Die Katze lässt das Mausen nicht - Rita Mae Brown - E-Book

Die Katze lässt das Mausen nicht E-Book

Rita Mae Brown

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Beschreibung

Endlich ist der Frühling eingezogen in Crozet, Virginia,und alle Bewohner des kleinen Städtchens atmen auf nach der langen dunklen Jahreszeit. So auch Mrs. Murphy, die samtpfötige Detektivin. Doch die friedliche Idylle währt nicht lange, denn kurz darauf werden von Miranda Hogendobbers altem Ford die Radkappen gestohlen und der Tod eines jungen Mechanikers folgt auf dem Fuße...

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Das Buch

Endlich ist der Frühling eingezogen in Crozet, Virginia, und alle Bewohner des kleinen Städtchens atmen auf nach der langen dunklen Jahreszeit. So auch Mrs. Murphy, die samtpfötige Detektivin, zusammen mit ihrer Vertrauten Pewter und der Corgihündin Tee Tucker. Sogar Mary Minor »Harry« Haristeen gibt sich Frühlingsgefühlen hin. Doch die friedliche Idylle währt nicht lange und schon bald beschleichen Mrs. Murphy dunkle Vorahnungen, als sie in der Nähe des Hauses einen seltenen, aber leider schon toten Specht findet – seit wann fallen Spechte tot von Bäumen? Kurz darauf werden die Radkappen von Miranda Hogendobbers altem Ford gestohlen und der Tod eines jungen Mechanikers folgt auf dem Fuße. Ein weiterer Todesfall führt zur Entdeckung einer halben Million Dollar – nun ist klar, dass ein kaltblütiger Mörder sein Unwesen treibt. Nichts Neues für Mrs. Murphy, denn mit ihrer Spürnase ist sie dem Mörder schon längst auf der Fährte – und weiß um die Gefahr, in der Harry sich befindet – Harry, die zwar neugierig ist wie eine Katze, die aber keine neun Leben hat …

Die Autorin

Rita Mae Brown, geboren in Hanover, Pennsylvania, wuchs in Florida auf. Sie studierte in New York Anglistik und Filmwissenschaften und war in der Frauenbewegung aktiv. Berühmt wurde sie mit Rubinroter Dschungel und ihren Romanen mit der Tigerkatze Sneaky Pie Brown als Koautorin. Weitere Informationen finden Sie unter:www.ritamaebrown.com

Von Rita Mae Brown sind in unserem Hause bereits erschienen:

Die Mrs.-Murphy-Krimis:

Schade, daß du nicht tot bist – Rache auf leisen Pfoten – Mord auf Rezept – Die Katze lässt das Mausen nicht – Maus im Aus – Die Katze im Sack – Da beißt die Maus keinen Faden ab – Die kluge Katze baut vor – Eine Maus kommt selten allein – Mit Speck fängt man Mäuse – Die Weihnachtskatze – Die Geburtstagskatze – Mausetot – Vier Mäuse und ein Todesfall

Die Krimiserie mit Sister Jane:

Auf heißer Fährte · Fette Beute · Dem Fuchs auf den Fersen · Mit der Meute jagen · Schlau wie ein Fuchs

Rita Mae Brown& Sneaky Pie Brown

Die Katze lässt dasMausen nicht

Ein Fall für Mrs. Murphy

Roman

Aus dem Englischenvon Margarete Längsfeld

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,Speicherung oder Übertragungkönnen zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Oktober 2004

4. Auflage 2007

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2004

© 2003 für die deutsche Ausgabe by

Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG, München/Ullstein Verlag

© 2002 by Rita Mae Brown

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Catch as Cat can

(Bantam Books, New York)

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Illustration: Jakob Werth, München

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-8437-1467-9

John Morris und Robert Steppe gewidmet.Sind sie gut, dann sind sie gut,aber sind sie schlecht, dann sind sie besser!

Personen und Ereignisse der Handlung

Mary Minor Haristeen (Harry), die junge Posthalterin von Crozet

Mrs. Murphy, Harrys graue Tigerkatze

Tee Tucker, Harrys Welsh Corgihündin, Mrs. Murphys Freundin und Vertraute

Pewter, Harrys unverschämt fette graue Katze

Pharamond Haristeen (Fair), Tierarzt, ehemals mit Harry verheiratet

Mrs. George Hogendobber, (Miranda), eine Witwe, die mit Harry im Postamt arbeitet

Susan Tucker, Harrys beste Freundin

BoomBoom Craycroft, eine große, schöne Blondine, die Harry den letzten Nerv raubt

Big Marilyn Sanburne (Mim), die unbestrittene Queen der Gesellschaft von Crozet

Little Mim Sanburne, Big Mims Tochter, die um ihre Identität kämpft

Tally Urquhart, älter als Lehm; sie sagt, was sie denkt, und das sogar zu ihrer Nichte Mim, der Erhabenen.

Rick Shaw, Sheriff

Deputy Cynthia Cooper, Stellvertreterin des Sheriffs

Herbert C. Jones, Pastor der lutheranischen Kirche von Crozet

Lottie Pearson, stellvertretende Direktorin an der Universität, zuständig für namhafte Spenden. Sie ist Mitte dreißig, ehrgeizig, mit guten Beziehungen und auf der Suche nach dem besten Mann. Wenn sie den besten nicht findet, könnte sie schwach werden und den erstbesten nehmen.

Thomas Steinmetz, Staatssekretär des Botschafters von Uruguay. Er ist zuvorkommend, steinreich und stets gut gelaunt. Er spricht nicht über sein Alter, dürfte aber Mitte vierzig sein.

Diego Aybar, Berater des Botschafters von Uruguay. Meistens steht er Thomas Steinmetz zur Seite. Er ist ein schöner, dunkelhäutiger Apoll, auf den die Frauen fliegen.

Sean O’Bannon, Eigentümer der Gebrauchtwarenhandlung O’Bannon’s Salvage, zusammen mit seinem Bruder Roger. Nach dem Tod seines Vaters vor einem Jahr hat Sean das Geschäft übernommen und den Gewinn mittels Lieferungen an Recyclingbetriebe gesteigert. Er ist ein guter Geschäftsmann, allein lebend, Ende dreißig.

Roger O’Bannon, kontaktfreudig, raubeinig, in Lottie Pearson verknallt. Er arbeitet fleißig in der Gebrauchtwarenhandlung, ist aber auch ein fleißiger Draufgänger. Zuweilen strapaziert er Seans Geduld.

Don Clatterbuck repariert Lederwaren wie Sattelzeug oder Sofas und betätigt sich zudem als Hobby-Tierpräparator. Er ist ein halbherziger Angehöriger der Arbeiterklasse.

Pope Rat, ein verrufener Rattenmann, der auf dem Gelände von O’Bannon’s Salvage wohnt. Er versteht es, Futter aus den Verkaufsautomaten zu stibitzen.

Abraham, ein sehr alter, vornehmer Bluetick-Jagdhund

Das Hartriegelfest, ein von vielen Kommunen in Mittelvirginia veranstaltetes Frühlingsfest mit Weinproben, Partys und Paraden. Crozet veranstaltet eine Parade.

Der Abbruchball, eine Benefizveranstaltung zugunsten einer wohltätigen Einrichtung, die alljährlich von Angehörigen des Abbruch-, Recycling- und Baugewerbes ausgewählt wird. Gegenwärtig richten die O’Bannons den Ball aus.

1

Lange silbrige Nebelschwaden drangen in die grünen Höhlen und Schluchten des Blue-Ridge-Gebirges. Fedrig strichen die Dunstschleier über Bäche und Flüsse. Es war morgens halb sieben. Die Judasbäume blühten, die Tulpen hatten sich geöffnet. Noch eine Woche, dann würde der weiße und rosa Hartriegel aufbrechen.

Mrs. Murphy, die seit halb sechs wach war, kuschelte sich an Pewter, deren leises Schnarchen sich anhörte wie eine Grabwespe bei der Arbeit, ein tiefes Summen. Die zwei Katzen ruhten in der Kuhle von Mary Minor Haristeens Rücken, während Tucker, der Corgi, sich der äußerst eindrucksvollen Länge nach auf dem bestickten Bettvorleger ausgestreckt hatte. Auch sie schnarchte leicht.

Murphy liebte den Frühling. Ihr Unterfell haarte aus, so dass sie geschmeidiger aussah und sich leichter fühlte. Die Rotkehlchen kehrten zurück, Indigofinken und Hüttensänger tummelten sich am Himmel. Unten am Bach schnappten die Sumpfhordenvögel nach Insekten und verschlangen sie mit einem Haps. Die Scharlachtangare flogen zu ihren Beutezügen in die Obstgärten. Das Ansteigen der Vogelpopulation erregte die Tigerkatze, wenngleich sie selten einen fing. Sie und Pewter träumten davon, den Blauhäher zu töten, der ihnen das Leben vermieste. Hasserfüllt und angriffslustig pflegte er im Sturzflug auf sie zu zu schießen, kreischend näher zu kommen, um dann in letzter Sekunde nach oben zu ziehen, gerade außer Krallenreichweite. Dieser spezielle Blauhäher machte sich zudem einen Spaß daraus, auf die saubere Wäsche zu kacken, die zum Trocknen auf der Leine hing. Auch Harry hasste ihn. Harry war Mary Minors Spitzname, und die Leute waren oft erstaunt, wenn ihnen eine junge, gut aussehende Frau vorgestellt wurde.

Die Leute vermuteten, ihr Spitzname rührte von ihrem Ehenamen her, dabei hatte sie ihn in der Grundschule erworben, weil ihre Kleidung großzügig mit Katzen- und Hundehaaren verziert war. Ihre kleinen Mitschülerinnen und Schulkameraden hatten das Buchstabieren noch nicht beherrscht, weshalb aus hairy – haarig – Harry wurde. Bis zum heutigen Tag hatten einige von denen, die mit ihr zur Schule gegangen waren, Probleme mit dem Buchstabieren, aber selten mit Harry.

Durch das geöffnete Fenster hörte die Katze das laute Pochpochpoch der Spechte. Sie konnte sich an keinen Frühling mit so vielen Spechten oder so vielen gelben Schwalbenschwanz-Schmetterlingen erinnern.

Der riesige, gut sechzig Zentimeter große Helmspecht bot einen furchterregenden Anblick. Dieser Vogel, der in den Hickory- und Eichenwäldern von Mittelvirginia zu Hause ist, war eine primitive Lebensform, und in Ruhestellung konnte man fast seine fliegenden Reptilien-Vorfahren in seinem Gesicht gespiegelt sehen.

Die kleineren Spechte, obwohl noch groß genug, waren weniger furchterregend. Mrs. Murphy sah den Spechten gerne zu, wenn sie einen Baum umkreisten, verhielten, nach Insekten pickten, dann wieder kreisten. Sie beobachtete, dass manche Vögel hoch kreisten und manche niedrig, und sie hätte gern gewusst warum. Sie konnte nicht nahe genug an einen heran, um zu fragen, denn sobald sie ihrer ansichtig wurden, flogen sie zu einem anderen ergiebigen Baum davon.

In der Regel hielten Vögel Gespräche mit Katzen für unter ihrer Würde. Die Mäuse, Maulwürfe und Spitzmäuse plapperten munter aus ihren sicheren Löchern heraus. »Plapperten« ist höflich ausgedrückt; denn sie verspotteten die Katzen. Die Stallmäuse sangen sogar, weil sie wussten, dass sie Mrs. Murphy mit ihren Piepsstimmen zum Wahnsinn trieben.

Die Tigerkatze schaute auf die Uhr. Harry, die gewöhnlich um halb sechs aufstand, hatte verschlafen. Zum Glück war heute Samstag, und sie musste sich nicht sputen, um zur Arbeit im Postamt von Crozet zu kommen. Eine Teilzeitkraft nahm sich der Samstagspost an. Aber die gut durchorganisierte Harry mochte kein Tageslicht vergeuden. Murphy wusste, sie würde sich ärgern, wenn sie aufwachte und sah, wie spät es war.

Pewter schlug ein hellgrünes Auge auf. »Ich hab Hunger.«

»Im Napf sind Katzenkekse.«

»Thunfisch.« Die dicke graue Katze schlug das andere Auge auf und hob den hübschen runden Kopf ein wenig.

»Hätte nichts dagegen. Wecken wir unseren Dosenöffner.« Murphy lachte.

Pewter streckte sich, dann setzte sie sich frohgemut hin, mit dem Rücken zu Harrys Gesicht. Sachte schwenkte sie ihren Schwanz über die Nase der Frau.

Mrs. Murphy spazierte auf Harrys Rücken hin und her. Als das nicht den gewünschten Erfolg zeitigte, sprang sie auf und ab.

»Hatschi«, nieste Harry und schob den Schwanz aus ihrem Gesicht. »Pewter.«

»Ich hab Hunger.«

»Ich auch«, verkündete Murphy laut.

Der Hund, der jetzt wach war, gähnte. »Ein Brocken Rindfleisch.«

»Ihr Schätzchen.« Harry setzte sich auf, als Murphy von ihrem Rücken stieg. »Ach du liebes bisschen, halb sieben. Warum habt ihr mich so lange schlafen lassen?« Sie schlug die Zudecke zurück, setzte die nackten Füße auf den Bettvorleger und spurtete ins Bad.

»Ich bewache den Futternapf.« Pewter schwirrte ab in die Küche.

Murphy, die ihr folgte, sprang auf die Anrichte.

Tucker, viel fügsamer als die Katzen, begleitete Harry ins Badezimmer, machte ein komisches Gesicht, als sie sich die Zähne putzte, folgte ihr dann still in die Küche, wo Harry einen Kessel mit Wasser für Tee aufsetzte.

»So, was darf’s sein?«

»Thunfisch!«, tönte es im Chor.

»M-m-m, Huhn mit Reis.« Sie stellte die Dose zurück.

»Thunfisch!«

»Leber.« Sie zögerte.

»Thunfisch!«

»Thunfisch«, stimmte Tucker ein. »Wenn du ihnen keinen Thunfisch gibst, machen sie einen Aufstand, und dann dauert es ewig, bis ich mein Frühstück kriege«, brummte sie.

Harry nahm eine andere Dose aus dem Schrank. »Thunfisch.«

»Hurra!« Pewter drehte kleine Kreise.

»Okay, okay.« Harry lachte und öffnete die Dose mit demselben Büchsenöffner, den ihre Mutter benutzt hatte. Die Hepworths, die Familie von Harrys Mutter, fanden modische Dinge unsinnig. Man kaufte etwas von guter Qualität und benutzte es, bis es den Geist aufgab. Der Büchsenöffner war älter als Harry.

Die Minors, die Familie ihres Vaters, ebenfalls praktische Leute, waren ein klein wenig geneigter als die Hepworths, sich von ihrem Geld zu trennen. Harry fiel irgendwo dazwischen.

Als sie Katzen und Hund gefüttert hatte, stellte sie eine Eisenpfanne auf den Herd und briet zwei Eier. Das Frühstück war ihre Lieblingsmahlzeit.

»So, ich hab Mr. Maupins Sämaschine übers Wochenende, dann will ich mal die Weiden nachsäen«, sagte sie zu den Tieren, die gute Zuhörerinnen waren. »Ich hatte Glück, dass ich sie kriegen konnte. Wer eine Sämaschine hat, kann sie für gutes Geld vermieten. Ich möchte ja gern eine kaufen, aber wir würden fast zwanzigtausend Dollar brauchen, und wisst ihr was, da stell ich mich doch lieber hinten an und warte, bis ich die von Mr. Maupin mieten kann. Selbst eine gebrauchte ist teuer, und man benötigt sie nur im Frühjahr und im Herbst, je nach …« Ihre Stimme verklang, stieg dann wieder an. »Das Dumme ist, wenn man sie braucht, dann braucht man sie. Wir haben dieses Jahr Glück gehabt.« Sie streichelte den seidigen Kopf von Mrs. Murphy, die zu ihr an den Tisch gekommen war. »Ich hab’s einfach im Gefühl, das wird ein glücklicher Frühling. Alle Hände voll zu tun.«

Sie spülte das Geschirr, trat auf die umzäunte Veranda hinaus und zog ihre Stalljacke über, die an einem Haken hing. Die Temperatur betrug etwas über vier Grad, aber bis zum Mittag würden es fast achtzehn sein.

Als Harry in die frische kühle Luft hinaustrat, bemerkte sie als Erstes den Nebel auf den Bergen. Die aufgehende Sonne strahlte auf den Nebel und schuf Millionen winziger Regenbögen. Der Anblick war so schön, dass Harry wie angewurzelt stehen blieb und einen Moment den Atem anhielt.

Die Katzen sahen die Regenbögen, aber ihre Aufmerksamkeit war von einem riesigen Helmspecht in Anspruch genommen, der direkt vor der Veranda im Staub lag.

»Cool.« Pewter lief hin, versuchte, den jüngst verendeten Vogel ins Maul zu nehmen. Er war sehr schwer. Sie gab es auf.

»Ich könnte dir dabei helfen«, erbot sich Tucker.

»Wenn du meinen Vogel anrührst, bist du tot«, fauchte Pewter.

Mrs. Murphy lachte. »Du hast ihn schließlich nicht erlegt, Pewter.«

»Ich hab ihn gefunden. Das ist fast dasselbe.«

»Ja, die große graue Jägerin.« Tucker kräuselte verächtlich die Oberlippe.

»Ich seh dich nie was fangen, Dickarsch.« Pewter verengte die Augen zu Schlitzen.

»Ich bin nicht dick. Ich hab keinen Schwanz. Das macht mich dick«, gab Tucker spitz zurück. »Das solltest du wissen, Fettsteiß.«

Pewter holte aus und traf den Hund mitten auf die Nase. »Knallkopf.«

»Autsch.«

»Was habt ihr beiden bloß?« Harry ging zu den streitenden Tieren. »O nein.« Sie kniete sich hin, um den riesigen Specht zu inspizieren. »So einen kriegt man kaum noch aus der Nähe zu sehn.«

»Ich hab ihn gefunden.« Pewter legte ihre Pfote auf die pralle Brust des Vogels, die Krallen ausgefahren, um der Geste Nachdruck zu verleihen.

»Pewter, lass los«, befahl Harry.

»Nur wenn ich meinen Vogel wiederkriege.« Sie schlug mit dem Schwanz.

»Lass lieber los«, riet Mrs. Murphy ihr.

»Na klar, damit du dir meinen Specht schnappen kannst.«

»Weil sie hier der Leithund ist,« bemerkte Tucker weise.

»Ich bin kein Hund.« Die graue Katze bemerkte dies mit hochmütiger Miene.

»Gut so, denn ich möchte nicht mit dir verwandt sein.«

»Du bist richtig fies«, sagte die Katze, ließ aber den Vogel los und zog die Krallen ein.

Harry betastete zuerst das Genick des Spechtes; manchmal fliegt ein Vogel gegen eine Fensterscheibe und bricht sich das Genick. Das Genick des Spechtes war unversehrt, und Spechte fliegen gewöhnlich nicht so nahe an Häuser heran. Sie drehte den Vogel um. Nicht die Spur einer Verletzung.

»Der Bursche ist schwer.«

»Wem sagst du das«, stimmte Pewter zu.

»In tadellosem Zustand. Seltsam. Wirklich seltsam.« Harry nahm den Vogel an den Füßen hoch und stand auf. »Präparator« war alles, was sie sagte.

»Ich kann die Federn von einem ausgestopften Vogel genauso gut ausrupfen wie von einem lebendigen.« Pewter lächelte.

»Lass sie gewähren, Pewter«, knurrte Tucker, der die Nase noch wehtat.

Die Katze sagte nichts; sie blieb Harry dicht auf den Fersen, als diese ihre alte große Kühlbox hervorkramte, Eis hineingab, den Specht in eine Plastiktüte wickelte und dann in die Kühlbox legte. Nach dem Nachsäen wollte sie den Präparator aufsuchen.

Dann ging sie zum Stall, brachte die drei Pferde nach draußen, säuberte die Boxen, schrubbte die Wassereimer und war im Nu auf dem Traktor, so fröhlich wie sie nur sein konnte.

Die Tiere hatten nicht den Wunsch, hinter dem Traktor her zu rennen, während Harry monoton auf den Feldern hin und her fuhr. So legten sie sich unter einem großen weißen Fliederstrauch nieder, dessen Blüten halb geöffnet waren. Pewter und Tucker riefen einen Waffenstillstand aus.

»Der war unheimlich – dieser Specht.« Mrs. Murphy beobachtete einen vorbeiziehenden Schwarm Marienkäfer.

»Ein Omen. Gefundener Schatz«, schnurrte Pewter.

Tucker legte den Kopf auf die Pfoten. »Ein böses Omen, wenn du der Specht bist.«

2

Was meinst du?« Harry beugte sich über den schweren Holztisch, wo Don Clatterbuck den jüngst verendeten Helmspecht betrachtete.

»Kann ich machen. Klar.« Er lächelte. Seine Zähne waren gefleckt vom Tabakkauen, eine Gewohnheit, die er von seinem Großvater mütterlicherseits gelernt hatte, Riley »Booty« Mawyer, der trotz seines Alters noch als Farmer arbeitete.

Sie verschränkte die Arme. »Teuer?«

»Für dich nicht.« Er lächelte wieder.

»Nämlich?«

»Oh, ungefähr hundert Dollar, und du reichst meine Karte rum, wenn die Fuchsjagd wieder losgeht? Auf den Sammelplätzen.«

»Echt?« Harry wusste, dass sie ein gutes Geschäft machte; denn das Ausstopfen von Vögeln war schwieriger als das von Hirschköpfen.

»Ja. Wir kennen uns schon so lange, Skeezits.« Er nannte sie beim Spitznamen ihrer Kindheit.

»Das kann man wohl sagen.« Sie erwiderte sein Lächeln und deutete auf Couchtische, deren Platten von alten Nummernschildern bedeckt waren, einige aus den 1920er Jahren. »Die sind super. Du solltest sie nach Middleburg schaffen und dort in den teuren Geschäften anbieten.«

Seine Werkstatt, eine umgewandelte Garage, quoll über von Häuten, Messern zum Schneiden von Leder und einer Hochleistungsmaschine zum Nähen von Leder, wenngleich er gewöhnlich lieber mit der Hand nähte. Donald reparierte Sattelzeug, Ledersessel, Autopolster, sogar Lederröcke und hochmodische Sachen.

Er lebte ganz anständig davon und vom Präparieren, aber er bewies zudem eine kreative Ader. Die mit Nummernschildern belegten Couchtische waren seine neueste Idee.

»Bin nicht zufrieden. Ich möchte welche machen, bei denen ich die Farben für Muster verwende. Die alten New Yorker Schilder waren orangefarben, ich könnte also orange nehmen und, sagen wir, die alten kalifornischen Schilder, schwarz. Ich weiß nicht. Mal was andres.«

»Die sind gut. Die gleich hier vorne. Wo kriegst du die coolen alten Schilder her?«

»Hauptsächlich Haushaltsauflösungen. Trödelmärkte. Scharren.«

Da sie sich kannten, seit sie Kleinkinder waren, bedienten sie sich einer Art Kurzsprache. Scharren hieß, er scharrte Zeug zusammen wie ein Huhn Würmer aus dem Boden. Viele von Harrys Freunden redeten so, weil sie sich ihr Leben lang gekannt hatten. Bei der älteren Generation verknappte sich diese Kurzsprache zu Befehlen. In Virginia war es so, dass ältere Leute Befehle erteilten und junge Leute sie ausführten. »Jugendverehrung ist was für andere Gegenden«, wie die Virginier sagten. Was ein echter Virginier nie sagen würde, war, dass diese »anderen Gegenden« des Landes nicht zählten.

Ein anderes Grundprinzip des Lebens in Virginia war, dass die Gesellschaft von Frauen beherrscht wurde. Der ganze Staat war ein Matriarchat, sorgsam verdeckt natürlich. Man durfte die Männer nicht merken lassen, dass sie gelenkt, geleitet, beschwatzt oder manchmal offen bedroht wurden, um zu tun, was die Queen wollte – die Queen war die tonangebende Frau jeder Ortschaft.

Was die Männer den Frauen nie erzählten, war, dass sie das wussten. Jagen, Fischen und Golf verschafften ihnen eine Pause von den fortwährenden Ansprüchen der Damen. Trotz der gelegentlichen Verärgerungen, Störungen und der Anstrengung, die es bereitete, den Frauen zu Gefallen zu sein, trugen die Männer Virginias diese Bürde aus Gründen, die sie eben diesen Frauen nicht mitteilten. Die Männer fühlten sich größer, stärker und kampfeslustiger, was auch hieß, dass sie diejenigen beschützen konnten, die kleiner, schwächer waren und sie brauchten. Sie lehnten es ab, die Frauen merken zu lassen, dass diese Damen sie brauchten und dass sie ganz genau wussten, was die Damen taten.

Die Taktik funktionierte meistens. Wenn nicht, war die Hölle los.

Harry und Don, beide Ende dreißig, glaubten fest, dass sie Teil dieses Tanzes waren. Natürlich waren sie das, und mit der Zeit würden sie verstehen, wie stark sie durch ihre Vorfahren und das Ethos Virginias beeinflusst worden waren.

»Du bist der Handwerker.« Sie lächelte.

»Ich schlag mich so durch.« Er wischte sich mit der Hand übers Kinn und hinterließ einen schwachen hellbraunen Streifen; er hatte Kalbsleder gefärbt, bevor Harry in seine Werkstatt kam.

»Du hast immer gute Arbeit geleistet. Ich weiß nicht, woher du deine Ideen nimmst. Ich erinnere mich an den Schuljubiläums-Festwagen mit dem bockenden Hengst. Ich weiß bis heute nicht, wie du das bockende Pferd hingekriegt hast. Das hat noch keiner übertroffen.«

»War nicht übel.« Er grinste.

»Woher kriegst du das ganze Zeug?« Sie zeigte auf einen zerbrochenen Ziergiebel aus schönem Stein, einen Riesenstapel alter Nummernschilder, eine alte Benzinpumpe, so eine, wo sich obendrauf eine Kugel dreht, und einen schönen alten Brewster-Phaeton, dringend reparaturbedürftig, aber ein Beispiel für die Kutschenbauerkunst.

Mrs. Murphy und Pewter saßen auf dem rissigen, dunkelgrünen Ledersitz der Kutsche. Der Kutschkasten war dunkelgrün lackiert mit roter und goldener Verzierung, wunderhübsch, wenn auch verblasst und rissig.

»O’Bannon.«

»Die Altwarenhandlung? Bin nicht mehr dagewesen, seit der alte Herr tot ist.«

»Die haben nach hinten raus um vier Morgen ausgebaut. Die Jungs sind gute Geschäftsleute. Sean leitet den Betrieb und Roger die Werkstatt, alte Autos. Er verbringt seine halbe Zeit immer noch bei Stockcarrennen. Du solltest da mal hingehen.« Don legte den Specht vorsichtig in eine große Gefriertruhe, in der er Wildbret aufbewahrte. »Sie haben sogar einen Eisenbahnwaggon auf dem alten Rangiergleis. Muss Spaß gemacht haben in der alten Zeit, als die Firmen alle Bahnanschluss hatten.«

»Wann hat Sean ausgebaut?«, fragte Harry. Sie wusste, dass Sean der ältere der beiden Brüder war und offenbar mehr zu sagen hatte als Roger.

»Ungefähr einen Monat, nachdem sein Dad gestorben war, hat er angefangen. Er sagte, er hätte seinem Vater nie begreiflich machen können, wie der Laden wachsen könnte. Er hat Geld bei der Bank geliehen. Es ist ein großer Ausbau.«

»Und ich dachte, ich wüsste alles.« Sie kratzte sich am Kopf.

»Willst wohl ’ne zweite Big Mim werden?« Don lachte, als er Mim Sanburne erwähnte, Ende sechzig, wiewohl sie ihr Alter nicht hinausposaunte. Mim war reich, schön, gebieterisch und gewillt, über ganz Crozet zu herrschen, ja über ganz Virginia, sofern man sie ließ – und auch, wenn man sie nicht ließ. Sie musste alles wissen.

»Danke«, erwiderte Harry trocken.

»Mom befiehlt insgeheim genauso gerne wie Mim.« Pewter kicherte.

Murphy widersprach ihrer Gefährtin. »Glaub ich nicht. Ich glaube, sie will ihren eigenen Weg gehen, aber wenn sie in einer Menschengruppe arbeiten muss, dann will sie den Job getan kriegen. Mutter mag nicht lauter persönliches Zeug aus dem Leben anderer Leute hören – Mädchenklatsch. Das kann sie nicht ausstehn.«

»Ich denke, sie könnte in Crozet genauso gut den Ton angeben wie Big Mim.«

»Sie hat die Fähigkeit, aber nicht den Wunsch.« Mrs. Murphy setzte sich auf und dachte, wie kultiviert es wäre, an so einem vollkommenen Frühlingstag wie diesem in einem Phaeton zu reisen.

»Little Mim nicht zu vergessen.« Tucker, die jeden Gegenstand auf dem Fußboden der Werkstatt inspiziert hatte, schlenderte herüber.

»Richtig.« Pewter dachte über die gesellschaftlichen und politischen Ambitionen von Mims einziger Tochter nach. »Sie ist jetzt auch noch Vizebürgermeisterin.«

Jim Sanburne, der Ehemann von Mim, Vater von Little Mim, war der Bürgermeister, seit Mitte der 1960er Jahre. Seine Tochter hatte ihn bei der letzten Stadtwahl um den Bürgermeisterposten herausgefordert, aber sie hatten einen Kompromiss gefunden, und sie war Vizebürgermeisterin geworden, von ihrem Vater ernannt, vom Stadtrat gebilligt. Hätte sie die Kampagne durchgezogen, wäre die Gemeinde geteilt gewesen. So aber blieb die Harmonie gewahrt, und Little Mim war Bürgermeister-Lehrling.

»Geh zu O’Bannon«, empfahl Don. »Da gehen Künstler hin. Nicht nur Motorfreaks. BoomBoom Craycroft ist einmal die Woche dort und sichtet Altmetall.«

»Was?«

»Sie schweißt Kunstwerke. Meint, das baut sie auf.«

»Nicht zu fassen.« Harry verzog das Gesicht. »BoomBoom kann bei keiner Sache bleiben, und jede neue Betätigung ist ihre Rettung und soll obendrein jedermanns Rettung sein. Na, wenigstens ist sie raus aus ihrer Gruppentherapiephase.«

Don wechselte das Thema. »Schon Vorbereitungen für das Hartriegelfest nächstes Wochenende getroffen? Unseren Frühjahrsritus Mitte April?«

»Nein.« Sie schürzte die Lippen. »Diese verdammte Susan. Sie löchert mich ununterbrochen.«

»Was musst du denn diesmal machen?«

»Paradekoordination.«

»Hä?«

»Das heißt, ich muss alle am Startplatz an der Crozet Highschool aufstellen, sie richtig verteilen, das Megaphon benutzen und sie in Marsch setzen. Ist ganz einfach, bis man bedenkt, wer bei der Parade mitmarschiert. Der Kampf der Egos, unsere Version vom Kampf der Titanen.«

Don lachte. »Besonders BoomBoom. Dein Liebling.«

Harry musste so lachen, dass sie kaum sprechen konnte. »Sie führt eine Delegation von Krankheit-der-Woche an. Hab vergessen, welche Krankheit.«

»Letztes Jahr war es Multiple Sklerose.«

BoomBoom Craycroft, eine schöne und ehrgeizige Frau, wählte jedes Jahr eine wohltätige Einrichtung aus. Sie führte die Gruppe dann bei der alljährlichen Parade an, eine Feier für den Frühling und für Crozet. Es war nicht nur, dass sie Gutes tun und den Kranken helfen wollte, sie wollte zudem im Mittelpunkt stehen. Sie war entschieden zu alt, um oberste Cheerleaderin der Highschool zu sein, deswegen war dies ihr Ressort.

»Wir würden sicher nicht so lachen, wenn wir die Soundso-Krankheit hätten, aber ich kann nichts dafür. Echt nicht. Ich finde, sie sollte eine Truppe für Brustverkleinerung anführen.« Harry kicherte. BoomBoom schleppte oben eine Menge Gewicht mit sich herum.

Don keuchte. »Bloß nicht.«

»Typisch Mann. Du Trottel.« Sie formte mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole und »erschoss« ihn. Sie ging zu dem großen Tresor hinüber. »Hast du deine Millionen hier drin?«

»Nee, bloß ’ne halbe Million.« Er lachte, dann überlegte er kurz. »Gib mir zwei Wochen für den Specht. Du hast mich in einer günstigen Zeit erwischt.«

»Super.« Sie klatschte ihn auf die Hand, sammelte ihre Brut ein, um sich zu O’Bannon zu begeben. »Wir sehn uns bei der Parade.«

3

Mit Ausnahme der Autobahnen waren die Straßen in Virginia überpflasterte Indianerpfade. Sie wanden sich durch die Berge, verliefen an Flussbetten und Bächen entlang, eine Freude für diejenigen, die das Glück hatten, einen Sportwagen zu besitzen.

Harry dagegen war stolze Besitzerin von zwei Transportern. Der eine, ein F350 Kombi, war wegen des starken Motors teuer im Verbrauch, aber sie brauchte ihn, um ihren Pferdeanhänger zu ziehen. Dank eines langfristigen Darlehens konnte sie sich die Abzahlungen leisten. Sie hatte noch drei Jahre lang abzubezahlen.

Für den täglichen Gebrauch fuhr sie ihren alten 1978er Ford Halbtonner; der lief wie eine Eins und war billig zu unterhalten und zu reparieren.

Heute kurvte sie in dem alten Supermann-blauen Ford um die Anhöhen und Täler; die zwei Katzen und Tucker fuhren fröhlich in der Fahrerkabine mit und gaben Kommentare zu der sich ausbreitenden Landschaft ab.

Don Clatterbucks Werkstatt lag gleich hinter der Kreuzung von Route 240 und Whitehall Road. Das Gelände von O’Bannon’s Salvage befand sich östlich der Stadt ebenfalls an der Route 240, etwas abseits der Schnellstraße versteckt, als wollte man ungemein ästhetische Seelen nicht beleidigen. Zur weiteren Förderung der guten Beziehungen zur Gemeinde hatten die Brüder O’Bannon um die vier Morgen einen hohen, stabilen Zaun gezogen, eine immense Investition. An einem schmiedeeisernen Pfosten an der Einfahrt, gleich bei dem großen Flügeltor, schwang ein großes hübsches handgemaltes Schild. Auf schwarzem Grund stand mit weißen Buchstaben »O’Bannon’s Salvage« geschrieben, eine rote Umrandung vervollständigte das Schild. Was jedoch jedermann auf das Gelände der O’Bannons aufmerksam machte, war nicht das Schild, sondern die Abrissbirne, die an einem neben dem Schild aufgestellten Kran hing. Jeden Morgen öffnete Sean oder Roger das schwere Maschendrahttor und jeden Abend schlossen sie es; der Kran mit der Abrissbirne stand da wie ein skelettartiger Wächter.

Als Posthalterin von Crozet, hier geboren und aufgewachsen, kannte Harry sämtliche Nebenstraßen und auch sämtliche Bewohner. Es gab keine Abkürzung zu O’Bannon. Sie musste durch die Stadt. Don hatte ihre Neugierde geweckt. Sie wollte Seans Neuerungen sehen.

Sobald sie nach Osten abgebogen war, kam sie am Supermarkt vorbei und erspähte auf dem Parkplatz Miranda Hogendobber, ihre Mitarbeiterin und Freundin. Ihre Papiertüten mit Lebensmitteln waren auf der Kühlerhaube des Ford Falcon abgestellt, einem antiken Vehikel, das Miranda täglich benutzte, da sie keinen Grund sah, Geld für ein neues Auto auszugeben, wenn das alte noch gut fuhr.

Miranda machte einen verstörten Eindruck. Harry bog auf den Parkplatz ein, fand eine Lücke und eilte zu ihrer Freundin, die Tiere hinterdrein.

»O Harry, ich bin so froh, dass Sie da sind. Schauen Sie. Schauen Sie sich das an!« Miranda zeigte auf ihre Reifen, die Radkappen waren weg. »So etwas ist mir noch nie passiert – und das am Supermarkt.«

»Nehmen Sie’s nicht so schwer, Mrs. Hogendobber.« Mrs. Murphy rieb sich an ihrem Bein, überzeugt, dass das die Dame beruhigen würde.

»Was soll das Theater wegen einer Radkappe?« Pewter hob die Schultern.

»Das Auto ist von 1961. Wie kann sie Ersatz bekommen?«, erwiderte Tucker.

»Das Auto fährt auch ohne Radkappen.« Pewter hatte Mühe die Reaktionen der Menschen zu verstehen, da sie oft fand, dass ihnen das Wesentliche entging.

»Du kennst sie doch. Alles muss so sein und nicht anders. Kein Stängelein Unkraut in ihrem Garten. Sie mag nicht mit nackten Radmuttern rumkurven, verzeih den Ausdruck ›nackt‹.« Murphy ging um Miranda herum und rieb sich an dem anderen Bein.

»Haben Sie den Sheriff angerufen?«

»Nein. Ich bin eben erst herausgekommen.« Niedergeschlagen trat Miranda einen Schritt zurück, um noch einmal ihre nackten Räder zu betrachten.

»Ich sag Ihnen was, Sie bleiben hier und ich laufe zur Telefonzelle.« Harry setzte sich in Bewegung, dann blieb sie stehen. »Haben Sie was, das in den Gefrierschrank muss? Ich kann’s mit nach Hause nehmen.«

»Nein.«

Harry rief im Sheriffbüro an, und ehe sie auflegte, um wieder zu Miranda zu gehen, kam Cynthia Cooper, eine Polizistin vom Sheriffrevier, auf den Parkplatz gefahren.

»Das ging ja schnell.« Harry lächelte die junge, attraktive Polizistin an.

»War gleich um die Ecke bei der Feuerwache; bin zum tausendsten Mal die Paradestrecke abgefahren.«

»Schauen Sie.« Miranda zeigte auf ihr Auto, als Cynthia mit dem Notizbuch in der Hand herüberkam.

»So eine Gemeinheit.« Cynthia legte ihren Arm um Miranda. »Haben Sie eine Ahnung, wie viel die wert sind?«

»Keinen Schimmer.« Miranda schürzte die von rosa Lippenstift glänzenden Lippen.

»Deswegen hat man sie vermutlich gestohlen. Weil sie schwer zu finden sind. Die müssen einiges wert sein«, dachte Harry laut.

»Warum kann sie keine neuen Radkappen dranmachen?« Pewter war gereizt. Sie wollte weiterfahren.

»Das ist nicht dasselbe.« Tucker schnüffelte an den Rädern, weil sie hoffte, einen menschlichen Geruch wahrzunehmen, aber der Täter hatte die Radkappen mit was anderem als seinen Händen abmontiert.

»Quatsch.« Die graue Katze gähnte.

»Halten wir euch auf?« Harry bemerkte das große Gähnen, das von einem kleinen Glucksen begleitet wurde. »Wollt ihr euch im Auto schlafen legen?«

»Haha«, lachte Mrs. Murphy.

»Sind wir nicht die makellose Mieze?«, murrte Pewter die Tigerkatze an.

»Lasst das. Ich wünsche mir mal einen Samstag, an dem ihr zwei euch nicht streitet.« Tucker setzte sich zwischen die zwei Katzen.

»Harry, während ich das aufschreibe, rufst du vom Streifenwagen aus bei O’Bannon an. Frag Sean, ob er Falcon-Radkappen hat.«

»Komisch, ich war gerade auf dem Weg dorthin.« Harry trabte zum Streifenwagen, rutschte hinters Steuer und griff zum Autotelefon. Als sie die Nummer wählte, bekam sie Neidgefühle. Sie hätte auch gern ein Autotelefon gehabt, aber es war ihr zu teuer. »Hi Sean, Harry hier.«

»Wie geht’s, Harry?«

»Mir geht’s gut, aber Mrs. Hogendobber nicht. Jemand hat eben die Radkappen von ihrem Ford Falcon gestohlen. Coop ist hier am Schauplatz des Verbrechens, sozusagen, und sie hat gemeint, ich soll Sie anrufen. Sie haben nicht zufällig Ford-Falcon-Radkappen da, oder?«

»Doch.« Sean senkte die Stimme. »Ich hab sie gerade dem Kerl abgekauft, der sie geklaut haben muss. Verdammter Mist.«

»Wir sind gleich da.« Harry drückte die »Ende«-Taste. »Hey Coop, er hat sie.«

»Meine Radkappen?« Miranda fuhr sich mit der Hand an den Hals.

»Er sagt, er hat sie eben jemandem abgekauft. Wenn das nicht Ihre sind, ist es ein komischer Zufall. Ich hab gesagt, wir sind gleich da.«

»Mrs. Hogendobber, sind Sie ruhig genug, um selbst in Ihrem Wagen hinfahren zu können? Ich komme mit dem Streifenwagen hinterher.«

»Natürlich bin ich ruhig genug.« Miranda konnte nicht glauben, dass die Polizistin dachte, der Diebstahl habe sie dermaßen aufgewühlt.

»Ich häng mich auch dran, wenn niemand was dagegen hat.« Harry hob Pewter auf, die in Richtung Supermarkt schlenderte. »Ich wollte sowieso dorthin.«

»Gut.« Cynthia öffnete die Tür des Streifenwagens.

Mrs. Murphy setzte sich auf Harrys Schoß, als Harry rückwärts aus der Parklücke setzte. »Erst der Specht, dann die Radkappen. Was kommt als Nächstes?«

Pewter kicherte. »Vernichtung durch Todesstrahlen.«

4

Wie Ameisen bei einem Picknick.« Mrs. Murphy staunte über die Menschen, die, etwa zwanzig an der Zahl, über die Freiflächen stiefelten, wo kunstvolle zerbrochene Säulen herumlagen, Ziergiebel und Sarkophage, alle säuberlich nach ihrem jeweiligen Zweck getrennt.

Die kurze Zufahrt zu dem Gebäude war von großen Terrakotta-, Stein- und Keramiktöpfen gesäumt. Neben der Steinabteilung befand sich eine Marmorabteilung mit großen Platten rosafarbenem Marmor, der aus einem alten Hotelfoyer stammen musste, kleineren Stücken grün geädertem Marmor, einer Platte, die vielleicht einmal eine Bartheke war, daneben tiefschwarzer Marmor, alles wiederum ordentlich gestapelt. Die größte Freifläche war angefüllt mit Bruchsteinen von Mauern, Häuserfundamenten, manche Blöcke kantig behauen, andere naturbelassen.

Die Innenräume des Hauptgebäudes enthielten hölzerne Leisten, Kamineinfassungen, Stützpfeiler, mundgeblasenes Glas, handgehämmerte Nägel. Ein wahres Füllhorn voller Schätze.

Parallel zum Hauptgebäude verlief ein Bahngleis. Neben dem Gebäude stand ein Plattformwagen, beladen mit schweren steinernen Simsen, Türstürzen und Mauerkrönungen. Tieflader lieferten einmal in der Woche Material und vielleicht ein altes Auto an. Hinter dem Wagen stand ein alter roter Eisenbahnwaggon, der noch nicht restauriert war.

Etwas abgelegen im hinteren Bereich des vier Morgen großen Geländes lag Rogers Autowerkstatt. Schnell wachsende Kiefern schirmten sie vor den Blicken ab. Um die diversen Freiflächen gruppierten sich kleine propere Bauten. Sie sahen aus wie Gartenschuppen und enthielten Werkzeug, alte Traktorteile und andere Gegenstände, die vor der Witterung geschützt werden mussten.

Die Tiere waren von dem Gerümpel nicht so fasziniert wie die Menschen, aber manchmal hielt sich ein Duft von einem früheren Bewohner, einem Hund oder einer Katze. Solche olfaktorischen Informationen waren natürlich jüngeren Datums. Mitteilungen dieser Art gingen nicht von Scherben aus, die aus dem späten siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhundert gerettet worden waren.

Harry staunte über die Verwandlung des Altmaterialbetriebes in eine Art architektonischen Abladeplatz. Als sie das letzte Mal hier war, hatte Seans Vater, Tiny Tim, der sein Geld knickerig zusammenhielt, vergnügt über das Gelände geherrscht, einen einzigen großen Hof voller rostender Autos. Tim hatte alte Grabsteine gesammelt, weil er sich für die Steinmetzkunst interessierte. Er sprach gern über die Grabsteine, um dann zum umfassenderen Thema Tod überzugehen. Tiny Tim war entschieden gegen Autopsien gewesen. Als er starb, hatten seine Frau und seine Söhne keine Autopsie gewollt, so dass niemand genau wusste, woran er gestorben war. Aber ein Leben lang rauchen, trinken und alles verzehren, was ihn nicht zuerst verzehrte, das dürfte ihn zugrunde gerichtet haben.

Sean, groß und mager, trug ein ausgebleichtes orangerotes Leinenhemd, das er in eine Zimmermannshose gesteckt hatte. Keine Schmiere war in seine Hände eingezogen, keine Öl- oder Schmutzflecken verunzierten sein Hemd. Er hätte ein Obst- und Gemüsehändler sein können, wenn die Zimmermannshose nicht gewesen wäre.

An einer Wand waren Spezialwerkzeuge zum Restaurieren zu sehen: elegante Meißel, kleine und größere Hämmer, winzige Butanbrenner, um bleihaltige Farbschichten abzutragen. Die Sachen waren imponierend und teuer.

Cynthia und Miranda begaben sich zum Empfangspult.

Sean bat seine Assistentin Isabella Rojas sich der zwei Kunden anzunehmen, die er gerade bediente, und durchschritt den weiten Raum, um die zwei Frauen zu begrüßen. »Willkommen. Ich glaube, Sie haben Glück.«

Harry kam hinzu, die drei Tiere zockelten hinterher. »Herrlich ist es hier.«

»Danke.« Er richtete sich an Miranda. »Mrs. Hogendobber, folgen Sie mir.«

Menschen und Tiere verließen das Hauptgebäude, gingen etwa vierhundert Meter nach hinten, wo Tausende von an Drähten aufgehängten Radkappen im Sonnenlicht glänzten. Sie waren nach Automodell und Baujahr geordnet.

Der Widerschein von den funkelnden Flächen veranlasste Mrs. Hogendobber, die Hand über die Augen zu legen. »Meine Güte, ich hatte keine Ahnung, dass es auf der Welt so viele Radkappen gibt.«

»Kommt, wir inspizieren die Außengebäude.« Tucker wedelte mit ihrem nicht vorhandenen Schwanz. »Da treibt sich bestimmt ’ne Menge Ungeziefer rum.«

»Hältst dich wohl für ’nen Rattenfänger, was?« Pewter tänzelte umher, ihr graues Fell strahlte Überlegenheit aus. »Du könntest nicht mal eine komatöse Maus fangen.«

»Das musst ausgerechnet du sagen«, rief die Corgihündin über die Schulter zurück, als sie, gefolgt von Mrs. Murphy, zum Werkstattgebäude sprintete. Eine Fährte aus verblassenden Bierdosen gab Zeugnis von Roger O’Bannons Entwicklung. Enthaltsamkeit war keine Tugend, die man mit Roger in Verbindung brachte.

Pewter ging nicht mit. Sie machte sich nicht viel aus Mäusefangen oder aus Roger O’Bannon. Vögelfangen, das war ihr Zeitvertreib, und sie war immer noch sauer, weil Harry den Specht für Don Clatterbucks Kunst gerettet hatte. Sie wollte die Federn rausrupfen. Ehrlich gesagt hatte Pewter noch nie einen Vogel getötet, aber sie klaubte die auf, die tot oder aus dem Nest gefallen waren. Sie riss zu gerne die Federn aus. Sie wollte keinen Vogel fressen. Pewter fraß nichts, was nicht gründlich gekocht war, ausgenommen Sushi. Das Schwirren und Flitzen der Vögel reizte sie, und sie träumte davon, den Blauhäher zu töten, der in dem Ahornbaum hauste. Eines Tages würde der arrogante Bengel zu nahe fliegen, seinen Schnabel zu voll nehmen. Sie wusste, ihr Tag würde kommen und dann würde sie seinen üblen Schmähungen ein Ende bereiten. Doch für den Augenblick war sie es zufrieden, zu Harrys Füßen zu sitzen und sich die Geschichte von den Radkappen anzuhören.

»Meine Radkappen!« Miranda griff nach dem einzigen Satz Ford Falcon-Radkappen an dem Seil.

»Hören Sie, Mrs. H., wenn Sie den Diebstahl anzeigen, muss ich die Radkappen als Beweismittel sicherstellen. Wenn Sie keine Anzeige erstatten, können Sie sie gleich an Ihren Wagen montieren«, riet Cynthia ihr.

»Nein!« Miranda schüttelte ungläubig den Kopf.

»So ist das Gesetz.«

»Wie lange wird das dauern?«

»Das hängt davon ab, ob wir den Verdächtigen finden oder nicht. Wenn wir ihn finden und es zu einer Vernehmung und dann zu einem Gerichtsverfahren kommt, kann das Monate dauern – viele Monate.« Cooper seufzte, denn die geballten Verhandlungen zermürbten sie ebenso wie ihre Kolleginnen und Kollegen. Sie dachte sich oft, dass die Menschen viel besser dran wären, wenn sie versuchten, Probleme unter sich zu lösen, statt zum Sheriff oder einem Anwalt zu rennen, damit die das für sie erledigten. Irgendwie war den Amerikanern die Fähigkeit abhanden gekommen, sich hinzusetzen und miteinander zu reden, zumindest schien es ihr so.

»Ach du liebe Zeit, was werden die Mädels in der Kirche sagen?« Es bekümmerte Miranda, sozusagen unbekleidet herumzufahren. »Hm …«

»Vielleicht kommen wir zusammen zu einer Lösung.« Cynthia wandte sich an Sean, der jetzt die Radkappen von dem Seil nahm. »Die nahe liegende Frage: Wer hat Ihnen die Radkappen verkauft?«

»Normalerweise kümmert Roger sich in der Firma um die Sachen, die mit Autos zu tun haben, aber er ist im Moment nicht hier«, sagte Sean. »Ich war zufällig grade draußen, als ein Bursche mit den Radkappen vorgefahren kam.«

»Kennen Sie ihn?«

»Nein. Den hab ich noch nie im Leben gesehn. Ich wusste, dass Falcon-Radkappen rar sind, deshalb hab ich fünfzig Dollar dafür bezahlt, Großhandelspreis. Ich hab sie mit hundertzwanzig ausgezeichnet und gleich an das Seil gehängt. Wenn ich mir einen Augenblick Zeit zum Überlegen genommen hätte, wäre mir vielleicht klar geworden, dass es Mirandas waren, aber der Bursche sagte, sie wären von dem Falcon seiner Großmutter, der den Geist aufgegeben hat.«

»Wie sah er aus?«

»Schmächtig. Anfang zwanzig. Rötliche Haare, eine jämmerliche Andeutung von einem Schnurrbart.« Sean protzte mit einem roten Schnauzer und einem streng gestutzten Bart von üppiger Dichte, aber die Haare auf seinem Kopf waren schwarz und lang. Er band sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammen, den Harry hinter seinem Rücken als Schniepel bezeichnete.

»Irgendwelche charakteristischen Merkmale? Erinnern Sie sich an seine Kleidung oder sein Auto?«

»1987er GMC-Transporter. Grau. Virginia-Kennzeichen. Ah, eine Dallas-Cowboys-Windjacke, vielleicht so alt wie der Wagen und – ja, er hatte ein charakteristisches Merkmal. Sein linkes Auge war nach unten gesackt, eine alte Verletzung. Es war halb zu, und eine schmale rote Narbe verlief von oberhalb der Braue bis unters Auge.«

»Schniefnase? Fahrig?« Cynthia versuchte ein vollständigeres Bild von dem Täter zu bekommen.

»Nein. Ruhig. Hab auch keinen Alkohol gerochen.«

Miranda zog ihr Scheckbuch hervor; Harry hielt die Radkappen, die Sean ihr gereicht hatte. Die ältere Frau kramte in den Tiefen ihrer Handtasche. »Ich hab einen Stift hier drin, ich weiß es genau.«

»Stecken Sie’s weg«, schalt Sean sie milde. »Ich lasse Sie nicht bezahlen für etwas, das Ihnen gehört.«

»Aber Sie haben den Dieb bezahlt.«

»Mein Problem. Im Ernst, Miranda. Stecken Sie sofort das Scheckbuch weg.«

Cynthia überlegte kurz. »Warum machen wir’s nicht so? Sie schrauben die Radkappen an Ihr Auto. Ich schreibe den Bericht und sehe zu, ob ich den Burschen finde. Wenn Rick Shaw« – sie sprach von ihrem Chef, dem Sheriff – »die Beweismittel besichtigen will, schicke ich ihn zu Ihnen. Ich sehe keinen Sinn darin, dass Ihre Radkappen beschlagnahmt werden und dann Gott weiß wie lange irgendwo rumliegen. Lassen Sie mich nur machen.«

»Ich möchte nicht, dass Sie Ärger bekommen.« Miranda wusste Cynthia Coopers Anteilnahme zu schätzen. Sie hatte sich im Laufe der letzten Jahre mit der jungen Polizistin angefreundet.

»Ein bisschen Ärger wird mir nicht schaden.« Sie lächelte.

»Mir tut diese Geschichte Leid.« Wie die meisten Menschen in Crozet hatte Sean Miranda aufrichtig gern.

»Die Zeiten ändern sich, und wie es scheint, nicht zum Besseren. Sie hatten nichts damit zu tun.« Miranda lächelte ihn an.

»Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, gehe ich wieder ins Lager. Samstags ist immer am meisten los.« Er ging ein paar Schritte, dann blieb er stehen. »Sie kommen doch alle auf den Abbruchball, ja? Am ersten Samstag im Mai. Das ist unsere Wohltätigkeitsveranstaltung für das Projekt ›Bauen für das Leben‹ zugunsten armer Leute, die ein Heim brauchen.«

»Das möchte ich nicht versäumen.« Cynthia klappte ihr Notizbuch zu.

»Mein Ex-Mann hat mich schon vor Monaten auf Ihren Ball eingeladen.« Harry lachte. »Es ist Abfohlzeit, und ich muss damit rechnen, dass mitten im Tanz sein Pieper losgeht. Die Risiken der Veterinärmedizin.«

Fair Haristeen, Harrys einstiger Ehemann, war ein sehr gefragter Pferdearzt. Er hatte sich eine schöne Praxis eingerichtet und eine moderne Klinik mit einem Operationssaal gebaut.

»Ungeziefer ausrotten. Ha«, keckerte Pewter, die versuchte, Harry zu ihren pelzigen Freundinnen zu dirigieren.

Harry sah auf die graue Kanonenkugel von einer Katze hinunter. Sie hätte sie ja hochgehoben, aber sie hatte die Arme voll mit Radkappen.

Miranda pfiff nach Tucker.

Ein Jaulen sagte ihnen, wo Tucker war, und auch, dass der Hund keine Eile hatte, sich wieder zu den Menschen zu gesellen.

»Ich bring die Radkappen zu Ihrem Wagen, Miranda. Ich montiere sie auch, aber zuerst sollte ich lieber die zwei holen. Was dagegen?«

»Natürlich nicht. Ich nehme Ihren Samstagnachmittag in Anspruch.«

»Ich wollte sowieso hierher, ehrlich.« Harry ging flugs zu dem Falcon, der vor dem neuen Hauptgebäude parkte. Sie stapelte die Radkappen neben der Fahrertür.

»Hey, ich montiere die Radkappen. Woher wollen wir wissen, dass kein anderer sie mitnimmt oder zu verkaufen versucht?« Cynthia kam herüber. »Hol du die Mädels.«

Harry setzte Pewter in die Fahrerkabine des Transporters, vergaß nicht, das Fenster ein Stück herunterzukurbeln, auch wenn es gar nicht so warm war, nur um die elf Grad. Dann lief sie zur Werkstatt. »Tucker!«

»Ich hab ’ne Ratte!«, jubelte Tucker.

»Ein Rattenloch. Du musst dich schon exakt ausdrücken«, korrigierte Mrs. Murphy den Hund, doch auch sie wusste, dass eine Ratte in dem Loch war, und sie plusterte den Schwanz ein bisschen auf. Eine Ratte konnte ein furchterregender Feind sein, mit Zähnen, die ohne weiteres einen dicken Brocken Fleisch aus einem rausreißen konnten.

Harry öffnete die große Schiebetür und schlüpfte hinein. Drei alte Autos in verschiedenen Stadien innerer und äußerer Wiedergeburt standen nebeneinander. An den Wänden hing Werkzeug, in der Ecke stand ein Luftverdichter, und das Glanzstück, eine hydraulische Hebebühne in einer Grube, gab Zeugnis von Roger O’Bannons Passion. So wie Sean alte Gebäude liebte, liebte Roger alte Autos; und zum Glück für beide Brüder erlebte der Markt für alte Personen- und Lieferwagen genauso einen Aufschwung wie das Restauriergeschäft.

Eine Wand war voll mit Zubehör, Schraubstöcken, Gummikeilriemen, die an Aufhängeplatten hingen. Alles war aufgeräumt und sauber, abgesehen von der Abfalltonne, die von Bierdosen überquoll.

Tucker und Murphy hockten in der hinteren rechten Ecke der Werkstatt.

»Kommt jetzt. Wir müssen los«, befahl Harry.

»Er ist hier drin. Er hat ’ne Tüte Popcorn.« Tuckers Nase trog sie nie.

»Woher er bloß das Popcorn hat?«, wunderte sich Mrs. Murphy.

Eine Stimme, viel tiefer, als sie erwartet hatten, erschreckte sie. »Verkaufsautomat. Ich weiß, wie man da rein und raus kann. Und jetzt lass mich in Ruhe, bevor ich dir die Visage wegreiße.«

»Vorher schlitz ich dir die Kehle auf!«, erwiderte Tucker grimmig.

»Hör mal, du Schisser, ich weiß in diesem Laden jede Menge Wege rein und raus. Wenn ich will, kann ich einfach rausschleichen, und du würdest es nicht mal merken. Aber das hier ist mein Wohnzimmer, und ich will, dass du verschwindest.«

»So kannst du mit mir nicht sprechen. Ich bin Tucker Haristeen!«

»Und ich bin der Papst. Also, Tucker, du bist in meinem Revier, ich bin nicht in deinem. Und nimm die Katze mit, ehe ich richtig fies werde.«

»Ihr zwei seid wohl von allen guten Geistern verlassen!« Seufzend hob Harry die unfolgsame Tucker hoch. »Wir gehen jetzt, und zwar sofort. Mrs. Murphy, wenn ich noch mal herkommen muss, um dich zu holen, gibt’s heute Abend keine Katzenminze. Ist das klar?«

»Gemein. Du kannst manchmal so gemein sein«, murrte Mrs. Murphy.

»Papst Ratte, ich komm wieder, und dann krieg ich dich! Deine Tage sind gezählt«, versprach Tucker.

»Träum schön weiter.« Gelächter kam aus dem Loch.

Zwei mürrische Tiere gesellten sich zu der lethargischen Pewter auf dem Vordersitz; das Fenster auf der Fahrerseite war einen Spaltbreit heruntergekurbelt. Miranda hatte auf sie gewartet. Cynthia war abgefahren, weil sie einen Blechschadenunfall bei Wyant’s Store in Whitehall aufnehmen musste.

»Danke noch mal, Harry.«

»Gern geschehn.« Harry winkte mit der Hand ab, als wollte sie sagen, das war doch nichts. »Was wollen Sie mit dem Rest des Tages anfangen?«

»Ich pflanze rosa Hartriegel an den Rand von meinem Vorgarten. Er braucht einen Abschluss. Haben Sie gewusst, dass die Römer an den Ecken ihrer Grundstücke Quittenbäume gepflanzt haben? Eine gute Methode, aber ich pflanze Hartriegel, rosa.«

»Hübsch.«

»Was haben Sie vor?«

»Den Garten umpflügen. Wird Zeit.«

»Es könnte noch mal Frost geben, aber ich glaube es kaum. Ich erinnere mich allerdings an ein Jahr in den Fünfzigern, als wir im Mai Frost hatten. Vergessen Sie nicht, Okra für mich zu pflanzen.«

Ehe die Frauen in ihr jeweiliges Gefährt steigen konnten, kam Roger durch das offene Tor gerattert. Ein funkelnder Anhänger rollte hinter seinem Ford Kombi. Anders als ein Pferdeanhänger hatte dieser keine Seitenfenster, Lüftungsschlitze oder Seitentüren.

Er bremste, dass es quietschte. »Hey, Babe.«

»Bin ich heute Morgen die vierzehnte, die Sie ›Babe‹ nennen?«

»Nee, die neunte.« Er fuhr an die Seite, damit andere Fahrzeuge vorbei konnten, stellte den Motor ab und stieg aus. »Mrs. Hogendobber, Sie sind auch ein Babe, aber Ihr Freund würde mir die Zähne in die Kehle rammen. Wie wär’s darum, wenn ich einfach sage: ›Hi, liebliche Lady.‹«

»Roger, Sie sind ein Original.« Die brave Frau lächelte.

Sie schilderten ihm den Vorfall mit den Radkappen. Er war froh, dass die Radkappen gleich wieder aufgetaucht waren.

Während die Menschen plauderten, bemerkte Pewter: »Wenn er zwanzig Pfund, abnehmen, sich die Haare schneiden und sich ein bisschen besser pflegen würde, könnte er durchgehen.«

»Als was?« Mrs. Murphy kicherte.

Darauf mussten Pewter und Tucker lachen. Tucker steckte die Nase aus dem offenen Fenster auf der Fahrerseite.

»Bisschen frisch.« Pewter sträubte ihr Fell.

»Ja«, erwiderte Tucker, die zusah, wie Roger die Ladeklappe herunterließ, um stolz sein Stockcar vorzuzeigen. Sie gingen die Laderampe hinauf, um diese neueste Inkarnation von Pontiac TransAm näher in Augenschein zu nehmen.

»… eines Tages.« Roger verschränkte die Arme.

»Tja, ich hoffe, dass Sie beim Rennen ganz groß rauskommen, aber, Roger, es ist so gefährlich.«

»Dein grüner Hornet ist toll.« Harry bewunderte den glänzenden metallic-grünen Pontiac.

»Oh, ich liebe diesen Wagen, wirklich, aber es ist so was wie der Unterschied zwischen« – er überlegte kurz – »einem guten Pferd und einem großen Pferd. NASCAR, das ist Spitzen-Motorsport. Ich krieche hier unten auf der Schmalspur.«

»Du hast ’ne Menge Pferde hier.« Sie klopfte auf die lang gestreckte Kühlerhaube des Wagens, trat dann wieder auf die Rampe. »Schmiere im Blut.«

Er drehte die Handflächen nach oben, Schmiere war tief in die Haut eingezogen. »Daddy hat mich die Abrissbirne schwingen lassen, als ich zwölf wurde. Ist angeboren. Maschinen.« Er sah zu der stählernen Giraffe hoch. »Funktioniert noch.« Dann sah er Harry an. »Komm mit.«

Harry war fasziniert von allem, was einen Motor hatte. Sie kletterte die Metallstufen zu der Kranführerkabine hinauf. Die Stufen hallten bei jedem Schritt.

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