Maus im Aus - Rita Mae Brown - E-Book

Maus im Aus E-Book

Rita Mae Brown

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Beschreibung

Eisige Kälte herrscht im Städtchen Crozet, Virginia. Nichts würde da Mrs. Murphy von ihrem warmen Ofenplatz wegbewegen. Doch als der merkwürdige Tod eines stadtbekannten Bauunternehmers für Furore sorgt und ihr Frauchen Mary Minor »Harry« Haristeen beginnt, ihre Nase in den Fall zu stecken, kann die samtpfötige Tigerkatze einfach nicht tatenlos zusehen. Kälte hin oder her?

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Das Buch

Wieder einmal ist der Winter eingezogen in dem lauschigen Städtchen Crozet in Virginia. Mrs. Murphy, ihre Fellgenossin Pewter und die Corgihündin Tucker haben nicht allzu viel Interesse daran, sich Schnee und Graupelschauern auszusetzen. Ihr Frauchen Harry hält sich mit ihrer Arbeit auf dem Postamt warm – und mit dem Anfeuern der Frauen-Basketballmannschaft im alten Stadion. Doch die Laune wird ihr gründlich verdorben, als man H. H. Donaldson, einen stadtbekannten Bauunternehmer, tot auf dem Parkplatz des Stadions findet. Schnell spricht sich herum, dass es kein Herzanfall war, der ihn dahingerafft hat, sondern ein kaltblütiger Mörder. Und der saß offensichtlich im Publikum. Harry beschließt, ein bisschen in der Sache nachzuforschen. Dass das keine gute Idee ist, weil ihre Schnüffelei in Crozet nicht verborgen bleiben kann, kommt ihr zunächst nicht in den Sinn. Nun müssen Mrs. Murphy und ihre Freundinnen doch hinaus in die Kälte, um Harry beizustehen, die sich bei ihren Ermittlungen auf gefährliches Terrain begibt …

Die Autorin

Rita Mae Brown, geboren in Hanover, Pennsylvania, wuchs in Florida auf. Sie studierte in New York Anglistik und Kinematographie und war in der Frauenbewegung aktiv. Berühmt wurde sie mit Rubinroter Dschungel und durch ihre Romane mit der Tigerkatze Sneaky Pie Brown als Co-Autorin. Weitere Informationen finden Sie unter:www.ritamaebrown.com

Von Rita Mae Brown sind in unserem Hause bereits erschienen:

Die Mrs.-Murphy-Krimis:

Schade, daß du nicht tot bist – Rache auf leisen Pfoten – Mord auf Rezept – Die Katze lässt das Mausen nicht – Maus im Aus – Die Katze im Sack – Da beißt die Maus keinen Faden ab – Die kluge Katze baut vor – Eine Maus kommt selten allein – Mit Speck fängt man Mäuse – Die Weihnachtskatze – Die Geburtstagskatze – Mausetot – Vier Mäuse und ein Todesfall

Die Krimiserie mit Sister Jane:

Auf heißer Fährte · Fette Beute · Dem Fuchs auf den Fersen · Mit der Meute jagen · Schlau wie ein Fuchs

Rita Mae Brown& Sneaky Pie Brown

Maus im Aus

Ein Fall für Mrs. Murphy

Roman

Aus dem Englischenvon Margarete Längsfeld

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,Speicherung oder Übertragungkönnen zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Mai 2005

5. Auflage 2007

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2004

© 2003 by American Artists, Inc.

Illustrationen © 2003 by Michael Gellatly

Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Tail of the Tip-Off

(Bantam Books, New York)

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Titelabbildung: © Jakob Werth, München

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-8437-1465-5

Mrs. C. McGhee Baxtergewidmet,weil sie brüllen wird:»Warum hast du das getan?«

Personen der Handlung

Mary Minor Haristeen (Harry), die junge Posthalterin von Crozet

Mrs. Murphy, Harrys wissbegierige und intelligente graue Tigerkatze

Tee Tucker, Harrys getreue Welsh Corgihündin

Pewter, Harrys unverschämt fette graue Katze

Susan Tucker, Harrys beste Freundin

Fair Haristeen, Pferdearzt und Harrys Ex-Ehemann

BoomBoom Craycroft, eine große, schöne Blondine, die Harry schon immer geärgert hat

Miranda Hogendobber, eine tugendhafte, gütige Witwe, die mit Harry im Postamt arbeitet

Tracy Raz, Mirandas ehemaliger Highschool-Schwarm, der sich auf dem fünfzigsten Klassentreffen mit ihr wiedervereinigt hat; auch Schiedsrichter bei Spielen des Frauenbasketballteams der UVA, der Universität von Virginia

Reverend Herbert C. Jones, der beliebte Pastor von St. Lukas, der lutheranischen Kirche von Crozet

Cazenovia und Eloquenz, Reverend Jones’ zwei Katzen, die er zärtlich liebt

Big Marilyn (Big Mim) Sanburne, die unbestrittene Queen der Gesellschaft von Crozet

Little Mim Sanburne, Big Mims Tochter, die immer noch um ihre Identität kämpft

Tally Urquhart, älter als Lehm; sie sagt, was sie denkt, wenn sie es denkt, und das sogar zu ihrer Nichte Big Mim

Debbie Ryan, die ehrgeizige Trainerin des Frauenbasketballteams der UVA

Andrew Argenbright, Debbie Ryans Hilfstrainer beim Frauenteam

Rick Shaw, der überarbeitete und personalmäßig unterbesetzte Sheriff, der sich am liebsten genau an die Vorschriften hält

Deputy Cynthia Cooper, Stellvertreterin des Sheriffs und Harrys gute Freundin

Tazio Chappars, eine junge, geniale Architektin und ein Neuzugang in der Gemeinde. Sie ist mit Harry und BoomBoom im Pfarrbeirat von St. Lukas.

Brinkley, ein halb verhungerter gelber Labradorhund, der Tazio liebt

Matthew Crickenberger, ein mächtiger, aber großzügiger Geschäftsmann und Bauunternehmer, der auch im Pfarrbeirat sitzt

Fred Forrest, ein streitbarer, kämpferischer, für Baubestimmungen zuständiger Bezirksinspektor, der für seine gewissenhafte, wenn auch missmutige Rechtschaffenheit bekannt ist

Mychelle Bums, Freds Assistentin, die ihr Verhalten leider nach dem von Fred richtet

H. H. Donaldson, ein grimmig konkurrierender Bauunternehmer, leicht aufbrausend, aber gutherzig, lässt jedoch die Blicke gerne einmal schweifen

Anne Donaldson, H. H.s seit langem leidende Ehefrau, zwar misstrauisch, aber eine intelligente Frau und eine gute Mutter

1

Graue Graupeln prasselten an die mundgeblasenen Fensterscheiben vom Pfarrhaus der lutheranischen St. Lukaskirche. Wie zur Ergänzung knisterte ein Feuer in dem großen, aber schlichten Kamin, dessen Sims ein geschnitzter gezackter Streifen zierte. Die Hände des Schnitzers waren im Jahre 1797 zu Staub geworden.

Die Mitglieder des Pfarrbeirats saßen im Halbkreis am Kamin, ein zierlicher Couchtisch stand in der Mitte. Wie jedermann weiß, ist es eine zweifelhafte Ehre, einem Ausschuss oder Komitee anzugehören. Die meisten Leute durchschauen derlei Aufgaben rechtzeitig genug, um sich zu drücken. Die Arbeit muss jedoch getan werden, und manche braven Menschen beugen sich dem Joch.

Mary Minor Haristeen war dem prickelnden Gefühl erlegen, von der Gemeinde gewählt und für verantwortungsvoll gehalten zu werden. Das Prickeln legte sich, als sich bei den Versammlungen nach und nach der Wust von Aufgaben zeigte. Praktische Probleme lagen ihr mehr als menschliche. Ein Fallrohr instand zu setzen fiel in ihren Kompetenzbereich. Ein gebrochenes Herz instand zu setzen, Kranken Beistand zu leisten, gut, sie war dabei, es zu lernen.

Reverend Herbert C. Jones, der gute Hirte von St. Lukas, verstand sich ausgezeichnet sowohl auf die menschlichen Probleme wie aufs Vermitteln. Er gab gerne jedem Ausschussmitglied, jedem Pfarrkind etwas von sich mit. Da er Mrs. Haristeen, Harry mit Spitznamen, getauft hatte, fühlte er eine besondere Zuneigung für die gut aussehende Frau Ende dreißig. Diese Zuneigung wurde vollauf erwidert; denn Harry liebte den Rev, wie sie ihn nannte, von ganzem Herzen.

Zwar stritt sich der Beirat momentan, doch muss gerechterweise gesagt werden, dass alle Mitglieder Reverend Jones liebten. Ebenso muss gerechterweise gesagt werden, dass die meisten von ihnen Harry mochten – wenn nicht liebten. Die einzige Ausnahme war BoomBoom Craycroft, die sie irgendwie mochte und irgendwie nicht. Das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Wie großes weißes Konfetti lagen Papiere neben Tassen auf dem Couchtisch. Der Duft von Kaffee und Kakao vertrieb die Anspannung ein bisschen.

»Wir können nicht einfach so eine Ausgabe von zwölftausend Dollar genehmigen.« Tazio Chappars verschränkte die Arme. Sie war Architektin, eine junge, attraktive dunkelhäutige Frau mit einer italienischen Mutter und einem afroamerikanischen Vater.

»Also, wir müssen was tun«, sagte Herb mit seiner volltönenden, hypnotischen Stimme.

»Wieso?« Tazio rutschte streitlustig auf ihrem Sitz herum.

»Weil es hier schlimmer aussieht als in der Hölle«, platzte Harry heraus. »Verzeihung, Rev.«

»Schon gut. Ist ja wahr.« Herb lachte.

Hayden Mclntyre, praktischer Arzt der Stadt, war ein korpulenter Mann von beherrschendem, wenn nicht gar leicht arrogantem Wesen. Er zog seinen Stift hinterm Ohr hervor und kritzelte etwas auf die Budget-Papiere, die zu Beginn der Sitzung verteilt worden waren. »Versuchen wir’s mal so. Ich hab nichts dagegen, den Teppich im Pfarrhaus zu erneuern. Wir schieben das seit vier Jahren vor uns her. Ich erinnere mich an die Pros und Kontras, als ich neu im Beirat war. Diese Kirche ist eine der schönsten, lieblichsten in dieser Gegend, und das sollte sie auch zeigen.« Zustimmendes Gemurmel begleitete seine Verlautbarung. »Ich habe diese Angelegenheit in drei Bereiche von unmittelbarer Dringlichkeit eingeteilt. Erstens die Sakristei: muss gemacht werden.« Er hob die Hand, als Tazio den Mund aufmachte. »Und zwar unbedingt. Ich weiß, was Sie sagen wollen.«

»Nein, wissen Sie nicht.« Ihre haselnussbraunen Augen leuchteten auf. »Hm, okay, vielleicht doch. Den Teppich wegnehmen und die Böden abschmirgeln.«

»Tazio, das hatten wir schon. Das geht nicht, weil die Bodenbretter zu dünn sind, sie würden es nicht überstehen.« Matthew Crickenberger, Chef des größten Bauunternehmens von Charlottesville, klatschte zur Unterstreichung leise in die Hände. »Die Bodenbretter sind aus Kastanienholz. Sie versehen ihren Dienst seit 1797, und offen gesagt, sie sind abgenutzt und wir können sie nicht ersetzen. Wenn Sie denken, die Rechnung für einen neuen Teppichboden wird hoch, dann warten Sie, bis Sie die Rechnung für einen Kastanienholzboden sehen, sofern wir das Material überhaupt auftreiben können. Die Firma ›Mountain Lumber‹ drüben bei der Route 29 könnte vielleicht welches beschaffen und uns zum Vorzugspreis überlassen, trotzdem ist hier von Tausenden und Abertausenden Dollar die Rede. Kastanienholz ist so selten wie Hühnerzähne, und wir würden eine große Menge brauchen.« Er blickte auf seine Notizen. »Fünfhundertfünfzig Quadratmeter, wenn wir alle Teppichböden ersetzen wollen, die anderen Räume, die momentan benutzt werden, aber nicht unbedingt sofort einen neuen Bodenbelag erfordern, nicht mitgerechnet.«

Tazio atmete aus und ließ sich zurückfallen. Sie wollte alles exakt so haben, aber sie musste die Rechnung nicht bezahlen. Trotzdem war es ärgerlich, wegen eines schmalen Budgets eine Vision beschnitten zu sehen. Architektenlos.

»Hayden, Sie hatten einen Plan?« Herb trieb die Besprechung voran. Niemand wollte zu spät zum Basketballspiel kommen, und diese Diskussion kostete Zeit.

»Ja.« Er lächelte. »Was die Leute zuerst sehen, ist die Sakristei. Können wir hier nicht zu einer Einigung kommen, dann können wir uns wenigstens dahingehend einigen, voranzukommen? Die Kosten würden sich auf etwa viertausend belaufen.«

»Wenn wir schon alles aufreißen müssen, dann bringen wir’s hinter uns. Es muss sein, das ist uns doch klar.« BoomBoom, in einem petrolfarbenen schillernden Wildlederkleid, war hinreißend wie immer.

»Einverstanden. Das Geld treiben wir schon irgendwo auf.«

»Wir sollten das Geld lieber zuerst auftreiben, sonst müssen wir uns vor der Gemeinde verantworten, in der Kirche, im Supermarkt und« – Matthew blinzelte Harry zu – »im Postamt.«

Harry, die Posthalterin, lächelte verlegen. »Und Miranda, meine Gefährtin im Frevel, gehört der Kirche zum Heiligen Licht an, da wird sie mir nicht beispringen.«

Die kleine Versammlung lachte. Miranda Hogendobber, gut dreißig Jahre älter als Harry, zitierte die Bibel flüssiger als Reverend Jones, und wenn sie auch andere Glaubensrichtungen tolerierte, so fand sie doch, die charismatische Kirche, der sie getreulich angehörte, weise den besten Weg zu Jesus.

Während die Menschen über die Kosten, die Notwendigkeit und die Farbe für den Teppichboden debattierten, lauerten Harrys drei liebe Freundinnen im Flur vor dem großen Raum.

Mrs. Murphy, eine hochintelligente Tigerkatze, lauschte auf die stärker fallenden Graupeln. Ihre Kumpanin, eine große rundliche graue Katze namens Pewter, wartete zappelig auf das Ende der Versammlung. Tucker, die Corgihündin, geduldig und gesetzt, wie es nur ein braver Hund sein kann, war froh, drinnen zu sein und nicht draußen.

Die christlichen Katzen – wie Herbs zwei Katzen von den anderen Tieren genannt wurden – hatten Murphy, Pewter und Tucker auf einem Rundgang begleitet. Sie hatten über so gut wie jedes Tier in der Kleinstadt Crozet, Virginia, geklatscht, doch als die Versammlung in die zweite Stunde ging, war das Thema schließlich erschöpft.

Cazenovia, die ältere der beiden Katzen, machte es sich bequem, den buschigen Schwanz um die Nase gelegt. Das große gescheckte Tier war mit Anmut gealtert. Eloquenz, das Findelkätzchen, das Herb vor wenigen Jahren aufgenommen hatte, war zu einer geschmeidigen hübschen Katze herangewachsen. Mit einer Spur von Siamkatze in sich, hörte sie nie auf zu quasseln.

»… Thunfischatem!« Eloquenz gab diese Kränkung von sich. »Wie hältst du das aus?«

»Tut sie nicht.« Mrs. Murphy kicherte.

Sie hatten über den Blauhäher gesprochen, der Pewter piesackte. Mrs. Murphy piesackte er auch, aber mit weniger Begeisterung, vermutlich, weil er die Tigerkatze nicht in Harnisch bringen konnte.

»Oh, eines Tages brech ich ihm den Hals entzwei wie einen Zahnstocher. Verlasst euch drauf«, versprach Pewter.

»Wie aufregend«, schnurrte Cazenovia.

»Und unchristlich«, kicherte Tucker.

»Wir sind eben Katzen.« Pewter zog die Nase kraus.

»Allerdings. Unsere Aufgabe ist es, die Welt von Geschmeiß zu befreien«, stimmte Eloquenz zu. »Blauhäher sind schlimmer als Geschmeiß. Sie sind Verbrechervögel. Sie heben Steine auf und lassen sie auf die Eier der Nachbarn fallen. Lassen wer weiß was auf frisch gewachste Autos fallen. Mutwillig. Sie sitzen auf einem Baum und warten, bis das Geschäft gemacht ist und dann schwupp.« Eloquenz sah zu dem Geprassel am Fenster hinauf. »Heute nicht.«

»Warum ziehen Blauhäher im Winter nicht nach Süden?«, überlegte Pewter. »Rotkehlchen tun das.«

»Weil das Leben in unserem Stall zu bequem ist, darum. Harry stellt Vogelhäuschen und Kürbisse nach draußen, und für die Sperlinge pflanzt sie südamerikanischen Mais, Langbohnen und Lespedeza bicolor. Der Winter mag ja kalt sein, aber sie kredenzt den blöden Vögeln alle möglichen Körner.«

»Vögel stammen von fliegenden Reptilien ab«, verkündete Eloquenz eindringlich. »Das allein sollte uns eine Warnung sein.«

»Was geht bloß da drinnen vor?« Tucker lauschte, als Matthew Crickenberger zum Thema Arbeitskosten die Stimme hob.

»Hab ich euch schon mal gezeigt, wie ich den Schrank aufkriege, in dem Herb die Abendmahloblaten aufbewahrt?« Eloquenz blähte die Brust.

»Elo, mach das nicht«, warnte Cazenovia.

»Ich will doch bloß beweisen, dass ich’s kann.«

»Das glauben sie dir auch so. Sie brauchen keine Vorführung.«

»Ich hätte nichts dagegen«, meinte Pewter lakonisch.

»Danke, Pewter.« Cazenovia warf ihr aus goldenen Augen einen kalten Blick zu.

»Kommt mit.« Eloquenz stürmte durch den Flur, den Schwanz hoch aufgerichtet.

Die anderen folgten ihr, Cazenovia bildete die Nachhut. »Ich krieg garantiert Arger deswegen«, grummelte das alte Mädchen.

Eloquenz rutschte an der Ecke aus, wo der Flur sich mit einem anderen Flur kreuzte, der sich durch die ganze Breite des Pfarrhauses zog, einen alten Bau aus dem Jahre 1834.

Pewter meinte flüsternd zu Mrs. Murphy: »Ich hab Hunger.«

»Hast du doch immer.«

»Schon, aber man sollte meinen, der Rev stellt irgendwo eine Schale Knabberzeug hin. Ich riech aber nichts Essbares.«

»Ich auch nicht«, flüsterte der kräftige, aber kleine Hund, »und ich hab den besten Riecher.«

»So.« Eloquenz blieb vor einem Schrank unter der Treppe stehen, die in den ersten Stock führte. »Ihr bleibt hier.«

»Eloquenz, das muss wirklich nicht sein.« Cazenovia seufzte.

Ohne auf sie zu achten, hüpfte die schimmernde Katze die Treppe hoch, schob sich dann halb durchs Geländer. Auf der Seite liegend konnte sie den altmodischen langen Schlüssel erreichen, der aus dem Schlüsselloch guckte. Sie ruckelte daran, packte ihn dann mit beiden Pfoten und drehte ihn geschickt, bis das Schloss aufsprang.

»Oh, sehr beeindruckend.« Pewter riss die Augen auf.

»Das Beste ist, Herbie wird Charlotte gehörig den Marsch blasen, weil sie nicht abgeschlossen hat.« Eloquenz lachte.

Charlotte war Herbs Sekretärin und rechte Hand.

Als das Schloss offen war, rüttelte Eloquenz mit aller Macht, und Pewter eilte ihr zu Hilfe und zog mit ihrer Pfote am unteren Ende der Tür. Die Tür ging auf, und zum Vorschein kamen Rotweinflaschen und ein Bord voll mit Abendmahloblaten in Keksschachteln mit Zellophanumhüllung. Eloquenz warf eine auf den Boden, zwängte dann den schlanken Leib ganz durchs Geländer und ließ sich auf die Erde fallen. Binnen einer Sekunde hatte sie das Zellophan von der Schachtel gestreift, und mit ausgestreckter Pfote öffnete sie die Schachtel.

Der Geruch nach Oblaten, dem von Wasserkeksen nicht unähnlich, verlockte Pewter.

»Eloquenz, ich hab gewusst, dass du das machst«, sagte Cazenovia verärgert.

»Die Schachtel ist nun mal offen. Jetzt können wir sie nicht verkommen lassen.« Die schlimme Katze schnappte sich eine Oblate und verschlang sie.

Versuchung, Versuchung. Pewter erlag ihr.

Cazenovia litt einen Moment. »Sie sind jetzt ruiniert. Die Menschen können sie nicht essen.« Auch sie fischte sich Oblaten heraus.

Tucker, die schließlich ein Hund war, sorgte sich selten, ob es sich schickte, etwas zu essen. Sie hatte die Nase bereits in der Oblatenschachtel.

Mrs. Murphy gönnte sich den Luxus zu knabbern. »Irgendwie geschmacklos.«

»Wenn du genug davon isst, kriegst du einen Brotgeschmack, aber sie sind fade.« Cazenovias Feststellung ließ darauf schließen, dass sie sich schon öfter Abendmahloblaten einverleibt hatte.

»Sind wir jetzt Kommunikanten?« Pewter hielt inne.

»Ja«, antwortete Mrs. Murphy. »Wir sind Kommunikatzen.«

»Wenn ich aber nicht lutheranisch bin? Was, wenn ich eine moslemische Katze bin?«

»Wenn du eine moslemische Katze wärst, würdest du nicht in Crozet leben.« Tucker lachte.

»Das weiß man nie. Wir sind hier in Amerika. Bei uns gibt’s alles«, meldete Pewter sich wieder.

»In Crozet nicht.« Cazenovia wischte sich mit der Pfote das Maul ab. »Wir haben Episkopalen, Lutheraner und Katholiken. Mehr oder weniger alles dasselbe, und Herb würde einen Anfall kriegen, einen kompletten Anfall, wenn er wüsste, dass ich das gesagt habe, aber zum Glück weiß er nicht, was ich oder irgendeine andere Katze in diesem Universum zu sagen hat.« Sie atmete tief durch. »Dann haben wir noch die Baptisten, die sich heutzutage mit Eifer untereinander bekriegen, dann die charismatischen Kirchen, und das war’s.«

»Lasst uns einen Buddhistenschrein öffnen. Mischen wir sie ein bisschen auf« Eloquenz hickste. Sie hatte zu schnell zu viele Oblaten verschlungen.

»Nein. Wir bauen eine Riesenstatue von einer Katze mit Ohrringen wie im alten Ägypten. Oh, ich höre schon das Gekreische von wegen Heidentum.« Mrs. Murphy lachte, und die anderen lachten mit.

Tucker spitzte die Ohren. »Hey, Leute, die Versammlung ist zu Ende. Lasst uns von hier verschwinden.«

»Helft mir, die Schachtel zurück in den Schrank zu stopfen und die Tür zuzumachen«, drängte Eloquenz.

Cazenovia kickte die Schachtel hinein wie einen Eishockeypuck. Tucker, die größer war als die Katzen, drückte sich gegen die Tür, die augenblicklich zuging. Sie sausten hinaus. Zu ihrem Glück war die Tür zum Versammlungsraum noch nicht geöffnet. Sie waren gerade rechtzeitig zurück.

»… morgen Nachmittag«, sagte Matthew zu Tazio.

»Ich bin im Büro.«

»Ich weiß, Sie sind enttäuscht wegen des Kastanienbodens, aber, na ja.« Matthew zuckte die Achseln.

»Ich bin wohl eine Perfektionistin. Das sagen sie jedenfalls im Büro und auf den Baustellen, nur sagen sie es dort viel direkter.« Sie lächelte.

»Sie haben ’ne Menge auf dem Kasten, meine Liebe.« Hayden Mclntyre trat zu ihnen. »Ihr Entwurf für die neue Sportanlage ist einfach genial. Ist das das richtige Wort?«

»Solange es ein gutes Wort ist.« Tazio griff nach ihrem Mantel, der im Flur hing.

»H. H. hat kein gutes Wort für mich.« Matthew hob die Schultern.

»Er wird seine Chance kriegen.« Hayden hob ebenfalls die Schultern.

Tazio gab bewusst keinen Kommentar ab zu der Feindschaft zwischen Matthew und H. H. Donaldson, dem Chef eines konkurrierenden Bauuntemehmens. Das böse Blut war noch böser geworden, als Matthew bei der Ausschreibung für den Bau von Tazios neuem Stadion den Zuschlag erhielt. Sie hatte gehofft, H. H. würde gewinnen, weil sie ihn besonders gern mochte, aber sie konnte ebenso gut mit Matthew arbeiten.

Herb kam mit Harry und BoomBoom heraus. »Ich weiß es wirklich sehr zu schätzen, dass ihr Mädels hergekommen seid. Ihr seid eine willkommene Aufstockung des Beirats.«

Beide Frauen hatten gerade ihre erste Amtszeit begonnen, die drei Jahre dauerte.

»Ich lerne eine Menge«, sagte Harry.

»Ich auch.«

»Guckt euch die kleinen Engel an.« Harry kniete sich hin, um alle vier Katzen und Tucker zu streicheln.

Eloquenz kicherte. »Wenn die wüsste.«

»Sei nicht so selbstherrlich«, tadelte Cazenovia sie. »Die Menschen erkennen nicht, worüber wir sprechen, aber sie erkennen Selbstherrlichkeit.«

»Ich weiß nicht, was ich ohne die zwei machen würde.« Herb lächelte liebevoll. »Sie helfen beim Predigtenschreiben, sie haben ein Auge auf die Pfarrkinder, sie hinterlassen kleine Pfotenabdrücke auf den Möbeln.«

»Und sie haben bestimmt auch welche auf den Teppichen hinterlassen.« BoomBoom mochte Katzen.

»Ja, haben sie, aber die Abnutzung der Teppiche kann ich ihnen kaum ankreiden. Es ist ein Glück, dass wir eine gut besuchte Kirche sind, aber das fördert natürlich Abnutzung und Verschleiß.« Herb sah auf seine Uhr. »Das Spiel fangt in einer Stunde an. Gehen Sie hin?«

»Ja«, sagten die zwei Frauen gleichzeitig.

»Schön, dann sehen wir uns dort. Ich gehe besser noch einmal durchs Haus und mache die Türen zu. Das spart Heizkosten in diesen kalten Nächten. Ich muss sparen, wo ich kann.«

Als er durch den Flur ging, drängte Mrs. Murphy Harry: »Los, Mom, lass uns hier verschwinden!«

Cazenovia und Eloquenz sausten in den Versammlungsraum und fläzten sich mit betonter Lässigkeit aufs Sofa. Mit übertrieben betonter Lässigkeit.

»Bis nachher, Rev«, rief Harry. Sie warf sich ihren Mantel über und hielt für ihre Tiere und BoomBoom die Tür auf.

»Puuh«, hauchte Pewter, als sie in das grässliche Wetter hinaustrat.

2

Das Basketball-Stadion, das demnächst erneuert werden sollte, ragte wie eine gigantische weiße Muschel aus dem Asphaltmeer. Dass etwas so unbeschreiblich Hässliches zur Universität von Virginia gehörte, einem der schönsten Anwesen Amerikas, war ein schändliches Kuriosum. Zum Glück lebte Thomas Jefferson, der Gründer der Universität, nicht mehr; denn bekäme er die Muschel zu sehen, er würde auf der Stelle tot umfallen.

Harry hatte eine neue Wolldecke, die sie auf den Sitz ihres alten Transporters legte, dazu eine zweite, ältere Decke, in die sich Katzen und Hund kuschelten. Die drei Freundinnen schmiegten sich aneinander, vergruben sich in der Decke und hielten sich gegenseitig mollig warm, aber vorher mussten sie noch gründlich meckern.

»Ich hasse das!« Mrs. Murphy kniff die Augen zusammen, als Harry durch den Graupelregen zum Stadion spurtete.

»Ich wär lieber hier als dort. Das Trampeln und Brüllen kann ich aushalten. Den Summer, den ertrag ich nicht.« Pewter vollführte zwei Kreise, dann legte sie sich hin.

Tucker beobachtete mit nach vorn gerichteten Ohren, wie die Menschen bei dem schlechten Wetter lachten, Regenschirme aufspannten, in den Graupeln schlitterten, die sich allmählich verdichteten. »Muss schlimm sein, kein Fell zu haben. Denkt nur an das Geld, das sie für Regenmäntel ausgeben müssen. Gore-Tex-Sachen kosten ein Vermögen. Barbourmäntel auch. Aber das Zeug ist echt gut. Stellt euch bloß mal vor, wie schrecklich es sich anfühlen muss, wenn man kaltes Wasser auf die nackte Haut kriegt. Arme Menschen.«

Fred Forrest, der für Baubestimmungen zuständige Bezirksinspektor, ging an dem Transporter vorbei. Seine Hände steckten in den Manteltaschen, und wie immer runzelte er die Stirn.

»Was meint ihr, ob Herb die geschändeten Oblaten schon gefunden hat?« Pewter kicherte, ein helles kleines ansteckendes Kichern.

»Könnt ihr euch vorstellen, am Altargitter zu knien und eine Oblate mit Abdrücken von Reißzähnen gereicht zu kriegen?« Mrs. Murphy stimmte in das Gekicher ein.

»Ich hab meine alle aufgegessen. Habt ihr wirklich welche bloß angebissen?« Tucker kuschelte sich neben die zwei Katzen, die ihr dichtes Fell liebten.

»Na klar. Das ist das halbe Vergnügen.« Pewters Seiten wabbelten.

Tucker lachte ebenfalls. »Herrje, ich wollte, ich könnte das Abendmahl empfangen.«

»Vorher musst du den Katechismus lernen«, antwortete Pewter keck. »Wir haben natürlich schon den Katzechismus intus.«

Fast wären sie vor Lachen von der Sitzbank gefallen.

»Wisst ihr was?«, fragte Mrs. Murphy, die in Fahrt gekommen war. »Ist euch schon mal aufgefallen, wenn sie gemeinsam das Vaterunser beten, hört es sich an wie ›Sonja stößt uns zu dem Bösen‹?«

»Du bist unmöglich.« Der kleine, aber kräftige Hund tat entsetzt.

»Gott hat uns Sinn für Humor gegeben. Also wird erwartet, dass wir ihn auch anwenden«, erklärte Pewter resolut.

»Ja, Miranda hat Sinn für Humor und ist fromm. Sie war sogar eine Weile nahe daran, eine fromme Tante zu werden«, sagte Tucker nachdenklich über die ältere Frau, die sie innig liebte.

»Sie braucht das. Bei der Arbeit im Postamt würde man ohne Sinn für Humor ja bekloppt«, sagte Mrs. Murphy.

»Wieso?«

»Tucker, das ist ein öffentliches Gebäude. Es gehört dem amerikanischen Volk, und jeder kann kommen und gehen. Wenn man im Postamt arbeitet, muss man sich mit jedem abgeben, der durch die Tür kommt. Das ist nicht wie in einer Anwaltskanzlei oder Arztpraxis, wo sie einen rausschmeißen können, wenn man da nichts zu suchen hat«, erklärte die hübsche Tigerkatze.

»Sie können einen rausschmeißen, wenn man lästig ist«, meinte Tucker.

»Das beträfe die Hälfte der Einwohner von Crozet.« Pewter löste bei den anderen einen neuen Kicheranfall aus.

In der gigantischen Muschel, deren eigentlicher Name »University Hall« war, meistens abgekürzt zu »U-Hall«, ließen die Leute sich nieder, um sich zu amüsieren. Sie würden vielleicht keine Kicheranfälle bekommen wie Mrs. Murphy, Pewter und Tucker, aber sie freuten sich auf einen schönen Abend.

Allein schon bei diesem Wetter von draußen nach drinnen zu kommen, erzeugte ein wohliges Gefühl.

Das Team der Clemson-Universität, Gegner des heutigen Abends, war dieses Jahr neu aufgestellt worden, weswegen das Frauenbasketballteam der UVA nicht allzu nervös war. Doch gerade dies waren die Gegner, die der Trainerin Ryan Sorgen machten. Man sollte nie etwas für selbstverständlich nehmen. Man sollte sich auf jedes Spiel gut vorbereiten.

Harry hielt viel von Ryan und ihrer Philosophie, genau wie viele andere Dauerkartenbesitzer auch. Harry saß hinter der Bank der Heim-Mannschaft etwa auf halber Höhe des ersten Blocks, und dieses Platzabonnement erneuerte sie jedes Jahr. Harry besaß wenig frei verfügbares Einkommen, und das meiste davon ging für ihre drei Pferde drauf, aber ihr Basketballsitz war ihr lieb und teuer.

Ihr Ex-Ehemann und Freund Fair Haristeen, Doktor der Veterinärmedizin, saß auf seinem Dauerplatz neben ihrem. Neben ihm saßen Jim Sanburne, der Bürgermeister von Crozet, und seine Frau Big Mim, die Queen von Crozet. Auf der anderen Seite von Mim saß ihre Tante Tally, gut über neunzig Jahre alt und fanatisch entschlossen, kein Basketballspiel zu versäumen – oder sonst irgendwas.

In der Reihe direkt hinter ihnen saßen Matthew Crickenberger und seine Familie – seine Frau und die zwei Söhne, zehn und zwölf Jahre alt. Links von Matthew saßen die Tuckers: Ned, Susan und Brooks. Danny, der Sohn, war im ersten Jahr in Cornell, deshalb hatte Bill Langston, Hayden Mclntyres neuer Partner in der Praxis, seinen Platz übernommen. Aber Bill war eben erst im Begriff nach Crozet umzuziehen, deshalb würde er frühestens nächste Woche bei den Spielen dabei sein. Hayden, ein bedachtsamer Mensch trotz seiner Direktheit, die im Süden nie als bedachtsam angesehen wird, hatte den Tuckers den Platz abgekauft in der Hoffnung, damit dem jungen, unverheirateten Arzt die Eingliederung in die Gemeinde zu erleichtern. Er hatte Cynthia Cooper, die Stellvertreterin des Sheriffs, zu dem Spiel heute Abend eingeladen, aber sie musste im Sheriffbüro Spätschicht schieben.

Tracy Raz, Mirandas Schatz, pfiff mit Josef P. das Spiel. Das P. stand für Pontiakowski – ein bisschen schwierig für die Bewohner eines so englisch angehauchten Ortes wie Charlottesville, deshalb nannten ihn alle »Josef P.«.

Miranda saß ihren Freunden gegenüber auf der anderen Seite des Spielfeldes. Sie hatte einen sehr guten Platz, den das Institut für die Ehefrau oder Freundin des Schiedsrichters zur Verfügung stellte. Sie genoss den Platz besonders, weil sie ihre Freunde beobachten konnte.

Sie sah sie kreischen und brüllen, weil das Clemson-Team ein dichtes, schnelles Spiel lieferte. Sie sah H. H. Donaldson, seine Frau Anne, Professorin an der UVA, und ihre zwölfjährige Tochter Cameron, die vor Harry saß, mit H. H. zu ihrer Rechten, und alle sprangen immerzu auf und klatschten und stampften gleichzeitig, um Virginia anzufeuern. Fred Forrest brüllte am lautesten. Da er viele Reihen hinter Harry und ihren Freunden saß, störte seine Lautstärke kaum. Mychelle Burns, seine Assistentin, eine kleine, feenhafte Afroamerikanerin, war bei ihm. Sie brüllte so laut wie Fred.

H. H. war mit Ende dreißig ein Getriebener. Wie Fred lotete H. H. bei sportlichen Ereignissen neue Tiefen aus. War Hayden Mclntyre direkt, so war H. H. zeitweilig regelrecht grob. Alle schrieben dies dem Umstand zu, dass er in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war und Komplexe hatte. Anne und Cameron waren reizend, was dazu beitrug, H. H.s Mundwerk zu mäßigen.

»Unter den Korb! Unter den Korb!«, schrie H. H. so laut, wie es seine nicht unbeträchtlichen Lungen zuließen.

BoomBoom Craycroft saß zwei Reihen hinter Harry. Sie war begeistert über den knappen Spielstand. Neben ihr saßen Blair Bainbridge und Little Mim Sanburne, seine Begleitung. BoomBoom hatte bislang nichts mit Blair gehabt, einem gut aussehenden international beschäftigten Model, aber sie dachte sich, kommt Zeit, kommt Bett. BoomBoom meinte ein Anrecht auf jeden Mann zu haben, den sie einigermaßen interessant fand. Da sie glaubte, die meisten Männer interessierten sich für sie – und die meisten taten es –, ging sie nach ihrem eigenen Plan vor. Da Blair nun Little Mims Begleiter war, hatte BoomBoom nichts zu melden. Es ging ihr nicht so sehr darum, dass sie ihn haben musste, es ging ihr darum, dass sie ihn nicht gehabt hatte. Um die Sache zu verschlimmern, war sie ohne Begleiter zu dem Spiel gekommen, weil sie mit Blairs Anwesenheit gerechnet hatte. Es war ihr entgangen, welche Fortschritte seine Bekanntschaft mit Little Mim machte. Bis zu dem Clemson-Spiel hatte auch Big Mim, Little Mims Mutter, nicht besonders darauf geachtet. Jetzt passte sie auf.

Jessie Raynor, die Centerspielerin des Clemson-Teams, ein über eins achtzig großes Mädchen, war gut koordiniert – was so große Menschen oft nicht sind. Sie sprang hoch in die Luft, über den Kopf von Tammy Girond, dem Mädchen, das sie deckte, und erzielte aus dem Handgelenk einen Drei-Punkte-Korb.

»O nein!«, schrie Harry zusammen mit den anderen Virginia-Fans.

Spielstand unentschieden.

Tracy und Josef trieften beide von Schweiß. Sie waren so weit und angestrengt gerannt wie die Mädchen. Es war ein sauberes Spiel gewesen, bis eben jetzt, da Tammy frustriert Jessie, der Flügelspielerin des Clemson-Teams, mit der flachen Hand ins Gesicht schlug.

Josef pfiff ein Foul gegen Tammy Girond. Sie hielt ihm die geballte Faust vors Gesicht, und er schickte sie vom Platz. Alle waren auf den Beinen, beide Bänke, sämtliche Zuschauer.

Jessie übernahm die wegen des Fouls zugesprochenen zwei Freiwürfe und versenkte sie.

Tracy Raz warf den Ball zu der krausköpfigen Frizz Barber, die hinter der Endlinie wartete.

Es waren noch sechs Sekunden zu spielen, und der Augenblick war spannungsgeladen. Frizz spielte schnell ihrer Mitspielerin Jenny Ingersoll zu. Die Clemson-Spielerinnen, in der Frau-zu-Frau-Deckung, schlossen die Virginia-Spielerinnen ein. Die Zeit verrann, und Jenny dribbelte zwei Schritte nach rechts, dicht gedeckt von der Clemson-Spielerin. Dann blieb sie stehen, drehte sich nach links, sprang mit beiden Füßen ab und warf. Der Ball prallte vom Korbringrand ab. Jessie Raynor, die Hände hoch über dem Kopf, sprang hoch, schnappte den Ball. Der Summer ertönte. Das Spiel war aus.

Die Clemson-Bank leerte sich, die Mädchen purzelten übereinander. Was für eine Aufregung!

Der Lärm der Menge wurde schwächer, als hätte jemand die Lautstärke am Radio heruntergedreht. Die Virginia-Spielerinnen überquerten niedergeschlagen mit Trainerin Ryan das Spielfeld. Sie gab der Clemson-Trainerin die Hand, die Mädchen schüttelten ihren unterdessen erholten Gegnerinnen die Hände. Respekt spiegelte sich auf den Gesichtern der Virginia-Spielerinnen. Sie würden Clemson nie wieder auf die leichte Schulter nehmen. Sie hatten soeben erfahren, wie klug es von Ryan war sie zu ermahnen, einen Gegner niemals zu unterschätzen.

Die Menge besann sich schließlich auf ihre Manieren und applaudierte dem Clemson-Team höflich. Als die Spielerinnen sich in die Umkleidekabinen zurückzogen, marschierten die Fans stumm hinaus.

Es war mitten in der Saison. Die Mannschaften in der Liga wurden allesamt besser. Als die Menge sich durch die umlaufenden Flure schob, unterhielt man sich über die Zähigkeit des Clemson-Teams und tat seine Meinung zum nächsten UVA-Spiel kund.

Josef P., noch in seinem gestreiften Schiedsrichterhemd, sprintete auf den Parkplatz hinaus zu seinem Auto. Er holte eine Sporttasche heraus, und als er sich umdrehte, um durch den Graupelregen zurückzurennen, hielt Fred Forrest ihn auf. Er war allein, weil Mychelle zu ihrem Wagen auf der anderen Seite des Parkplatzes gelaufen war.

»Du hast uns das Spiel vermasselt, du Arschloch!«

Matthew Crickenberger, der auf dem Weg zu seinem Wagen vorbeikam, blieb stehen. »Hey, das geht ja wohl zu weit.«

»Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe. Sie sind der Letzte, der mir sagen sollte, was ich zu tun habe«, höhnte Fred.

»Was wollen Sie machen, Fred, mir eine Strafe aufbrummen, weil ich an einer Zufahrtsrampe achtzig Millimeter abgewichen bin?«, sagte Matthew, aber mit einer gewissen Leutseligkeit.

Josef stand schaudernd im Graupelregen, als Fred ihm in den Weg trat. H. H. kam dazu, nachdem er seine Familie zu dem Kombi geschickt hatte.

»Ich mach, was ich will!«, schrie Fred, der nach dem Spiel noch viel Adrenalin ausschüttete. »Merken Sie sich das.« Er wies mit dem Finger auf H. H. »Sie auch. Reiche Arschlochbande. Und du, Arschloch« – Fred litt an einem mageren Wortschatz –, »entscheide so in einem Entscheidungsspiel, und du bist ein toter Mann.«

»Gehen Sie nur«, sagte Matthew zu Josef und baute sich vor Fred auf, um ihn daran zu hindern, Josef einen Schwinger zu verpassen. »Um Himmels willen, Fred, es ist doch nur ein Spiel.«

Josef rannte schaudernd zur »U-Hall« zurück. Inzwischen hatte sich eine Menge eingefunden, einschließlich Harry, BoomBoom, Fair, Big Mim, Jim, Little Mim, Blair und anderen. Tante Tally schmollte in Big Mims Bentley, doch ihre Nichte wollte ihr nicht erlauben, in dem immer grässlicher werdenden Wetter herumzustehen.

Die Tiere, die vom Türenschlagen aufgewacht waren, sahen zu. Sie hörten Bruchstücke von dem Krach, der eine Wagenreihe von ihrem Transporter entfernt war.

Dann nahm Fred sein Publikum ins Visier. »Es ist nicht nur ein Spiel. Basketball ist Leben.« Er spuckte neben H. H.s Schuh auf die Erde.

»Wie ungehobelt.« Blair baute sich vor Fred auf.

»Sie sollen tot umfallen«, knurrte Fred in das hübsche Gesicht.

»Das ist schlechter Sportsgeist, Fred, und Sie sollten sich schämen.« H. H. war entsetzt.

»Das müssen Sie gerade sagen. Sie sind bei dem alten Miller-und-Rhoads-Gebäude rumgekrochen, als Matthew nicht da war. Um rauszukriegen, wie Sie mit den großen Tieren konkurrieren können.«

H. H., der bei dem Thema Konkurrenz mit Matthew ein bisschen empfindlich war, schlug nach Fred und traf ihn mitten in die Eingeweide.

Fred sackte vornüber. Fair Haristeen, stark wie ein Ochse, packte H. H. schnell von hinten und zog ihn rückwärts zu seinem Familienkombi.

Fred, dem Matthew auf die Beine half, schrie ihm hinterher: »Sie krieg ich dran! Benehmen Sie sich bloß anständig, sonst mach ich Ihnen das Leben zur Hölle!«

»Jetzt reicht’s, Fred.« Matthew war entsetzt über den drahtigen Inspektor mittleren Alters.

»Arschloch«, knurrte Fred Matthew an, dann stelzte er davon.

»Saftsack!« Little Mim schüttelte den Kopf, wobei sie Schneeflocken verstreute. Die Graupeln wurden allmählich zu Schnee.

»Sprich nicht so gewöhnlich«, sagte ihre Mutter leise. Big Mim war in Nerz gehüllt, ihren zweitbesten Wintermantel.

»Ach Mutter.« Little Mim kehrte ihrer Mutter den Rücken zu, schob ihre Hand in Blairs. »Lass uns zu ›Oxo‹ gehen, ja?«

Mim machte ein finsteres Gesicht, als ihre Tochter fortschlenderte. Dann wandte sie sich an Harry, die neben ihr stand. »Überlegen Sie es sich gut, bevor Sie sich Kinder anschaffen.«

»Vorher heirate ich bestimmt.« Harry versuchte die Situation aufzulockern.

»Recht so.« Big Mim atmete aus, blickte dann zum Himmel. »Wir sollten machen, dass wir nach Hause kommen, bevor die Graupeln hier unter dem Schnee zu Eis gefrieren.«

»Schon passiert, Schätzchen, schon passiert.« Big Jim wandte sich wieder seiner Frau zu, nachdem er beobachtet hatte, wie Fair den widerstrebenden H. H. in seinen Wagen verfrachtete.

»Wirklich, Little Mim sollte bei diesem Wetter nicht unterwegs sein. Die Straßen werden immer schlimmer.«

»Blair hat seinen Geländewagen genommen, Schätzchen. Er wird sie heil und gesund nach Hause bringen.«

Big Mim sagte nichts, sondern steuerte auf den Bentley zu, ihren Mann im Schlepptau. Sie würde morgen ein Wörtchen mit ihrer Tochter reden.

Fair gesellte sich wieder zu Harry und BoomBoom, eine interessante Perspektive, da die eine seine Ex-Frau und die andere seine Ex-Geliebte war. Das Leben in einer Kleinstadt bietet viele solcher Perspektiven, und entweder stellt man sich darauf ein, oder man steigt aus. Wäre man eingeschnappt und würde erklären, man spricht nicht mehr miteinander, hätte man bald niemanden mehr zum Reden, und das geht einfach nicht. Die Leute müssen sich den Unbilden des Lebens anpassen.

»Darf ich die Damen auf einen Drink einladen?«

Harry lehnte ab: »Nein danke, ich möchte nach Hause, bevor es schlimmer wird auf den Straßen. Mim hat Recht, und ich weiß, ich höre mich wie eine Pfeife an, aber ich mag’s nun mal nicht, wenn’s so aussieht wie jetzt.«

»Geht mir genauso«, stimmte BoomBoom ein.

Enttäuscht, weil er gern mit Harry zusammen gewesen wäre, sagte Fair: »Dann holen wir’s eben beim nächsten Spiel nach. Ihr habt sozusagen einen Regengutschein oder vielmehr Graupelgutschein.« Er lachte.

Harry überlegte kurz. »Warum nicht?«

BoomBoom meinte: »Ja, ich denke, es wäre – lustig.«

BoomBooms Affäre mit Fair Haristeen hatte sich abgespielt, als Fair von Harry getrennt lebte, das behauptete er zumindest. Das hatte Harry bewogen, die Scheidung einzureichen. Fair, der damals Anfang dreißig war, hatte eine Krise durchlebt. Ob Midlife-, Männlichkeits- oder sonst eine Krise, es war eine Krise und hatte ihn seine Ehe gekostet, was er zutiefst bedauerte. BoomBoom, die Männerbekanntschaften nie ernst nahm, hatte den großen blonden, gut aussehenden Tierarzt bald satt gehabt. Ihre Schönheit und Koketterie führten ihr immer wieder einen Mann oder Männer zu, was vielleicht der Grund war, weswegen sie Beziehungen nicht ernst nahm. O ja, sie wollte stets am Arm eines gut aussehenden oder reichen Mannes sein, am besten beides, aber Männer waren für sie nicht viel mehr als Mittel zum Zweck, und dieser Zweck hieß Bequemlichkeit, Luxus und hoffentlich Amüsement.

Jetzt, da sie reifer und Ende dreißig wurde, fing sie an, diese Einstellung zu überdenken.

Harry ihrerseits hatte Herz und Seele an Fair verloren. Als die Beziehung sich auflöste, war sie am Boden zerstört. Es dauerte Jahre, bis sie sich erholt hatte, wenngleich ihr oberflächlich nichts anzumerken war. Natürlich waren Fairs Entschuldigung und sein Wunsch, sie zurückzugewinnen, dem Heilungsprozess förderlich, doch hatte sie es nicht eilig, zu ihm zurückzukehren. Sie fragte sich, ob BoomBoom nicht vielleicht doch die richtige Einstellung zu Männern hatte: Benutze sie, ehe sie dich benutzen. Eine solche Haltung gegenüber Menschen entsprach jedoch nicht Harrys Naturell, und im Grunde unterschied sie nicht zwischen Männern und Frauen. Menschen waren Menschen, und Moral kam nicht in hübsch verschnürten Geschlechterpäckchen daher. Ein rechtschaffenes Leben zu führen fiel jedem schwer. Sobald ihr klar wurde, dass sie Fair verziehen hatte, war sie sich nicht sicher, ihn jemals wieder lieben zu können.

Sie hoffte sehr, sich wieder zu verlieben, wenn nicht in Fair, dann in einen anderen, aber irgendwie schien es ihr nicht mehr so wichtig zu sein wie früher. Wie sich zeigte, gehörte der Verlust von Fair zum Besten, was ihr je passiert war. Sie war gezwungen, auf ihre eigenen inneren Werte zurückzugreifen, konventionelle Weisheiten in Frage zu stellen.

Während die Gruppen sich zu ihren Fahrzeugen begaben, kamen Miranda und Tracy Raz aus der Turnhalle. Tracy, frisch geduscht nach dem Spiel, hatte den Arm eng um seine Miranda gelegt.

Harry winkte ihnen zu. »Bis morgen.«

Miranda glücklich zu sehen machte sie glücklich. Sie wusste jetzt, was wahre Liebe war: die Freude an der Existenz eines anderen Menschen.

Sie hatte gewiss Freude an Mrs. Murphy, Pewter und Tucker, die sie begrüßten, als sie die Tür des 1978er Ford-Transporters öffnete.

»Das war ’n Spiel, was, Mom?« Tucker wedelte mit dem nicht vorhandenen Schwanz.

»Wir haben das Wort ›Arschloch‹ ziemlich oft gehört«, erklärte Pewter kichernd; sie hatte schon den ganzen Tag die Kicheritis gehabt.

»Weil Fred Forrest eins ist.« Mrs. Murphy verkündete das Urteil. »Karma.«

»Du hast ’ne Abendmahloblate gegessen und glaubst an Karma?« Tucker tat schockiert. Harry machte die Tür zu, ließ den Motor an und schaltete die Heizung ein.

»Ihr seid ja so gesprächig. Habt mich wohl vermisst.« Harry lächelte.

»Wir führen eine Religionsdiskussion«, antwortete Pewter. »Könnt ihr an Ideen von verschiedenen Religionen glauben?«

»Nein, davon spricht Tucker ja gerade. Vermutlich aus einem Anfall von schlechtem Gewissen, nachdem sie so viele Abendmahloblaten gegessen hat. Hunde sind ja solche Schweine.« Mrs. Murphy hielt inne. »Ich habe ›Karma‹ gesagt, weil Fred Forrest säen wird, was er geerntet hat.«

»Sie muss ein ganz heiliger Hund sein.« Pewter lehnte sich an den Corgi.

3

Der Schnee fiel gleichmäßig, doch dank der neuen gelben Schneepflüge, die der Staat angeschafft hatte, waren die Straßen am nächsten Tag passierbar. Auf den Hauptverkehrsadern schoben mehrere Pflüge den Schnee auf ständig wachsende Wälle. Auch die kleineren Straßen wie die Route 250 und die Route 240, die Hauptwege nach Crozet, wurden von mindestens einer großen Maschine frei gehalten.

Zudem besaß fast jeder auf dem Land einen Geländewagen. Es war Schwachsinn, keinen zu haben. Die riesigen Sprit fressenden Straßenkreuzer, in der Großstadt so fehl am Platze, waren auf dem Land ein Geschenk des Himmels.

Rob Collier, der die Postsäcke vom Hauptpostamt an der Route 29 in Charlottesville ablieferte, stampfte den Schnee von den Füßen. »Nicht schlecht.«

Harry sah auf die große Uhr, die halb acht zeigte.

»Hallo!« Miranda schwebte durch den Hintereingang. »Rob, Sie sind ja munter und zeitig auf den Beinen.«

»Bin ich immer. Hey, wie ich höre, kriegt ihr vielleicht einen Neubau.«

Miranda winkte ab. »Das höre ich seit 1952.«

»Diesmal könnte es klappen. Ihr seid ziemlich beengt hier drin.« Er tippte an seine Baseballkappe und ging.

»Dann hätten wir einen schönen, größeren Bau zum Spielen«, überlegte Mrs. Murphy.

»Die sollen die Finger davon lassen. Wozu das Geld ausgeben?«, erwiderte Tucker.

»So funktioniert das nun mal bei der Regierung der Menschen; sie müssen das Geld ausgeben, weil sie es sonst anderswo verplempern würden. So was von plemplem. Jeder Bezirk hat sein Budget, und das Geld muss ausgegeben werden. Die Menschen sind bescheuert«, sagte Pewter.

Harry zog die Postsäcke hinter die Schließfächer, und als würde sie Pewters Meinung, die Menschen seien bescheuert, unterstreichen, fragte sie: »Hat Josef Tracy erzählt, was auf dem Parkplatz passiert ist?«

»Allerdings. Was ist bloß in Fred gefahren? Er hat keinen Grund, sich so aufzuführen.«

»Sie hätten H. H. und Matthew sehen sollen, als er ihnen drohte, er würde sie drankriegen. Und jedes zweite Wort aus seinem Mund war ›Arschloch‹.« Harry hob die Stimme. »Ich konnte es nicht fassen.«

»Aber war es nicht ein tolles Spiel?«

»Wenn wir gewonnen hätten, wär’s noch toller gewesen.« Harry hob die Trennklappe zwischen Publikums- und Arbeitsbereich hoch. »Schauen Sie nur, was da runterkommt. Ich glaube, der Sturm wird schlimmer, als der Wetterbericht vorausgesagt hat.«

»Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass das Wetter umschlägt, sobald wir Neujahr hinter uns haben? Winter.«

»Ja. Nun, die Pflicht muss getan werden, egal, wie das Wetter ist. Gott segne den Menschen, der die Thermounterwäsche erfunden hat.«

»Ich bekomme immer kalte Füße und Hände. Das kann ich nicht ausstehen.« Miranda rieb ihre Hände aneinander.

Die Hauptgesprächsthemen an diesem Morgen waren das Wetter und das Basketballspiel.

Big Mim öffnete um elf Uhr die Tür. »Ich bin spät dran. Hab ich was verpasst?«

Gewöhnlich erschien sie morgens, wenn die Türen geöffnet wurden.

»Nein. Wetter und Basketball. Sonst keine Neuigkeiten.« Harry beugte sich über den Schalter.

Hinter ihr schliefen die Katzen auf dem Stuhl an dem kleinen Küchentisch. Tucker hatte sich auf ihrem großen Bohnensack zusammengekuschelt.

»Unter uns, Mädels.« Mim klang verschwörerisch. »Sagt mal, wie findet ihr das, dass meine Tochter mit Blair zusammen ist?«

»Ah.« Harry drückte sich vor einer Äußerung.

»Es ist wunderbar.« Miranda trat neben Harry. »Mim, meine Liebe, wie wär’s mit einer Tasse Kaffee oder Kakao?«

»Nein danke. Ich möchte ein paar Besorgungen machen, solange ich noch fahren kann. Wenn das so weitergeht, legt der Schnee noch die Schneepflüge lahm.«

»Sieht ganz danach aus.«

»Findet ihr wirklich, sie passen gut zusammen?«

»Es geht nicht darum, was wir finden. Es geht darum, was sie finden«, antwortete Miranda.

»Aber er ist Model. Welche Aussichten hat so einer, jetzt, wo er älter wird? Ich weiß, er verdient gut, aber, nun ja …«

»Er ist intelligent. Er wird eine Beschäftigung finden, hat sein Geld klug angelegt. Vergiss nicht, er ist an Teotan beteiligt.«

»Ach das. Die vielen Brunnen im Westen von Albemarle County. Das kann sich für ihn auszahlen oder auch nicht. Ich hab von dem Wasserspiegel gehört, bis es mir zu den Ohren rauskam, und seit dreißig Jahren höre ich, es wird ein neues Reservoir gebaut, und es ist bis heute nichts passiert. Das ist so ähnlich wie die Gerüchte von einem neuen Postamt.«

»Oh, haben Sie das auch gehört?«, fragte Harry.

»Solche Gerüchte kehren immer wieder wie die Malaria. Das Einzige, was ich Blair zugute halte, ist, dass er, als er bei Teotan einstieg, so klug war, H. Vane Tempest zum Partner zu machen, und H. Vane macht nicht allzu viele Fehler. Den Fehler hat natürlich Blair gemacht.«

Mim spielte auf eine Affäre an, die Blair vor ungefähr drei Jahren mit der Frau seines früheren Partners hatte.

»Niemand ist vollkommen«, erwiderte Harry leichthin, gerade als Herb durch die Tür stürmte.

Es gab eine Zeit in ihrem Leben, da hätte Harry eine Affäre verurteilt, aber sie war erwachsen geworden. Sie sah ganz nüchtern ein, dass niemand vollkommen ist, sie selbst eingeschlossen.

»Meine Damen. Oh, Harry, eh ich’s vergesse, kurze Versammlung wegen dem Bodenbelag. Dauert nicht lange. Morgen Abend, wenn das Wetter es zulässt.«

»In Ordnung.«

Pewter schlug ein Auge auf. »Ob er die Oblaten gefunden hat?«

»Nichts fragen. Nichts sagen.« Mrs. Murphy wälzte sich auf die Seite.

»War das nicht ein übler Zwischenfall gestern Abend auf dem Parkplatz?« Herb schüttelte den Kopf. »Und Fred wird, sie drankriegen. Wisst ihr noch, wie ich den Gartengeräteschuppen neben der Garage ausgebaut habe? Vier mal drei Meter, und er sagte, der Bau entspricht nicht den Bestimmungen. Hat mich fünfhundert Dollar gekostet. Er ist unmöglich. Ich würde keinen Pfifferling auf H. H.s oder Matthews Seelenfrieden geben, bis Fred über die Sache weg ist.«

»Oder besänftigt«, meinte Big Mim sarkastisch.

»Das ist das Problem. Er ist nicht zu besänftigen. Er fasst jede Freundlichkeit als Kränkung auf. Alles ist nach seiner Meinung Bestechung. Und Matthew beendet gerade ein Projekt und fängt ein neues an. H. H. hat auch zu tun. Da wird’s höllisch viel zu blechen geben, verzeiht den Ausdruck.« Er zeigte ein schiefes Lächeln.

»Freitag findet ein Spiel statt. Mal sehen, was dann passiert«, sagte Miranda.

»Also, es geht doch nur darum, oder? Einschüchterung.« Herb schob den Schlüssel in sein Messingpostfach. »Er hat Josef eingeschüchtert.«

»Tracy wird er nicht einschüchtern.« Miranda blinzelte.

»Fred lebt und atmet für Frauenbasketball, seit seine Tochter für die UVA gespielt hat«, erklärte Harry. »Ich nehme an, sie macht sich an der Uni von Missouri ganz gut als Hilfstrainerin.«

»Dann soll er doch nach Columbia ziehen.« Lachend nannte Miranda den Sitz der Universität von Missouri.

»Sagt mal, hat schon jemand Hayden Mclntyres neuen Partner gesehen?«, fragte Herb.

»Ich glaube, er kommt heute angeflogen.« Harry sah aus dem Fenster. »Aber wie’s aussieht, ist er vielleicht nicht vor morgen hier.«

»Das ist meine Vermutung. Die Leute sitzen bestimmt auf den Flughäfen entlang der Ostküste fest. Der rechten Küste.« Miranda lächelte.

»Gegenüber der linken Küste.« Harry machte es Spaß, mit Miranda herumzualbern.

»Goldküste. Das ist Florida.« Herb sortierte seine Post.

Big Mim öffnete ihr Schließfach. Wie Herb warf sie unerwünschte Reklame und Postwurfsendungen in den Papierkorb.

»Mim, das war ein Drei-Punkte-Korb«, witzelte Herb.

Als er ging, flüsterte Pewter: »Er hat sie nicht gefunden. Sonst hätte er was gesagt.«

»Wir sind aus ’m Schneider. Er kriegt nie raus, dass wir das waren.« Mrs. Murphy wünschte, sie könnte dabei sein, wenn er die geplünderte Oblatenschachtel fand.

»Er ahnt es vielleicht nicht, aber Mom könnte dahinter kommen.« Tucker hatte Vertrauen in Harrys detektivische Fähigkeiten.

»Nie. Sie würde nie glauben, dass sie Heidentiere hat.«

Mrs. Murphy lachte so laut, dass sie zur Erheiterung der anderen und ihrer eigenen Blamage vom Stuhl kullerte.

Als sie sich vom Fußboden aufrappelte, bemüht, ihre Würde zu retten, kam H. H. herein.

»Meine Damen.«

»Hi, H. H.«, erwiderten sie.

Er öffnete sein Schließfach, holte seine Post heraus, trat dann an den Schalter, stützte sich mit beiden Ellbogen darauf. »Miranda, ich stecke in einer Zwickmühle. Ich kann mich einfach nicht entscheiden.«

Die ältere Frau kam auf die andere Seite des Schalters; ihr dunkelorangefarbener Pullover warf ein warmes Licht auf ihr Gesicht. »Sie könnten eine Münze werfen.«

»Funktioniert bei mir.« Harry lachte.

Er legte den Kopf schief; an seinen Schläfen erschienen schon vereinzelte graue Strähnen. »Es ist eine größere Zwickmühle als das. Es geht nicht so sehr um richtig und falsch. Ich hoffe, da würde ich mich richtig entscheiden. Es geht mehr um«, er machte eine Pause, »richtig kontra richtig.«

»Ah, ja, das ist schwierig.« Miranda klopfte mit den Fingerspitzen auf den Schalter. »›So gib denn deinem Knecht ein gehorsames Herz.‹« Sie brach ab. »Weiß was Besseres: ›Und der Geist des Herrn wird ruhen auf ihm, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.‹ Jesaja, elftes Kapitel, Vers zwei.«

»Ich wusste, Sie würden Ihre Weisheit austeilen.«

»Nicht meine Weisheit. Die Weisheit der Bibel.«

Harry legte einen leeren Postsack zusammen. »Gäbe es ein Fernseh-Quiz über Bibelkenntnis, Miranda würde gewinnen.«

»Ach was«, winkte Miranda ab.

»Ich glaube, sie hat Recht«, sagte H. H. zu Miranda. »Ich werde nachdenken über das, was Sie zitiert haben.«

»Ich weiß auch ein Zitat.« Harry grinste.

»Lassen Sie hören.« H. H. klopfte seine Post auf dem Schalter zu einem Packen.

»›Zwischen zwei Übeln wähle ich immer dasjenige, welches ich noch nicht ausprobiert habe.‹ Mae West.«

H. H. ging lachend zur Tür. »Das muss ich Anne erzählen.«

»Sie sind schrecklich.« Miranda schüttelte den Kopf, als die Tür zuklickte.

»Hey, wenn Sie Tugend austeilen, teile ich Laster aus, um die Waage zu halten.«

»Gegengewicht, wie?« Miranda zwinkerte.

»Sie haben’s erfasst.« Harry lachte.

4

Die Dunkelheit machte Harry weit mehr zu schaffen als die Kälte. Zur Zeit der Wintersonnenwende ging die Sonne am Nachmittag um Viertel nach vier unter. Harry tröstete sich damit, dass der Sonnenuntergang inzwischen auf Viertel vor fünf gerückt war. Bei dem Schneetreiben konnte sie die Sonne freilich nicht sehen, aber an einem verschneiten, regnerischen oder bewölkten Tag gab es immer einen Augenblick, wenn das gefilterte Licht schwächer wurde und die Unterseite der Wolken sich wolfsgrau färbte, gefolgt von marineblau.

Als sie die Stallarbeit erledigt hatte, bedeckte ein Zentimeter mehr Schnee die Erde. Nichtstun ging Harry gegen den Strich; dies war der ideale Zeitpunkt, um die Krimskramsschublade in der Küche auszuleeren. Sie breitete eine Zeitung auf der Anrichte aus, zog die Schublade auf, betrachtete das Durcheinander und holte ein Schneidermaßband heraus. Sie langte wieder hinein. Diesmal war eine Hand voll Gummibänder ihre Beute. Es war lustig, der reinste Grabbelsack.

Selbst der ordentlichste Mensch, und dem kam Harry sehr nahe, brauchte eine Krempelschublade. Ehe sie alle Bleistifte herausgefischt hatte, die gespitzt werden mussten, klingelte das Telefon.

»Joes Billardsalon, Stoßball am Apparat.«

»Harry, so was Abgenuddeltes«, erwiderte Susan.

»Du nennst deine beste Freundin abgenuddelt?«

»Irgendwer muss es ja tun. Kannst du mal still sein? Ich hab ’nen Knüller.«

Mrs. Murphy und Pewter, die auf der Küchenanrichte direkt hinter der Zeitung lümmelten, spitzten die Ohren. Es war ein ungeheuer aufregender Gedanke, dass es Gummibänder zu stibitzen gab, Bleistifte, um sie auf dem Boden herumzurollen, doch Harry war an diesem verschneiten Abend überaus wachsam.

»Erzähl schon.«

»H. H. hat Anne verlassen.«

»Was?«

»Sie ist bei Little Mim und heult sich die Augen aus. Cameron ist bei ihr und ihrer Mutter eine große Stütze.«

»Wer hat dir das erzählt?«

»Little Mim. Sie meint, Anne soll mit Ned reden. Ehe Ned ans Telefon konnte, hat sie mir alles erzählt. Ich konnte Anne weinen hören. Es ist furchtbar, wirklich. Dieser Mistkerl. Er hätte bis zum Frühjahr warten können.«

»Was hat das damit zu tun?«

»Wenn das Wetter schön ist, sind schlechte Nachrichten leichter zu ertragen.«

»Wenn das so ist, warum hat T. S. Eliot dann geschrieben, ›April, der ärgste Monat‹?«

»Weil er aus St. Louis stammt. Ich bin sicher, dort ist der April arg.« Susan paffte in den Hörer. »Dann wurde er englischer als die Engländer. Ich wusste doch, es gab einen Grund, weshalb ich in der Schule die vielen Poesiekurse belegt habe. Da siehst du, du hast es schon wieder getan. Mich abgelenkt. Ich hasse das.«

»Ich hab gar nichts gemacht, Susan. Gott, abgesehen davon, dass er ein guter Anwalt ist, muss dein Mann ein Heiliger sein, um es mit dir auszuhalten. Und, spricht er mit Anne?«

»Auf der anderen Leitung.«

»Es wundert mich, dass du nicht an ihm klebst und versuchst alles aufzuschnappen, was sie sagt.«

»Er würde mir das nie erlauben. Das weißt du doch.« In Susans Stimme schwang Enttäuschung.

»Rauchst du?«

»Warum fragst du?«, sagte die Frau, die eine Churchill-Zigarre in der Hand hielt.

»Ich hab dich paffen gehört.«

»Oh – hm – ja. Harry, ich will diesen Winter nicht zunehmen. Jeden Winter lege ich fünf Pfund zu, verdammt noch mal, und dann war ich fünfunddreißig, und eh ich michs versah, waren es sieben Pfund. Drum rauche ich diese dicke Zigarre. Die kleinen sind zu herb, die großen sind milder.«

»Kannst du keine Schlankheitspillen nehmen?«

»Von denen muss man bloß aufs Klo. Sie wirken eigentlich gar nicht, und die, die wirken, hat das Gesundheitsministerium vom Markt genommen, weil sie die Leber kaputtgemacht haben. Herrje, ich würde nicht so viele nehmen, dass sie mir die Leber kaputtmachen. Ich will bloß im Winter kein Übergepäck haben, das dann im Frühjahr so schwer wieder loszuwerden ist. Vielleicht ist der April deswegen der ärgste Monat. Eine Frau fängt an nachzudenken, wie sie im Badeanzug aussehen wird.«

»Susan Tucker.«

»Da siehst du, ich hab ein literarisches Rätsel gelöst.«

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