig eben. Vielleicht hatte Rollie in seinem Eifer den Wecker zu stark oder nicht stark genug aufgezogen. Es war schließlich Rollies erster Versuch mit einem Zeitzünder. Oder vielleicht hatte der Zeitzünder auch genau so funktioniert, wie er es geplant hatte.

Aber was auch immer der Grund oder der Vorwand gewesen sein mochte, bei der Bombenkampagne von Jeremiah Dogan und dem Ku-Klux-Klan war jetzt in Mississippi jüdisches Blut vergossen worden. Und damit war die Kampagne praktisch beendet.

2

Nachdem man die Toten geborgen hatte, riegelte die Polizei von Greenville das Gebiet um die Ruine ab und hielt die Leute fern. Wenige Stunden später wurde das Gelände einem FBI-Team aus Jackson überlassen, und bevor es dunkel wurde, siebten Sprengstoffexperten die Trümmer durch. Dutzende von FBI-Agenten machten sich an die mühsame Arbeit, jedes winzige Stückchen aufzuheben, es zu untersuchen, jemand anderem zu zeigen und dann beiseite zu legen, damit es an einem anderen Tag mit etwas anderem zusammengefügt werden konnte. Ein leeres Baumwoll-Lagerhaus am Stadtrand wurde angemietet und diente als Aufbewahrungsort für die Kramer-Trümmer.

Im Laufe der Zeit würde das FBI bestätigen, was man von Anfang an vermutet hatte. Dynamit, ein Zeitzünder und ein paar Drähte. Eine primitive Bombe, zusammengebastelt von einem Amateur, der von Glück reden konnte, daß er sich nicht selbst in die Luft gesprengt hatte.

Marvin Kramer wurde rasch in ein besseres Krankenhaus in Memphis geflogen; drei Tage lang wurde sein Zustand als kritisch, aber stabil bezeichnet. Ruth Kramer kam mit einem Schock ins Krankenhaus, zuerst in Greenville, dann wurde sie mit einer Ambulanz in dasselbe Krankenhaus in Memphis gebracht. Sie teilten sich ein Zimmer, Mr. und Mrs. Kramer, und außerdem teilten sie sich eine ausreichende Menge von Sedativen. Zahllose Ärzte und Verwandte umstanden ihre Betten. Ruth war in Memphis geboren und aufgewachsen, es gab also massenhaft Freunde, die sie besuchten.

Als sich der Staub um Marvins Büro herum legte, fegten die Nachbarn, viele von ihnen Ladenbesitzer und Angestellte aus anderen Büros, Glas von den Gehsteigen und flüsterten miteinander, während sie zusahen, wie die Polizei und die Rettungsmannschaft mit dem Graben begannen. Ein Gerücht machte die Runde durch die Innenstadt von Memphis, demzufolge bereits ein Verdächtiger festgenommen worden war. Um die Mittagszeit wußten praktisch alle Zuschauer, daß der Name des Mannes Sam Cayhall war, aus Clanton, Mississippi, daß er zum Klan gehörte und daß er bei dem Anschlag verletzt worden war. Ein Bericht lieferte gräßliche Einzelheiten über einen weiteren Bombenanschlag Cayhalls mit allen möglichen fürchterlichen Verletzungen und verstümmelten Leichen, bei denen es sich jedoch um mittellose Neger handelte. In einem anderen Bericht war von der grandiosen Tapferkeit der Polizei von Greenville die Rede, die diesen Irren Sekunden nach der Detonation gefaßt hatte. In den Mittagsnachrichten bestätigte die Fernsehstation von Greenville, was bereits bekannt war: daß die beiden kleinen Jungen tot waren, daß ihr Vater schwere Verletzungen davongetragen hatte und daß Sam Cayhall festgenommen worden war.

Es fehlte nicht viel daran, daß Sam Cayhall gegen Zahlung von dreißig Dollar freigelassen worden wäre. Als man ihn aufs Polizeirevier gebracht hatte, war er seiner Sinne wieder mächtig und hatte sich bei den wütenden Polizisten dafür entschuldigt, daß er ihnen die Straße nicht freigemacht hatte. Gegen ihn wurde eine sehr geringfügige Anklage erhoben, dann wurde er in eine Wartezelle gebracht, bis über ihn entschieden war und er entlassen wurde. Die beiden Polizisten, die ihn festgenommen hatten, fuhren davon, um das zerstörte Gebäude zu inspizieren.

Ein Wärter, der gleichzeitig als Gefängnissanitäter fungierte, erschien mit einem ramponierten Erste-Hilfe-Kasten und wusch ihm das getrocknete Blut aus dem Gesicht. Die Blutung hatte aufgehört. Sam erklärte abermals, daß er in eine Schlägerei in einer Kneipe verwickelt gewesen sei. Rauhe Nacht. Der Sanitäter verschwand, und eine Stunde später erschien an dem Schiebefenster der Wartezelle ein Hilfswärter mit weiteren Papieren. Die Anklage lautete auf unterlassenes Ausweichen vor einem Polizeifahrzeug im Einsatz, die Höchststrafe war dreißig Dollar, und wenn Sam den Betrag in bar entrichten könnte, wäre er frei und könnte gehen, sobald der Papierkram erledigt und sein Wagen freigegeben worden war. Sam wanderte nervös in der Zelle herum, sah immer wieder auf die Uhr, rieb vorsichtig über die Wunde an seiner Wange.

Er würde gezwungen sein, zu verschwinden. Seine Verhaftung war aktenkundig, und es würde nicht lange dauern, bis diese Tölpel seinen Namen mit dem Bombenanschlag in Verbindung brachten, und dann mußte er sich schleunigst davonmachen. Er würde Mississippi verlassen, sich vielleicht mit Rollie Wedge zusammentun und nach Brasilien oder irgendwo anders hin absetzen. Dogan würde ihnen das Geld dazu geben. Er würde Dogan anrufen, sobald er aus Greenville heraus war. Sein Wagen stand bei der Raststätte in Cleveland. Dort würde er die Wagen wechseln, dann nach Memphis fahren und in einen Greyhound-Bus steigen.

Genau das war es, was er tun würde. Es war idiotisch von ihm gewesen, an den Tatort zurückzukehren, aber, dachte er, wenn er einen kühlen Kopf behielt, dann würden diese Affen ihn laufen lassen.

Eine halbe Stunde verging, bevor der Hilfswärter mit einem weiteren Formular erschien. Sam händigte ihm dreißig Dollar aus und erhielt eine Quittung. Er folgte dem Mann einen schmalen Flur entlang zu einem Schreibtisch, wo er eine Vorladung erhielt, derzufolge er in zwei Wochen vor dem Stadtgericht von Greenville erscheinen sollte. »Wo ist der Wagen?« fragte er, während er die Vorladung zusammenfaltete.

»Er wird gleich gebracht. Warten Sie hier.«

Sam sah auf die Uhr und wartete eine Viertelstunde. Durch ein kleines Fenster in einer Metalltür beobachtete er, wie auf dem Parkplatz vor dem Gefängnis Wagen ankamen und wegfuhren. Zwei Betrunkene wurden von einem stämmigen Polizisten an den Schreibtisch gezerrt. Sam wartete nervös.

Von irgendwo hinter ihm rief eine neue Stimme langsam: »Mr. Cayhall?« Er drehte sich um und stand einem kleinen Mann in einem stark verblichenen Anzug gegenüber. Ein Ausweis wurde unter Sams Nase geschwenkt.

»Ich bin Detective Ivy von der Polizei von Greenville. Ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen.« Ivy deutete auf eine Reihe von Holztüren ein Stück den Flur hinunter, und Sam folgte ihm widerstandslos.

Von dem Augenblick an, an dem er sich an dem schmutzigen Schreibtisch Detective Ivy gegenüber niederließ, hatte Sam Cayhall nur wenig zu sagen. Ivy war Anfang Vierzig, aber grau und um die Augen herum stark verrunzelt. Er zündete sich eine filterlose Camel an, bot Sam auch eine an und fragte dann, wie er sich die Schnittwunde im Gesicht zugezogen hatte. Sam spielte mit der Zigarette, zündete sie aber nicht an. Er hatte das Rauchen schon vor Jahren aufgegeben, und obwohl es ihn drängte, in diesem kritischen Moment wieder damit anzufangen, tippte er mit der Zigarette nur leicht auf den Schreibtisch. Ohne Ivy anzusehen, sagte er, daß es bei einer Schlägerei passiert wäre.

Ivy gab mit einem kurzen Lächeln ein grunzendes Geräusch von sich, als hätte er genau diese Art von Antwort erwartet, und Sam wußte, daß er einem Profi gegenübersaß . Jetzt hatte er Angst, und seine Hände begannen zu zittern. Ivy entging das natürlich nicht. Wo hat die Schlägerei stattgefunden? Mit wem haben Sie sich geprügelt? Wann ist es passiert? Weshalb haben Sie sich in Greenville geprügelt, wo Sie doch drei Stunden entfernt leben? Woher haben Sie den Wagen?

Sam sagte nichts. Ivy bombardierte ihn mit Fragen, die alle nicht beantwortbar waren, weil Sam wußte, daß Lügen zu weiteren Lügen führen und Ivy ihn binnen Sekunden zu einem handlichen Paket verschnürt haben würde.

»Ich möchte mit einem Anwalt sprechen«, sagte Sam schließlich.

»Das ist ganz wunderbar, Sam. Ich meine, das ist genau das, was Sie tun sollten.« Ivy zündete sich eine weitere Camel an und blies dichten Rauch zur Decke empor.

»Wir hatten heute morgen eine kleine Bombenexplosion, Sam. Ist Ihnen das bekannt?« fragte Ivy, wobei er in einem spöttischen Ton die Stimme ein wenig hob.

»Nein.«

»Tragisch. Das Büro eines hiesigen Anwalts namens Kramer wurde in die Luft gesprengt. Passierte vor ungefähr zwei Stunden. Wahrscheinlich das Werk von Kluxern. Bei uns gibt es keine Kluxer, aber Mr. Kramer ist Jude. Lassen Sie mich raten – Sie wissen nichts darüber, stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Wirklich sehr tragisch, Sam. Sehen Sie, Mr. Kramer hatte zwei kleine Jungen, Josh und John, und wie das Schicksal so spielt, waren sie bei ihrem Daddy in seinem Büro, als die Bombe hochging.«

Sam holte tief Luft und sah Ivy an. Erzählen Sie mir auch den Rest, sagten seine Augen.

»Und diese beiden kleinen Jungen, Zwillinge, fünf Jahre alt, reizende Kinder, wurden in Stücke gerissen, Sam. Sie sind mausetot, Sam.«

Sam senkte langsam den Kopf, bis sein Kinn nur noch Zentimeter von seiner Brust entfernt war. Zweifacher Mord. Anwälte, Prozesse, Richter, Geschworene, Gefängnis, alles stürmte plötzlich auf ihn ein, und er schloß die Augen.

»Ihr Daddy kommt vielleicht davon. Er wird gerade im Krankenhaus operiert. Die kleinen Jungen sind in der Leichenhalle. Eine wahre Tragödie, Sam. Ich nehme an, Sie wissen nichts über die Bombe, stimmt’s, Sam?«

»Nein. Ich möchte einen Anwalt sprechen.«

»Natürlich.« Ivy stand langsam auf und verließ den Raum.

Der Glassplitter in Sams Gesicht wurde von einem Arzt entfernt und an ein FBI-Laboratorium geschickt. Der Bericht enthielt keinerlei Überraschungen – das gleiche Glas wie das in den Fenstern an der Vorderfront des Bürohauses. Der grüne Pontiac wurde rasch zu Jeremiah Dogan in Meridian zurückverfolgt. Im Kofferraum fand man eine Fünfzehn-Minuten-Zündschnur. Der Fahrer eines Lieferwagens meldete sich und teilte der Polizei mit, daß er den Wagen gegen vier Uhr in der Nähe von Mr. Kramers Büro gesehen hatte.

Das FBI ließ die Presse sofort wissen, daß Mr. Sam Cayhall ein langjähriges Mitglied des Ku-Klux-Klan war und außerdem der Hauptverdächtige bei mehreren weiteren Bombenanschlägen. Sie waren überzeugt, daß der Fall gelöst war, und sie lobten die Polizei von Greenville in den höchsten Tönen. J. Edgar Hoover persönlich gab eine Verlautbarung heraus.

Zwei Tage nach dem Anschlag wurden die Kramer-Zwillinge auf einem kleinen Friedhof beigesetzt. Zu jener Zeit lebten in Greenville 146 Juden, und mit Ausnahme von Marvin Kramer und sechs anderen nahmen alle an der Beerdigung teil. Und auf jeden von ihnen kamen zwei Reporter und Fotografen aus dem ganzen Land.

Am nächsten Morgen sah Sam in seiner winzigen Zelle die Fotos und las die Artikel. Der Hilfswärter, Larry Jack Polk, war ein Einfaltspinsel, der jetzt ein Freund war, weil er, wie er Sam schon gleich zu Anfang zugeflüstert hatte, Vettern hatte, die dem Klan angehörten, und er hatte immer eintreten wollen, aber seine Frau hatte es nicht zugelassen. Er brachte Sam jeden Morgen frischen Kaffee und Zeitungen. Larry Jack hatte bereits seine Bewunderung für Sams Geschick im Umgang mit Bomben gestanden.

Abgesehen von den paar Worten, die er brauchte, um Larry Jack bei der Stange zu halten, sagte Sam praktisch nichts. Am Tag nach dem Bombenanschlag war er des zweifachen Mordes angeklagt worden, und er konnte an nichts anderes mehr denken als daran, wie es wohl in der Gaskammer sein würde. Er weigerte sich, auch nur ein Wort zu Ivy und den anderen Polizisten zu sagen; das gleiche galt für das FBI. Die Reporter fragten natürlich, aber sie kamen nicht an Larry Jack vorbei. Sam rief seine Frau an und sagte ihr, sie solle in Clanton bleiben und niemanden hereinlassen. Er saß allein in seiner Zelle und begann, Tagebuch zu führen.

Wenn Rollie Wedge entdeckt und mit dem Bombenanschlag in Verbindung gebracht werden sollte, dann mußte die Polizei ihn finden. Sam Cayhall hatte als Angehöriger des Klans einen Eid abgelegt, und für ihn war dieser Eid heilig. Er würde nie, niemals einen anderen Angehörigen des Klans verraten. Er hoffte inbrünstig, daß Jeremiah Dogan in bezug auf seinen Eid dasselbe empfand.

Zwei Tage nach dem Bombenanschlag tauchte ein zwielichtiger Anwalt mit einer schwungvollen Haartracht zum erstenmal in Greenville auf. Er hieß Clovis Brazelton, war insgeheim Angehöriger des Klans und in der Umgebung von Jackson ziemlich berüchtigt, weil er alle möglichen Gangster vertrat. Er wollte für die Wahl zum Gouverneur kandidieren und erklärte, er werde sich für die Erhaltung der weißen Rasse einsetzen, das FBI wäre satanisch, die Schwarzen sollten geschützt werden, aber nicht mit den Weißen zusammenleben, und so weiter. Er war von Jeremiah Dogan geschickt worden, damit er Sam Cayhall verteidigte und, was noch wichtiger war, dafür sorgte, daß Cayhall den Mund hielt. Das FBI hatte Dogan am Wickel, wegen des grünen Pontiacs, und er hatte Angst, als Mitverschwörer angeklagt zu werden.

Mitverschwörer, erklärte Clovis seinem neuen Mandanten gleich in der ersten Minute, waren ebenso schuldig wie diejenigen, die auf den Abzug gedrückt hatten. Sam hörte zu, sagte aber kaum etwas. Er hatte von Brazelton gehört und traute ihm nicht.

»Sehen Sie, Sam«, sagte Clovis, als müßte er einem Erstkläßler etwas erklären, »ich weiß, wer die Bombe gelegt hat. Dogan hat es mir gesagt. Wenn ich richtig zähle, sind wir damit zu viert – ich, Sie, Dogan und Wedge. Aber wie die Dinge liegen, ist Dogan ziemlich sicher, daß Wedge nie gefunden werden wird. Sie haben nicht miteinander gesprochen, aber der Junge ist brillant, und wahrscheinlich ist er inzwischen in ein anderes Land verschwunden. Damit bleiben Sie und Dogan. Offen gesagt, ich rechne damit, daß auch gegen Dogan früher oder später Anklage erhoben wird. Aber die Polizei hat nichts in der Hand, solange sie nicht beweisen kann, daß ihr gemeinsam beschlossen habt, das Büro des Juden in die Luft zu sprengen. Und das kann sie nur beweisen, wenn Sie es ihr erzählen.«

»Also bin ich es, der in der Scheiße sitzt?« fragte Sam.

»Nein. Sie halten nur den Mund, was Dogan angeht. Streiten Sie alles ab. Wir fabrizieren eine Geschichte über den Wagen. Lassen Sie das meine Sorge sein. Ich beantrage, daß der Prozeß in einem anderen County stattfindet, vielleicht oben in den Bergen oder irgendwo anders, wo es keine Juden gibt. Ich sorge für eine rein weiße Jury, und ich ziehe die Sache so schnell durch, daß wir beide als Helden dastehen. Lassen Sie mich nur machen.«

»Sie glauben nicht, daß ich verurteilt werde?«

»Auf gar keinen Fall. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Wir werden für eine Jury sorgen, die nur aus Patrioten besteht, aus Leuten wie Ihnen, Sam. Alles Weiße. Alles Leute, die Angst davor haben, daß ihre Kinder gezwungen werden, zusammen mit kleinen Niggern in die Schule zu gehen. Gute Leute. Wir suchen uns zwölf von ihnen aus, setzen sie auf die Geschworenenbank und machen ihnen klar, wie die stinkenden Juden diesen ganzen Quatsch mit den Bürgerrechten unterstützt haben. Vertrauen Sie mir, Sam, es wird ein Kinderspiel sein.« Clovis lehnte sich über den wackligen Tisch, klopfte Sam auf den Arm und wiederholte: »Vertrauen Sie mir, Sam. Ich mache das nicht zum erstenmal.«

Später am gleichen Tag wurden Sam Handschellen angelegt, dann wurde er, umgeben von Angehörigen der Polizei von Greenville, zu einem wartenden Streifenwagen geführt. Auf dem Weg vom Gefängnis zum Streifenwagen wurde er von einem kleinen Heer von Reportern fotografiert. Als Sam mit seinem Gefolge vor dem Gerichtsgebäude eintraf, wartete dort eine weitere Gruppe dieser aggressiven Leute auf ihn.

Er erschien vor dem städtischen Richter mit seinem neuen Anwalt, dem Ehrenwerten Clovis Brazelton, der auf die Voruntersuchung verzichtete und eine Reihe weiterer juristischer Routinemanöver vollführte. Zwanzig Minuten nachdem er das Gefängnis verlassen hatte, war Sam auch schon dorthin zurückgekehrt. Clovis versprach, in ein paar Tagen wiederzukommen, damit sie damit anfangen konnten, ihre Strategie zu planen, dann verschwand er nach draußen und hatte einen großen Auftritt vor den Reportern.

Es dauerte einen vollen Monat, bis sich der Medienaufruhr in Greenville gelegt hatte. Am 5. Mai 1967 wurden sowohl Sam Cayhall als auch Jeremiah Dogan des vorsätzlichen Mordes angeklagt. Der örtliche Staatsanwalt verkündete laut, daß er die Todesstrafe beantragen würde. Der Name Rollie Wedge wurde kein einziges Mal erwähnt. Die Polizei und das FBI hatten keine Ahnung, daß es ihn gab.

Clovis, der jetzt beide Angeklagte vertrat, beantragte mit Erfolg die Abtretung des Verfahrens an einen anderen Bezirk, und am 4. September 1967 begann der Prozeß in Nettles County, zweihundert Meilen von Greenville entfernt. Er wurde zu einem Zirkus. Der Klan schlug sein Lager auf dem Rasen vor dem Gerichtsgebäude auf und hielt fast stündlich lautstarke Versammlungen ab. Sie schafften Klan-Mitglieder aus anderen Staaten herbei und hatten sogar eine Liste von Gastrednern. Sam Cayhall und Jeremiah Dogan wurden zu Symbolen der weißen Vorherrschaft gemacht, und ihre vermummten Bewunderer riefen tausendmal ihre geliebten Namen.

Die Presse sah zu und wartete. Der Gerichtssaal war voller Reporter und Journalisten, und die weniger Glücklichen mußten draußen auf dem Rasen im Schatten der Bäume warten. Sie beobachteten die Klansleute und hörten sich die Reden an, und je mehr sie zuschauten und fotografierten, desto länger wurden die Reden.

Im Gerichtssaal lief alles glatt für Cayhall und Dogan. Brazelton schwang seinen Zauberstab und brachte zwölf weiße Patrioten, wie er sie zu nennen beliebte, auf die Geschworenenbank, dann machte er sich daran, ziemlich gewichtige Löcher in die Anklage zu bohren. Am allerwichtigsten: Alle Beweise beruhten nur auf Indizien – niemand hatte gesehen, daß Sam Cayhall die Bombe legte. Clovis verkündete das lautstark in seiner Eröffnungsrede, und es machte Eindruck. Cayhall war ein Angestellter von Dogan, der ihn mit einem Auftrag nach Greenville geschickt hatte, und er befand sich zufällig in einem unglücklichen Moment in der Nähe des Kramer-Gebäudes. Clovis weinte beinahe, als er dieser beiden reizenden kleinen Jungen gedachte.

Die Zündschnur im Kofferraum war vermutlich von dem früheren Besitzer des Wagens dort zurückgelassen worden, einem Mr. Carson Jenkins, einem Straßenbau-Unternehmer aus Meridian. Mr. Carson Jenkins sagte aus, daß er bei seiner Arbeit ständig mit Dynamit zu tun hatte und daß er offenbar die Zündschnur einfach im Kofferraum liegengelassen hatte, als er den Wagen an Dogan verkaufte. Mr. Carson Jenkins war Lehrer in einer Sonntagsschule, ein ruhiger, schwer arbeitender, hochanständiger kleiner Mann, dem man aufs Wort glaubte. Außerdem gehörte er dem Ku-Klux-Klan an, aber das wußte das FBI nicht. Clovis dirigierte seine Aussage makellos.

Daß Cayhall seinen Wagen bei der Raststätte in Cleveland stehengelassen hatte, fand weder die Polizei noch das FBI heraus. Bei seinem ersten Anruf aus dem Gefängnis hatte er seiner Frau Anweisung erteilt, sofort mit seinem Sohn Eddie nach Cleveland zu fahren und den Wagen zu holen. Glücklicher hätte es sich für die Verteidigung nicht fügen können.

Aber das stärkste Argument, das Clovis Brazelton vorbrachte, war einfach, daß niemand beweisen konnte, daß seine Mandanten sich verschworen hatten, irgend etwas zu unternehmen. Und wie in aller Welt können Sie, die Geschworenen von Nettles County, diese beiden Männer in den Tod schicken?

Nach vier Verhandlungstagen zogen sich die Geschworenen zur Beratung zurück. Clovis garantierte seinem Mandanten einen Freispruch. Die Anklage war ziemlich sicher, daß es dazu kommen würde. Die Kluxer rochen schon einen Sieg und verstärkten das Tempo auf dem Rasen vor dem Gebäude.

Es gab weder Freisprüche noch Verurteilungen. Zwei der Geschworenen stellten sich, was bemerkenswert war, auf die Hinterbeine und drängten auf Verurteilung. Nachdem sie anderthalb Tage beraten hatten, teilten die Geschworenen dem Richter mit, daß die Jury sich hoffnungslos festgefahren hatte. Das Verfahren wurde als ergebnislos erklärt, und Sam Cayhall kehrte nach fünf Monaten zum erstenmal nach Hause zurück.

Das Wiederaufnahmeverfahren fand sechs Monate später in Wilson County statt, einer weiteren ländlichen Gegend, vier Autostunden von Greenville und hundert Meilen vom Ort des ersten Prozesses entfernt. Beim ersten Prozeß hatte es Beschwerden über Versuche des Klans gegeben, mögliche Geschworene einzuschüchtern, und deshalb verlegte der Richter aus Gründen, die nie erklärt wurden, die Verhandlung in eine Gegend, in der es von Kluxern und ihren Sympathisanten nur so wimmelte. Die Jury war abermals rein weiß und enthielt mit Sicherheit keine Juden. Clovis erzählte dieselben Geschichten mit denselben Pointen. Mr. Carson Jenkins erzählte dieselben Lügen.

Die Anklage änderte ihre Strategie ein wenig ab, aber es nützte nichts. Der Staatsanwalt ließ die Hauptanklagepunkte fallen und drängte auf eine Verurteilung wegen einfachen Mordes. Damit stand eine Todesstrafe nicht mehr zur Debatte, und die Jury konnte, wenn sie wollte, Cayhall und Dogan auch nur des Totschlags für schuldig befinden, ein erheblich geringfügigeres Vergehen, aber es gäbe doch wenigstens eine Verurteilung.

Im zweiten Verfahren gab es etwas Neues. Marvin Kramer saß in einem Rollstuhl in der ersten Reihe und funkelte drei Tage lang die Geschworenen an. Ruth hatte versucht, den ersten Prozeß zu verfolgen, war aber nach Greenville zurückgekehrt, wo sie abermals wegen psychischer Probleme ins Krankenhaus gebracht werden mußte. Marvin hatte seit dem Bombenanschlag mehrere Operationen über sich ergehen lassen, und seine Ärzte hatten ihm nicht erlaubt, nach Nettles County zu reisen.

Die meisten Geschworenen konnten es nicht ertragen, ihn anzusehen. Sie hielten die Blicke von den Zuschauern abgewandt und hörten mit einer für Geschworene bemerkenswerten Aufmerksamkeit den Zeugen zu. Nur eine junge Frau, Sharon Culpepper, selbst Mutter von Zwillingen, konnte nicht anders. Sie schaute immer wieder zu Marvin hinüber, und viele Male trafen sich ihre Blicke. Seine Augen flehten um Gerechtigkeit.

Sharon Culpepper war von den zwölf Geschworenen die einzige, die von Anfang an für eine Verurteilung stimmte. Zwei Tage lang wurde sie von ihren Mitgeschworenen bedrängt und auf die übelste Weise beschimpft. Sie brachten sie zum Weinen, aber sie blieb bei ihrem Votum.

Der zweite Prozeß endete unentschieden mit elf Stimmen gegen eine. Der Richter erklärte das Verfahren für ergebnislos und schickte alle nach Hause. Marvin Kramer kehrte nach Greenville zurück und dann nach Memphis zu einer weiteren Operation. Clovis Brazelton hatte einen großen Auftritt vor der Presse. Der Staatsanwalt machte keinerlei Versprechungen für einen neuen Prozeß. Sam Cayhall kehrte unauffällig nach Clanton zurück, mit dem feierlichen Schwur, sich nie mehr auf irgendwelche Unternehmungen mit Jeremiah Dogan einzulassen. Und der Imperial Wizard des Ku-Klux-Klan selbst zog triumphierend wieder in Meridian ein, wo er sich vor seinen Leuten rühmte, die Schlacht um die Vorherrschaft der Weißen hätte gerade erst begonnen, das Gute hätte über das Böse gesiegt, und so weiter und so weiter.

Der Name Rollie Wedge war nur einmal gefallen. In einer Mittagspause während des zweiten Prozesses hatte Dogan Cayhall zugeflüstert, er hätte eine Botschaft von dem Jungen erhalten. Der Überbringer der Botschaft war ein Fremder, der Dogans Frau auf einem Flur vor dem Gerichtssaal angesprochen hatte. Und die Botschaft war klar und simpel. Wedge war ganz in der Nähe, in den Wäldern, und verfolgte den Prozeß, und falls Dogan oder Cayhall seinen Namen erwähnen sollten, würde er ihre Häuser und ihre Familien in die Luft sprengen.

3

Ruth und Marvin Kramer ließen sich 1970 scheiden. Später im gleichen Jahr wurde Marvin in eine Nervenheilanstalt eingewiesen und beging 1971 Selbstmord. Ruth kehrte nach Memphis zurück und zog wieder zu ihren Eltern. Trotz ihrer Probleme hatten sie auf einen dritten Prozeß gedrängt. Die gesamte jüdische Gemeinde in Greenville war überaus erregt und protestierte lautstark, als sich herausstellte, daß es dem Staatsanwalt reichte, zwei Prozesse verloren zu haben, und er nicht daran dachte, Cayhall und Dogan abermals anzuklagen.

Marvin wurde neben seinen Söhnen begraben. Ein neuer Park wurde dem Andenken an Josh und John Kramer gewidmet, und Stipendien wurden ausgesetzt. Im Laufe der Zeit verlor die Tragödie ihres Todes ein wenig von ihrem Grauen. Jahre vergingen, und in Greenville sprach man immer seltener über das Bombenattentat.

Obwohl das FBI darauf drängte, kam es nicht zu einem dritten Prozeß. Es gab kein neues Beweismaterial. Der Richter würde den Verhandlungsort zweifellos abermals verlegen. Eine Anklage erschien hoffnungslos, aber das FBI gab trotzdem nicht auf.

Da Cayhall nicht mehr mitmachte und Wedge untergetaucht war, geriet Dogans Bombenkampagne ins Stocken. Er trug auch weiterhin seine Kutte und hielt seine Reden und begann, sich selbst für eine bedeutsame politische Kraft zu halten. Journalisten aus dem Norden waren fasziniert von seiner lautstarken Rassenhetze, und er war immer bereit, seine Kapuze aufzusetzen und haarsträubende Interviews zu geben. Kurze Zeit war er halbwegs berühmt, was er ungeheuer genoß.

Aber Ende der 70er Jahre war Jeremiah Dogan nur ein weiterer Gangster mit einer Kutte in einer rapide zerfallenden Organisation. Die Schwarzen durften wählen. Die Rassentrennung in den öffentlichen Schulen war aufgehoben. Im ganzen Süden wurden Rassenschranken von Bundesrichtern beseitigt. Die Bürgerrechte hatten Mississippi erreicht, und der Klan hatte sich als erbärmlich ungeeignet erwiesen, dafür zu sorgen, daß die Neger dort blieben, wo sie hingehörten. Dogan konnte mit dem Kreuzeverbrennen nicht einmal mehr einen Hund hinter dem Ofen hervorlokken.

1979 traten in dem offenen, aber ruhenden Fall des Kramer-Attentats zwei wichtige Ereignisse ein. Das erste war die Wahl von David McAllister zum Staatsanwalt von Greenville. Mit siebenundzwanzig wurde er der jüngste Staatsanwalt, den es in Mississippi je gegeben hatte. Als Teenager hatte er zugesehen, wie das FBI die Trümmer von Marvin Kramers Kanzlei durchsuchte. Kurz nach seiner Wahl gelobte er, daß er die Terroristen zur Rechenschaft ziehen würde.

Das zweite Ereignis war eine Anklage gegen Jeremiah Dogan wegen Steuerhinterziehung. Nachdem Dogan das FBI jahrelang hinters Licht geführt hatte, wurde er leichtsinnig und geriet mit der Finanzbehörde in Konflikt. Die Untersuchung dauerte acht Monate und endete mit einer Anklageschrift, die dreißig Seiten umfaßte. Ihr zufolge hatte Dogan zwischen 1974 und 1978 mehr als hunderttausend Dollar Einkommen unterschlagen. Sie enthielt sechsundachtzig Punkte, die ihm bis zu achtundzwanzig Jahre Gefängnis eintragen konnten.

Dogan war einwandfrei schuldig, und sein Anwalt (nicht Clovis Brazelton) machte sich sofort daran, die Möglichkeiten eines strafmildernden Handels zu erkunden. Woraufhin das FBI die Bühne betrat.

Nach einer ganzen Reihe von hitzigen Diskussionen mit Dogan und seinem Anwalt bot die Regierung einen Handel an, demzufolge Dogan im Fall Kramer gegen Cayhall aussagen sollte und als Gegenleistung nicht wegen Steuerhinterziehung ins Gefängnis zu gehen brauchte. Null Tage hinter Gittern. Harte Bewährungsauflagen und eine hohe Geldstrafe, aber kein Gefängnis. Dogan hatte seit mehr als zehn Jahren nicht mehr mit Cayhall gesprochen. Dogan war nicht mehr im Klan aktiv. Es gab eine Menge Gründe, auf diesen Handel einzugehen, unter denen die Alternative, ein freier Mann zu bleiben oder ein Jahrzehnt oder mehr im Gefängnis zu verbringen, nicht der geringste war.

Um ihn auf Trab zu bringen, konfiszierte die Finanzbehörde alles, was er besaß, und plante eine hübsche kleine Zwangsversteigerung. Und um ihm bei seiner Entscheidung zu helfen, brachte David McAllister eine Anklagejury in Greenville dazu, ihn und seinen Kumpan Cayhall abermals wegen des Kramer-Attentats anzuklagen.

Dogan gab nach und entschied sich für den Handel.

Nach zwölf Jahren ruhigen Lebens in Ford County mußte Sam Cayhall erleben, daß er abermals angeklagt und verhaftet wurde und mit der Gewißheit eines neuen Prozesses und der Möglichkeit der Gaskammer zu rechnen hatte. Er war gezwungen, eine Hypothek auf sein Haus und seine kleine Farm aufzunehmen, damit er einen Anwalt engagieren konnte. Clovis Brazelton war inzwischen zu größeren Sachen übergegangen, und Dogan war kein Verbündeter mehr.

In Mississippi hatte sich seit den ersten beiden Prozessen sehr viel verändert. Schwarze hatten sich in Rekordzahlen in die Wählerverzeichnisse eintragen lassen, und diese neuen Wähler hatten schwarze Beamte gewählt. Ausschließlich aus Weißen bestehende Jurys waren selten. Im Staat gab es zwei schwarze Richter, zwei schwarze Sheriffs, und auf den Fluren der Gerichte konnte man neben ihren weißen Kollegen schwarze Anwälte sehen. Offiziell gab es keine Rassentrennung mehr. Und viele weiße Einwohner von Mississippi fingen an, zurückzuschauen und sich zu fragen, worüber man sich eigentlich so aufgeregt hatte. Weshalb hatte es soviel Widerstand gegen gleiche Rechte für alle Menschen gegeben? Obwohl noch ein langer Weg vor ihm lag, war Mississippi im Jahre 1980 ein ganz anderer Staat, als er es 1967 gewesen war. Und das war Sam Cayhall bewußt.

Er engagierte einen tüchtigen Verteidiger, der in Memphis lebte und Benjamin Keyes hieß. Ihre erste Taktik bestand in einem Antrag auf Abweisung der Anklage mit der Begründung, daß es unfair war, ihn nach so langer Zeit abermals vor Gericht zu stellen. Das erwies sich als stichhaltiges Argument, und es bedurfte einer Entscheidung des Gerichts des Staates Mississippi. Es entschied mit sechs gegen drei Stimmen, daß das Verfahren fortgesetzt werden durfte.

Und es wurde fortgesetzt. Der dritte und letzte Prozeß gegen Sam Cayhall begann im Februar 1981, in einem kalten kleinen Gerichtsgebäude in Lakehead County in der Nordwestecke des Staates. Über diesen Prozeß ließe sich vieles sagen. Es gab einen jungen Staatsanwalt, David McAllister, der brillant plädierte, aber die widerwärtige Angewohnheit hatte, jede freie Minute mit der Presse zu verbringen. Er sah gut aus, war redegewandt und einfühlsam, und es wurde schon bald klar, daß dieser Prozeß einen Zweck hatte. Mr. McAllister hatte politische Ambitionen in großem Maßstab.

Die Jury bestand aus acht Weißen und vier Schwarzen. Und es gab die Glasscherben, die Zündschnur, die FBI-Berichte und sämtliche anderen Fotos und Beweisstücke aus den ersten beiden Prozessen.

Außerdem war da noch die Aussage von Jeremiah Dogan, der in einem baumwollenen Arbeitshemd im Zeugenstand erschien und der Jury mit demütiger Miene in allen Einzelheiten erklärte, wie er mit dem da drüben sitzenden Sam Cayhall konspiriert und den Bombenanschlag auf das Büro von Mr. Kramer geplant hatte. Sam funkelte ihn an und ließ sich kein Wort entgehen, aber Dogan schaute in eine andere Richtung. Sams Anwalt bekniete Dogan einen halben Tag lang und zwang ihn, zuzugeben, daß er mit der Regierung einen Handel abgeschlossen hatte. Aber der Schaden war bereits angerichtet.

Es hätte der Verteidigung von Sam Cayhall nichts genützt, wenn sie das Thema Rollie Wedge zur Sprache gebracht hätte. Denn dann hätte sie zugeben müssen, daß Sam in der Tat mit der Bombe in Greenville gewesen war. Sam wäre gezwungen gewesen, einzugestehen, daß er an der Verschwörung beteiligt gewesen war, und nach dem Gesetz wäre er damit genauso schuldig wie der Mann, der das Dynamit gelegt hatte. Und um den Geschworenen dieses Szenario vorzutragen, hätte Sam gezwungenermaßen selbst aussagen müssen, was weder er noch sein Anwalt wollten. Sam konnte ein rigoroses Kreuzverhör nicht durchstehen, weil er ständig neue Lügen erfinden müßte, um die vorherigen plausibel zu machen.

Und an diesem Punkt würde niemand eine plötzliche Geschichte über einen mysteriösen neuen Terroristen glauben, von dem zuvor nie die Rede gewesen war und der kam und ging, ohne je gesehen zu werden. Sam wußte, daß der Rollie-Wedge-Dreh sinnlos war, und sogar sein eigener Anwalt erfuhr nie den Namen des Mannes.

Gegen Ende des dritten Prozesses stand David McAllister in einem bis auf den letzten Platz gefüllten Gerichtssaal vor den Geschworenen und hielt sein Schloßplädoyer. Er sprach davon, wie er als Junge in Greenville gelebt und jüdische Freunde gehabt hatte. Er wußte nicht, was an ihnen anders sein sollte. Er kannte einige der Kramers, anständige Leute, die schwer arbeiteten und die Stadt an ihrem Gewinn teilhaben ließen. Außerdem hatte er mit schwarzen Kindern gespielt und erfahren, daß sie großartige Freunde sein konnten. Er hatte nie verstanden, weshalb sie die eine Schule besuchten und er eine andere. Er erzählte eine erschütternde Geschichte, wie er am Morgen des 21. April 1967 gespürt hatte, wie die Erde bebte, und wie er daraufhin in die Innenstadt gerannt war, wo Rauch emporstieg. Drei Stunden lang hatte er hinter der Absperrung gestanden und gewartet. Er hatte die Feuerwehrleute eilig umherlaufen sehen, als sie Marvin Kramer gefunden hatten. Er hatte gesehen, wie sie in den Trümmern hockten, als sie die Jungen fanden. Sein Gesicht war tränenüberströmt gewesen, als die kleinen Leichen, in weiße Tücher eingehüllt, langsam zu einer Ambulanz getragen wurden.

Es war eine großartige Vorstellung, und als McAllister geendet hatte, war es im Gerichtssaal ganz still. Mehrere Geschworene wischten sich Tränen aus den Augen.

Am 12. Februar 1981 wurde Sam Cayhall wegen vorsätzlichen Doppelmordes und Mordversuchs verurteilt. Zwei Tage später kehrte dieselbe Jury mit einer Verurteilung zum Tode in denselben Gerichtssaal zurück.

Sam Cayhall wurde ins Staatsgefängnis von Parchman gebracht, wo das Warten auf seine Verabredung mit der Gaskammer begann. Am 19. Februar 1981 betrat er zum erstenmal den Todestrakt.

4

In der Anwaltsfirma Kravitz & Bane in Chicago gab es fast dreihundert Anwälte, die friedlich unter einem Dach arbeiteten. Zweihundertundsechsundachtzig, um genau zu sein, obwohl es für jedermann schwierig war, eine exakte Zahl zu nennen, weil aus einer Vielzahl von Gründen laufend ein rundes Dutzend verschwand und gleichzeitig ein oder zwei Dutzend Anfänger auftauchten, die gerade die Universität hinter sich hatten, ausgebildet und geschliffen wurden und darauf warteten, sich ins Getümmel stürzen zu dürfen. Und obwohl riesig, hatte Kravitz & Bane das Expansionsspiel nicht so schnell gespielt wie andere, hatte es weitgehend unterlassen, schwächere Firmen in anderen Städten zu schlucken, und hatte sich bei der Abwerbung von Mandanten anderer Firmen zurückgehalten; deshalb mußte man sich damit begnügen, lediglich die drittgrößte Firma in Chicago zu sein. Es gab Büros in sechs Städten, aber zum Leidwesen der jüngeren Partner stand auf den Briefbogen keine Londoner Adresse.

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