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Der junge kanadische Entdecker Adam Shoalts wagt das Abenteuer seines Lebens: Einen Kanu-Solo-Trip durch die kanadische Arktis, rund 4000 Kilometer vom Yukon River im Westen bis zum Baker Lake im Osten Kanadas. Als erster Mensch auf dieser Route. Er durchquert Gebiete, die auf keiner Landkarte verzeichnet sind, kämpft sich stromaufwärts durch reißende Flüsse, navigiert durch von Eisschollen bedeckte Seen. Neben der wildromantischen Einsamkeit sind es die Klänge der Wildnis, die ihn faszinieren: das Plätschern schwimmender Karibus, der Ruf der Kraniche – das Surren von Millionen von Kriebelmücken. Shoalts macht eine der letzten Wildnisse erlebbar und schafft ein Bewusstsein für ihre dramatische Gefährdung durch den Klimawandel.
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Seitenzahl: 483
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© eBook: 2023 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
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Die Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel »Beyond the Trees. A Journey Alone Across Canada’s Arctic« bei Penguin Canada erschienen. www.penguinrandomhouse.ca
Redaktion und Projektmanagement: Anne-Katrin Scheiter
Lektorat: Hella Reese
Schlusskorrektur: Ulla Thomsen
Satz: Tim Schulz, Mainz
Umschlaggestaltung: HawaiiF3, Leipzig
Innenlayout: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln
eBook-Herstellung: Maria Prochaska
ISBN 978-3-8464-0907-7
1. Auflage 2023
Bildnachweis
Coverabbildung: plainpicture/brophoto
Illustrationen: Getty Images/DigitalVision Vectors: A-Digit; duckycards; ilustro; KeithBishop; Mattjeacock ; Vectorig; woewchikyury; Getty Images/iStock: arcady_31; Avector; Djahan; goodgraphic; Mikhail Ognev; NatBasil; Neliakott; seamartini; ser_igor; suirey; Vect0r0vich; stock.adobe.com/Igor 4.
Fotos: Adam Shoalts; Aleksia Wiatr, Martin Wojtunik, Autorenfoto Mike Reid.
Syndication: www.seasons.agency
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»Nur noch ein bisschen, dachte ich, und musterte meinen alten Kanu-Gefährten, ein bisschen länger musst du noch durchhalten, wenn wir die Reise zu Ende bringen wollen. Das Heulen des Windes wurde lauter, Schaumkronen tanzten aufdemWasser,dasinWellengegendaskarge Ufer donnerte. Auf der anderen Seite des aufgewühlten Sees erhob sich eine Reihe anmutig geneigter Berge, deren untere Hänge in leuchtendem Rot und Orange erstrahlten. Der Herbst hatte die Blätter der Tundra-Pflanzen bereits eingefärbt. Eine Schar Schneegänse zog hoch über mir vorüber. Die Einsamkeit der Landschaft schien durch sie nur noch greifbarer.«
Für Aleksia
Standest du je, wo die Stille brütet, Am Anfang endloser Horizonte, Bei Tagesanbruch mit Blick in die Ferne Dein Ziel fest entschlossen vor Augen? Robert Service, »The Land of Beyond«
Die Felsen waren uralt, so alt wie die Zeit, die ältesten auf dem Planeten. Zwischen den Geröllhaufen, die sich vom Ufer des Sees bis weit ins Landesinnere zogen, war kein Fleckchen Erde zu erkennen. Nur wüste, graue Gesteinsbrocken, eine kalte, abweisende Urlandschaft. In ihre harte Oberfläche, durch den winterlichen Frost der letzten 100 Millionen Jahre verwittert und nach und nach von Flechten überzogen, würde man keinen Hering klopfen können – und kein unbefestigtes Zelt würde den arktischen Stürmen lange standhalten. Verzweifelt tauchte ich das Paddel erneut in das eisige Wasser, während der Wind mich aufs Land zu trieb. Ich musste schleunigst einen Platz finden, an dem ich mein Zelt aufschlagen konnte. Die Böen wurden allmählich zu stark.
Weiter vorn am Nordufer, an dem ich mit meinem Kanu bereits entlanggefahren war, meinte ich ein kleines Fleckchen Gras zwischen den Felsbrocken entdeckt zu haben. Die meisten Menschen würden diese Stelle vermutlich nicht unbedingt als einen schönen Lagerplatz betrachten, aber auf mich wirkte er in diesem Moment ziemlich einladend. Also steuerte ich auf ihn zu. Hier und da gab es Untiefen, die ich nur umfahren konnte, indem ich gegen den Wind paddelte. Der Herbst hatte Einzug gehalten; ein scharfer Wind blies unablässig, und Frost lag in der Luft. Als ich nach vielen Kilometern entlang des unwirtlichen Ufers endlich diese halbwegs annehmbare Stelle erreicht hatte, schlug ich mein Zelt auf und sicherte es zusätzlich mit Abspannleinen.
Dann trug ich mein Kanu das Ufer hinauf und legte es umgedreht neben meinem Zelt ab. Es war abgenutzt, zerkratzt und, nachdem es monatelang immer wieder an Felsen und Eisschollen entlanggeschliffen war, hauchdünn. Wenn wir die Reise zu Ende bringen wollen, dachte ich und musterte meinen alten Gefährten, musst du noch ein kleines bisschen durchhalten. Der Wind heulte immer lauter. Schaumkronen tanzten auf dem Wasser, das gegen das karge Ufer donnerte. Ich war dankbar, dieses einsame Plätzchen zwischen den Felsen noch rechtzeitig entdeckt zu haben.
Auf der anderen Seite des aufgewühlten Sees erhob sich eine Reihe anmutig geschwungener Berge, deren niedere Hänge in leuchtendem Rot und Orange erstrahlten. Der Herbst hatte die zarten Blätter der Arktischen Weide und der Polar-Birke, der Bärentraube und der Moltebeere sowie auch die der anderen Tundrapflanzen bereits verfärbt. Eine Schar Schneegänse zog hoch über mir vorüber und ließ die Landschaft noch einsamer wirken. Im vergangenen Monat hatte ich nur einen einzigen Menschen zu Gesicht bekommen: einen Buschpiloten, der kürzlich meine Vorräte aufgestockt hatte, als ich mich gerade auf einem jener tiefen und kalten Seen befand, wie es sie in der Zentralarktis zu Zehntausenden gibt – wie viele es genau sind, weiß man nicht. Niemand hat sie je gezählt.
Ich hatte von Kanugruppen gehört, die aufgrund des heftigen Windes wochenlang auf einem dieser riesigen, sturmgepeitschten Seen festsaßen. Kein besonders ermutigender Gedanke. Vor mir in Richtung Osten lagen gewaltige Stromschnellen. Hier war schon so mancher unglückliche Abenteurer ums Leben gekommen. Und wenn alles gut ginge, würde ich diese Stellen zu allem Überfluss erst spät im Jahr bei entsprechend schlechtem Wetter passieren.
Der Wind hielt die ganze Nacht lang an und rüttelte an meinem kleinen Zelt, in dem ich mich zusammengekauert hatte. Ich setzte all meine Hoffnung darauf, in der morgendlichen Windstille zu entkommen. Doch auch die Morgendämmerung brachte keine Ruhe. Der Himmel war grau und trüb, der stürmische Wind so unerbittlich wie zuvor. Den ganzen Tag wartete ich unruhig auf eine Flaute, die es mir ermöglichen würde, mein Kanu zu Wasser zu lassen und meine Fahrt fortzusetzen. Doch es kam keine. Die eisigen Böen, deren schauerliches Geheul durch die ausgestorbene Tundra schallte, schienen nur noch stärker zu werden.
Eine weitere Nacht verging, und ich musste bleiben, wo ich war. Mit wachsender Besorgnis sah ich zu, wie noch ein Tag ins Land zog, ohne dass Wind und Wellengang nachließen. An eine Weiterfahrt war nicht zu denken, und so saß ich zwischen den Geröllhaufen fest. Und mit jedem verlorenen Tag, das wusste ich nur zu gut, rückte der Winteranfang ein Stückchen näher.
Es war von jeher meine Leidenschaft, im Kanu über wilde Flüsse und Seen zu paddeln, schweigend durch stille Wälder zu wandern und dabei meiner Neugier auf Pflanzen und Bäume, auf das Geheimnis und den Zauber der Natur freien Lauf zu lassen. Ich hatte Abenteuer erlebt, und weitere würden folgen, denn das gehört dazu, wenn man allein durch die Wildnis streift. Aber längere Reisen in die Arktis hatte ich eigentlich nicht geplant.
Dann aber wollte es der Zufall, dass ich im Frühjahr 2010 zu Gast bei einem Naturschutzverein in den Short Hills war – einer Region südlich des Ontariosees mit sanft gewellten bewaldeten Hügeln, rauschenden Wildbächen und Wasserfällen –, und das setzte eine Kette von Ereignissen in Gang, an deren Ende ich mutterseelenallein an einem See in der Arktis strandete. Das hat man wohl davon, wenn man solche Vereinstreffen besucht, weshalb es vernünftig wäre, diese zu meiden. Für einen Naturschutzverein waren die Mitglieder übrigens eher jung, das Durchschnittsalter lag kaum über Mitte 70.
Dort, im Veranstaltungssaal des Vereins, hörte ich im Anschluss an meinen Vortrag über Kanureisen zum ersten Mal, dass 2017 ein besonderes Jahr sein würde. Ich unterhielt mich gerade mit einem emeritierten Chemie-Professor.
»Na ja, Sie wissen doch«, sagte er, »2017 wird ein großes Jahr für Kanada.«
»Oh«, erwiderte ich und nickte. Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
Er sah mich gespannt an, als wartete er darauf, dass ich noch etwas sagte.
Aber ich kam beim besten Willen nicht darauf, welche Bedeutung das Jahr 2017 für Kanada haben sollte.
»Der 150. Jahrestag der Kanadischen Konföderation«, half er mir auf die Sprünge.
»Ach ja, richtig«, erwiderte ich.
»Das wird sicher eine große Sache – ausgedehnte Feierlichkeiten«, sagte er mit besonderer Betonung. »Ich erinnere mich noch gut an die Hundertjahrfeier damals, 1967. Wir sind dafür extra zur Expo nach Montreal gefahren. Das war natürlich lange vor Ihrer Zeit.«
Wie meine Kanufahrten mit einem 150-jährigen Jubiläum zusammenhängen sollten, das zudem erst in sieben Jahren stattfinden würde, war mir noch nicht so ganz klar.
»Das wird ein Großereignis«, fuhr der weißhaarige alte Mann fort. »Haben Sie schon mal daran gedacht, zu diesem Anlass etwas Besonderes zu machen?«
»Äh, nein, noch nicht.«
Er schüttelte den Kopf, sichtlich betrübt über meine kläglich gescheiterte Erziehung. »Ich erinnere mich, dass es 1967 Leute gab, die mit dem Kanu quer durch Kanada gefahren sind. Vielleicht sollten Sie 2017 auch etwas in der Art machen? Bestimmt gibt’s jede Menge Finanzierungsmöglichkeiten und Organisationen, die sich dafür begeistern.«
»Hm, möglich ist alles«, sagte ich.
Trotzdem schien 2017 noch in weiter Ferne, und ich hielt es für unwahrscheinlich, dass etwas derart Obskures wie eine Hundertfünfzigjahrfeier viel Beachtung finden würde, abgesehen vom üblichen Feuerwerk am Nationalfeiertag. Bald vergaß ich das Ganze und widmete mich wieder dem Paddeln auf Wildflüssen, der Beobachtung von Pflanzen und Tieren, meinen Waldwanderungen und eine Zeitlang auch der leidenschaftlichen Erforschung seltener Moose, die auf bestimmten Felsarten wuchsen, insbesondere der Gattung Ptychomitrium incurvum.
Doch ein paar Jahre später stellte sich heraus, dass der alte Professor die Lage richtig eingeschätzt hatte. Je näher 2017 rückte, desto öfter fand »150 Jahre Kanada« in Gesprächen und Nachrichtenbeiträgen Erwähnung.
Zahlreiche Vorhaben wurden auf den Weg gebracht. Es sollte öffentliche Infrastrukturprojekte geben. Freien Eintritt in die Nationalparks. Ein Schiff, das mit 150 Passagieren aus ganz Kanada an Bord das Land umrundete. In jeder Provinz und in jedem Territorium wollte man Bäume pflanzen sowie Tulpen in sämtlichen Parks von Ottawa – 300 000 Stück einer eigens gezüchteten Sorte, die der Landesflagge ähnelte. Eine echte (gigantische) Flagge sollte an der Spitze eines (150 Fuß hohen) Fahnenmastes gehisst werden. Zu guter Letzt finanzierte die Regierung fast 6000 dieser »150 Jahre Kanada«-Projekte.
Meine Begegnung mit dem alten Professor lag bereits mehr als drei Jahre zurück, als mir wieder einfiel, was er über die Kanutour zur Hundertjahrfeier berichtet hatte. Vielleicht vermochte ja eine weitere Kanutour quer durch Kanada einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass sich die Menschen mehr für den Erhalt der immer weiter schwindenden Wildnis des Landes engagierten? Nun wollte ich wissen, wie die Unternehmung 1967 ausgesehen hatte. Zufällig befand ich mich damals gerade in einer jener Phasen von Fernweh und Abenteuerlust, die mich stets packten, wenn ich zu lange in Innenräumen eingepfercht war.
Es stellte sich heraus, dass zehn Teams von Zentral-Alberta nach Montreal gepaddelt waren. Unter dem Namen »The Centennial Voyageur Canoe Pageant« waren pro Team zehn Personen unterwegs gewesen, von denen tageweise jeweils sechs paddelten, während die anderen vier sich ausruhten. Sie steuerten große und kleine Städte an, in denen sie mit viel Jubel und Festivitäten empfangen wurden. Da die Tour östlich der Rocky Mountains begonnen hatte und Montreal ihr Ziel war, konnten sie die schwierigsten Portagen und Fahrten flussaufwärts vermeiden. Nach 104 Tagen, in denen sie 5283 Kilometer zurückgelegt hatten, endete die Wettfahrt schließlich mit einem Festakt auf der Expo 67.
Eine beachtliche Strecke, dachte ich, während ich in meinem vollgestopften Arbeitszimmer saß, das sich im Erdgeschoss eines renovierungsbedürftigen viktorianischen Hauses befand. Und diese 50 Jahre später noch einmal zurückzulegen wäre schon etwas Besonderes. Aber da Kanada heute längst nicht mehr so unberührt ist wie 1967, könnte das wahrscheinlich jeder nachmachen und dabei noch alle drei Tage eine Pause in einem Café einlegen. Was könnte ich mir für 2017 überlegen, das noch nie da gewesen ist?
Ich starrte auf die Kanada-Karte an der Wand über meinem Schreibtisch (ziemlich gefährlich – das Anstarren von Landkarten, meine ich). Und wenn ich die Route weiter nach Norden verlegte? Vielleicht, sagen wir mal, 2000 Kilometer weiter nach Norden, hinter die Baumgrenze, in die Tundra?
Anders als 1967 gäbe es bei einer derart weit nördlich verlaufenden Kanutour keine Städte oder Ortschaften, in denen man haltmachen und die Vorräte auffüllen konnte, ganz zu schweigen von heißen Duschen und menschlicher Unterstützung. Die Reise verliefe nicht durch Ackerland und Landhausidyllen, sondern durch die Arktis. Die Bedingungen wären wesentlich härter: Minusgrade, Schnee, bitterkalte Winde, treibende Eisschollen und vermutlich kein einziges Café. Sollte etwas schiefgehen, würde Hilfe lange auf sich warten lassen. Erschwerend kam hinzu, dass es keine leicht zu befahrenden Wasserwege durch die kanadische Arktis gab. Auch drängte sich keine Route auf. Vier große Wasserscheiden müssten überwunden werden, was bedeutete, dass ich zahlreiche Strecken zu Fuß zurücklegen müsste und beschwerliche Fahrten flussaufwärts vor mir hätte.
Es war wohl eine Schnapsidee. Andererseits war es genau die Art von Herausforderung, die mich reizte, zumindest, wenn ich gerade in Abenteuerlaune war. Schließlich, so sagte ich mir immer wieder, lebt man nur einmal.
Doch ohne beträchtliche finanzielle Förderung ließe sich ein derartiges Projekt niemals verwirklichen. Außerdem war es eine Sache, bequem von meinem Schreibtischstuhl aus, die Karten vor mir ausgebreitet und eine Tasse dampfenden Tee in der Hand, von einer solchen Expedition zu träumen, und eine ganz andere, sie tatsächlich durchzuführen. Schweren Herzens legte ich die Idee zu den Akten, als eine von vielen, die ich gern eines Tages umsetzen würde, wenn ich die Mittel dazu hätte. Vorläufig wandte ich mich wieder meinen seltenen Moosen zu. Dafür brauchte ich wenigstens kein Geld.
Einige Monate später, im November 2013, unterhielt ich mich in Ottawa mit Mitarbeitern der Royal Canadian Geographical Society, einer gemeinnützigen Organisation, die sich der modernen geografischen Erforschung und Wissensvermittlung verschrieben hat. Ich hatte bereits verschiedene Expeditionen im Auftrag der Gesellschaft geleitet, die das Ziel hatten, Flüsse im Norden zu kartieren, und hörte jetzt erste Andeutungen, dass man vielleicht 2017 zum »150.« etwas Besonderes machen wolle, was eventuell mit der Arktis oder einer großen Reise zu tun habe. Natürlich war ich begeistert, und vor lauter Aufregung merkte ich nicht, dass von zwei Projekten die Rede war anstatt nur von einem.
»Sie denken an eine Kanutour quer durch die kanadische Arktis?«, platzte ich heraus.
Einen Moment lang herrschte verwirrtes Schweigen im Saal, denn das war nicht unbedingt das, was man sich vorgestellt hatte.
»Ist das denn möglich?«, fragte schließlich ein Redakteur des »Canadian Geographic«.
»Na ja«, sagte ich und lehnte mich bequem in meinem Stuhl zurück, »möglicherweise schon. Schwer zu sagen. Es wäre nicht ganz einfach. Die meisten Flüsse fließen nach Norden zur Küste und nicht von West nach Ost oder umgekehrt. Wie dem auch sei, es wäre enorm kostspielig. Versorgung aus der Luft und dergleichen.«
»Hm, das ist unter Umständen kein Problem«, sagte Gilles, der Verleger. »Bestimmt gibt es für 2017 Fördermöglichkeiten.«
Damit sähe die Sache in der Tat anders aus. Ich war es gewohnt, mit knappem Budget und selbst gebastelter oder gebrauchter Ausrüstung auf Expedition zu gehen.
»Okay. Ich muss darüber nachdenken. Ein bisschen recherchieren. Ich melde mich bei Ihnen«, antwortete ich.
In den folgenden Wochen ließ ich mir das Ganze gründlich durch den Kopf gehen. Nachdem ich mich verpflichtet hatte, ein Konzept und einen Finanzplan vorzulegen, musste ich mich nun mit den Einzelheiten auseinandersetzen. Ich studierte Landkarten, Atlanten und Satellitenbilder, erkundigte mich bei Arktispiloten nach den Kosten und skizzierte mehrere Routen. Das Ergebnis war ernüchternd – die Erfolgsaussichten waren gering. Ganz gleich, wie ich es anpackte, es gelang mir nicht, eine Kanuroute zu erstellen, die eine ausreichend lange eisfreie Zeitspanne beinhaltete, um auch nur die Hälfte der kanadischen Arktisgebiete auf der West-Ost-Achse zu durchqueren, geschweige denn die gesamte Strecke.
All meine Recherchen waren entmutigend. Es gab Schneestürme im August, zugefrorene Seen bis weit in den Juli hinein, und Eisbären, die Kanuten fraßen. Nicht zu vergessen der Mangel an schiffbaren Wasserwegen und die vielen Fahrten flussaufwärts, gegen die Strömung, die nötig wären. Dafür fünf Monate zu veranschlagen schien noch optimistisch zu sein, und das in der Übergangsjahreszeit, bei sinkenden Temperaturen. Natürlich waren mir derartige Situationen nicht fremd. Aber die Voraussetzungen waren denkbar ungünstig.
Wäre ich ein alter Römer gewesen, hätte ich wohl den Vogelflug beobachtet, festgestellt, dass die Zeichen Unheil verhießen, und daraus geschlossen, dass die Götter dem Plan nicht gewogen waren.
Zum Glück war ich kein alter Römer.
Also beschloss ich, das Projekt voranzutreiben. Anscheinend musste ich mir wenigstens um die Finanzierung keine Sorgen machen. Und das war schon sehr viel wert.
Doch wie es das Schicksal so wollte, erfuhr ich einige Monate später, dass die Royal Canadian Geographical Society kein Geld zur Verfügung stellen konnte. Die Mittel, die sie sich von einer strategischen Partnerschaft erhofft hatten, waren ausgeblieben. Derlei Unwägbarkeiten sind bei gemeinnützigen Organisationen leider gang und gäbe.
Das machte mir einen dicken Strich durch die Rechnung. Sein Leben aufs Spiel zu setzen ist eine Sache; sein Geld zu verzocken steht auf einem ganz anderen Blatt. Das tat ich grundsätzlich nicht – man hat schließlich Prinzipien. Die Kosten für eine fünfmonatige Arktisexpedition beliefen sich auf circa 35 000 kanadische Dollar, von denen ein großer Teil auf das Chartern der Flugzeuge für die Versorgung entfiel. Eine solche Summe konnte ich unmöglich allein aufbringen. Vielleicht sollte ich meine Kräfte 2017 lieber auf ein überschaubareres Projekt konzentrieren? Ich könnte zum Beispiel seltene Moose erforschen. Aber irgendwie war das bei Weitem nicht so beflügelnd.
Ich brauchte Zeit zum Nachdenken. Immer, wenn ich vor einer folgenreichen Entscheidung stand, zog es mich dorthin, wo ich die klarsten Gedanken fassen konnte – an den Ort, den ich am besten kannte, an dem ich aufgewachsen war: die Wälder meiner Kindheit. Das ausgedehnte Waldgebiet südlich der kleinen Ortschaft Fenwick in der Provinz Ontario bestand aus uralten Eichen, Ahornbäumen, Eschen, Buchen und Kirschbäumen und war von Schwarzwassersümpfen, Brombeersträuchern und Sarsaparillen durchzogen. Dort, in den Wäldern, die mein Elternhaus umgaben, hatte ich gelernt, die einzelnen Bäume zu erkennen – hatte sie kennengelernt, wie auch die übrigen Pflanzen, Vögel und anderen wilden Tiere. Dort hatte ich als Kind in Unterschlüpfen übernachtet, die ich tagsüber fröhlich gebaut hatte und in die ich mich nachts ängstlich hineinkauerte, während ich auf den Wind horchte, der durch die Äste der mächtigen Eichen und Sassafrasbäume strich. In diesen Wäldern, in denen ich mich auskannte und die ich so geliebt hatte, wo ich in Bächen geangelt und unter dem Sternenhimmel geschlafen hatte und durch die ich bei Tag und bei Nacht gewandert war, würde ich mit Sicherheit wissen, was ich tun sollte.
Und dort draußen, inmitten der Eichen und Platanen, der Farne und Sarsaparillen, der Kleiber und Spechte, vernahm mein Herz den Ruf der Wildnis. Irgendetwas schien mir zuzuflüstern, dass ich ungeachtet der Risiken die Arktisreise wagen sollte. Und noch etwas spürte ich mit erschreckender Klarheit: Wenn ich die endlose, wilde Natur durchstreifen wollte, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Es könnte die letzte Gelegenheit sein, eine derartige Tour durch einen Teil der Erde zu machen, der noch weitgehend in seinem ursprünglichen Zustand erhalten war. Es war eine der wenigen Regionen, in denen große Tiere noch frei umherzogen und wo man monatelang unterwegs sein konnte, ohne einem anderen Menschen zu begegnen.
Damit stand fest: In drei Jahren würde ich die Kanutour durch die Arktis in Angriff nehmen, komme, was da wolle. Sofort nach meiner Rückkehr hielt ich dies schriftlich fest, wie ich es immer tat, wenn ich mir schwor, eine beängstigende Aufgabe anzugehen (das war weniger schmerzhaft als ein Blutschwur). Viele Fragen waren noch offen: Welche Route sollte ich nehmen, wann genau sollte ich losfahren und sollte ich allein oder in Begleitung reisen? Und doch war ich fest entschlossen, es zu wagen.
In den folgenden Monaten traf ich langsam, aber sicher meine Vorbereitungen. Ich testete diverse Ausrüstungsgegenstände und Kleidungsstücke und recherchierte unterschiedliche Routen, die durchschnittliche Eisschmelze, Witterungsverläufe und alte Reiseberichte. Die Herausforderung bestand darin, eine Route und eine Strategie zu entwickeln, die es mir ermöglichten, bei minimalem Kostenaufwand möglichst lange durch eisfreie Gewässer zu paddeln.
Das schien am ehesten zu gelingen, wenn ich in den westlich gelegenen Bergen, im Norden des Yukon-Territoriums startete. Die Eisschmelze setzt dort früher ein als an der Hudson Bay im Osten, also würde ich mein Kanu im Westen früher im Jahr ins Wasser setzen können. Dort befindet sich auch der nördlichste Highway Kanadas, der Dempster Highway, eine schmale Schotterpiste, die sich durch die Wildnis schlängelt. Das wäre ein günstiger Ausgangspunkt für meine Expedition. (Und außerdem die einzige Straße, auf die ich während meiner gesamten Reise treffen würde.)
Nachdem ich auf dem Dempster Highway durch die Richardson Mountains gewandert wäre, würde ich den Mackenzie River erreichen. Unter den längsten Flüssen der Welt belegt er den dreizehnten Platz. Viel würde davon abhängen, wann seine Eisdecke aufbrach. Das Eis schmolz irgendwann zwischen Anfang Mai und Mitte Juni, und ein Unterschied von wenigen Wochen konnte über Erfolg oder Misserfolg meiner Expedition entscheiden. Sobald der Mackenzie eisfrei wäre, würde ich lospaddeln. Allerdings würde es mir nichts nützen, seinem gewundenen Lauf stromabwärts zu folgen. Das würde mich nur hinaus zu den Eisbergen in der Beaufortsee bringen. Stattdessen müsste ich irgendwie in die entgegengesetzte Richtung fahren, den Mackenzie flussauf, gegen seine starke Strömung.
Immer wenn ich Kanuwanderern, die sich im Norden auskannten, von meinem Plan erzählte, bekam ich zu hören: »Bist du denn wahnsinnig?«
Allmählich gewöhnte ich mich an diese Frage.
Dabei wäre das noch die leichtere Etappe. Nachdem ich etwa 340 Kilometer lang den Mackenzie hinaufgefahren wäre, würde es erst richtig anstrengend werden. Ich müsste nach Osten vorstoßen und mich mühsam gegen den Strom den geheimnisvollen Hare Indian River hinaufarbeiten. Von seinem Quellgebiet aus hätte ich eine Reihe kilometerlanger Portagen zu bewältigen, noch dazu über schwieriges und wegloses Gelände. Meine Hoffnung war, dadurch in Sichtweite des riesigen und eisig kalten Großen Bärensees zu gelangen – des achtgrößten Sees der Welt. Diesen wollte ich in meinem gerade einmal 4,50 Meter langen Kanu überqueren.
Und falls mir dies gelänge, erwarteten mich am Ostufer des Großen Bärensees noch mehr Schleppen, Waten, Ziehen, weitere Fahrten flussauf, gegen den Strom. Das würde mich nach Norden führen, zu den windgepeitschten Dismal Lakes. Von dort aus könnte ich mich weiter gen Osten vorarbeiten, bis ich zum sagenumwobenen Coppermine River käme – dessen Strömung noch viel stärker war als die des Mackenzie. Abermals gälte es, mich flussaufwärts zu kämpfen, mir den Weg durch Wildwasser, Schluchten und Felsen zu bahnen, die mein Kanu durchbohren könnten. Und falls ich den Coppermine bezwänge, bestünde die nächste Aufgabe in langwierigen Umtragungen und Fahrten über die riesigen Eisseen der Zentralarktis.
Danach würde ich die Wasserscheide der Hudson Bay ansteuern. Von dort aus flossen die Flüsse ostwärts. Ich hatte vor, den Hanbury River mit seinen tiefen Schluchten und tosenden Wasserfällen hinunter bis zum Thelon River zu paddeln, der mich zu einer weiteren Kette großer, sturmgepeitschter arktischer Seen bringen würde, die ich alle überqueren müsste. Zu dem Zeitpunkt wäre das Jahr bereits weit fortgeschritten – bis weit in den September hinein –, und in der Hudson Bay herrschten Frost und scharfe Winde.
Mit etwas Glück würde ich schließlich den letzten Abschnitt des Thelon hinunterfahren und in der kleinen Gemeinde Baker Lake in Nunavut ankommen – der ersten menschlichen Siedlung auf dieser gewaltigen Strecke seit den Ufern des Mackenzie River Tausende Kilometer weiter westlich.
Einschließlich der Haken, die ich bei den vielen Portagen schlagen müsste, ergab sich eine Gesamtstrecke von fast 4000 Kilometern – und zwar durch die nach der Antarktis zweitgrößten zusammenhängenden Wildnis der Erde.
Als Nächstes musste ich mich entscheiden, ob ich die Reise lieber allein oder mit einem Partner unternehmen wollte. Allein zu reisen gilt gemeinhin als gefährlicher, ja sogar als leichtsinnig. Aber ich hatte eine natürliche Vorliebe für einsame Streifzüge; mir gefielen die Freiheit und Einfachheit, die damit einhergingen. Andererseits stand außer Frage, dass mit einem Partner alles einfacher und weniger riskant wäre. Zwei Paddler könnten – zumindest beinahe – doppelt so schnell vorankommen. Man könnte sich die Arbeit teilen – einer könnte Feuer machen, während der andere das Zelt aufbaute, was sehr nützlich ist, wenn ein Unwetter aufzieht. Wenn ein Kanu an Seilen über tückische Stromschnellen gezogen oder bei starker Strömung um Felsblöcke herum gelotst werden musste, sind zwei Personen so gut wie unerlässlich. Und es gäbe zwei Augenpaare, die nach potenziellen Gefahren wie versteckten Felsen oder hungrigen Bären Ausschau hielten.
Im Falle eines medizinischen Notfalls wäre man zu zweit ebenfalls viel sicherer. Aber die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass es besser war, allein zu fahren, als mit jemandem, der nur halbherzig bei der Sache war.
Und wer würde sich schon freiwillig auf so eine Reise einlassen?
Ich wusste, dass die meisten meiner früheren Expeditionspartner gar nicht in der Lage wären, die erforderliche Zeit zu investieren. Sie hatten sich nach und nach ihr eigenes Leben mit Familie und Beruf aufgebaut und konnten sich nur noch selten länger als ein oder zwei Wochen freimachen. In den drei Jahren seit meinem Schwur im Wald hatte ich etliche Expeditionen unternommen, die nichts mit meinen Überlegungen für 2017 zu tun hatten, und hatte dabei einige wunderbare Expeditionspartner kennengelernt.
Da war mein alter Freund Travis, Spitzensportler und zweifacher Silbermedaillengewinner bei den Lacrosse-Weltmeisterschaften im Team der Iroquois Nationals, der selbst in widrigen Situationen seinen Humor nicht verlor, etwa wenn er sich im frostigen Revier der Eisbären einen arktischen Fluss hinaufkämpfte oder einem Schneesturm entgegenstemmte. In dem Sommer, der auf meinen Entschluss folgte, hatten wir beide eine Kanutour auf einem namenlosen Fluss in der Hocharktis gemacht, rund 500 Kilometer nördlich der Nordwestpassage. Nach diesem Abenteuer bestiegen Travis und ich eine Zeitlang gemeinsam schneebedeckte Berge in den Adirondacks.
Während Travis und ich schon seit mehr als zehn Jahren befreundet waren, war ich dem anderen Menschen, mit dem ich in diesen Sommern auf Expedition ging, davor noch nie begegnet. Chuck, knapp 30 Jahre älter als ich, war Amerikaner, begeisterter Angler und Naturliebhaber, der früher, in den 1980er-Jahren, Kanurennen gefahren war. Er war vernünftig, sympathisch und schreckte vor keiner noch so fiesen Route zurück. Er schloss sich mir an, um einem obskuren Flusslauf bis ins Quellgebiet nachzuspüren, das sich inmitten der subarktischen Tundramoore befand. Dort, wo die Eisbären zu Hause sind – mehr als 150 Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt, in einem Sumpf, der wohl die weltweit dichteste Population blutsaugender Insekten beherbergt –, entwickelte sich eine tiefe Freundschaft zwischen uns. Im Sommer darauf, 2016, machten Chuck und ich uns auf eine weitere Tour, diesmal in die Nordwest-Territorien, wo wir jenseits des nördlichen Polarkreises in der windgeplagten Tundra einen weiteren Fluss mit vielen Windungen zu seiner Quelle zurückverfolgten.
Sowohl Travis als auch Chuck wären ideale Partner für eine Reise durch Kanadas Arktis gewesen. Aber mir war klar, dass Chuck sich unmöglich fünf Monate von seinem Job und seiner Familie loseisen konnte. Außerdem meinte er, dass es alles in allem nicht gerade ratsam wäre, zu Fuß mit schwerem Gepäck lange Strecken durch unwegsames Gelände zu wandern, wenn einem jederzeit ein Eisbär begegnen konnte. So vernünftig war er. (Allerdings bot Chuck seine Hilfe an, als es an der Zeit war, mich und mein Kanu an den nördlichen Polarkreis zu transportieren.) Als ich Travis von meiner geplanten Arktistour erzählte, geriet er in Versuchung. In große Versuchung. Aber auch Travis hatte einen festen Arbeitsplatz und noch dazu eine Hypothek, einen Hund und eine Freundin. All das machte eine möglicherweise fünf Monate dauernde Expedition schwierig. Letztlich kam er zu dem Schluss, dass er sich nicht darauf einlassen konnte.
Mich hingegen hielt nicht viel zurück. Mein geliebter Hund Riley, mein treuer Gefährte, der nie von meiner Seite wich, war drei Jahre zuvor gestorben; seitdem hatte ich nie wieder einen. Meine Einkünfte, soweit vorhanden, bestanden aus Forschungsstipendien für meine Doktorarbeit und dem, was mir das Schreiben einbrachte – und beide Tätigkeiten ließen längere Reisen zu. Meine Miete betrug 700 Dollar im Monat für das Erdgeschoss in dem alten, baufälligen Haus in St. Catharines. Meinen Vermietern genügte es, dass ich die Miete zahlte und keinen Lärm machte. Sie stellten keine Fragen zu meinen längeren Abwesenheiten oder den Moschusochsenschädeln im hinteren Zimmer. Und da sowohl Travis und Chuck als auch meine anderen ehemaligen Expeditionspartner anderweitig gebunden waren, fiel mir niemand ein, von dem ich mir vorstellen konnte, fünf Monate in der Arktis zu verbringen.
Also würde ich allein fahren. Diese Aussicht beunruhigte mich keineswegs; zumindest nicht, was die Einsamkeit betraf. Unter praktischen Aspekten jedoch war eine Einzelperson sehr viel höheren physischen Anforderungen ausgesetzt. Um das auszugleichen, musste ich sorgfältig planen und mir einige neue Techniken einfallen lassen, zumal ich mich im Wettlauf mit den Jahreszeiten befände.
Aber zunächst musste ich mich einer dringlicheren und besorgniserregenderen Herausforderung stellen: der Finanzierung. Mir war zu Ohren gekommen, dass Zuschüsse für »150 Jahre Kanada«-Projekte Gruppen vorbehalten waren. Jedenfalls schien es fraglich, dass ein Einzelprojekt wie meines staatliche Fördergelder erhalten würde. Also entschied ich mich – dem Zeitgeist entsprechend – für Crowdfunding. Damit hatte ich bislang keinerlei Erfahrung. Da ich mich vorzugsweise im Wald aufhielt, waren mir soziale Medien fremd. Ich hatte kein Smartphone, keinen Twitter-Account und keine Instagram-Seite. Trotzdem richtete ich acht Monate vor meiner geplanten Abreise eine »GoFundMe«-Seite für die Expedition ein. Mein Ziel war es, von den benötigten 35 000 Dollar mindestens 12 000 auf diesem Wege zu beschaffen. Der Rest (so hoffte ich) würde durch Sponsorengelder zusammenkommen.
Im selben Monat, in dem ich meine Crowdfunding-Seite ins Leben rief, zog ich nach Sudbury, Ontario. Dort verbrachte ich die Zeit damit, zu trainieren und mich auf die Expedition vorzubereiten – ich ging klettern, lief Schlittschuh auf der städtischen Freiluft-Schlittschuhbahn oder in Eissporthallen, die ich ganz für mich alleine hatte, und durchstöberte die Archive der Laurentian University nach alten Kanu-Expeditionsberichten und sonstigen nützlichen Informationen. Darüber hinaus unternahm ich Tageswanderungen durch die Fichten- und Kiefernwälder. Jedes Mal kraxelte ich zum Abschluss auf einen der felsigen Hügel, die die Stadt umgeben. Auf diesen trostlosen, von saurem Regen entstellten Gipfeln brütete ich über meinen Reiseplänen und sann über die Herausforderungen nach, die mich erwarteten.
Unterdessen ging es mit meiner Crowdfunding-Aktion nur langsam voran. Drei Tage nach dem Start meiner Kampagne betrug die Gesamthöhe der eingegangenen Spenden gerade einmal 0,00 Dollar. Ich fand diese Summe nicht besonders ermutigend.
Dann brach eine mir unbekannte Frau namens Theresa das Eis, indem sie 25 Dollar spendete. Kurz darauf gab eine gewisse Mallory 45 Dollar, dann spendete Meg 25 Dollar, und Cody steuerte weitere 20 Dollar bei. Damit war ich bei verblüffenden 115 Dollar angelangt. Dem gegenüber standen 300 Dollar, die ich für einen Grafiker ausgegeben hatte, der ein Werbeplakat für die Expedition entwarf. Aber immer wieder trudelten kleine Spenden ein: von zwei im Ausland lebenden Kanadiern, die mir alles Gute wünschten, von ehemaligen Kollegen bei einer archäologischen Ausgrabung, von Lesern meines ersten Buches (einer fügte seiner 10-Dollar-Spende eine Notiz bei und bat mich darum, ein weiteres Buch zu schreiben, falls ich überlebte). Überwiegend jedoch unterstützten mich völlig Fremde. Bis zu meiner Abreise im Mai hatte ich über meine Crowdfunding-Seite Spenden in Höhe von 5310 Dollar erhalten. Abzüglich der Bearbeitungsgebühren von »GoFundMe« blieben mir noch fast 4800 Dollar.
Mit anderen Worten: weit weniger als die 35 Riesen, die ich brauchte. Als ich schon fast verzweifeln wollte, erhielt ich einen ungewöhnlichen Anruf. Den Anrufer kannte ich nicht, aber er versprach, die gesamte Expedition zu finanzieren – unter einer Bedingung: Ich müsse ihn mitnehmen. Die Aussicht, mit einem Wildfremden, den man übers Internet kennengelernt hatte, gegen Geld zu zelten, war nicht so verlockend, wie sie sich vielleicht anhört, zumal der Betreffende zugab, wenig bis gar keine Erfahrung im Kanufahren zu haben. Ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, worauf das hinauslief, und so blieb mir keine andere Wahl, als sein Angebot abzulehnen.
Damit stand ich wieder am Anfang.
Zum Glück – und zu meiner großen Überraschung – bot mir der Absolventenverein der McMaster University an, einen Teil der Expeditionskosten zu übernehmen. Ich hatte dort meinen Masterabschluss gemacht und eine externe Promotion angeschlossen, sodass ich mich über die Unterstützung sehr freute. Dann bot sich auch die Brock University, an der ich meinen Bachelor gemacht hatte, als Sponsor an. Anscheinend hielten Universitäten einen mittellosen Abenteurer für ein hervorragendes Aushängeschild, um neue Studierende anzulocken. Gleichzeitig erklärte sich das Outdoor-Unternehmen MEC (Mountain Equipment Co-op) bereit, mich mit Ausrüstung, Kleidung und einem Großteil meiner Trockenrationen auszustatten. Nova Craft Canoe, ein kanadischer Kanuhersteller mit Sitz in London, Ontario, baute mir ein Spezialkanu und schickte es nach Whitehorse, der Hauptstadt des Yukon-Territoriums. Eine Reihe weiterer Unternehmen und Privatpersonen spendeten ebenfalls Ausrüstung oder Geld für die Expedition.
Als im April der Schnee rund um Sudbury zu schmelzen begann, tigerte ich in meiner kleinen Mietwohnung aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise auf und ab und sortierte aufgeregt mein Sammelsurium an Ausrüstungsgegenständen für die Reise: sieben wasserfeste Plastiktonnen voller Energieriegel, Hunderte Fotokopien topografischer Karten, mehr elektronische Geräte, als ich sonst im Alltag benutzte (für Satellitenkommunikation und Filmaufnahmen), die unterschiedlichsten Kleidungstücke sowie mein Zelt, den Schlafsack und diverse wasserdichte Taschen. Dabei hatte ich das nötige Geld noch immer nicht zusammen, und mir fielen keine Outdoor-Firmen mehr ein, die ich als potenzielle Sponsoren hätte ansprechen können. Was sollte ich tun? Mir lief die Zeit davon: In weniger als vier Wochen musste ich in der Arktis sein, um lospaddeln zu können, sobald das Eis schmolz. Keine der Alternativen, die mir einfielen, war auch nur ansatzweise ermutigend.
Dann erhielt ich aus heiterem Himmel eine großzügige Spende von einer weiteren Unbekannten – einer bemerkenswerten Frau aus British Columbia, die mein erstes Buch gelesen hatte und mich bei diesem Projekt unterstützen wollte. Über eine Spende an die Royal Canadian Geographical Society stellte sie mir die noch fehlende Summe zur Verfügung. Jetzt konnte meine Expedition losgehen. Die Organisation unterstützte mich symbolisch, indem sie mir eine Flagge verehrte, die ihr Wappen trug. Die Flagge wurde mir während einer Zeremonie in Ottawa von dem mittlerweile verstorbenen Ehrenpräsidenten der Gesellschaft Alex Trebek überreicht. Er wünschte mir viel Erfolg.
Und damit rollte ich die Flagge zusammen, verstaute sie in meinem Rucksack, verabschiedete mich von Freunden und Familie, packte meine Sachen und machte mich auf den Weg zum Flughafen, um ins Yukon-Territorium zu fliegen.
Am 13. Mai 2017 traf ich im Yukon-Territorium ein, aber wann und wo genau ich meine Reise antreten würde, bestimmte allein Mutter Natur. Falls der Frühling zeitig einsetzte, würde ich die Tour im Norden, in der winzigen Ortschaft Old Crow am Porcupine River beginnen, der in die Beringsee mündet. Käme der Frühling jedoch spät und trieben auf den Flüssen immer noch jede Menge Eisschollen, müsste ich südöstlich von dort, vom noch kleineren Eagle Plains aus aufbrechen. Jedenfalls mussten nach meiner Wanderung über die Richardson Mountains sowohl der Peel River als auch der Mackenzie River eisfrei sein. Sonst säße ich fest und müsste warten, bis das Eis ganz geschmolzen wäre.
Sie fragen sich jetzt vielleicht, warum ich nicht einfach über die zugefrorenen Flüsse gelaufen bin? Das Dilemma war, dass sie sich mitten in der Eisschmelze befanden. Also war ihre Eisdecke einerseits nicht mehr fest genug, um sie gefahrlos betreten zu können, andererseits jedoch noch nicht offen genug, um mit einem Boot fahren zu können. Die Eisschmelze kann mehrere Wochen anhalten, und währenddessen treiben riesige Eisblöcke wie gigantische Puzzleteile schnell flussabwärts und werden für jedes Wasserfahrzeug zur Gefahr. Das Ergebnis ist eine Art Fegefeuer: Das Reisen ist schwierig und das Überqueren von Flüssen praktisch unmöglich. Selbst heute, mit modernen Transportmitteln, hat sich in der westlichen Arktis daran im Wesentlichen nichts geändert. Bis heute ist es nicht gelungen, eine Brücke über die nördlichen Ausläufer der großen Flüsse im äußersten Nordwesten Kanadas, den Mackenzie, den Peel und den Porcupine, zu bauen. In den langen dunklen Wintermonaten verkehren Schneemobile auf diesen gefrorenen Arterien des Nordens, in den Sommermonaten sind es Motorboote und Kanus. Doch während der Frühjahrsschmelze werden diese Flüsse zu unüberwindbaren Hindernissen.
Seit einigen Jahren scheint die Eisschmelze im Yukon-Territorium infolge steigender Durchschnittstemperaturen immer früher einzusetzen. Nicht zuletzt diese Erkenntnis brachte mich auf den Gedanken, dass eine transarktische Kanuwanderung im Rahmen des Möglichen liegen könnte – früher wäre so etwas bestenfalls fragwürdig gewesen. Aber wie es der Zufall so wollte, kam der Frühling 2017 ungewöhnlich spät. Da die Flüsse nach wie vor durch Eis blockiert waren, hatte ich noch etwas Zeit, und anstatt in Whitehorse herumzusitzen und die Wettervorhersagen zu verfolgen, beschloss ich, mir Old Crow anzusehen.
Wirft man einen Blick auf die Karte von Kanada, findet man Old Crow versteckt in der äußersten nordwestlichen Ecke. Es handelt sich um eine kleine Gemeinde mit eigenem Flughafen, deren etwa 300 Einwohner überwiegend der Gwich‘in First Nation angehören. Trotz seiner Abgeschiedenheit ist Old Crow durch tägliche kommerzielle Flüge mit Whitehorse verbunden. Während das Eis langsam schmolz, wartete ich in einer einsamen Hütte im Wald östlich des Ortes. Die Hütte gehörte Betty, einer Gwich’in-Ältesten in den Siebzigern, die das Dorfleben weitgehend mied und lieber zurückgezogen in Gesellschaft ihrer beiden Schlittenhunde Winston und Vicki lebte. Der Zufall hatte uns zusammengeführt.
Bei meiner Ankunft am Flughafen fühlte ich mich dank der nordischen Gastfreundschaft schnell willkommen. Man nahm mich mit ins Dorf, lud mich zum Barbecue ein und stellte mir einen Platz zur Verfügung, an dem ich meine Sachen unterstellen konnte. Noch am selben Tag begleitete ich einen Einheimischen die Hänge des spärlich bewachsenen Crow Mountain hinauf, einer Anhöhe oberhalb der Ortschaft. Er hatte sein Gewehr mitgebracht, für den Fall, dass wir auf Karibus stießen, aber trotz einiger frischer Spuren im schmelzenden Schnee ließ sich keines blicken. Nachdem ich ein paar Tage im Ort verbracht und zugeschaut hatte, wie das Eis vorbeitrieb, wurde ich unruhig und beschloss, die Verhältnisse weiter draußen zu erkunden. Schließlich fand ich mich am Fluss wieder, den ich ein ganzes Stück weit entlanglief.
Ich war durch Schwarzfichtendickicht gewandert, durch Bäche gewatet und hohe Steilufer hinuntergeklettert, als ich plötzlich mitten im Wald, in Ufernähe des noch eisbedeckten Porcupine River, auf eine kleine Hütte stieß. Davor waren zwei Schlittenhunde angebunden, und aus dem Schornstein stieg eine Rauchfahne empor.
Ich hörte, wie die Tür der Hütte langsam von innen entriegelt wurde, dann spähte eine ältere Frau vorsichtig heraus. Ihre Hände umklammerten ein Gewehr.
»Hallo«, sagte ich. »Tut mir leid, wenn ich störe. Ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen.«
»Oh«, sagte die alte Frau. Sie klang überrascht. Sie öffnete die Tür etwas weiter. »Ich dachte, du bist ein Bär.«
»Nein«, antwortete ich, »bin ich nicht.«
»Und was machst du hier?«
»Drauf warten, dass das Eis schmilzt.«
Betty lud mich zum Tee ein, und ehe ich mich versah, war ich eine ganze Woche lang ihr Gast und schlief in ihrem Holzschuppen. Mit ihren 73 Jahren jagte sie noch immer Karibus und Rothörnchen, auch wenn sie altersbedingt nicht mehr ganz so wendig war. Für gewöhnlich entfernte sie sich nicht allzu weit von ihrem Zuhause, und während der Eisschmelze war sie von jeglichem menschlichen Kontakt abgeschnitten. Ich hatte ihre Hütte nur deshalb entdeckt, weil ich den vereisten Crow River in einem aufblasbaren Rucksackboot hinter einer Biegung durchquert hatte, an der das Eis so stark gestaut wurde, dass eine eisfreie Stelle entstanden war. Betty sagte, auf diese Weise sei noch kein Besucher zu ihr gelangt. Die meisten Menschen kämen mit dem Motorboot oder dem Schneemobil, aber während der Eisschmelze komme niemand.
Betty lebte also die meiste Zeit bewusst allein. Zu meiner Überraschung besaß sie jedoch ein altes Klapphandy, das erstaunlicherweise in ihrer einsamen Hütte Empfang hatte. Der Akku war leer, und sie hatte keine Möglichkeit, ihn wieder aufzuladen, außer wenn sie ins Dorf ging. Glücklicherweise hatte ich ein Ladegerät bei mir, das ich ihr anbot.
Wir entdeckten eine ganze Reihe gemeinsamer Interessen, von der Liebe zur Wildnis und zum Alleinsein bis hin zur Freude an alten »Reader’s Digest«-Ausgaben (die sie sammelte). Während ich Holz hackte und Eisblöcke für ihren Wasservorrat beschaffte, bot Betty mir Suppe und Limonade an und erzählte: von ihrer Familie, von einigen großen Fischfangerfolgen mit ihrem Netz, von ihren Erlebnissen bei der Bären- und Karibujagd und von Meisenhähern, die ihr aus der Hand fraßen. Darüber hinaus gab sie mir einige kluge Ratschläge für meine bevorstehende Tour mit auf den Weg. Als Nahrung schlug sie mir die Innenrinde von Weidentrieben vor – im Frühling, sagte sie, sei diese reich an nahrhaftem Saft – sowie Fichtenharz, das sie von den Bäumen rund um ihre Hütte erntete. Sie machte mich außerdem darauf aufmerksam, dass das Überqueren von Flüssen in einem kleinen Rucksackboot zwischen angestauten Eisschollen bestens geeignet war, meine Lebenserwartung zu verkürzen.
Jeden Tag lauschte ich vor ihrer Hütte stundenlang dem Strom der Eisschollen, die krachend gegeneinanderprallten und dabei Geräusche machten, als würde Glas zersplittern. Es hatte etwas Hypnotisierendes, dabei zuzusehen, wie sie schnell flussabwärts trieben und die vielen Tausend Bruchstücke in der Sonne glitzerten, einige von ihnen groß genug, um hilflose, todgeweihte Karibus zu tragen. So ging es tagelang, bei Tag und bei Nacht, und es schien unvorstellbar, dass so viel Eis überhaupt existierte – aber dieses Eis stammte aus einem Hunderte Kilometer langen Fluss und trieb nun in einer schier endlos anmutenden Prozession flussabwärts. Betty sagte, soweit sie sich erinnern könne, sei das Eis seit den 1980er-Jahren nicht mehr so spät geschmolzen.
Manchmal ging ich mit Bettys Hunden Vicki und Winston in den umliegenden subarktischen Wäldern spazieren, und wir begegneten Polarhasen und Schneehühnern. Winston war besonders anhänglich, was vielleicht darauf zurückzuführen war, dass ich stets mein halbes Mittagessen an ihn verfütterte.
Es überraschte mich, wie ernst Betty die Bedrohung durch Bären nahm. Sie ging nie ohne eine Pfeife um den Hals nach draußen und meistens auch nicht ohne ihr Gewehr. Ihre Hunde, sagte sie, sollten helfen, Bären fernzuhalten, und Alarm schlagen, sobald sich welche näherten. Da ich oft monatelang im Bärengebiet in einem kleinen Zelt schlief, hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass sie die Gefahr eventuell überbewertete. Aber nachts kamen tatsächlich mehrfach Bären bis an ihre Hütte. Ich konnte hören, wie sie vor dem Holzschuppen nach Karibufleisch schnüffelten. Wenn die Hunde sie witterten, bellten sie wie verrückt.
Als wir einmal zusammen am Fluss saßen und die dahintreibenden Eisschollen beobachteten, fragte ich Betty, ob schon einmal ein Grizzly in ihren Schuppen eingebrochen sei, um Lebensmittel zu stehlen.
»Oh, einer ist sogar in mein Haus eingebrochen«, antwortete sie.
»In dein Haus?«, fragte ich ungläubig.
»Er hat die Tür entzweigeschlagen«, sie.
Betty bedeutete mir, ihr hinter den Schuppen zu folgen, wo die ausrangierte Tür nun lag. Ich hatte ein dünnes, klappriges altes Ding erwartet. Stattdessen zeigte Betty auf die ramponierten Überreste einer schweren, stahlbeschlagenen Holztür.
»Mit nur einer Tatze« – Betty ahmte den Bärenhieb nach – »hat er sie in der Mitte geknickt.« Die Tür war komplett verbogen, die Metallplatten verkrümmt und zerbeult wie ein Autowrack. Das Holz zwischen den Stahlplatten war teilweise herausgerissen, die tiefen Kratzspuren des Grizzlys waren deutlich zu erkennen.
Zum Glück war Betty damals nicht zu Hause gewesen. Am Ende hatte der Grizzly das Innere der Hütte komplett auseinandergenommen. Nach diesem Vorfall ließ Betty einen Elektrozaun rund um die Tür und die Fenster anbringen, der von einer Autobatterie betrieben wurde und den sie jede Nacht einschaltete. Als ich so auf die zertrümmerte Tür hinunterblickte, musste ich daran denken, dass ich die ganze Zeit über in einem kleinen Schuppen geschlafen hatte, dessen einzige Tür aus einer Plane bestand.
Trotzdem wollte ich kein Gewehr auf meine Reise mitnehmen. Mit so leichtem Gepäck wie möglich zu reisen war unabdingbar, und außerdem, so vermutete ich, musste der Geruch des Karibufleisches die Bären zur Hütte gelockt haben. Zwar schenkte mir Betty ein paar Streifen getrocknetes Karibufleisch, aber das aß ich (mit Winstons Hilfe) noch vor meiner Abreise.
Nachdem wir eine Woche lang gemeinsam vom hohen Ufer des Porcupine River die vorbeiziehenden Eisschollen beobachtet hatten, stand fest, dass ich meine Tour von Eagle Plains aus starten musste. Betty wünschte mir alles Gute und bat mich darum, mich nach meiner Reise bei ihr zu melden.
Ich nahm den nächsten Flug nach Dawson. An diesem sagenumwobenen Ort, an dem der Geist der Vergangenheit noch immer lebendig ist, wartete ich auf Chuck. Er fuhr von Whitehorse aus nach Norden und hatte mein Kanu und die wasserfesten Packtonnen dabei, die ich mit Verpflegung vollgestopft hatte. Chuck wurde von seinem Freund Mark und einigen Kameraleuten begleitet, die den Start meiner Reise am Dempster Highway mit einer Drohne filmen wollten.
Der Dempster Highway zieht sich wie ein langes Band durch den nördlichen Teil des Yukon-Territoriums. Auf seinem Weg nach Norden schlängelt er sich zwischen den Ehrfurcht gebietenden Gebirgsketten der Tombstone und Ogilvie Mountains hindurch bis über den Polarkreis hinaus. Sonst führt keine andere Straße durch diese weitläufige Region. Rechts und links davon findet man über Hunderte Kilometer keine Städte, Gemeinden, und nicht einmal Minen – nur eine weite Gebirgslandschaft, die sich bis zum Horizont erstreckt. Der Highway, im Grunde nur ein schmaler Schotterweg, verläuft über etwa 740 Kilometer von Dawson nach Inuvik in den Nordwest-Territorien und ist Kanadas einzige Straßenanbindung an den Polarkreis. Er folgt größtenteils einer alten Hundeschlittenroute, die früher für den Postverkehr zwischen diesen abgelegenen Orten genutzt wurde. Mit dem Bau begann man in den 1950er-Jahren, die Arbeiten wurden jedoch bald darauf wieder eingestellt. In den 1970er-Jahren ging der Bau allerdings weiter, weil man damals annahm, die Straße könne als Versorgungsroute für die Erdölexploration in der Beaufortsee dienen. Öl wurde zwar nie gefördert, aber der Highway wurde 1978 offiziell eröffnet und nach Sergeant Jack Dempster von der Royal North-West Mounted Police benannt, der Anfang des 20. Jahrhunderts Hundeschlittenpatrouillen von Dawson nach Fort McPherson gefahren war.
Unsere Fahrt auf dem Dempster Highway führte uns zunächst durch den subarktischen Wald nördlich von Dawson, wo sich dunkle Fichten eng an die Schotterstraße schmiegten und ihre Geheimnisse vor demjenigen verbargen, der sich nicht von der Straße herunterwagte. Wo die Straße an Höhe gewann, öffnete sich der Blick auf scheinbar endlose Fichtenwälder. Je weiter wir nach Norden kamen, desto mehr lichtete sich der Fichtenbestand, große Gruppen von Espen tauchten entlang der Straße auf, und allmählich wichen die Wälder Grasland und windgepeitschten, zerklüfteten Bergen, deren obere Hänge mit Schnee bedeckt waren.
Als wir die Tombstone Mountains passierten, wurde unsere Fahrt nach Norden plötzlich durch starken Schneefall verlangsamt. Doch am frühen Abend – die Sonne stand in diesen Breiten noch hoch – erreichte unser kleiner Konvoi aus zwei Fahrzeugen den abgelegenen Handelsposten Eagle Plains. Es ist der einzige bewohnte Ort zwischen Dawson und Fort McPherson, sofern man bei einer Einwohnerzahl, die zwischen sechs und neun Personen schwankt, überhaupt von einem bewohnten Ort reden kann. Das 1978 eröffnete Eagle Plains wurde als privates Unternehmen gegründet, um die Leute auf dem Dempster Highway mit allem Nötigen zu versorgen. Hier gibt es Treibstoff, Unterkünfte, Vorräte, ein Restaurant, eine Bar, eine Autowerkstatt sowie Wohnbereiche für die Anwohner. Die gesamte Ortschaft befindet sich in einem einzigen lang gestreckten Gebäudekomplex auf einem Plateau mit Aussicht auf weitläufige Fichtenwälder, die sich bis zu den fernen Bergen hinzogen.
Neben der Tankstelle parkte ein einsamer Lieferwagen. In der Nähe hockten drei Raben, die uns anstarrten und ein wenig bedrohlich aussahen. Wir hatten vor aufzutanken, eine letzte ordentliche Mahlzeit zu uns zu nehmen und dann weiter zum Polarkreis zu fahren, der nicht mehr weit entfernt war. Wir parkten vor dem Hotel und betraten die Lobby: Chuck, sein Freund Mark, die vier Filmleute – Francis, Marty, Patrick und Barclay – und ich. Über dem Eingang hing ein verblasstes gemaltes Schild mit der Aufschrift Eagle Plains Hotel: Eine Oase in der Wildnis.
Eagle Plains wirkte wie aus der Zeit gefallen. Die Einrichtung, die Teppiche, der Anstrich, die Schilder, die Möbel, die Handtuchspender, die Badezimmer und sogar die Bettbezüge waren offenbar seit der Eröffnung nicht erneuert worden. An der Wand neben einem alten Pepsi-Cola-Automaten hingen ein Münztelefon (kein Handyempfang weit und breit) und eine große bunte Landkarte, die den Verlauf des Dempster zeigte. Der Karte zufolge befanden wir uns jetzt 409 Kilometer von Dawson entfernt und 181 Kilometer südwestlich von Fort McPherson, den beiden nächstgelegenen Ortschaften entlang des Highways.
Ich ließ das alles auf mich wirken und dachte: Das wäre ja eine wunderbare Kulisse für einen Horrorfilm.
Die Lobby war ein prächtiger Raum mit schmutzigen alten Teppichen, einer abgenutzten Ledercouch und ebensolchem Sessel sowie einem Nebenzimmer, das wie ein Pelzhandelsposten eingerichtet war und als eine Art Kantine mit Büro diente. Ich übernachtete nicht oft in Motels, aber wenn, dann am liebsten in einem wie diesem.
Das Team ging in die Cafeteria, in der ein Drittel der Bevölkerung von Eagle Plains arbeitete. Nach einem Blick auf die Speisekarte entschieden sich alle für das Chili. Ich war inzwischen einen leeren, schwach beleuchteten Korridor entlanggeschlendert, angezogen von verblassten Schwarz-Weiß-Fotos, die überall an den Wänden klebten. Das erste, zu dem ich kam, zeigte eine Leiche, deren grauenerregendes Gesicht zu einer halb eingefrorenen Grimasse verzogen war. Das war der berüchtigte »Mad Trapper« alias Albert Johnson, der in den 1930er-Jahren Fallensteller am Rat River gewesen war. Johnson soll allein in der Wildnis den Verstand verloren und einige Menschen ermordet haben. Die Royal Canadian Mounted Police verfolgte ihn bis in die Berge nördlich von Eagle Plains. Die Jagd gipfelte in einem Schusswechsel, der für Johnson tödlich endete.
»Nett hier«, hörte ich Chuck hinter mir sagen. »Wer ist das?« Er deutete auf das verblasste, körnige Bild eines gut gekleideten Mannes, der auf einem Stuhl saß.
»Hubert Darrell«, antwortete ich. »Ein allein reisender Forscher, der 1910 östlich von hier in der Wildnis verschwand und von dem man nie wieder etwas gehört hat.«
»Hm …«, Chuck schaute genauer hin. »Vielleicht hängen sie eines Tages auch ein Foto von dir auf, mit der Aufschrift ›Adam Shoalts, der 2017 östlich von hier in der Wildnis verschwand und von dem man nie wieder etwas gehört hat‹.«
Chuck lachte. Ich stimmte mit ein. Es war einfach absurd zu glauben, dass die Einrichtung jemals erneuert werden würde.
Obwohl Eagle Plains einen gewissen Charme besaß, hatten wir nicht vor, dort zu übernachten. Ich war jetzt bereits seit zwei Wochen im Yukon-Territorium und konnte es kaum erwarten, meine Reise anzutreten.
Unterwegs hatte ich meine Begleiter besser kennengelernt. Es stellte sich heraus, dass Chuck und Mark sich bereits seit vielen Jahren kannten – sie hatten gemeinsam die Zeltlager organisiert, als ihre Söhne bei den Pfadfindern waren. In seiner Jugend hatte Mark einige Zeit als Fischer vor der Ostküste der USA verbracht. Er hatte faszinierende Geschichten über das Leben am Meer auf Lager, etwa darüber, wie sein Fischkutter von einer Monsterwelle getroffen worden war oder wie sie in einem ihrer Netze eine Leiche hochgezogen hatten, oder auch über seltsame, unbekannte Kreaturen der Tiefe, die sie gelegentlich zutage förderten.
Nachdem wir unsere Autos vollgetankt und überprüft hatten, ob mein Kanu immer noch sicher festgegurtet war, verließen wir Eagle Plains und fuhren noch einmal 37 Kilometer gen Norden an den Polarkreis – den eigentlichen Ausgangspunkt meiner Tour. Der nördliche Polarkreis ist eine imaginäre Linie, die dem Breitengrad 66°33‘47‘‘N entspricht und rund um den nördlichsten Teil der Erde verläuft. Nördlich dieser Linie geht die Sonne im Sommer mindestens einen Tag lang nicht unter und im Winter mindestens einen Tag lang nicht auf. Je weiter man nach Norden kommt, an desto mehr Tagen herrscht entweder durchgehend Tageslicht oder Dunkelheit.
Unter ökologischen Aspekten lässt sich die Arktis hingegen nicht so eindeutig kategorisieren. Die Verbreitung von Permafrost – der Frost unter der Erde, der niemals schmilzt – deckt sich keineswegs genau mit dem nördlichen Polarkreis. Nähert man sich der Hudson Bay, erstreckt sich der Permafrost weit nach Süden, bis hinunter zum 55. nördlichen Breitengrad, wo es noch Tundra gibt sowie Eisbären und andere für die arktische Umgebung typische Tierarten. Andernorts reicht die Baumgrenze deutlich über den Polarkreis hinaus. Im Westen Nordamerikas können Schwarzfichten, Lärchen und Espen aufgrund des fehlenden Permafrosts noch Hunderte von Kilometern nördlich des Polarkreises wachsen. Kurz gesagt, unter Geografen kann man sich nicht auf eine verbindliche Definition für »Arktis« einigen, außer dass es sich um eine ziemlich kalte nördliche Region handelt – aber schließlich streiten sich Geografen auch gerne.
Neben der Schotterstraße stand ein auffallend großes Holzschild, das dem Reisenden die Ankunft am nördlichen Polarkreis verkündete. Doch das Schild schien unbedeutend, wenn nicht gar absurd, verglichen mit der atemberaubenden, beinahe magischen Landschaft, die dahinter zu sehen war. Jenseits einer ausgedehnten Graslandschaft erhoben sich die Richardson Mountains, eine überirdisch anmutende Kette hoher, dünenartiger Gipfel. Ihr einzigartiges, unwirkliches Erscheinungsbild verdanken sie zum Teil der Tatsache, dass sie während der letzten Eiszeit der Vergletscherung entgangen sind. Während der Rest Kanadas unter einer kilometerdicken Eisschicht begraben lag, die die heutigen Landschaften des Kontinents herausmeißelte, kamen die Gletscher hier, am nordwestlichen Ende der Welt, nie an, und die Richardson Mountains blieben unversehrt.
Wir schlugen unser Lager gleich hinter dem Schild auf. Zwischen Felsen und Weidenbüschen, Preiselbeeren und ein paar verkrüppelten Fichten stellte jeder von uns sein Zelt auf, wo immer sich ein halbwegs ebenes Stück Erde fand. Ich entdeckte ein besonders einladendes Fleckchen mit Rentierflechten und machte es mir zur Nachtruhe bequem. Am nächsten Morgen würde die Reise endlich losgehen.
In der Nacht hatte sich Reif auf die Zelte gelegt. Der Morgen graute kalt und klar, das Thermometer pendelte sich um den Gefrierpunkt ein. Doch da die Tagestemperaturen im Laufe der letzten zwei Wochen in den zweistelligen Bereich geklettert waren, war der größte Teil des Winterschnees bereits geschmolzen und hatte die Tundrawiesen freigelegt. Es war der 28. Mai. Dreieinhalb Jahre der Planung, der Vorbereitung und des Entgegenfieberns hatten zu diesem Augenblick hingeführt. Vielleicht waren es sogar 31 Jahre gewesen. Mein ganzes Leben lang war ich Abenteuern nachgejagt, und jetzt stand ich vor dem größten Abenteuer, das ich wahrscheinlich jemals erleben würde.
Bald hatte ich mein Zelt abgebaut, eingerollt und zusammen mit dem Schlafsack in meinen Expeditionsrucksack gestopft. Ich wollte dem Dempster Highway durch die Richardson Mountains folgen, bis ich das gut 200 Kilometer entfernte Ufer des Mackenzie River erreichte. Chuck und Mark würden sich um den Transport meines Kanus und meiner Packtonnen kümmern, sodass ich dort beides in Empfang nehmen konnte, um meine Reise zu Wasser fortzusetzen. In der Zwischenzeit wollte das Filmteam mit der Drohne so viel wie möglich von meinen ersten Schritten auf der Schotterstraße aufzeichnen. Sie arbeiteten unter hohem Zeitdruck, denn sie mussten den fast 1000 Kilometer langen Rückweg nach Whitehorse über holprige Straßen schnell genug zurücklegen, um ihre Flüge zu lukrativeren Jobs noch zu erwischen.
Während sich alle sechs bei den geparkten Geländewagen versammelten, um mich in aller Herrgottsfrühe zu verabschieden, und die Drohne wie ein Requisit aus einem Science-Fiction-Film über unseren Köpfen schwebte, schnallte ich mir den Rucksack auf, griff nach meinen ultraleichten Trekkingstöcken und lief los. An meinem Gürtel war eine Dose Bärenspray eingehakt, für den Fall, dass ich einem Meister Petz begegnete, der nicht ganz so umgänglich war. Natürlich würde das Bärenspray wegen der starken Winde die meiste Zeit über nutzlos sein. Eine Ladung davon würde mir wahrscheinlich genauso vom Wind ins Gesicht geblasen werden wie alles andere auch. Als zusätzlichen Schutz hatte ich drei Bärenböller eingesteckt – im Prinzip sind das Knallkörper, die man auf eine kugelschreibergroße Abschussrampe schrauben kann. Wenn man sie dann abfeuert, schrecken sie jeden Bären ab, der zu nah herankommt. Jedenfalls theoretisch.
Ich schritt zügig voran, denn ich wollte so viele Kilometer wie möglich hinter mich bringen. Die Entfernung zwischen mir und meinem endgültigen Ziel, Baker Lake im Territorium Nunavut, kam mir beängstigend groß, ja geradezu unüberwindbar vor. Was, wenn das Wetter gegen mich arbeitete? Das Eis, der Wind, der Schnee? Ich würde es niemals schaffen. Vielleicht hätte ich doch lieber meine Moose erforschen sollen. Ich gab mir große Mühe, diese Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Aber es fiel mir schwer, da ich wusste, dass diese Wanderung der leichteste Teil meiner Reise sein würde – der einzige Abschnitt meiner gesamten Route mit irgendeiner Art Pfad. Hier brauchte ich nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Fast überall sonst würde ich ständig aufmerksam sein müssen. In weglosem Gelände würde es sorgfältiger Berechnung bedürfen, um Tausende Kilometer oft nebelverhangener, gewundener Seen, nicht enden wollender brusthoher Weidendickichte und Schwarzfichtenmoore oder mit Felsbrocken übersäter Tundra zu überwinden.
Gleichwohl zog mich die atemberaubende Landschaft in ihren Bann, während ich schweigend dahinwanderte. Mein Blick ruhte auf einer traumhaften Kette bläulicher Berge, deren glatte, pyramidenförmige Hänge kahl waren und sich zu schneebedeckten Gipfeln verjüngten, die halb von zarten Schleierwolken verhüllt wurden. Sie wirkten verwunschen, wie der Schauplatz eines uralten Märchens oder einer Fantasy-Saga voller Magie – ein Ort, an dem Zauberer glücklich und zufrieden leben könnten. Ich konnte nicht umhin, an das fast unvorstellbare Alter dieser Höhen zu denken, die vor Urzeiten entstanden waren und bei Weitem älter sind als die Rocky Mountains. Sie stammten aus einer Zeit, in der unbekannte Dinosaurierarten über die Erde stapften – vor 126 Millionen Jahren. Im Gegensatz dazu war die Gegend, die ich am häufigsten durchstreifte – die weitläufigen Sümpfe und unwegsamen Moore der Hudson-Bay-Niederung –, vor nur 8000 Jahren entstanden, während des Rückzugs des Laurentidischen Eisschilds.
Zwar versteckten sich keine Dinosaurier mehr in diesen uralten Bergen, aber mit fast 500 Kilo schweren Grizzlys musste man immer noch rechnen. Wenn es um Bären in der Arktis geht, denkt man normalerweise an Eisbären. Aber man begegnet ihnen selten mehr als 100 Kilometer weit landeinwärts, denn an der Meeresküste finden sie Robben, ihre wichtigste Beute. Grizzlys hingegen sind in der westlichen und zentralen Arktis Kanadas weit verbreitet. Tatsächlich nimmt man an, dass sich Eisbären vor etwa 200 000 Jahren aus den Grizzlys entwickelt haben, als diese sich weiter über das arktische Eis ausbreiteten. Die beiden Arten sind immer noch so eng miteinander verwandt, dass es dort, wo sich ihre Verbreitungsgebiete überschneiden, zu Kreuzungen kommen kann, aus denen bezaubernde kleine Grolarbärchen hervorgehen.