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Endlich auf eigenen Füßen stehen und den Menschen mit ihrem Schmuck ein Stückchen Freude schenken. Als Leonie das Angebot erhält, die Bienenbeeker Dorfschmiede zu übernehmen, ist sie sofort Feuer und Flamme. Was die junge Goldschmiedin nicht ahnt: Der grummelige Besitzer Lothar ist insgeheim noch gar nicht bereit zur Aufgabe seines Geschäfts. Und auch sein Sohn Ole, der das Reetdach des alten Häuschens neu eindeckt, ist über Leonies Auftauchen alles andere als begeistert. Als sie auch noch einen Siegelring für das Dorfjubiläum gestalten soll, gerät sie zwischen die Fronten der eigenwilligen Dorfbewohner und der rüstigen Landfrauen, die über die Gründungsgeschichte im wilden Streit entbrennen. Wie soll Leonie in all dem Chaos noch verstehen, was ihr eigenes Herz ihr sagt? Und wird es ihr am Ende gelingen, Lothar und die Goldschmiede doch noch für sich zu gewinnen? Ein ebenso warmherziger wie turbulenter Kleinstadtroman mit viel Heidezauber – für Fans von Kerstin Garde und Laurie Gilmore. Alle Bände dieser Wohlfühlreihe können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 443
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Endlich auf eigenen Füßen stehen und den Menschen mit ihrem Schmuck ein Stückchen Freude schenken … Als Leonie das Angebot erhält, die Bienenbeeker Dorfschmiede zu übernehmen, ist sie sofort Feuer und Flamme. Was die junge Goldschmiedin nicht ahnt: Der grummelige Besitzer Lothar ist insgeheim noch gar nicht bereit zur Aufgabe seines Geschäfts. Und auch sein Sohn Ole, der das Reetdach des alten Häuschens neu eindeckt, ist über Leonies Auftauchen alles andere als begeistert. Als sie auch noch einen Siegelring für das Dorfjubiläum gestalten soll, gerät sie zwischen die Fronten der eigenwilligen Dorfbewohner und der rüstigen Landfrauen, die über die Gründungsgeschichte im wilden Streit entbrennen. Wie soll Leonie in all dem Chaos noch verstehen, was ihr eigenes Herz ihr sagt? Und wird es ihr am Ende gelingen, Lothar und die Goldschmiede doch noch für sich zu gewinnen?
Über die Autorin:
Julia Reymers, geboren 1989 in Hamburg, studierte Germanistik und Geschichte in ihrer Heimatstadt. Sie ist als Lehrerin tätig und vor Kurzem mit ihrer Familie in die Lüneburger Heide gezogen. Wenn sie dort nicht gerade auf der Suche nach Ideen für romantische Liebesgeschichten ist, dann verbringt sie jede freie Minute in ihrem bienenfreundlichen Garten.
Die Autorin im Internet:
heideautorin.wordpress.com
www.instagram.com/juliareymerswww.facebook.com/juliareymers
Bei dotbooks erscheinen in Julia Reymers’ »Willkommen in Bienenbeek«-Reihe auch die Romane »Das kleine Haus in der Heide« – als Hörbuch bei Saga Egmont erhältlich –, »Die kleine Gärtnerei in der Heide«, »Die kleine Mühle in der Heide«, und »Der kleine Weihnachtsmarkt in der Heide«.
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Originalausgabe März 2025
Copyright © der Originalausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Monia Pscherer
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung eines Motives von Udo Kruse / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-98952-998-4
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Julia Reymers
Die kleine Goldschmiede in der Heide
Roman
dotbooks.
Vor dem Busfenster zog eine zart lila schimmernde Heidelandschaft vorbei, die nur von vereinzelten Wacholderbüschen unterbrochen wurde. Ich lehnte meinen Kopf gegen die kühle Scheibe und umklammerte meinen bunt geringelten Rucksack fest mit beiden Händen. Das sieht wirklich bezaubernd aus. Wie auf einer Postkarte.
Während ich fasziniert hinausschaute, stieg ein dicker, fetter Kloß in meiner Kehle auf. Ich presste die Lippen aufeinander und versuchte, dagegen anzukämpfen. Doch es war zwecklos. Ausgerechnet jetzt kamen mir die Tränen. Sie hatten nicht einmal den Anstand, sachte anzuklopfen, sondern liefen direkt in Sturzbächen meine Wangen hinunter. Als hätten sie sich in den letzten Wochen und Monaten heimlich versammelt, um mich nun hinterrücks zu überfallen.
Warum jetzt?, fragte ich mich und bekam gleichzeitig Schluckauf.
Zum Glück saß ich alleine in dem Bus, der nun schon eine geschlagene Dreiviertelstunde lang durch die Walachei juckelte. Der einzige weitere Fahrgast, eine ältere Dame, war vor über 15 Minuten ausgestiegen.
Verstohlen tupfte ich mir mit dem Jackenärmel unter den Augen herum. Unter meinem Tränenschleier nahm ich verschwommen wahr, dass die Landstraße endete und ein Ortsschild in Sicht kam. Direkt dahinter eröffnete sich eine Kulisse, die man ohne Weiteres in einen Rosamunde-Pilcher-Film hätte stellen können: Ein schnuckeliges Fachwerkhäuschen reihte sich an das nächste, es gab ein uriges Gasthaus und eine nostalgisch anmutende Bäckerei. Nachdem der Bus eine Weile über ein holpriges Kopfsteinpflaster gefahren war, tauchte zu meiner Linken eine wunderschöne alte Backsteinkirche auf, die von großen Eichen und blühenden Staudenbeeten gesäumt wurde. Das Sonnenlicht fiel direkt auf die große goldene Uhr am Kirchturm. Verwundert stellte ich fest, dass die Zeiger auf fünf Minuten vor zwölf stehen geblieben waren. Hoffentlich kein schlechtes Omen. Während ich leise vor mich hin schluchzte, fuhr der Bus an einer Gärtnerei vorbei und an einem Verkaufshäuschen für Heidekartoffeln.
»Weißt du, was das Schöne an unseren Kartoffeln ist?«, hörte ich es plötzlich von vorne fragen.
Ich schreckte auf und bemerkte, dass der Busfahrer mich intensiv über seinen Rückspiegel hinweg anblickte.
»Na, bei den Heidekartoffeln kann man sich drauf verlassen, dass man bekommt, was draufsteht«, beantwortete er selbst seine Frage und streckte mir ein Taschentuch hin.
»Danke«, krächzte ich und nahm es entgegen, indem ich mich über die zwei Sitzreihen vor mir streckte.
»Die Dinger sind von der EU geschützt. Wenn Heidekartoffel draufsteht, muss Heidekartoffel drin sein. Da gibt’s keinen Schmu wie so oft im Leben.« Er bedachte mich mit einem undeutbaren Blick, während ich mir geräuschvoll die Nase putzte und zu keiner Antwort fähig war.
»Sag mal, wo willst du eigentlich hin?«, plapperte er weiter und richtete seine altmodische Cordmütze. »Wir können gerne noch dreimal um den Pott fahren, aber wenn du mir sagst, wo du aussteigst, geht’s schneller.«
Ich trompetete erneut ins Taschentuch und schaffte es gerade so, den Namen der Haltestelle zu sagen, ohne erneut in Tränen auszubrechen. Der Busfahrer nahm meine Antwort mit einem erstaunten Gesichtsausdruck zur Kenntnis, setzte den Blinker und gab Gas. Geistesgegenwärtig klammerte ich mich am Sitz fest, da ich bei dem rasanten Manöver beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.
Wir durchquerten ein Wohngebiet, sausten an einem hügeligen Feld mit einer Windmühle vorbei und kamen schließlich kurz vor dem Ortsende an einem verlassenen kleinen Wartehäuschen zum Stehen. Die Bustüren öffneten sich mit einem zischenden Geräusch.
»Na dann«, sagte der Fahrer und deutete hinaus. »Willkommen in Bienenbeek.«
»Danke«, stammelte ich, schulterte meinen Rucksack und stieg aus. Kaum hatten meine Füße den sandigen Heideboden berührt, schlossen sich hinter mir fauchend die Türen.
Der Busfahrer gab Gas und drückte zum Abschied so trötend laut auf die Hupe, dass ich erschrocken zur Seite sprang und beinahe in den Straßengraben gefallen wäre.
Meine Güte, Leo, dachte ich kopfschüttelnd und setzte mich auf wackligen Beinen in Bewegung.
Im Laufschritt eilte ich den holprigen Waldweg entlang und wich einem Schlagloch aus, das sich vor mir auftat. Obwohl die Äste der hohen Kiefern einen Großteil der Sonnenstrahlen schluckten, war ich schweißgebadet. Nachdem mich der Bus an dieser verlassenen Haltestelle ausgesetzt hatte, war ich erst mal zehn Minuten in die falsche Richtung gelaufen, umgekehrt und wieder zurückgesprintet. Nun war ich nicht nur erschöpft und durstig, sondern auch zu spät. Ich beschleunigte mein Tempo und blickte zwischendurch immer wieder auf mein Handy, um mich zu vergewissern, dass ich dem kleinen roten Pfeil in meiner Navigations-App dieses Mal auch wirklich folgte.
Als der Weg eine Kurve nahm und den Blick auf mein Ziel freigab, atmete ich erleichtert auf – und stutzte zugleich. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Ganz anders, um genau zu sein. Ich glich noch einmal die Adresse ab, die ich in mein Handy eingespeichert hatte. Doch wenn es in Bienenbeek nicht gerade zweimal dieselbe Straße mit derselben Hausnummer gab, dann bestand kein Zweifel: Vor mir lag die kleine Goldschmiede. Die kleine Goldschmiede, die händeringend einen Nachfolger suchte, wie ich vor ein paar Tagen über einen bewegenden Instagram-Post erfahren hatte.
Irritiert blickte ich an dem alten Fachwerkhaus hoch. Ich wusste nicht, was ich mir unter einer Goldschmiede in der Heide vorgestellt hatte – aber definitiv nicht das. Das Reetdach des Häuschens war grau und verwittert, der ehemals weiße Gartenzaun morsch und das Holzschild am Eingang mit der Aufschrift »Lothars kleine Schmiede« hing bedrohlich auf halb acht. Es sah aus, als wäre seit einigen Jahren keine Menschenseele mehr hier gewesen. Auch wenn auf dem moosbewachsenen Parkplatz links neben dem Grundstück ein Auto und zwei E-Bikes standen. Für einen kurzen Moment zog ich es in Erwägung, kehrtzumachen und nach Hause zurückzufahren. Andererseits – was hatte ich zu verlieren? Nicht mehr sehr viel, stellte ich schulterzuckend fest und ging auf die Schmiede zu. Gerade, als ich nach dem Knauf der Gartenpforte griff, wurde einige Meter vor mir die Haustür aufgerissen.
»Mien Deern, da bist du ja endlich!« Eine ältere Dame in einem grünen Twinset trat beherzt ins Freie.
Ich wich vor Schreck ein Stück zurück und zog dabei so heftig an der Pforte, dass sie krachend aus der Verankerung auf den Boden fiel. »Entschuldigung«, piepste ich und versuchte umständlich, sie wieder aufzurichten.
»Ach, nun lass das olle Ding doch.« Die Dame kam auf mich zu, packte mich am Arm und zog mich sanft, aber bestimmt hinter sich her. »Ich bin übrigens Christa«, stellte sie sich vor, als wir durch die abblätternde Holztür ins Innere der Schmiede gingen. Im schmalen Flur blieb sie stehen und richtete ihren Dutt, aus dem sich einige krause Haarsträhnen gelöst hatten.
»Leonie«, erwiderte ich verzögert und brauchte einen Moment, um mich an das schummrige Licht zu gewöhnen.
»Das habe ich mir gedacht.« Christa schaute mich prüfend an.
»Allerdings nennen mich alle nur Leo«, fügte ich ein wenig verunsichert hinzu.
Christa holte ein weißes Stofftaschentuch aus ihrer Hosentasche und tupfte mir damit ungefragt über die schweißnasse Stirn. Ich wollte protestieren, doch irgendetwas in mir ahnte bereits, dass man sich dieser Frau lieber nicht widersetzen sollte.
»Komm, die anderen warten schon auf dich.« Christa marschierte mit mir den Flur hinunter, wo sich eine Tür aus rustikalem Eichenholz befand. »Und mach nicht so ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter«, raunte sie mir zu, als ihre Finger nach der Klinke griffen und sie mit Schmackes hinunterdrückten.
Hinter der Tür schlug uns eine bunte Geräuschkulisse entgegen. Zu den Klängen eines Radios, das knisternd einen Schlager von Marianne Rosenberg spielte, gesellten sich aufgeregt durcheinanderplappernde Stimmen. In der Ecke des Raums entdeckte ich eine junge blonde Frau, die mit einem Staubwedel über eine Regalwand ging. Neben ihr befand sich ein grauhaariger Herr im Blaumann, der auf einen weiteren älteren Herrn einredete. Letzterer saß mit hochgelegtem Bein auf einem ausgeblichenen grünen Sofa und machte immer wieder Anstalten, aufzustehen.
»Lothar, ruhig Blut!«, schimpfte der Mann im Blaumann. »Du hast ’ne ärztliche Verordnung zum Nichtstun! Ich wiederhole: ’ne ärztliche Verordnung.«
»Papperlapapp«, protestierte der Herr auf dem Sofa. Er versuchte, sich hochzustemmen, wobei ihm die Hosenträger von den schmalen Schultern rutschten.
»Kinners!« Christa drehte das lärmende Radio aus. »Sie ist da.«
Schlagartig verstummten die Personen im Raum.
»Ähm, hi«, sagte ich, als sich drei neugierige Augenpaare auf mich richteten. »Ich bin Leonie.«
»Aber alle sagen nur Leo zu ihr«, fügte Christa hinzu.
Ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte sie mich nach rechts dirigiert, wo sich ein kleiner Esstisch befand. Christa deutete auf einen Stuhl aus Eichenholz – derselbe Farbton wie die Tür – und nickte. Ich nahm meinen Rucksack ab und setzte mich. Als ich meine Hände auf der Wachstischdecke ablegte, blieben meine Fingerspitzen daran kleben.
»Ach Lothar.« Christa griff seufzend nach einem Lappen und wischte damit über den Tisch. »Wenn ich gewusst hätte, wie es hier aussieht, hätte ich noch einmal durchgefeudelt.«
»Lothar kann keine Aufregung gebrauchen. Denk an sein Knie«, rief der Kerl im Blaumann und kam kopfschüttelnd näher. »Fritz«, stellte er sich vor und streckte mir die Hand entgegen. Er hatte einen äußerst kräftigen Händedruck.
Die blonde Frau ließ den Staubwedel hinter dem Sofa verschwinden und kam ebenfalls auf mich zu. »Wir kennen uns ja schon«, sagte sie lächelnd. »Ich bin Helena.«
»Oh, ja, natürlich. Ich liebe deinen Account«, redete ich aufgeregt drauflos, während Helena mich herzlich zur Begrüßung drückte. Vor einiger Zeit war ich zufällig auf ihre Instagram-Seite gestoßen. Dort postete Helena allerlei unterhaltsame Dinge über ihre Zeit als Heideblütenkönigin und den Biobauernhof, den sie gemeinsam mit ihrem Mann Tobias in Bienenbeek betrieb. Ihre authentische und humorvolle Art hatte mich sofort in den Bann gezogen.
»Du bist tatsächlich gekommen«, stellte Helena fest und schaute mich verträumt an, als müsste sie sich von meiner Existenz überzeugen.
»Es war eine kleine Weltreise aus St. Pauli«, erwiderte ich lachend. »Aber ja, ich bin da.«
»Du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich freue«, erlangte Helena ihre Fassung wieder und setzte sich mit Fritz zusammen an die andere Seite des Tisches. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich so schnell eine Antwort auf meinen Aufruf bekomme.«
»Ich war sofort Feuer und Flamme«, gab ich zu und dachte daran, wie ich an dem einsamen Abend in meiner WG das berührende Video angeklickt hatte. Darin schilderte Helena, dass die bezaubernde Goldschmiede dringend einen Nachfolger suchte, da ihr Besitzer sie aufgrund seiner Arthrose und einer kürzlich erfolgten Knie-OP nicht weiterführen konnte.
Ich hatte mir den Post gefühlt einhundert Mal angesehen, bis ich mir mitten in der Nacht einen Ruck gegeben und Helena geschrieben hatte. Direkt am nächsten Tag antwortete sie mir, ob wir uns treffen wollten. Und nun, zwei Tage später, saß ich tatsächlich hier. Mitten in diesem kleinen verschlafenen Heideörtchen.
Mitten in Bienenbeek.
»Von St. Pauli in die Heide, soso. Hört man auch nicht oft«, sagte Fritz, als ob er meine Gedanken lesen könnte. Dabei wanderten seine blauen Augen zu dem kleinen Anker, der an meinem linken Handgelenk eintätowiert war. Bevor ich etwas erwidern konnte, ließ uns ein schepperndes Geräusch vom anderen Ende des Raums aufschrecken.
»Lothar«, riefen Fritz und Helena mahnend.
»Alles unter Kontrolle«, grummelte dieser und angelte nach seinem Gehstock, der ihm bei seinem Aufstehversuch auf den Boden gefallen war. Christa, die sofort aufgesprungen und zu ihm geeilt war, scheuchte er mit einer unwirschen Handbewegung zur Seite. Hinkend und auf seinen Stock gestützt, kam er auf uns zu. Mit einem leisen Ächzen setzte er sich an meine Tischseite, wobei er demonstrativ einen Stuhl zwischen uns frei ließ.
»Lothar«, sagte er und nickte mir kurz zu, ehe er den Blick abwesend auf die gegenüberliegende Küchenzeile richtete.
»Sie sind der Besitzer der Schmiede«, schlussfolgerte ich.
»Du, mien Deern, du. In Bienenbeek duzt man sich«, belehrte mich Fritz, während Lothar nur wieder nickte und seine zittrigen Hände auf seiner abgewetzten Cordhose ablegte.
»Mensch, ihr sitzt ja alle auf dem Trockenen. Warum sagt denn keiner was.« Christa ging zu einem Weidenkorb, der in der Küche stand, und begann, hektisch darin herumzukramen.
»Erzähl uns gerne etwas über dich«, versuchte Helena derweil, den roten Faden des Gesprächs wieder aufzunehmen.
Ich räusperte mich. »Also, ich bin 31 Jahre alt, komme aus Hamburg und bin gelernte Goldschmiedin«, begann ich, meine vorab einstudierten Worte zum Besten zu geben.
»Das wissen wir doch bereits«, krähte Fritz und erntete dafür einen Knuff von Christa, die mit diversen Gläsern an unseren Tisch zurückkam.
»Ich habe für eine große Juwelierkette gearbeitet«, fuhr ich fort, während Christa auch noch Teller, Schüsseln, Besteck und Servietten aus dem Korb hervorzauberte. »Mein Spezialgebiet sind Ringe und filigrane Gravuren.« Bei dem Gedanken an die Arbeit begann mein Herz, aufgeregt zu pochen. Aufgeregt und sehnsüchtig.
»Hervorragend.« Fritz rieb sich freudig die Hände.
Christa sah ihn mit einem undeutbaren Blick an und reichte mir ein Glas Wasser.
»Und nun gefällt’s dir in dem Laden nicht mehr?«, hakte Lothar nach, während ich das Glas in großen Zügen leerte.
»Jein«, sagte ich zögerlich. Natürlich hatte ich geahnt, dass diese Frage kommen würde.
Vielleicht wäre besser, du erklärst es ihnen, meldete sich eine Stimme in meinem Kopf. Bevor es jemand herausfindet.
»Es … es ist nur so, dass ich gerne wieder richtig handwerklich tätig wäre«, wich ich aus. »Weg von den Maschinen und der Massenfertigung.« Halt suchend griff ich nach meinem Glas. »Ich wollte immer eine eigene Goldschmiede besitzen und individuelle Einzelstücke entwerfen.« Bei diesen Worten begann mein Herz, noch aufgeregter zu klopfen.
»Also Individuen hast du hier in Bienenbeek mehr als genug«, kommentierte Fritz.
Ich schielte in Lothars Richtung, doch der starrte weiter abwesend in die Gegend.
»Das klingt toll, Leo.« Helena lächelte mir aufmunternd zu. Ich versuchte, die Nervosität hinunterzuschlucken, die sich immer stärker in mir ausbreitete.
»Mien Deern, wie wäre es mit einem Honigmuffin?« Christa drückte mir ein großes, fluffiges Gebäckstück in die Hände. Es war mit Zuckerguss und einer kleinen Marzipanbiene verziert. »Die Biene steht für Bienenbeek«, erklärte Christa und löste ihren strengen Blick erst von mir, nachdem ich einmal in den Muffin gebissen hatte.
»Echt lecker«, nuschelte ich mit vollem Mund. Das Gebäck duftete nicht nur verführerisch nach Honig und Vanille – es schmeckte auch genauso himmlisch. Wenn es auch einen etwas scharfen Nachgeschmack hatte, wie ich verwundert feststellte.
»Wusstest du, dass Bienenbeek für seinen Heidehonig weltberühmt ist?«, plapperte Fritz drauflos, während ich den Rest vernaschte. »Ich war Imker und hatte sogar einen eigenen Marktstand, sodass mich alle nur Honig-Fritz genannt haben und –«
»Leo, hast du denn auf St. Pauli eigentlich irgendwelche Verpflichtungen?«, wurde er resolut von Christa unterbrochen. »Na, irgendeine Form von Anhang«, fügte sie hinzu, als ich sie verständnislos ansah.
»Ich bin Single, wenn du das meinst. Also kein Anhang. Und keine Verpflichtungen.« Ich zwinkerte ihr zu, wobei es kurz schmerzhaft in meiner Magengegend zog.
»Ich bin hier in Bienenbeek auch als Amor bekannt und habe schon so manch einsame Seele verkuppelt«, redete Fritz weiter.
»Nun hör auf mit dem Firlefanz!« Christa drückte ihm einen Muffin in die Hand.
»Leo«, übernahm Helena wieder. »Würdest du denn einfach so hierherziehen können?«
»Ja«, sagte ich freiheraus.
»Und wärst du einverstanden, in der Schmiede zu wohnen?«, hakte Helena ungläubig nach.
Mein Blick blieb an dem verstaubten Küchenregal hängen, in dem sich eine Menge alter Gewürzdosen, einige vergilbte Papiere und gehäkelte Topflappen stapelten. »Also …«, setzte ich zögerlich an.
»Du hättest natürlich deine eigene Wohnung im Dachgeschoss«, fügte Helena schnell hinzu.
»Wird auch vorher durchgefeudelt«, versprach Christa, die an ihrem Dutt herumzupfte.
»Ja, warum nicht.« Schlimmer als in meiner Zweck-WG kann es hier nicht sein, überlegte ich. Edgar, mein Mitbewohner, hatte nicht nur einen merkwürdigen Namen – er benahm sich auch so. Die Tatsache, dass er eine Sammelleidenschaft für Badeenten hatte und diese in unserem Miniaturbad auslebte, war noch eine der harmloseren.
»Vielleicht sollte Leonie sich erst mal meine Werkstatt ansehen.« Lothar griff nach seinem Gehstock, den er an den Stuhl gelehnt hatte, und stand mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. »Oder willst du hier Wurzeln schlagen?«, meckerte er, während er zur Tür humpelte und ich noch verdattert auf meinem Stuhl saß.
Mit den anderen folgte ich Lothar in den Flur, wo er vor einer unscheinbaren Tür links neben dem Eingang zum Stehen kam. Mit zittrigen Händen steckte er einen Messingschlüssel ins Schloss und drehte ihn mühsam herum.
Die Tür öffnete sich knarrend.
»Nicht alle auf einmal«, schimpfte Lothar, als wir uns zeitgleich durch den schmalen Durchgang drängen wollten. Christa, Helena und Fritz wichen zurück und ließen mir den Vortritt. Als ich die Schmiede betrat, schlug mir der typische Geruch von flüchtigem Spiritus, Öl und Metall entgegen – der Übergang in eine andere, tief vertraute Welt. Staunend sah ich mich in dem urigen Raum um, der von der warmen Sommersonne in ein goldenes Licht getaucht wurde. Lothars Werkstatt war bis in die letzte Ecke mit Kisten und Regalen vollgestellt. Für den Laien ein heilloses Durcheinander, war es für das geschulte Auge eine wahre Schatzgrube an Werkzeugen, Geräten und Materialien.
Auch die anderen schienen von der magischen Atmosphäre dieses Ortes gebannt zu sein. Das erste Mal seit meiner Ankunft sagte niemand ein Wort. Ehrfürchtig trat ich an das Werkbrett heran, wie man den Arbeitstisch eines Goldschmiedes nannte. Meine Finger fuhren über die Holzoberfläche, deren zahlreiche Einkerbungen und Kratzer von jahrzehntelanger Tätigkeit zeugten. Bis vor Kurzem musste hier noch fleißig gearbeitet worden sein. Jedenfalls entdeckte ich in dem muldenförmigen Fell, das als Auffanghilfe unter dem Holztisch angebracht war, noch etwas Feilspäne. Rechts davon lag eine aufgeschlagene Samtschatulle mit Musterringen, die zum Ermitteln der richtigen Ringgröße dienten. Im Gegensatz zu meiner ehemaligen Firma gab es bei Lothar keine ergonomisch verstellbaren Stühle und Tageslichtlampen, sondern bloß einfache Holzschemel und eine verbogene Metallleuchte.
»Die Goldschmiede wird seit drei Generationen von meiner Familie betrieben«, unterbrach Lothar das Schweigen. »Die Werkbank stammt von meinem Großvater.«
»Beeindruckend«, sagte ich, während mein Blick weiter über Lothars Werkzeuge wanderte, die sich im Gegensatz zu seiner Wohnung in einem tadellosen Zustand befanden.
»Vor über 40 Jahren, kurz nach meinem 30. Geburtstag, habe ich die Schmiede von meinem Vater übernommen«, erzählte Lothar mit heiserer Stimme. Auf seinen Stock gestützt, kam er langsam auf mich zu. »Im Jahr 1979. Damals gab es noch den Meisterzwang. Heute darf ja jeder Hans und Franz ein Geschäft aufmachen.«
Ich dachte daran, dass ich vor einer Weile mit dem Gedanken gespielt hatte, die Meisterprüfung abzulegen. Willst du dir das wirklich antun, hatte Ben gesagt. Du hast doch gerade so deine Ausbildung geschafft.
Meine Finger griffen nach der rauen Kante der Werkbank, als wollten sie sich daran festhalten.
»Wer hier anfangen möchte, braucht Fingerspitzengefühl«, riss Lothar mich aus meinen Gedanken. »Präzision …« Er trat näher, wobei sein Gehstock jedes seiner Worte wie mit einem Paukenschlag untermalte. »Geschick … und Geduld.« Er hustete. »Und zwar jede Menge davon«, fügte er etwas leiser hinzu, als er neben mir angekommen war.
Zwei Ringe aus Gold, die neben der Werkbank auf einem Tischchen lagen, erregten meine Aufmerksamkeit. Es wirkte, als wäre die Arbeit an ihnen jäh unterbrochen worden.
»Mein Vater hat immer gesagt, dass ein guter Goldschmied auch ein bisschen stur sein muss«, sagte Lothar.
Als ich von den Ringen aufblickte, bemerkte ich, dass er mir unverwandt in die Augen schaute.
»Er muss das Beste aus den Edelmetallen hervorholen. Immer und immer wieder muss er mit ihnen durch das Feuer gehen.« Hinter Lothars blauen Augen blitzte ein hellwacher Ausdruck auf. »Wer dazu nicht bereit ist, ist hier fehl am Platz.« Er musterte mich so eindringlich, dass ich seinem Blick nicht länger standhalten konnte. Ich starrte angestrengt auf den alten Dielenboden und suchte vergebens nach einer passenden Erwiderung.
»Was Lothar sagen will …«, unterbrach Helena die angespannte Stille, »seine Schmiede braucht jemanden, der mit Leib und Seele dabei ist.«
Während Lothar etwas Unverständliches vor sich hin brummte, mischte sich auch Christa ein. »Du musst wissen, Leo, das hier ist nicht nur eine Goldschmiede.« Ihre Augen begannen zu glänzen. »Lothars Schmuckstücke haben Ehen geschmiedet, Trauernde getröstet und alte Lieben neu entfacht.«
»Wir Bienenbeeker gehen seit Generationen hierher.« Fritz legte liebevoll den Arm um seine Frau. »Vor über 50 Jahren habe ich Christas Verlobungsring von Lothars Vater anfertigen lassen.«
Wie zum Beweis hielt Christa ihre linke Hand hoch, an der ein wunderschöner Ring funkelte. Er war etwas zerkratzt und das Silber ermattet, aber diese Patina tat seiner Eleganz keinen Abbruch. Als ich sah, mit wie viel Liebe Christa das Schmuckstück betrachtete, breitete sich eine Gänsehaut auf meinen Armen aus.
»Und als wir letztes Jahr goldene Hochzeit gefeiert haben, da hat Fritz mir einen neuen Ring geschenkt.« Christa streckte mir stolz ihren anderen Ringfinger entgegen, an dem sie einen Goldring mit einem Brillanten trug.
»Ein Meisterstück«, sagte ich nach einem prüfenden Blick. Lothar hatte den kleinen Brillanten mit bemerkenswerter Präzision in die Fassung eingearbeitet.
»In Bienenbeek gibt es keine Hochzeit ohne Lothar.« Helena drehte gedankenverloren an ihrem Ehering. »Aber seit er gestürzt ist, geht hier gar nichts mehr. Und die Arthrose in seinen Fingern tut ihr Übriges.«
»Papperlapapp«, grummelte Lothar, doch sein Widerstand wirkte nur halbherzig.
»Nun redet nicht um den heißen Brei herum«, rief Fritz aufgeregt. »Wenn Lothar niemanden findet, der die ganze Chose hier übernimmt, müssen wir den Laden dichtmachen!«
»Das wäre eine Katastrophe.« Helena schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Zumal so kurz vor –«
»Das geht einfach nicht«, unterbrach Christa sie hastig.
Während sich erneut Schweigen über den Raum legte, wanderte meine Aufmerksamkeit zu den Ringen, die erwartungsvoll auf dem Tisch lagen. Ich konnte nicht widerstehen und strich mit den Fingerspitzen über die unbearbeiteten Kanten.
Und da spürte ich es wieder. Dieses unaufhaltsame innere Kribbeln. Den unbändigen Drang, nach Feile und Poliergerät zu greifen und loszulegen. Die Sehnsucht nach dem Zischen der Flamme, dem schmelzenden Gold und dem einzigartigen Geruch, der danach in der Luft schwebte. Es war viel zu lange her, dass ich an einer Werkbank gesessen hatte. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie sehr ich es in den letzten Wochen vermisst hatte.
»Leo, was meinst du?«, hörte ich Helena vorsichtig fragen.
Ich blickte von den Rohlingen auf und blinzelte, als wäre ich aus einem Tagtraum erwacht. »Es … es ist wunderschön hier«, sagte ich leise und spürte, wie ein Ruck durch meinen Körper ging. »Die Ausstattung ist super, und wenn man ein bisschen aufräumt, ließe sich einiges aus dem Raum machen.« Mit weit geöffneten Armen drehte ich mich um die eigene Achse. »In der Ecke könnte man einen kleinen Tisch für Kundengespräche aufstellen, und daneben würde ich in einer Vitrine besondere Schmuckstücke in Szene setzen …«, sprudelten auf einmal ungefiltert die Ideen aus mir heraus. Ich verstummte abrupt, als ich Lothars versteinerte Miene bemerkte.
»Mien Deern, ich weiß nicht, ob Helena dir das schon gesagt hat«, meldete sich Fritz zu Wort. »Aber die Schmiede ist nur unter gewissen Bedingungen zu übernehmen.«
»Und die wären?«, fragte ich zögerlich. Meine Kehle fühlte sich plötzlich staubtrocken an. Bestimmt würde jetzt ein Argument kommen, das meinen Traum zerplatzen ließ wie eine Seifenblase.
»Du musst zunächst eine vierwöchige Probezeit absolvieren«, erklärte Fritz. »In dieser Zeit arbeitest du Lothars liegen gebliebene Aufträge ab. Danach entscheidet er, ob er die Schmiede guten Gewissens in deine Hände geben kann. Sie würde vorerst auch nicht zum Verkauf stehen, sondern verpachtet werden.«
»Aber das …«, erwiderte ich ungläubig. »Das ist doch super.« Erleichterung durchflutete mich. So würde ich kein Risiko eingehen und alles in Ruhe ausprobieren können. Und das Problem, dass ich kein Eigenkapital für eine Immobilie besaß, war dadurch auch aus der Welt geräumt.
»Am besten wäre es, wenn du nächste Woche anfängst«, verkündete Fritz freiheraus.
»Nächste Woche?«, echote ich erstaunt. Das war zwar wirklich kurzfristig, aber je früher ich dem Elend in meiner WG entkommen konnte, desto besser. »Kein Problem«, hörte ich mich selbst sagen.
»Wir meinen das übrigens wörtlich«, fügte Fritz mit Nachdruck hinzu, während ich mein Glück immer noch kaum fassen konnte. »Du nimmst dich jeden Auftrags an. Egal wie groß oder klein er sein mag. Denn du musst wissen, es ist kurz vor … Au!« Empört sah er zu Christa, die ihm auf den Fuß getreten war.
»Klar«, erwiderte ich verstrahlt. »Klar mache ich das. Das ist alles gar kein Problem.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Lothars Augenbrauen sich misstrauisch hoben.
Auch Helena zuckte kurz kaum merklich zusammen. »Also bist du einverstanden?«, hakte sie nach.
Ich nickte.
Helena, Fritz und Christa tauschten ungläubige Blicke.
»Mien Deern, was für eine Freude«, rief Christa schließlich. »Darauf sollten wir anstoßen.« Sie huschte zur Tür und winkte die anderen hindurch. Ich verließ die Werkstatt als Letzte, direkt hinter dem humpelnden Lothar.
»Ich mache das«, bot ich ihm an, als er sich umständlich mit dem Gehstock abstützte, um die Tür abzuschließen.
Er reichte mir wortlos den Schlüssel und drehte sich um.
Da das Schloss etwas klemmte, musste ich die Tür an mich heranziehen, um den Schlüssel bewegen zu können. Als meine Finger sich von der Klinke lösten und ich sie im Zwielicht des Flures betrachtete, meinte ich, etwas Goldstaub an ihnen zu erkennen.
»Ich hätt meinen rechten Zeh drauf verwettet, dass du wiederkommst.« Über den Rückspiegel sah ich, wie sich die Augenbrauen des Busfahrers amüsiert hoben. »Gleiches Ziel wie letztes Mal?«
Ich blinzelte gegen die helle Morgensonne an. »Gleiches Ziel.«
Während der Bus in einer halsbrecherischen Geschwindigkeit die Landstraße hinunterraste und sich dem Ortsschild von Bienenbeek näherte, wurde mir bewusst, dass es nun kein Zurück mehr gab. Bist du eigentlich wahnsinnig, Leo? Mir wurde heiß und kalt zugleich, und mein Herz schlug aufgeregte Purzelbäume. Nervös presste ich meinen Rucksack an mich, in dem sich nur ein paar Klamotten und eine kleine Kiste mit persönlichen Gegenständen befanden. Helena hatte mir versichert, dass die Wohnung möbliert war und die Landfrauen mir jede Menge Geschirr, Handtücher und Bettlaken zur Verfügung stellen würden. Mein WG-Zimmer hatte ich problemlos an eine Austauschstudentin untervermieten können – endlich mal ein Vorteil des angespannten Hamburger Wohnungsmarktes. Allerdings bedeutete das auch, dass ich wirklich die nächsten vier Wochen in Bienenbeek bleiben musste. Außer ich zog es in Erwägung, zurück zu meinen Eltern zu ziehen. Aber so schlimm konnte es in diesem kleinen Heidedörfchen gar nicht sein.
Der Busfahrer verlangsamte sein Tempo und bog in das Wohngebiet ab, durch das wir auch letztes Mal gefahren waren. Ich erkannte die schnuckelige Gärtnerei und das Verkaufshäuschen für Heidekartoffeln wieder. Viel zu schnell erreichten wir die Haltestelle am Waldrand.
»Na dann«, sagte der Busfahrer, als ich ausstieg. »Hals- und Beinbruch.«
»Hals- und Beinbruch«, wiederholte ich leise und winkte ihm zum Abschied, ehe er wendete und davondüste. Dann setzte ich mich langsam mit meinem Gepäck in Bewegung.
Nachdem ich auf die Klingel gedrückt hatte, dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis sich die Haustür öffnete.
»Bist ja sogar pünktlich«, sagte Lothar anstelle einer Begrüßung und tippte ungeduldig mit der Spitze seines Gehstocks auf die alten Eichendielen.
»Dieses Mal habe ich mich auch nicht verlaufen«, erwiderte ich und stellte meinen Rucksack im Flur ab.
»Komm mit.« Lothar hinkte zu seiner Wohnungstür, die halb offen stand. Im Flur roch es nach Bratkartoffeln, wie früher bei meiner Oma. Ich folgte Lothar in sein Wohnzimmer, wo er sich umständlich am Esstisch niederließ. Mit einer Handbewegung fegte er einen Stapel alter Zeitungen zur Seite, unter dem eine kleine Schachtel zum Vorschein kam.
Unschlüssig blieb ich stehen und sah zu, wie seine zittrigen Finger mühselig darin herumtasteten.
»Wer sagt’s denn«, krächzte Lothar nach einer Weile und reichte mir zwei Schlüssel. »Für die Wohnung und die Werkstatt.«
»Ich freue mich sehr, dass es geklappt hat«, sagte ich ein wenig unsicher, als ich sie entgegennahm. »Danke für dein Vertrauen.«
Meine Befürchtung, dass Lothar ein Arbeitszeugnis von mir sehen wollte, hatte sich zum Glück nicht bewahrheitet. Er hatte nicht einmal nach meinem Ausweis gefragt. Du hast mehr Glück als Verstand, meldete sich eine quälende Stimme in meinem Kopf.
Lothar justierte seine Hosenträger, drehte den Kopf zu mir und betrachtete mich eine Weile schweigend. »Als ich die Schmiede von meinem Vater übernommen habe, hat er mir eine Sache mit auf den Weg gegeben.« Er angelte nach seinem Gehstock. »Mach, was du willst, hat er gesagt. Aber bleib dir dabei immer selbst treu, mien Jung.« Lothar richtete sich ächzend auf, ignorierte meine zur Hilfe hingestreckte Hand und bewegte sich zum Sofa. »Daran habe ich mich immer gehalten.« Kraftlos sank er in den grünen Samtkissen nieder. »Das Auftragsbuch liegt unter der Werkbank.«
»Aber –«, wollte ich zu einer Frage ansetzen.
»An deiner Stelle würde ich keine Zeit verlieren.« Lothar deutete zur Tür.
»O-Okay«, stammelte ich überrumpelt.
»Und noch etwas …«, fügte er hinzu, als ich mich zum Gehen wandte.
»Ja?« Ich blieb im Türrahmen stehen.
»Lass dich von den Bienenbeekern nicht verrückt machen.«
»Ich doch nicht«, erwiderte ich und ging hinaus.
Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, hörte ich Lothars kehliges Lachen.
Als ich die knarrende Treppe ins Dachgeschoss erklommen und die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, war ich positiv überrascht. Die Wohnung war klein, aber mit ihren alten Eichendielen und den sichtbaren Deckenbalken urgemütlich. Neugierig inspizierte ich nacheinander die Räume. Direkt neben dem Eingang befand sich eine schnuckelige Küche im Landhausstil mit einer großzügigen Eckbank, gefolgt von einem kleinen Wohnzimmer. Das Badezimmer am Ende des Flurs war etwas in die Jahre gekommen, aber sauber und gepflegt. Wie es aussah, hatte Christa ihr Versprechen eingehalten und die ganze Wohnung »durchgefeudelt«, wie sie so schön gesagt hatte. Jedenfalls konnte ich nicht ein Staubkörnchen entdecken, auch nicht im Schlafzimmer, in dem sich ein antik aussehendes Bauernbett und ein dazu passender Schrank mit wunderschönen Verzierungen befanden. Ich beschloss, schnell meine Sachen auszupacken und dann in die Werkstatt zu gehen.
Fröhlich summend holte ich die Kleidung aus meinem Rucksack und warf sie auf das Bett. Fürs Aufhängen ist später noch Zeit, dachte ich und wusste dabei genau, dass meine bunten T-Shirts wahrscheinlich bis zum Ende meines Aufenthalts auf irgendwelchen Möbeln herumliegen würden. Meine chaotische Ader hatte Ben oft zur Weißglut gebracht. Doch sosehr ich mich bemüht hatte – ich würde nie einer dieser Menschen werden, die ihre Bleistifte nach Größe ordneten und benutztes Geschirr sofort wegräumten. Bei dem Gedanken an Ben verstreute ich meine Kleidungsstücke aus einem plötzlichen Trotzgefühl heraus überall im Raum, sodass er nach kürzester Zeit in den buntesten Farben leuchtete. Zu meinem Hang für Chaos gesellte sich die Liebe zu knalligen Farben. Vor allem bei Kleidung war mein Motto: je bunter, desto besser. Das Leben war oft schon trist genug, um im Alltag auch noch ständig Blau oder Schwarz zu tragen.
Während ich meine wenigen Kosmetikartikel aus dem Rucksack hervorkramte und versuchte, meine störrischen braunen Haare mit einem Zopfband zu bändigen, klopfte jemand gegen die Wohnungstür. »Ist offen«, rief ich.
»Tatsache, sie ist da«, hörte ich kurz darauf Fritz’ Stimme.
Ich lugte aus dem Schlafzimmer in den Flur, wo mir Christa entgegenstürmte.
»Leo, mien Deern!« Sie drückte mich so herzlich, als würden wir uns seit Ewigkeiten kennen. Wie letztes Mal trug sie ein grünes Twinset und hatte ihre krausen Haare zu einem Dutt hochgebunden.
»Willkommen bei uns Heidjern!« Fritz klopfte mir derart beherzt auf die Schulter, dass ich beinahe in die Knie gegangen wäre.
»Danke«, brachte ich hervor, während er einen Schraubenzieher und eine kleine Wasserwaage aus seinem Blaumann hervorzauberte.
»Muss hier mal eben was richten.« Er begann, geschäftig an der Garderobe aus Eichenholz herumzuschrauben, die etwas schief in ihrer Verankerung hing.
Christa führte mich unterdessen in die Küche. »Hab ein wenig vorgesorgt.« Sie zog die Kühlschranktür auf, die ich bislang noch nicht geöffnet hatte. »Die Buchweizentorte musst du unbedingt probieren. Eine echte Spezialität aus der Heide.«
»Aber Christa, wer soll das denn alles essen?«, staunte ich beim Anblick der großen Torte sowie der unzähligen Tupperschalen, Salatschüsselchen, Saftflaschen, Milchkartons und der Auswahl an Obst, Käse und Aufschnitt.
»Na, du.« Christa bedachte mich mit einem kritischen Blick. »An dir ist ja gar nichts mehr dran, mien Deern.«
Ich blickte an mir hinunter. Tatsächlich, meine Shorts saßen ein wenig locker auf meinen Hüften. Seit der Trennung musste ich zwei, drei Kilo verloren haben. Schnell versuchte ich, an etwas anderes zu denken. Seit meiner überraschenden Heulattacke im Bus war ich mir selbst nicht mehr geheuer. Während ich mich gerührt bei Christa für das Essen bedankte, huschte sie zurück in den Flur.
»Das hätte ich jetzt fast vergessen«, sagte sie, als sie wiederkam und mir einen gigantischen Stapel apricotfarbener Handtücher in die Arme drückte, wovon ein Teil direkt zu Boden segelte. »Und Bettwäsche«, fügte sie hinzu, nachdem sie noch einmal in den Flur gelaufen war.
Von der Garderobe aus hörte man ein unterdrücktes Fluchen.
Christa rollte mit den Augen. »Fritz kann es einfach nicht lassen, sein handwerkliches Unwesen zu treiben. Wenn es nach mir ginge, hätte er ja schon längst damit aufgehört.«
Es polterte laut, als ob etwas zu Boden gefallen wäre.
Christa blickte auf ihre Uhr. »Leo, ich würde wirklich gerne weiter mit dir schnacken. Aber morgen findet der Tortenkongress statt, da muss ich noch einiges vorbereiten. Außerdem soll ich auf Lenes Kinder aufpassen, und Helga wollte auch noch irgendetwas von mir …« Sie schnappte nach Luft.
»Tortenkongress?«, fragte ich interessiert.
»Von uns Landfrauen«, antwortete Christa, als sei damit alles gesagt.
Ehe ich sie nach weiteren Details fragen konnte, war sie schon hinausgestürmt. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, tauchte Fritz in der Küche auf.
»Oh, was hast du denn da Leckeres?« Neugierig ging er zum Kühlschrank, der immer noch offen stand, und nahm sich ein Sandwich heraus. In Sekundenschnelle entfernte er die Frischhaltefolie und biss hinein.
»Sag mal, Leo, hast du ’ne Minute?«, nuschelte er mit vollem Mund.
»Klar«, antwortete ich und schloss den Kühlschrank, der empört zu piepen begonnen hatte.
Fritz blickte sich um, wie um sich zu vergewissern, dass niemand uns belauschte.
»Christa sagt ja, dass ich nicht immer mit der Tür ins Haus fallen soll. Aber wenn ich jedes Mal auf sie hören würde, kämen wir ja nicht weit.«
»Worum geht es?«, hakte ich nach, doch Fritz aß erst in aller Seelenruhe sein Sandwich auf, ehe er fortfuhr.
»Na, um das Großereignis.«
»Welches Großereignis?«
»Na, mien Deern, über das alle Welt spricht.«
Ich runzelte die Stirn, denn ich verstand nur Bahnhof.
»Hat sich das etwa nicht bis zu euch in die Stadt rumgesprochen?« Fritz sah mich an, als wäre ich eine Außerirdische – was ich ja irgendwie auch war.
»Nein, Fritz, leider nicht«, gab ich ratlos zurück.
»Mensch, wir feiern dieses Jahr großes Jubiläum. Bienenbeek wird 850 Jahre alt!« Fritz klatschte so laut in die Hände, dass ich erschrocken zurückwich. »Früher hieß es ja immer 11-7-3 – Bienenbeek springt aus dem Ei.«
»Heißt das nicht schlüpft aus dem Ei?«, erinnerte ich mich an die Eselsbrücke aus dem Geschichtsunterricht. »Und war damit nicht Rom gemeint?«
»Aber unser Dorfchronist hat gerade noch rechtzeitig herausgefunden, dass Bienenbeek doch im Jahre 1174 nach Christus gegründet wurde«, ignorierte Fritz meinen Einwand. »Stell dir vor, wir hätten beinahe zu früh gefeiert! Das wäre eine Blamage geworden …«
»Fritz, darf ich fragen, was ich damit zu tun habe?«, ging ich dazwischen, aber das schien bei Fritz zwecklos zu sein.
»Weißt du, Leo, man hat eine Urkunde gefunden, die ganz eindeutig belegt, dass Bienenbeek im Jahre 1174 an einer Senke gegründet wurde. ›Beek‹ kommt nämlich von Bach, wusstest du das?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Jedenfalls wird es ein großes Fest anlässlich dieses sagenhaften Jubiläums geben«, rief Fritz voller Freude. »Um genau zu sein, schon in vier Wochen.« Er machte eine Pause. »Und exakt hier kommst du ins Spiel.«
»Ich?«, fragte ich überrascht.
»Ja, genau du. Oder siehst du hier noch jemanden?« Fritz kniff die Augen zusammen und sah mich ernst an.
»Ähm, nein«, gab ich ihm recht.
»Ach, weißt du was, Leo …« Fritz nahm sich ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Leitungswasser. »Bevor ich mir hier den Mund fusselig rede, komm einfach morgen zur Sitzung.«
»Was für eine Sitzung?«, fragte ich verwirrt.
»Na, die vom Festkomitee.«
»Fritz, darf ich fragen, was –«
»17 Uhr. Im Dorfgemeinschaftshaus. Eigentlich bin ich ja Mitglied im Technikkomitee, aber ich darf morgen als Gast einen Vorschlag einbringen und …«
»Fritz«, unterbrach ich ihn, doch Fritz setzte das Glas an die Lippen, leerte es in großen Zügen und stieß ein erfrischtes »Aaah« aus.
»Mien Deern, ich muss weiter. Die fleißigen Bienchen warten schon auf mich.« Er hob die Hand zum Abschied, stapfte in den Flur und sammelte sein Werkzeug auf.
»Fleißige Bienchen?«, echote ich.
»Wir sehen uns morgen!« Ehe ich noch etwas sagen konnte, war er schon die Treppe hinuntergelaufen.
An der Wand, wo sich ehemals die Garderobe befunden hatte, klaffte nun ein großes Loch. Seufzend ging ich zurück in die Küche und beschloss, mir erst mal etwas Nervennahrung zu genehmigen.
»Himmlisch«, sagte ich mit vollem Mund und schob noch etwas von der Buchweizentorte auf meine Gabel. Das ist wirklich das Leckerste, was ich seit Langem gegessen habe.
Obwohl ich mir eigentlich vorgenommen hatte, direkt in die Werkstatt zu gehen, war ich nach Fritz’ überstürztem Abgang in der Küche hängen geblieben und hatte eine ausgiebige Mittagspause eingelegt. Urplötzlich packte mich nämlich ein solcher Hunger, dass ich mich wie die Raupe Nimmersatt durch ein belegtes Brötchen, eine Schale Nudelsalat, ein paar Möhrchen und nun auch fast durch das ganze Stück Buchweizentorte futterte. Wenn das so weiterging, war nicht nur mein Vorrat bald aufgebraucht, sondern die verlorenen Pfunde auch direkt wieder auf meinen Hüften.
Ich probierte noch einen Schluck von dem fruchtigen Apfelsaft von Helenas Hof, ehe ich mit vollem Bauch aufstand und fröhlich vor mich hin summend das benutzte Geschirr in die Spüle stellte. Als ich nach dem Schwamm greifen wollte, ließ mich ein lautes Rumpeln über mir zusammenschrecken. Verdutzt spitzte ich die Ohren. Das Geräusch schien vom Dach zu kommen. Hoffentlich kein Marder, dachte ich ängstlich. Eine Bekannte von mir hatte deswegen wochenlang nachts kein Auge zugetan.
Kurz darauf polterte es erneut. Ich ging zu dem kleinen Dachfenster über dem Esstisch und öffnete es, um hinauszuschauen. Just in dem Moment, wo das Fenster nach oben schnellte, hörte ich von draußen einen spitzen Schrei. Erschrocken streckte ich meinen Kopf hinaus und erblickte einen Mann in dunkelgrünem T-Shirt und Arbeitshose. In der linken Hand hielt er ein Werkzeug aus Metall. Mit der anderen drückte er sich gegen die Stirn, die ich anscheinend voll mit dem Fenster getroffen hatte.
»Oje«, rief ich. »Ist Ihnen etwas passiert?«
Der Mann ließ die Hand sinken. »Wonach sieht es aus?«, pampte er mich mit schmerzverzerrtem Gesicht an.
»Es tut mir total leid, ich wusste ja nicht, dass Sie da oben sind …«, stammelte ich. Man konnte förmlich dabei zusehen, wie sich auf seiner Stirn eine dicke, fette Beule bildete. »Was machen Sie da eigentlich?«, fügte ich hinzu, da er nichts mehr sagte.
»Wonach sieht’s aus?«, grummelte er und richtete sich stöhnend auf, sodass er sich mit dem Rücken gegen das Reetdach lehnen konnte.
»Sie reparieren hier etwas«, mutmaßte ich, als ich bemerkte, dass neben dem Fenster etwas Reet fehlte.
»Und was machst du hier?«, stellte er die Gegenfrage.
»Wonach sieht es aus?«, konterte ich.
Der Kerl, den ich auf etwa Mitte 30 schätzte, musterte mich eine Weile ausdruckslos und tippte gegen sein Kinn, an dem sich ein Dreitagebart abzeichnete. »Keine Ahnung.«
»Ich bin Leo«, stellte ich mich vor und streckte meine Hand aus dem Dachfenster.
»Ole.« Er fuhr sich durch das blonde, verwuschelte Haar, statt einzuschlagen.
Verunsichert ließ ich meine Hand wieder sinken. »Ich bin gerade in die Dachgeschosswohnung eingezogen.«
Seine blauen Augen weiteten sich vor Überraschung.
»Ich arbeite ein paar Wochen zur Probe hier«, hatte ich das Bedürfnis, mich zu erklären. »Ich bin Goldschmiedin.«
Ole entglitten für einen Moment die Gesichtszüge, ehe er wieder so unbeteiligt dreinschaute wie zuvor. Ein unangenehmes Schweigen entstand zwischen uns.
»Gut«, sagte ich schließlich. »Dann lasse ich Sie mal weitermachen.« Gerade, als ich das Fenster schließen wollte, nuschelte er etwas vor sich hin.
»Wie bitte?« Ich streckte meinen Kopf wieder hinaus.
»In Bienenbeek duzt man sich«, wiederholte er eine Spur deutlicher.
»Oh, ja, natürlich.« Kommentarlos schloss ich das Fenster. Was für ein merkwürdiger Kerl. Ich griff kopfschüttelnd nach meinem Schlüssel. Besser, ich begab mich nun wirklich schleunigst in die Werkstatt.
Verzweifelt wühlte ich in einer der Kisten herum, die sich unter Lothars Werkbank befanden. »Irgendwo hier muss es doch sein«, murmelte ich. Meine Finger tasteten sich im schummrigen Licht durch diverse Papiere, Rechnungen und Belege – bis sie endlich einen festen Einband zu fassen bekamen. »Ha!«, rief ich triumphierend und zog ein in rotes Leder gebundenes Buch hervor. Das muss es sein.
Als ich die erste Seite aufschlug und das Datum entzifferte, das dort in winzig kleiner Handschrift geschrieben stand, staunte ich nicht schlecht. 25. Mai 1979, Eheringe für Waltraud und Heinrich, 900er Gold, las ich. Fasziniert blätterte ich weiter. Lothar hatte in diesem Buch lückenlos alle Aufträge notiert, die er seit 1979 erhalten hatte. Das ist fast genau 45 Jahre her, überschlug ich im Kopf. Wenn er damals 30 Jahre alt war, musste er heute 75 sein. Während ich Seite um Seite überflog, zogen vor meinem inneren Auge die zahlreichen Schmuckstücke vorbei, die Lothar in dieser Werkstatt angefertigt haben musste.
Erst im Juni dieses Jahres, einige Wochen vor meiner Ankunft, stoppten die Einträge abrupt. Lothars Handschrift, die jahrelang akkurat die feinen Linien des Papiers ausgefüllt hatte, war schon auf den vorherigen Seiten zunehmend undeutlicher geworden. Die letzten Einträge waren beinahe unleserlich. Und noch etwas fiel mir auf. Lothar hatte stets einen großen Haken hinter jeden vollendeten Auftrag gesetzt. Dieses Zeichen fehlte allerdings auf den letzten beiden Seiten. Schnell fuhr ich mit dem Finger an der Liste entlang. Es handelte sich um über ein Dutzend Aufträge. Ich schluckte. Bei den meisten musste es sich nur um kleinere Reparaturen handeln. Aber der letzte Auftrag war rot umrandet und mit einem Ausrufezeichen versehen. Ring, entzifferte ich mit einiger Mühe die zittrige Handschrift.
Ich muss dringend mit Lothar sprechen, nahm ich mir vor. Er konnte doch nicht einfach annehmen, dass ich mit diesen wenigen Informationen so mir nichts, dir nichts seine Arbeit fortsetzte?
Während ich noch einmal ein paar Seiten vor- und zurückblätterte, drang durch das gekippte Fenster Hufeisengeklapper zu mir herein. Ich hob den Kopf und sah, dass sich eine wunderschöne, schwarz lackierte Kutsche mit zwei Friesen näherte. Der Kutscher brachte die Pferde vor der Goldschmiede zum Stehen und stieg mit seiner Begleitung, einer zierlichen blonden Frau, vom Kutschbock. Die beiden winkten fröhlich in Richtung Dach und schienen dort jemandem etwas zuzurufen. Kurz darauf tauchte Ole vor der Kutsche auf und begrüßte die Neuankömmlinge herzlich. Mit etwas Sicherheitsabstand stellte er sich neben die Pferde und hielt sie an den Fahrleinen fest. Wenig später klopfte es an der Haustür.
Die wollen bestimmt zu Lothar, dachte ich und räumte ein paar Sachen von der Werkbank zur Seite. Selbst für Chaosqueens wie mich herrschte hier drinnen etwas zu viel Unordnung. Das Klopfen wurde lauter. Wahrscheinlich brauchte Lothar Ewigkeiten, bis er mit seinem Gehstock das Wohnzimmer verlassen hatte. Ich stieg über die Kisten auf dem Boden und lief zum Eingang.
»Hallo«, sagte ich, nachdem ich die Tür geöffnet hatte und mir zwei verdutzte Gesichter entgegenblickten.
»Hi. Ist Lothar da?« Der Kutscher richtete seine graue Schiebermütze.
»Bestimmt hat er euch nicht gehört. Einen Moment.« Ich hastete zu Lothars Tür und klopfte laut dagegen. Eine gefühlte Ewigkeit später wurde sie einen Spaltbreit aufgezogen, und Lothar lugte hinaus.
»Da ist jemand für dich«, sagte ich.
Er blickte an mir vorbei. »Nein. Das ist deine Kundschaft, Leo.« Sein rechtes Auge zuckte nervös, ehe er sich umdrehte und die Wohnungstür abrupt ins Schloss fiel.
»Geht es um einen Auftrag?«, fragte ich, als ich mich kurz gesammelt hatte und zurück nach vorne gegangen war.
»Ja«, sagte die Frau kryptisch und zupfte an ihrem geblümten, farbenfrohen T-Shirt herum. Wie ihre Begleitung musterte sie mich verunsichert.
»Kommt herein«, sagte ich betont fröhlich und deutete auf die Tür zur Werkstatt, die halb offen stand.
Die beiden folgten mir und blieben mitten im Raum stehen.
»Ach du meine Güte, ich habe mich gar nicht vorgestellt.« Ich schlug mir mit der flachen Hand an die Stirn. »Entschuldigt. Ich bin Leonie, die neue Goldschmiedin. Aber nennt mich bitte einfach Leo.«
»Sophie«, erwiderte die junge Frau lächelnd und gab mir die Hand. Ich war erstaunt, was sie für einen kräftigen Händedruck hatte. »Und das ist mein Verlobter Sebastian«, fügte sie hinzu und deutete auf den Kutscher, der mir ebenfalls die Hand schüttelte. Mit seinen blonden Haaren und dem kecken Ausdruck um seine Augen erinnerte er mich ein bisschen an Michel aus Lönneberga.
»Was ist denn mit Lothar?« Sophie betrachtete verwirrt die überall im Raum herumstehenden Kisten.
Ich erklärte den beiden, dass ich Lothar für die nächsten vier Wochen vertreten und, wenn alles gut ging, eines Tages die Schmiede übernehmen würde.
»Wieso hat er uns denn nichts davon gesagt?« Sophie sah plötzlich ziemlich blass um die Nase aus.
Sebastian hob ratlos die Schultern. »Vielleicht wollte er nicht, dass sich das vorher herumspricht. Du weißt, die Bienenbeeker Ohren hören alles.«
Sophie seufzte. »Allerdings.«
»Wie kann ich euch denn helfen?«, fragte ich, um von der unangenehmen Situation abzulenken.
»Wir wollten unsere Eheringe von Lothar anfertigen lassen.« Man konnte die Angst, die in Sophies Stimme mitklang, nicht überhören. »Unsere Hochzeit ist nämlich schon in einigen Wochen.« Sie verschränkte die Arme vor ihrem schmalen Oberkörper und sog angespannt die Luft ein.
»Ist das dein Verlobungsring?«, wollte ich wissen, als ich an ihrer linken Hand einen zierlichen Silberring wahrnahm.
»Ja.« Sie streckte ihn mir stolz entgegen. »Hat Sebastian extra für mich anfertigen lassen.«
»Wirklich schön«, hauchte ich. Die Oberfläche besaß eine leichte Patina, die einen tollen Kontrast zu dem zarten Brillanten bildete, der passgenau in seine Fassung eingearbeitet worden war. »Du arbeitest mit deinen Händen«, stellte ich fest. Sophies Finger und ihre Handgelenke waren schmal, aber ihre Sehnen sahen kräftig aus, und an ihrem rechten Daumen entdeckte ich eine kleine Schwiele.
Sie nickte. »Ich bin Gärtnerin.«
»Wie spannend.« Ich zog zwei Holzschemel heran, die neben der Werkbank standen, und schob ein paar Kisten zur Seite. »Setzt euch gerne.«
»Eigentlich hat Lothar schon mit unseren Ringen angefangen«, meinte Sebastian, nachdem er Platz genommen hatte. »Er wollte sich melden, wenn sie zur Anprobe bereit sind. Aber wir haben nichts mehr von ihm gehört. Deswegen sind wir heute hierhergefahren.«
Ich tippte mit dem Finger an meine Lippen und überlegte kurz. Dann drehte ich mich zu dem kleinen Holztischchen um, das sich neben der Werkbank befand. »Kann es sein, dass es diese hier sind?« Zwischen den Poliergeräten und Feilen lagen die zwei Rohlinge, die mir schon bei meinem ersten Besuch aufgefallen waren. Bestimmt war das der Auftrag, den Lothar in seinem Buch so auffällig rot umrandet hatte. Kein Wunder, eine Hochzeit ist schließlich eine wichtige Sache.
Sophie beugte sich nach vorne. »Das kommt hin«, meinte sie, wobei sich ihre Stirn in Falten legte.
»Keine Sorge«, beruhigte ich sie. »Die sind noch unbearbeitet, deswegen wirkt das Gold so matt.«
»Aha«, sagte Sophie und klang dabei nicht recht überzeugt.
»Ich verstehe natürlich, dass ihr jetzt verunsichert seid«, versuchte ich einzulenken. »Das wäre ich an eurer Stelle auch. Aber ich würde mich freuen, wenn ihr mir Vertrauen entgegenbringt und ich eure Ringe weiterschmieden darf.«
Sophie stupste ihren Verlobten an. »Was meinst du, Sebastian?«
»Klar«, antwortete er sofort freiheraus. Er schien der Gelassenere von den beiden zu sein.
Während mir das zukünftige Brautpaar detailliert beschrieb, wie es sich die Ringe vorstellte – sie sollten elegant, aber alltagstauglich sein und sowohl zur zierlichen Sophie als auch zu dem kräftig gebauten Sebastian passen – nahm ich draußen vor dem Fenster eine Bewegung wahr. Neben Ole, der immer noch bei den Pferden wartete, war eine weitere Person aufgetaucht. Lothar, stellte ich verwundert fest.
Ole redete auf Lothar ein und zeigte dabei nach oben, wo sich meine Wohnung befand. Er schüttelte den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften. Lothar hörte sich das Ganze regungslos an und wog nur ab und zu den Kopf hin und her. Als ich die beiden so nebeneinander sah, fiel mir auf, was ich vorhin schon gedacht hatte: Ole war Lothar wie aus dem Gesicht geschnitten. Ist er sein Sohn?, überlegte ich.
»Leo?«, fragte Sophie.
Ich riss den Kopf herum und räusperte mich verlegen.
»Bis wann könntest du die Ringe fertigstellen?«, hakte sie nach.
»Wenn ich mich beeile, in ein paar Tagen. Ich schlage vor, dass wir für nächste Woche einen Anprobetermin ausmachen?« Verstohlen schielte ich noch einmal nach draußen. Lothar war verschwunden, und Ole stand mit hängenden Schultern neben den Friesen, als lastete plötzlich ein schweres Gewicht auf ihm.
Nachdem ich mich schließlich von Sophie und Sebastian verabschiedet hatte, blieb ich noch eine Weile am Fenster stehen. Gedankenverloren sah ich den beiden hinterher, wie sie Hand in Hand zur Kutsche schlenderten und Sebastian seiner Verlobten einen Kuss auf die Wange gab.
Ben hatte Händchenhalten immer für Teeniekram gehalten.
Ich schluckte gegen den Kloß in meiner Kehle an und griff entschlossen nach den Eheringen. Lothar hatte recht. Ich sollte keine Zeit verlieren.
»Dorfgemeinschaftshaus« stand an der Backsteinwand des reetgedeckten Fachwerkhäuschens. Außer Atem steuerte ich auf den Eingang zu, der von zahlreichen Pflanzkübeln mit blühender Heide umgeben war. Natürlich war ich mal wieder zu spät dran. Erst hatte ich den Fußweg von gut drei Kilometern Länge deutlich unterschätzt, und dann war ich eine Weile in die falsche Himmelsrichtung gelaufen. Mein Orientierungssinn war einfach, nun ja, ausbaufähig.
Eilig ging ich den Flur hinunter, der mit diesen unverwüstlichen rotbraunen Fliesen ausgestattet war, die man gerne in öffentlichen Gebäuden verwendete. Vom Ende des Ganges, wo sich ein grüner Zugluftvorhang befand, hallte mir ein dröhnendes Stimmengewirr entgegen. Was zum Teufel erwartet mich da drinnen? Schlagartig legte sich ein flattriges Gefühl über meine Magengegend. Am liebsten wäre ich in der Schmiede geblieben, um dort weiter an Sophies und Sebastians Ringen zu arbeiten. Aber da ich es Fritz versprochen hatte und in meiner Probezeit einen guten Eindruck machen wollte, hatte ich natürlich keine Sekunde lang ernsthaft überlegt, diesen Termin abzusagen. Also atmete ich noch einmal tief durch und zog den schweren Vorhang zur Seite.
»Hallo«, sagte ich, als ich plötzlich in einem weitläufigen Saal mit vertäfelter Decke stand. Verdutzt sah ich mich um.
Wider Erwarten befand sich in diesem Raum keine große Gesellschaft, sondern lediglich sechs Männer. Vier davon saßen an einem Konferenztisch und waren derart in eine hitzige Diskussion vertieft, dass niemand von mir Notiz nahm. Am Kopfende des Tisches entdeckte ich Fritz, der auf einer Leiter stand und laut vor sich hin schimpfte. Neben ihm war ein junger, hochgewachsener Mann damit beschäftigt, diverse Kabel in einen Laptop zu stöpseln.