Mausetot - Rita Mae Brown - E-Book

Mausetot E-Book

Rita Mae Brown

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Beschreibung

Mary Minor »Harry« Haristeen erholt sich im Krankenhaus von einer Operation. Kaum geht es ihr besser, geschieht auch schon ein Mord. Harry lässt es sich nicht nehmen, hinter den Kulissen von OP-Saal, Schwesternzimmer und Medikamentenschrank zu ermitteln. Wie immer erhält sie tatkräftige Unterstützung von Katze Mrs. Murphy und Corgi Tee Tucker.

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Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel Hiss of Deathbei Bantam Books, New York

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

ISBN 978-3-8437-0534-9

© 2011 by American Artists, Inc. Illustrationen © 2011 by Michael Gellatly © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten Satz: Leingärtner, Nabburg eBook: LVD GmbH, Berlin

Voller Bewunderung der texanischen Katze Lima gewidmet, die ihren Menschen vor dem Angriff eines Pitbulls gerettet hat

Personen der Handlung

Mary Minor »Harry« Haristeen. Sie ist fleißig, sparsam, vierzig Jahre alt und sieht gut aus, auch wenn sie das nicht wahrhaben möchte. Durch ihre Neugierde bringt sie sich mitsamt ihren Katzen in Lebensgefahr.

Pharamond »Fair« Haristeen,Doktor der Veterinärmedizin. Er liebt seine Arbeit, seine Frau und seine Farm. Er ist zweiundvierzig und kennt Harry schon sein Leben lang. Er nimmt sie, wie sie ist, obwohl sie sich allzu oft in Gefahr begibt.

Susan Tucker, Harrys beste Freundin seit Kindertagen, bemüht sich, mäßigend auf Harry einzuwirken, was ihr aber nur selten gelingt. Ihre zwei Kinder besuchen das College beziehungsweise eine vorbereitende Schule; ihr Ehemann wurde vor einem Jahr ins Kapitol gewählt.

Dr. Cory Schaeffer. Der Chirurg hat sich einen sehr guten Namen gemacht, hält sich dabei aber für klüger als andere. Doch die Medizin liegt ihm am Herzen, und er möchte das Leben der Menschen verbessern.

Dr. Annalise Veronese. Die Pathologin bekommt die Verheerungen zu sehen, die Krankheit und Sucht dem Körper zufügen können. Gesundheit und Fitness sind ihre Leidenschaft.

Paula Benton. Die hochgeachtete OP-Schwester ist sowohl sehr detailgenau als auch gelegentlich ziemlich direkt. Da sie nicht aus dem Süden stammt, sieht sie dies als Tugend an.

Toni Enright ist ebenfalls eine geachtete OP-Schwester. Sie trainiert mit Annalise im Heavy-Metal-Fitnessstudio und ist der Meinung, wer fit ist, kann vieles bekämpfen, was das Leben einem hinwirft.

Thadia Martin, einst eine talentierte Sportlerin und ein hübsches Mädchen, hat ihr Leben mit Drogen verpfuscht. Nachdem sie eine Haftstrafe verbüßt und ihr Problem in den Griff bekommen hat, hilft sie jetzt anderen bei der Bekämpfung ihrer Sucht.

Noddy Cespedes hat die vierzig überschritten und eine großartige Karriere als Bodybuilderin hinter sich. Sie ist die Inhaberin des Heavy-Metal-Fitnessstudios und vertritt den Standpunkt, dass Gewichtheben eine Methode zur Vermeidung vieler Krankheiten ist, nicht zuletzt von Osteoporose. Sie ist eine imposante Erscheinung.

Big Al und Nita Vitebsk sind beide über fünfzig und Besitzer der Firma Pinnacle Records sowie einer Promenadenmischung namens Jojo. Sie sind in der Gemeinde aktiv und Mitglieder der Reformierten Tempelgemeinde.

Fanny Howard ist Mitglied einer Krebs-Selbsthilfegruppe, hat Sinn für Humor und ist Inhaberin einer Reifenhandlung. Sie ist der Überzeugung, dass ein Fahrzeug, egal wie viel man für es bezahlt hat, nur so gut ist wie seine Reifen. Sie hat nicht unrecht.

BoomBoom Craycroft, eine wahre Sexbombe, ist ebenfalls seit Kindertagen eine Freundin von Harry. Ihre Beziehung erlebt ein ständiges Auf und Ab. Im Moment ist sie im Auf. BoomBoom gehört die Baustoff-Firma ihres verstorbenen Mannes, aber die Erledigung des täglichen Kleinkrams hat sie einem Geschäftsführer übertragen.

Alicia Palmers, eine der schönsten Frauen ihrer Generation, ist ein ehemaliger Filmstar, jetzt über fünfzig und endlich richtig glücklich. Bis dahin war es ein weiter, steiniger Weg.

Reverend Herbert Jones. Der Pastor der lutherischen St.-Lukas-Kirche hütet seine Herde mit Humor, Verständnis und stillem Enthusiasmus. Er drängt sich nicht auf, ist aber immer da, wenn eins von seinen Pfarrkindern oder sonst jemand ihn braucht.

Die wirklich wichtigen Figuren

Mrs. Murphy, eine gewitzte Tigerkatze im besten Katzenalter, verfügt über weniger Neugierde und mehr Vernunft als ihr Mensch.

Pewter, eine zuweilen kratzbürstige graue Kanonenkugel von einer Katze, kann es nicht fassen, dass die Menschen so beschränkt sind. Sie ist beileibe keine stille Dulderin.

Tee Tucker, aufgeweckt und klug wie alle Corgis, ist ein durch und durch außergewöhnlicher Hund. Sie liebt ihre Menschen, die Pferde und sogar die Katzen.

Tomahawk, ein Vollblüter von siebzehn Jahren, ist das, was Pferdekenner typvoll nennen, weil er exakt so aussieht, wie ein Vollblüter auszusehen hat. Er wird meist zusammen mit Shortro ins Freie gebracht, einem Jungpferd, das er unterweist.

Simon, das Opossum, wohnt auf Harrys Heuboden und frisst für sein Leben gern Süßigkeiten.

Plattgesicht, die große Ohreule, wohnt in der Stallkuppel.

Matilda, die Kletternatter, wohnt ebenfalls im Stall und ist ungefähr schon ein Meter zwanzig lang. Sie hat sich im hinteren Teil des Heubodens ein gemütliches Nest gebaut. Da wohnt sie seit Jahren und kriecht nach dem Winterschlaf heraus. Weil die Frühlingsnächte noch kalt sind, kehrt sie nach Sonnenuntergang in ihr Nest zurück.

1

Das Geld schimmelt ja schon.« Susan Tucker stupste ihre beste Freundin Harry Haristeen mit dem Ellenbogen an.

»Ach hört doch auf, ich gehe nun mal vorsichtig mit Geld um. Das heißt noch lange nicht, dass ich knickerig bin«, verteidigte Harry sich.

»Vorsichtig umgehen? Wie wär’s mit drauf sitzen?«, sagte BoomBoom Craycroft, ebenfalls eine Freundin aus Kindertagen, und lachte.

»Ich will halt so viel Geld wie möglich für unseren Fünf-Kilometer-Lauf an diesem Samstag zusammenkriegen. Ich finde eben, dass tausend rosa Gummiarmbänder fünfhundert zu viel sind.«

Paula Benton, OP-Schwester am Central Virginia Hospital und eine der Hauptorganisatorinnen des Fünf-Kilometer-Laufs, kurz 5K, der unter dem Motto »Bewusstsein für Brustkrebs« stattfand, sagte: »Harry, die haben wir schon. Da helfen keine Klagen mehr.«

Toni Enright, ebenfalls OP-Schwester, pflichtete ihr bei: »Sie verkaufen sich wie warme Semmeln. Positiv denken, Harry.«

»Ich weiß, ich weiß. Tut mir leid. Ich werde eben langsam nervös. Hey, wir haben alle unsere Macken. Ich kenne eine Krankenschwester, die sich selbst keine Spritze setzen kann.«

Paula knuffte Harry. »Unfair.«

»Wie du mir, so ich dir«, scherzte Harry. »Wenn ihr alle auf mir rumhacken wollt, hack ich zurück.«

»Paula, hast du echt Angst, dir ’ne Spritze zu geben?«, fragte Susan. »Ich denke, du bist allergisch gegen Bienen, Wespen und Hornissen. Musst du da nicht immer einen kleinen Schuss mit dir rumtragen? Um dir das Gegenmittel zu spritzen?«

Paula verdrehte die Augen. »Zum Glück habe ich es als Erwachsene nie gebraucht. Mom hat es mir einmal gespritzt. Ich denke, ich könnte es machen, aber bei dem Gedanken überläuft es mich eiskalt.« Sie stürzte sich spielerisch auf Harry. »Aber dir könnte ich eine verpassen.«

Während alle lachten, schob Nita Vitebsk, die Schatzmeisterin der Gruppe und mit Mitte fünfzig älter als die anderen, ihre Lesebrille mit der gepunkteten Fassung auf die Nase und rief die Frauen wieder zur Sache. »Die Startgebühren der Läufer haben unsere sämtlichen Ausgaben gedeckt. Die Vorausgebühren, um genau zu sein. Es werden weitere Meldungen eingehen, und Harry, weil du sie entgegennimmst, fällt dir die erfreuliche Aufgabe zu, die Beträge zusammenzuzählen.«

Die Frauengruppe saß an diesem Mittwochabend, dem 14. April, mit untergeschlagenen Beinen im Kreis auf dem Fußboden. In der Mitte lagen die Armbänder sowie die meisten Nummern, die die Läuferinnen und Läufer auf dem Rücken tragen würden. Die Frauen arbeiteten schon seit dem Vorjahreslauf an diesem Projekt.

Alljährlich stellte die Onkologie-Abteilung des Central Virginia Hospitals Personal zur Verfügung, und die Ärzte schrieben zudem private Schecks aus. Der nominelle Vorsitzende des Fünf-Kilometer-Laufs war Dr. Cory Schaeffer, ein auf Krebs sowie auf neue Heilmethoden spezialisierter Chirurg. Da er sich großes Ansehen erworben hatte, war sein Name auf dem Briefkopf der Spendensammelaktion ein großes Plus. Er beteiligte sich nicht direkt an den Vorbereitungsarbeiten, so wenig wie die meisten anderen Ärzte, was durchaus verständlich war. Dr. Jennifer Potter, der Neuzugang in der Gruppe, fand sich tatsächlich zu der einen oder anderen Versammlung ein, ebenso Dr. Annalise Veronese, eine Pathologin. Annalise sagte, da sie persönlich die durch Krebs verursachten Verheerungen auf eine Art zu sehen bekam, die anderen erspart blieb, liege ihr eine Heilung besonders am Herzen. Viele Ärzte würden bei dem Lauf zugegen sein, außerdem Presse und Fernsehen. Das hatte die Gruppe Alicia Palmer zu verdanken. Der ehemalige Filmstar hatte die Medien zur Kooperation überredet. Aber sie konnte ja so gut wie jeden zur Kooperation überreden, weil sie immer noch betörend aussah und blieb, auch noch mit Mitte fünfzig.

Der Lauf sollte am Samstag nach dem 15. April starten. Man hatte dieses Datum gewählt, weil der Frühling dann in seiner ersten Blüte stand. Auch würde es die Menschen von den finanziellen Schrecknissen des 15. April ablenken, dem Tag, an dem die Frist für Steuererklärungen ablief. Ein weiterer Gesichtspunkt war, dass es morgens noch recht kühl war – sieben bis zwölf Grad, oftmals bis auf achtzehn Grad steigend –, das ideale Wetter für einen Lauf.

Die Geländeläufer-Teams aller Highschools nahmen teil. Die Universität von Virginia war ebenfalls dabei, sofern keine Leichtathletikveranstaltung der Atlantic Coast Conference stattfand. Charlottesville verfügte über einen engagierten Läuferverein, dessen Mitglieder vollzählig antraten. Nadine »Noddy« Cespedes empfahl allen Mitgliedern des Heavy-Metal-Fitnessstudios mitzulaufen. Der Wettlauf war jedes Jahr ein Großereignis und als eine der ersten Frühlingsfeiern bei den Zuschauern besonders beliebt. Die Straßen der Stadt wurden für drei Stunden gesperrt, die Leute säumten die Gehsteige, viele hielten Getränke und Handtücher bereit. Freiwillige nahmen den Läufern beflissen Handtücher und leere Flaschen ab, wenn Läufer sie loswerden wollten. Alle hatten das Gefühl, Teil des Ereignisses zu sein. Bei der Polizei wie auch beim Sheriffrevier war der Lauf gern gesehen.

Die Stadt Charlottesville unterhielt ein eigenes Polizeirevier, der Bezirk Albemarle ein Sheriffrevier. Die jeweilige Polizei von Stadt und Bezirk waren strikt getrennt. Sie arbeiteten zusammen, doch in vieler Hinsicht standen die zwei Gesetzeshüter-Gruppen vor unterschiedlichen Problemen. Die Stadtpolizei bekam es mit zahllosen Blechschäden zu tun, weil der Verkehr von Jahr zu Jahr dichter wurde. Gewisse »Geschäftsleute« aus anderen Ländern zogen zu, um harte Drogen zu verkaufen. In einer wohlhabenden Stadt mit 42 000 Einwohnern war das kaum überraschend. Dennoch hatte die Stadt ihre Armenviertel mitsamt den Problemen, die allgemein mit Armut in Verbindung gebracht wurden. Die Polizei hatte nie genug Geld, was nicht verwunderlich war.

Der Bezirkssheriff hatte dasselbe Problem. Geld war stets knapp, trotzdem benötigten die Leute mehr Dienstleistungen. Allerdings sind die Menschen auf dem Land meist nicht so anspruchsvoll wie die Stadtbewohner. Sheriff Rick Shaw und seine Beamten hatten es auch mit Verkehrsproblemen zu tun, bei denen aber oftmals Wild ebenso beteiligt war wie Menschen. Und allzu oft fand so mancher betrunkene Raser auf den schmalen gewundenen Straßen den Tod. Bedauerlicherweise rissen diese Säufer oft Unschuldige mit sich.

Meth war ein weiteres bezeichnendes Problem im Bezirk. Die Droge war hier stärker im Umlauf als in der Stadt. Die Labors konnten im Laderaum eines Lieferwagens eingerichtet werden, sofern die »Kocher« ihr Handwerk verstanden. Es spielte keine Rolle, dass Apotheken den Verkauf von Sudafed oder ähnlichem Zeug einschränkten, in dem das zur Herstellung von Meth verwendete Pseudoephedrin enthalten war. Den Herstellern schienen die Vorräte nie auszugehen. Daneben gab es wegen des reinen Wassers, das von den Blue Ridge Mountains kam, zahllose illegale Brennereien. Albemarle County konnte sich mit etlichen Leuten brüsten, die Schnaps schwarzbrannten, und auch Nelson County war stolz auf seinen erstklassigen Mondscheinbrand.

Wenn die Leute des Sheriffs nicht hinter Hustensaft – ein anderer Name für schwarzgebrannten Schnaps – her waren, hatten sie es mit dem üblichen Quantum an häuslicher Gewalt, Selbstmord und Diebstahl zu tun. Wer Schwarzgebrannten als illegal bezeichnete, gab sich als Außenseiter zu erkennen. Was hieß, er konnte es sich nicht leisten, den Schnaps zu kaufen.

Darüber amüsierte man sich auf dem Polizeirevier genauso wie auf dem Sheriffrevier. Früher oder später kam die hervorragende Qualität der heimischen Erzeugnisse dem einen oder anderen Neuankömmling zu Ohren. Sie wollten ein Schlückchen, konnten aber keins auftreiben. Wenn feststand, dass sie weder Gesetzeshüter noch Spitzel waren, fand gewöhnlich ein großherziger Einheimischer einen guten Tropfen für sie. Ein Stammkunde war geboren.

Vielleicht machte all dies den harmlosen Fünf-Kilometer-Lauf zu einer Sache, die bei beiden Gesetzesvollzugsbehörden gern gesehen war. Die Straßen abzusperren war angenehmer als ihre normalen Aufgaben. Ein weiterer Grund, warum sie den Lauf mochten? Zahlreiche Beamte liefen mit.

In diesem Jahr hatte Deputy Cynthia Cooper – »Coop« für ihre Freunde –, Harrys unmittelbare Nachbarin, vorgeschlagen, dass alle Teilnehmenden vom Sheriffrevier ein Armband mit dem Umriss ihres Polizeiabzeichens trugen.

Natürlich wussten alle Männer und Frauen im Gesetzesvollzug, genau wie alle anderen, was Krebs anrichten konnte. Die schreckliche Krankheit schien keine Familie und keinen Berufsstand auszunehmen; sie ließ geliebte Menschen zurück, die den schmerzlichen Kampf mit angesehen hatten. Ein Gesetzeshüter brachte so manches in Ordnung, aber Krebs ließ sich nicht in Ordnung bringen.

Auch im Leben der Frauengruppe, die seit fünf Monaten daran arbeitete, das Ereignis auf die Beine zu stellen, hatte der Krebs gewütet. Einer jeden hatte die Krankheit jemanden genommen – ein Elternteil, ein Geschwister, eine Mitarbeiterin oder, am allerschlimmsten, ein Kind. Einige hatten die Krankheit persönlich bekämpft und besiegt.

Harry beschloss, sich wegen der Armbänder nicht weiter aufzuregen, sondern stattdessen ein großes rosa Schild anzufertigen, auf dem sie angepriesen wurden. Alle Teilnehmenden erhielten ein Armband, doch Paula hatte zusätzliche gewollt, die die Leute als Zeichen ihrer Unterstützung erwerben konnten. Harry, die mit jedem Kostenfaktor rang und ihre Freundinnen und ihren Mann damit zur Verzweiflung trieb, konnte sich nicht recht vorstellen, dass ein Nichtläufer ein rosa Gummiarmband kaufen würde.

Als die Arbeit des Ausschusses abgeschlossen war, trugen Alicia und BoomBoom Speisen und Getränke auf. Es galt die strenge Regel: nicht schwätzen, essen oder trinken, bevor die offizielle Arbeit vollbracht war. Damit wurde jegliches Gerede, das nicht zum Thema gehörte, unterbunden. Alles wurde rechtzeitig erledigt, ein kleines Wunder, bedachte man die menschliche Neigung zu sinnlosem Tratsch.

Alicias Hund Max hatte sich bemüht, wach zu bleiben, während die Menschen arbeiteten, war aber auf dem Boden neben Alicia eingeschlafen. Als sie aufstand, hob Max den Kopf, sprang auf und folgte seinem geliebten Menschen in die Küche.

Die Sitzungen des Ausschusses wurden jedes Mal im Haus eines anderen Mitglieds abgehalten. Damit verteilten sich die Bewirtungskosten, es schweißte die Gruppe aber auch enger zusammen. Wenn man anderer Leute Möbel sieht, ihre Bilder, die Farben, die sie für Stoffe und Wände gewählt haben, wurden sie einem vertrauter. Sicher, die meisten von ihnen kannten sich seit der Grundschule. Andere wie Alicia hatten dreißig Jahre lang mal in dieser Gegend, mal in der Fremde gelebt. Nita Vitebsk wohnte seit sechzehn Jahren hier. Toni Enright stammte ursprünglich aus Harrisonburg, damit passte sie gut hierher. Paula Benton, seit zwei Jahren ortsansässig, war so eine sonnige Person, dass die Damen in der Gruppe Mühe hatten, sich zu erinnern, wann sie in ihr Leben getreten war. Irgendwie schien sie immer dagewesen zu sein.

Alicias dezentes, elegantes Heim spiegelte ihren Geschmack und ihr Einkommen wider. Eine Frau, die einen Munnings an der Wand hat, kann nicht arm sein. Die größeren Gemälde von Sir Alfred Munnings verkauften sich in der Regel für zwei Millionen, einige für noch mehr. Man fühlte sich jedoch von Alices Geld weder überwältigt noch eingeschüchtert. Ihr Heim umfing jeden Besucher mit seiner Wärme.

Susan Tuckers Heim wies eine Mischung aus georgianischen Möbeln und einigen verblüffend modernen Stücken auf, und das Heim von Nita Vitebsk war reines Art Deco. Dies versetzte alteingesessene Virginier in helle Aufregung, da sie in puncto Design noch nicht bei den 1930er Jahren angekommen waren. Harrys virginisches Farmhaus prunkte mit einer umfangreichen Bibliothek, die viele alte, wertvolle Bände von vorhergehenden Generationen enthielt. Harry hatte die meisten davon gelesen, doch deren Geldwert war ihr ein Geheimnis. Sie dachte gar nicht daran, Jerry Showalter, einen bekannten Antiquariatsbuchhändler, damit zu beauftragen, den Inventarwert festzustellen. Sandy McAdams, der Inhaber der Buchhandlung Daedalus, redete ihr ebenfalls zu, doch sein kluger Rat ging bei Harry zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus. Die Möbel – ebenfalls geerbt, einige sehr gute Stücke, insbesondere eine Sheraton-Anrichte – schrien nicht »neureich«. Sie flüsterten »karge Mittel, aber liebevolle Pflege«. Die frisch gestrichenen Wände ließen ästhetische Überlegungen erkennen, die jedoch ihr Mann angestellt hatte. Als Pharamond Haristeen, Doktor der Veterinärmedizin, an dem Punkt angelangt war, wo er es nicht mehr aushielt, hatte er das ganze Haus eigenhändig gestrichen.

Wenn man Harrys Stall betrat, sah man überall Perfektion. Wenn man in die Geräteschuppen kam, sah man akkurat gepflegte alte Gerätschaften, alles in Ordnung, bis hin zu den Behältern mit Schrauben, die nach Größe und Kopfart beschriftet waren. Ließ man den Blick über die Weinstöcke schweifen, über die Sonnenblumen, die Reihen mit Mais, die Wiesen, auf denen das Gras gerade voll spross, dann sah man, was dieser Frau wichtig war. Sie knauserte nie bei ihren Pferden oder ihrem Land.

Die Sticheleien ihrer Freundinnen nahm Harry gutmütig hin. Sie hatte sogar Susan und BoomBoom nachgegeben, als sie sie einmal zu Nordstrom in Short Pump außerhalb von Richmond geschleppt und sie genötigt hatten, Kleider anzuprobieren. Die Preise hatten sie abgeschreckt, deshalb hatte jede ihr eins gekauft, was sie dermaßen beschämt hatte, dass sie die übrigen selbst bezahlt hatte. Ihr Mann zeigte sich über dieses Mode-Intermezzo weit erfreuter als Harry selbst.

Wenn die 5K-Gruppe sich in ihrem Haus traf, war es stets sauber und aufgeräumt. Sie servierte gebratenes Huhn, die obligatorischen Schinkenbiscuits, Maisbrot und einen herrlichen Salat mit Mandarinen. Für die Verköstigung ihrer Freundinnen und ihrer Tiere gab sie gerne Geld aus, auch für die wilden Tiere, mit denen sie sich angefreundet hatte. Sie tat sich nur schwer damit, es für andere Dinge auszugeben. Der Durchschnittsamerikaner stand bei seiner Kreditkartenfirma mit etwa fünfzehntausend Dollar in der Kreide, was sie manchmal zweifeln ließ, ob sie so amerikanisch war, wie sie sein sollte.

Während die Frauen sich über Klatschthemen, Politik, Steuern und die Auswirkungen des strengen Winters auf Virginia ausließen, war eine jede auf ihre Art froh, Teil dieser Gruppe zu sein. Die gemeinsame Arbeit gab ihnen ein Ziel jenseits ihres individuellen Lebens, und das stellte die Menschen anscheinend zufrieden.

Als sie an dem eleganten Tisch saßen – Alicia ertrug es nicht, mit dem Teller auf den Knien zu essen; sie deckte stets den Tisch –, unterhielten sie sich über die Kürzungen beim Schuletat und gingen über zu den Kürzungen beim Postdienst. Harry war früher Posthalterin von Crozet gewesen. Dann sprachen sie über andere Dinge, und Alicia zog einen kleinen Zeitungsausschnitt aus ihrer Bluse.

Sie klopfte mit ihrem Messer an ihr Kristallglas. »Meine Damen.«

»Wird das eine Verkündigung vom Olymp?« BoomBoom, der Mensch, den Alicia auf Erden am meisten liebte, verdrehte die Augen.

»Nein. Dies ist ein Ausschnitt aus der London Sunday Times. Ich werde ihn nicht wörtlich vorlesen, aber das müsst ihr euch anhören. Einverstanden? Die Times hat australische Dollar in Pfund umgerechnet; wenn ich an die Stelle komme, habt Nachsicht mit mir. Ich rechne das nicht zurück.«

»Da bin ich ja mal gespannt.« Harry lächelte, die anderen pflichteten ihr bei.

»In Adelaide, Australien, wurde ein Restaurant namens Thai Spice verurteilt, einem Blinden eine Entschädigung zu zahlen. Ian Jolly, der Blinde, wollte seinen Hund in das Restaurant mitnehmen. Ist ja wohl selbstverständlich. Aber der Kellner, von dem wir annehmen dürfen, dass Englisch nicht seine Muttersprache ist, hat ihn abgewiesen, weil er den Hund für schwul hielt.«

»Was!« Nita brach in Lachen aus.

»Hast du dir das ausgedacht?« Auch Paula war fassungslos.

»So was könnte ich mir unmöglich ausdenken. Wer könnte das schon. Ich geb’s gleich herum. Aber lasst mich zu Ende erzählen. Also, Thai Spice muss neunhundert Pfund Entschädigung zahlen, weil der Kellner dachte, der Hund – er heißt übrigens Nudge – sei schwul. Er hat Mr. Jolly missverstanden, der gesagt hatte, es sei ein ›guide dog‹, ein Blindenhund. Er dachte, der Blinde hätte ›gay dog‹ gesagt, schwuler Hund. Es kommt noch schlimmer. Bei einer zweifellos höchst ungewöhnlichen Gerichtsverhandlung berichteten die Angestellten vom Thai Spice, sie hätten gedacht, Nudge sei ein Haushund, den man entmannt hatte, damit er schwul wurde!«

Oh, wie sie lachten. Diese absurde Geschichte zog weitere nach sich. Sie lachten, bis ihnen die Tränen kamen.

Später würde sich jede dieser Frauen gern an dieses Treffen zurückerinnern, da sie allesamt sehr froh und glücklich gewesen waren.

2

Schlampe«, zischte Thadia Martin.

»Das musst du gerade sagen«, schoss Paula Benton prompt zurück. »Und verflixt, was hast du überhaupt um sechs Uhr abends in meiner Einfahrt zu suchen?«

»Ich hab’s nicht mehr ausgehalten. Deine Lügerei macht mich krank, ich hab’s bis obenhin satt.«

»Thadia, du bist wieder auf Drogen.«

»Wie bequem. Meine Vergangenheit. Ich habe seit elf Jahren keinen Alkohol oder Koks angerührt. Ich bin stocknüchtern, und das weißt du genau.« Thadia zog sich den weichen Kaschmirschal enger um den Hals, wobei ein hübsches Skarabäus-Armband an ihrem linken Handgelenk sichtbar wurde. Sie schob die Hände wieder in die Taschen, weil die Luft an diesem frühen Donnerstagabend eisig kalt war.

»Also, wovon redest du?« Paula verschränkte die Arme.

»Cory Schaeffer.«

»Was hat Cory Schaeffer damit zu tun? Ich assistiere ihm im Operationssaal.«

»Ihr seid ein Liebespaar.«

Paula schlug sich mit der behandschuhten Hand an die Stirn. »Du bist nicht ganz dicht. Scher dich aus meiner Einfahrt.«

»Du hast das ganze letzte Jahr mit ihm geschlafen, das weiß ich genau. Ich seh doch, wie du ihn anhimmelst. Wie du unnötig oft in sein Büro gehst und enttäuscht rauskommst, wenn er nicht da ist.«

Weil Paula einsah, dass sie Thadia mit Vorhaltungen nicht loswerden würde, beruhigte sie sich, so gut es unter diesen heiklen Umständen ging. »Erstens, ich schlafe nicht mit Cory Schaeffer. Zweitens, er ist nicht mein Typ. Drittens, er ist gefühlsmäßig nicht mein Typ. Er will mich dabeihaben, wenn er operiert, drum sehe ich ihn natürlich sowohl in seinem Büro als auch im Operationssaal. Wenn du dich wegen Cory so aufführst, musst du diejenige sein, die in ihn verknallt ist, nicht ich.«

Der attraktive Cory hatte als Student an der Iowa State Uni geboxt. Er war während des Medizinstudiums Amateurboxer geblieben, trainierte noch heute im Heavy-Metal-Fitnessstudio mit Sandsack, Springseil und Boxbirne. Er nahm an Boxkämpfen teil, wenn seine Kondition gut war. Für Thadia sah er bestimmt anziehend aus, wie für jede Frau, die einen muskulösen Mann bewunderte.

Thadias Babygesicht bekam rote Flecken. »Da steckt mehr dahinter. Du lügst.«

»In Virginia wurden schon Leute erschossen, weil sie das von jemand behauptet haben. Das weiß ich von den Einheimischen.«

»Ich bin eine Einheimische, und ich sage, du bist eine Lügnerin und eine Schlampe.«

»Wenn es nicht zu viel Mühe macht, worauf begründest du deine irrige Schlussfolgerung?«

»Er verlangt immer nach dir, wenn er operiert, immer. Toni Enright ist als Operationsschwester genauso gut wie du. So könnt ihr zwei nach und vor der Operation so tun, als würdet ihr darüber sprechen. Mich könnt ihr nicht täuschen. Wie gesagt, er könnte wenigstens hin und wieder Toni Enright nehmen.«

»Hör zu. Du bist keine Ärztin, und du bist keine Krankenschwester. Du bist Drogenentzugsberaterin. Du verstehst nicht so viel von den Vorgängen und Verfahrensweisen, wie du denkst. Ein Hausarzt sieht oder fühlt einen Knoten. Es wird eine Röntgenaufnahme gemacht, eine Mammographie oder ein Kernspin. Es stellt sich heraus, die Patientin hat tatsächlich Krebs. Der Hausarzt schickt sie zu Cory oder einem anderen Chirurgen, der vielleicht eine weitere Diagnose vornimmt. Cory ist sehr gut darin, eine Abnormität bei der ersten Diagnose festzustellen oder in den von ihm angeordneten Untersuchungen weitere aufzuspüren. Er sieht Dinge, die andere übersehen. Wenn er operiert, gehe ich diese Untersuchungen vor der Operation mit ihm durch. Ich sehe nicht immer, was er sieht. Er müsste das nicht machen. Er findet, wir sind ein besseres Team, wenn ich die Testergebnisse kenne.«

»Schwachsinn.«

Paula hob die Hände. »Warum verschwende ich eigentlich meine Zeit mit einer Verrückten? Ich gehe jetzt rein, und du kannst dich aus der Einfahrt verziehen.«

Als Paula sich umwandte, krallte Thadia ihre Hand in ihre Schulter und drehte Paula herum. Paula riss den Arm hoch, weil sie mit einem Hieb rechnete. Thadia zog ihr den Arm herunter. Sie hatte nicht vorgehabt, Paula zu schlagen, doch ihr Skarabäus-Armband blieb an Paulas Mantel hängen, und ein Stein flog heraus. Die wütende Thadia merkte es nicht. Paula auch nicht.

»Du kehrst mir nicht den Rücken zu!«

Paula schob eine Hand in den Mantel und fühlte nach ihrem Handy. Wenn es sein müsste, würde sie das Sheriffrevier anrufen – was immer nötig war, um diese Irre loszuwerden.

»Thadia, wenn du deine Hand nicht gleich wegnimmst, in deine jämmerliche alte Karre steigst und dich aus meiner Einfahrt verziehst, ruf ich den Sheriff.«

So wütend Thadia auch war, sie ließ die Hand augenblicklich sinken und riss sich zusammen. Sie war im Gefängnis gewesen. Sie hatte drei Jahre abgesessen. Sie hatte jetzt einen guten Job, arbeitete mit Menschen, die waren, was sie einmal war. Sie verstand ihre Klientel. Das ließ sich von den meisten Drogenberatern, die früher nicht selbst von Drogen abhängig waren, nicht sagen. Einerlei, wie zittrig sie in diesem Augenblick war, sie besaß genügend Selbstbeherrschung, um zu wissen, wenn jemand vom Sheriffrevier käme und eine Strafanzeige aufsetzte oder – schlimmer noch – sie mitnähme, wäre sie ihre Arbeit los. Es würde sehr, sehr lange dauern, bis sie eine neue fände. Ihre Familie hatte sie schon enterbt. Sie waren sehr reich, doch sie würde keinen Penny bekommen. Auch ihre alten Freundinnen hatten keine Zeit mehr für sie.

»Es tut mir leid.« Ihr kamen die Tränen.

»Du kannst dir selbst leidtun. Du liebst einen Mann, der deine Liebe nie erwidern wird.«

»Wieso?«

»Weil er zu sehr in sich selbst verliebt ist.«

»Ich dachte, du magst ihn. Ich dachte, du liebst ihn.« Thadia blinzelte verwirrt.

»Ich würde Cory Schaeffer nicht lieben, und wenn er der letzte Mann auf Erden wäre, aber ich werde mit ihm arbeiten, bis einer von uns stirbt.«

Thadia war bestürzter als zuvor, aber nicht mehr wütend auf Paula. Sie ging zu ihrem Auto. »Er ist ein Genie. Er ist ein guter Mensch. Er scheut sich nicht, neue Verfahren auszuprobieren.«

»Ja. Ich wünschte, er hätte ein bisschen weniger experimentiert, aber so bin ich eben. Er hat eine Frau und drei Kinder. Thadia, er betrügt seine Frau nach Strich und Faden. Vergiss ihn.«

»Kann ich nicht.«

»Ehrlich, vergiss jeden Mann, der im Krankenhaus arbeitet, aber ganz besonders einen Arzt. Krankenhäuser sind wie Petrischalen: Untreue gedeiht prächtig.« Mit diesen Worten ging Paula in ihr bescheidenes, aber hübsches Farmhaus.

Thadia stieg in ihr Auto und fuhr weg. Sie dachte bekümmert, dass sie auf Drogen vermutlich ein netterer Mensch war. Sie war innerlich glücklicher gewesen, bis sie an den Punkt gelangte, wo sie sich ihre Sucht nicht mehr leisten konnte. Sie wusste auch, wenn man von Drogen oder Alkohol abhängig wird, hört man auf, sich zu entwickeln. Vom Gefühl her war sie etwa fünfundzwanzig. Vom Intellekt her wusste sie das, aber das bedeutete nicht, dass sie ihre Emotionen auf reife Weise kontrollieren konnte. Die Verantwortungslosigkeit, die mit Unreife und allen Abhängigkeiten einhergeht, war um so vieles einfacher, als erwachsen zu werden. Aber für alle anderen war es die Hölle.

Thadia war vor allem deswegen elend zumute, weil sie Cory Schaeffer liebte. Sie wünschte sich die Aufmerksamkeit und Achtung, die er Paula zuteilwerden ließ.

Thadia wünschte sich eine Menge Dinge, die sie vermutlich nie bekommen würde.

Paula zog in der Diele ihren Mantel aus. Ihr war nach einem Glas Wein. Ohnehin schon erschöpft, und nach Thadias Ausbruch umso mehr, wollte sie nur noch entspannen. Morgen hatte sie frei, und sie würde den Tag fröhlich in ihrem Gärtnerschuppen verbringen, den sie sich in dem alten Stall eingerichtet hatte. Das war etwas, worauf sie sich freuen konnte.

Endlich lächelte sie, heilfroh, dass sie nicht Thadia Martin war.

3

Die Judasbäume, deren violette Blüten noch geschlossen waren, neigten sich westwärts, als ein heftiger Wind die Ostseite der Blue Ridge Mountains hinabstürmte. Wilder weißer Hartriegel stand kurz vor dem Erblühen, und die schon aufgeblühten Forsythien sprenkelten die Landschaft mit ihrem leuchtenden Gelb.

Der alte 1978er Ford-150 Transporter, dessen starker Motor brummte, beförderte Harry mitsamt ihren zwei Katzen und ihrem Hund in westlicher Richtung aus der unbeschreiblichen virginischen Stadt Crozet. Harry, die dort geboren war und nicht die geringste Neigung verspürte, woanders zu leben, lächelte angesichts der Reichtümer des beginnenden Frühlings. Es lohnte sich, den Winter zu ertragen für den Überfluss und das neue Leben, die ihm unweigerlich folgten.

Sie zitierte eine Zeile von Shelley und hoffte, dass ihr Gedächtnis sie nicht trog: »Stürm, stürm, du Winterwind, kann der Frühling noch fern sein.«

»Was quasselt sie da?« fragte Pewter, die nicht selten quengelige graue Katze.

Mrs. Murphy, die geschmeidige Tigerkatze, die Pfoten am Armaturenbrett, die Hinterbeine auf dem Sitz, erwiderte: »Sie rezitiert Poesie.«

»Bescheuert«, murrte die graue Katze, dann gesellte sie sich zu Mrs. Murphy, um durch die nagelneue Windschutzscheibe zu schauen.

In diesem Teil der Welt zersprangen viele Windschutzscheiben, allerdings ohne zu splittern. Obwohl die hiesigen Kiestransporter ihre Ladung neuerdings mit dickem Segeltuch abdeckten, mussten die Autofahrer darauf gefasst sein, dass früher oder später ein Stein herunterflog oder ein auf einer Lehmstraße vorausfahrendes Fahrzeug Steine hochschleuderte.

Harry kaufte lieber eine neue Windschutzscheibe, als dass sie die Nebenstraßen gepflastert sah. Gepflasterte Straßen bedeuteten Landerschließung. Sie bedeuteten zudem einen Zustrom von »Herkommern«, wie die Einheimischen die Zuzügler tauften.

Harry, misstrauisch, aber stets freundlich, gehörte jeder Umweltgruppe an, die sie finden konnte. Ihr Mann zeigte sich weniger fremdenfeindlich. So offenherzig Harry auch sein wollte, tief im Inneren nährte sie eine glühende Ablehnung gegen die »protzige Überheblichkeit« der Neuankömmlinge. Dass die alle stinkreich waren, schürte das Feuer nur noch mehr.

In diesem Moment fuhr sie zum Haus einer Herkommerin. Schuldgefühle kamen in ihr hoch, weil Paula Benton, eine OP-Schwester, zu den hilfsbereitesten und reizendsten Menschen gehörte, denen sie je begegnet war.

Dann sagte sie sich, Paula sei die Ausnahme, die die Regel bestätigte. Harry wusste, wie gut Paula organisiert war, seit sie mit ihr in der 5K-Gruppe arbeitete. Wie jeder von uns hatte auch Paula ihre Eigenarten. Ausgerechnet sie, die überaus tüchtige Krankenschwester, konnte sich selbst keine Spritze geben. Jede Woche verabreichte Annalise Veronese ihr eine B12-Injektion.

Die Gruppe zog Paula damit auf, die es mit Humor nahm. Sie hatte auch Angst vor Spinnen, wie so viele Menschen. Die Mädels hatten ihr eine große wuschelige Stoffspinne geschenkt, damit sie ihre Phobie überwand. Das funktionierte zwar nicht, das Spielzeug behielt sie aber.

Als Harry in die lange Lehmzufahrt zu Paulas Farm einbog, bewunderte sie die Arbeit, die die geschiedene, sehr hübsche Krankenschwester in zwei Jahren hier geleistet hatte. Die von Nellie-Stevens-Ilex gesäumte Zufahrt führte zu dem restaurierten, in Holzbauweise errichteten Farmhaus.

Selbst in ihren mürrischen Momenten freute Harry sich über die Anzahl an Farmen und größeren Gütern, die von den Neureichen nicht nur bewahrt, sondern tatsächlich verschönert worden waren. Andererseits gab es jene, die ihre protzigen Kästen auf ein fünf Morgen großes Grundstück setzten; aber ganz Amerika war ja gerammelt voll davon. Man konnte diese umweltzerstörende Torheit nicht allein den Herkommern ankreiden.

Als Harry sich Paulas Farmhaus näherte, stellte sie fest, dass die Ilex, die die Zufahrt säumten, schon anderthalb Meter hoch waren. Hübsch sah das aus. In ein paar Jahren würde es dramatisch aussehen, denn Nellie-Stevens-Ilex konnten über zehn Meter hoch werden.

Wegen ihrer unregelmäßigen Arbeitszeiten hielt Paula keine Haustiere. Zur Enttäuschung von Tucker, der Corgidame, die den Sozialkontakt liebte. Es gab nichts Schöneres, als sich mit ihresgleichen auszutauschen. Das Leben mit zwei Katzen konnte einem den letzten Nerv rauben.

Paulas nagelneuer, silbern blitzender Dodge-Halbtonner parkte neben dem Haus.

Harry stellte den Motor ab und ließ ihre Tiere hinaus in die frische Frühlingsluft, dann ging sie auf die Veranda und klopfte an die Tür. Keine Antwort.

»Sie weiß, dass ich komme«, sagte Harry laut zu ihren Tieren. »Sie hat die Startnummern für die Läufer für mich. Sie sind verspätet gekommen. Bin ich froh, dass sie eingetroffen sind, sonst säße ich da und würde Papier schnippeln.«

»Paula!«, rief Harry.

Harry würde frohgemut ein Pferd überallhin reiten, aber Wettläufe mied sie, weil sie auf der Farm genug lief, trabte und kletterte. Am Ende des Tages taten ihr oft die Beine weh – daher ihre Bereitschaft, die »Sitzarbeit« in der 5K-Gruppe zu übernehmen.

Die Tür war unverschlossen; Harry spähte hinein. »Paula?«

Sie ging um das Haus herum nach hinten zu dem alten Stall, zu Paulas Gärtnerschuppen, ihrem Refugium, einem heimeligen Ort für das Ziehen von Knollen und Blumenzwiebeln.

Pewter, die für ihr Gefühl an diesem Morgen schon genug Bewegung gehabt hatte, machte kehrt, um sich wieder zum Transporter zu begeben.

Tucker blieb stehen und sah ihr nach, dann wartete sie, bis Mrs. Murphy sich zu ihr gesellte. »Kein Wunder, dass sie dick ist.«

»Das hab ich gehört«, rief die graue Katze über die Schulter.

»Du hast es gehört, tust aber nichts dagegen«, versetzte Tucker unbeirrt.

»Schwabbelsteiß.« Pewter hob den Kopf und stolzierte mit hoch aufgerichtetem Schwanz zum Wagen.