Die kleine Pension am Meer - Sofia Caspari - E-Book
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Die kleine Pension am Meer E-Book

Sofia Caspari

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Beschreibung

Jule braucht dringend Abstand vom Alltag und beschließt, mit ihrem Sohn Johan auf die Insel Krk zu reisen. Jule ist alleinerziehend; ihr Sohn hat über seinen Vater Ivan kroatische Wurzeln. Als sie im Internet nach einer Unterkunft sucht, entdeckt sie eine zauberhafte Pension - und erkennt überrascht, dass diese Ivans Eltern gehört. Mit klopfenden Herzen bricht sie nach Krk auf, um Ivans Familie zu treffen, die nichts von Johan weiß. Und dann kommt alles ganz anders als erwartet ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumPrologErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelVierundzwanzigstes KapitelFünfundzwanzigstes KapitelSechsundzwanzigstes KapitelSiebenundzwanzigstes KapitelAchtundzwanzigstes KapitelNeunundzwanzigstes KapitelDreißigstes KapitelEinunddreißigstes KapitelZweiunddreißigstes Kapitel

Über dieses Buch

Jule braucht dringend Abstand vom Alltag und beschließt, mit ihrem Sohn Johan auf die Insel Krk zu reisen. Jule ist alleinerziehend; ihr Sohn hat über seinen Vater Ivan kroatische Wurzeln. Als sie im Internet nach einer Unterkunft sucht, entdeckt sie eine zauberhafte Pension – und erkennt überrascht, dass diese Ivans Eltern gehört. Mit klopfenden Herzen bricht sie nach Krk auf, um Ivans Familie zu treffen, die nichts von Johan weiß. Und dann kommt alles ganz anders als erwartet …

Über die Autorin

Sofia Caspari, geboren 1972, hat schon mehrere Reisen nach Mittel- und Südamerika unternommen. Dort lebt auch ein Teil ihrer Verwandtschaft. Längere Zeit verbrachte sie in Argentinien, einem Land, dessen Menschen, Landschaften und Geschichte sie tief beeindruckt haben. Heute lebt sie – nach Stationen in Irland und Frankreich – mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Söhnen in einem Dorf im Nahetal.

S O F I A  C A S P A R I

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe:

Dieses Werk wurde vermittelt durch

die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Marion Labonte, Labontext

Titelillustration: © adehoidar/shutterstock,

adehoidar/shutterstock, Kite_rin/shutterstock

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-7817-7

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Durch das Rauschen des Wassers hindurch hörte Jule das schrille Kreischen ihres Kindes. Fast kam es ihr so vor, als habe sich ihr Körper bereits schmerzhaft angespannt, noch bevor der kleine Johan zu schreien begann. So wie jede Nacht, wenn sie die ersten leichten Bewegungen des drei Monate alten Säuglings in seinem Bettchen neben ihrem wahrnahm, gefolgt von dem leisen Quäken, das jedem Gebrüll vorausging.

Jules Herz hämmerte schneller, während sie aus der Duschkabine sprang und sich fluchend den Bademantel über den klatschnassen Körper streifte. Keine Zeit, sich abzutrocknen. Sie zog die Kapuze über das triefende Haar und wischte sich rasch mit einem Ärmel über das Gesicht. Im Flur glitt sie auf dem Laminat aus, konnte sich aber gerade noch auf den Beinen halten. Als sie die Schlafzimmertür aufriss, erblickte sie schon von der Tür aus Johans rudernde Ärmchen.

Das Baby hatte das Mulltuch zur Seite gestrampelt, mit dem Jule es ganz leicht gepuckt hatte, damit er sich nicht selbst wach zappelte. Vergebens. Sein Mund war viereckig, und er schrie so laut und schrill, dass es die Nachbarn ganz sicher hörten. Sie beugte sich über sein Bettchen, die Anspannung raubte ihr für einen Moment den Atem. Jede Bewegung tat ihr inzwischen weh, fast so, als ob ihr das Schreien ihres Kindes körperliche Schmerzen verursachte. Niemand hatte ihr gesagt, wie laut so ein kleines Kind schreien konnte. Der Lärm eines Düsenjets war nichts dagegen.

War dieses Geschrei überhaupt normal? Jule wollte, dass es aufhörte. Sie hielt das nicht mehr aus.

Drei Monate Johan.

Drei Monate Liebe.

Drei Monate … Sie konnte nicht sagen, was. Drei Monate, in denen sich ihr Leben von Grund auf geändert hatte: Ivan und sie waren jetzt Eltern.

»Johan«, rief sie, »Johan.«

Als könnte ich ihn damit beruhigen.

Im Gegenteil. Er ruderte. Er schrie. Sein Körper vibrierte, jeder Muskel schien angespannt. Wahrscheinlich hörte er sie gar nicht.

Jule beugte sich tiefer über ihr Kind. Zu rasch, denn der Schmerz schoss jetzt über ihren verspannten Nacken hinauf in den Kopf und ließ die Kopfhaut unangenehm kribbeln.

Kopfschmerzen, bloß nicht.

Jule zwang sich, ihren Sohn anzulächeln – er sollte doch sehen, dass alles in Ordnung war –, schob eine Hand unter seinen schmalen Babyrücken, hob ihn hoch und drückte ihn an sich. Johans Körper war angespannt, aber er wandte sich ihr nun zu. Sein Kopf wackelte auf ihr Dekolleté zu. Jules Gedanken begannen zu kreisen: Hätte ich das Duschen nicht besser auf morgen verschoben? Wenn ich schneller oder zumindest früher geduscht hätte, wäre das nicht passiert.

Aber sie hatte ja erst die Nachricht einer Freundin beantworten müssen.

Behutsam lagerte sie Johan gegen ihre Schulter, der, wenn auch leiser, immer noch schrie.

War es eigentlich schlecht, wenn er aufwachte und ein paar Minuten für sich allein weinte? Jule hatte dazu unterschiedliche Meinungen gehört. Manche waren überzeugt, dass es einem Baby zutiefst schade, andere betonten, eine Mutter müsse auch an sich denken, und nur eine glückliche Mutter könne eine gute Mutter sein. Jule seufzte. Wie sie es auch drehte und wendete – es gab unendlich viel Raum für Fehler, und Elternforen waren in diesem Fall einfach die Hölle.

Johan ließ sich immer noch nicht beruhigen. Jule wanderte mit dem weinenden Bündel aus dem Schlafzimmer in den Flur, in die Küche und wieder zurück, von dort ins Wohnzimmer. Die feuchten Fasern des Bademantels klebten mit jedem Schritt an ihrem Körper, während sie unbeirrt für ihr Kind summte und ihm dabei sanft über das Köpfchen strich.

Wirkungslos.

Ihre Kopfhaut kribbelte stärker. In der Wohnung über ihr rumpelte es, und mit diesem Geräusch begannen von einem Moment auf den anderen die Tränen über Jules Wangen zu laufen. Morgen würden sich die Nachbarn wieder beschweren. Ruhig und vernünftig würden sie ihr sagen, dass das so nicht weiterging, dass das nicht normal war, dass sie früh zur Arbeit mussten und ihren Schlaf brauchten.

Jule schloss die Augen. Glauben die, ich will, dass mein Kind schreit? Sie küsste Johans weichen Haarflaum.

Die Ausdauer und Entschlossenheit, mit der er heute schrie, überraschte sie. Was wollte er? Was störte ihn so sehr? Jule hörte kein Gefühl aus dem Schreien ihres kleinen Sohnes heraus. Er hatte keinen Hunger, er zeigte keine Empörung. Sie hörte nur, dass er schrie, und dieses Schreien schnürte ihr den Magen immer fester zusammen.

»Hast du schon wieder Hunger, mein kleiner Vielfraß?«, versuchte sie es trotzdem, versuchte sich vorzugaukeln, dass sie Einfluss nehmen konnte.

Die eigene Stimme klang fremd, angespannt, seltsam monoton. Jule hörte die furchtbare Erschöpfung darin. Verdammt, wo blieb Ivan, Johans Vater, ihr Partner? Er hätte schon längst von seiner Dienstreise zurück sein müssen, zu der er vor drei Tagen aufgebrochen war.

Ich brauche ihn. Jetzt. Ich schaffe das alles nicht.

Die Tränen rannen lautlos über ihre Wangen.

Jule ging ins Wohnzimmer, setzte sich auf das Sofa, bettete den schreienden Johan in ihren Arm und zog den Bademantel zur Seite. Auch an der Brust schrie Johan dieses Mal noch kurz weiter, bevor er schmatzend zu trinken begann.

Hatte er doch Hunger gehabt? Dieses Kind war wirklich unersättlich, ein Milchvampir. Manchmal fühlte es sich an, als würde er sie aussaugen. Wie lange hatte er jetzt eigentlich geschlafen? Sicher nicht mehr als eine halbe, höchstens eine Dreiviertelstunde. Beim Gedanken daran, dass der Säugling jetzt wieder stundenlang wach sein würde, sackte Jule mutlos in sich zusammen. Sie hatte immer gedacht, dass Babys viel mehr schliefen, als sie wach waren. Und Letzteres keinesfalls mehr als zwei Stunden am Stück. Aber da hatte sie sich geirrt, bei Johan war das definitiv anders. Er blieb lange wach und hasste es, dabei abgelegt zu werden. Stundenlang war er auf ihrem Arm und guckte. Spätestens abends schrie er. Erfahrene Mütter sagten, dass das Baby auf diese Art und Weise die Eindrücke des Tages verarbeitete. Außerdem sei es nur eine Phase. Nur eine Phase, das war das Elternmantra. Offensichtlich hatte Johan viel zu verarbeiten, auch an Tagen, an denen eigentlich wenig passierte.

Und ich werde das auf Dauer nicht aushalten.

Manchmal wollte sie an solchen Tagen selbst nur noch schreien. Manchmal wollte sie die Tür hinter sich zumachen und vor allem wegrennen. Manchmal machten diese Gedanken ihr Angst.

Will ich mein Kind wirklich verlassen? Nein, natürlich will ich das nicht. Oder?

Jule wischte sich mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht und betrachtete ihren kleinen Sohn. Johan trank zu gierig. Wahrscheinlich würde er sie anschließend wieder vollspucken, oder er bekam Bauchschmerzen oder beides. Er trank immer zu hastig. Sie konnte ihn einfach nicht davon abbringen. Ivan hatte einmal gesagt, es sei ihre Schuld, sie sei einfach zu angespannt. Sie hatte ihn angeschrien, und daraufhin war er gegangen. Hatte sich mit seinen Kumpels getroffen. Bis du dich wieder beruhigt hast, hatte in seiner SMS gestanden.

»Du bist so verdammt kühl«, hatte sie in Richtung Tür gebrüllt, aber da war er schon längst weg gewesen.

Sie hasste es, wie er sich dieses Recht einfach herausnahm. Sie konnte nur hoffen, dass sie sich bald beide daran gewöhnten, Eltern zu sein. Wenn sie heute an die Zeit vor drei Monaten zurückdachte, überraschte es sie immer noch, wie sehr Johans Geburt ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte. Alles hatte sich verändert. Niemals zuvor in den bald sechsundzwanzig Jahren ihres Lebens hatte sie solche Müdigkeit, solche Hilflosigkeit, solches Glück und solche Liebe zugleich erfahren. Und sie hätte nie gedacht, dass man sich so sehr nach einer ruhigen, ungestörten, heißen Dusche sehnen konnte, oder danach, alleine durch einen Supermarkt zu schlendern, um alltägliche Dinge wie Milch und Obst zu kaufen, ohne durch die Bedürfnisse eines kleinen Kindes unterbrochen zu werden.

Es war jetzt einundzwanzig Uhr. Johan trank, dämmerte in den Schlaf hinüber, aus dem er sich Sekunden später jedoch selbst emporriss und seine Mutter mit großen Augen anstarrte, bevor er wieder zu saugen begann. Jule hasste plötzlich, wie ihr Bademantel wieder einmal verrutscht war und den Blick auf die letzten Reste ihres Schwangerschaftsbauchs freigab, wie ihre nassen Haare sich in ihrem Nacken wie ein seltsames verklebtes Vogelnest anfühlten und sie zu allem Übel auch noch zu schwitzen begann.

»Du könntest ein bisschen mehr auf dich achten«, hatte Ivan kürzlich gesagt, und sie war in Tränen ausgebrochen.

Mit dem Baby an der Brust stand sie auf und ging in die Küche.

Gut, dass mich so keiner sieht.

Sie goss mit einer Hand Milch in ein leeres Glas auf der Anrichte, setzte sich an den Küchentisch, auf dem noch die Reste vom Frühstück standen – eine halbe Tasse kalter Kaffee, Müsli, das in der Schüssel zu einer beigen Pampe verklebt war, ein paar Obstreste und eine große Packung Schokokekse. Wie eine komplette Anfängerin hatte sie gedacht, sie könne schnell die Küche aufräumen und dann auch noch duschen, bevor Johan wieder aufwachte. Sie hatte sich geirrt.

Ihr Magen knurrte. Jule leerte das Glas, griff nach einer Banane und zermatschte deren Ansatz bei dem Versuch, sie einhändig zu schälen. Sie schaute auf Johan hinunter, der immer noch an ihrer Brust trank, und nahm mit seinem süßen Geruch die Erinnerung an den ersten Moment mit ihm tief in sich wahr. Auch ihr Bademantel roch nach ihm, nach Baby, nach Milch, leicht säuerlich, aber nicht unangenehm.

Wieder spürte sie die Tränen kommen. Das war diese Überforderung, die ständig zwischen den wunderbaren Momenten lauerte, ganz besonders nach einem langen Tag alleine. Und nun sogar mehreren. Es war das erste Mal seit Johans Geburt, dass Ivan so lange weg war, und seine Abwesenheit hatte, so hatte Jule sich eingestehen müssen, noch etwas anderes aufgewühlt: die Angst, verlassen zu werden. Von ihm. So wie damals, mit achtzehn, kaum drei Monate, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Hals über Kopf hatte Jule sich in diesen sagenhaft gut aussehenden Gleichaltrigen mit den kroatischen Wurzeln verliebt und einen wunderbaren Sommer verlebt, in dem es für sie nur Ivan gegeben hatte. Bis er eines Tages einfach verschwunden war. Für sie unauffindbar. Er sei aufgebrochen, um Europa zu bereisen, hatte sein Vater ihr knapp beschieden, mehr wisse er auch nicht. Auch seinen Bruder, der in jenem Sommer aus Kroatien zu Besuch gewesen war, hatte sie seitdem nicht gesehen. Jule hatte damals lange gebraucht, um über die Enttäuschung hinwegzukommen, und war mehr als überrascht gewesen, als Ivan vor fast zwei Jahren plötzlich wieder vor ihrer Tür gestanden hatte. Er sei als Künstler durch die Welt gereist und nun für ein Projekt wieder in der Stadt, hatte er gesagt. Mehr als das aber hatte sie ihre eigene Reaktion auf ihn irritiert: Ungeachtet ihrer Wut und ihrer Enttäuschung über sein Verschwinden hatte sie sich von der ersten Sekunde an zu ihm hingezogen gefühlt. Und hatte dem Gefühl schließlich nachgegeben. Im Verlauf der ersten Monate hatte er ihr mehr als einmal versichert, nicht noch einmal abzuhauen, doch Jule hatte recht bald Veränderungen bemerkt. Er war tagsüber seltener zu Hause – angeblich brachte er interessierten Damen das Malen bei –, war häufiger abends weg, hörte ihr nicht richtig zu. Und dann hatte sie gemerkt, dass sie schwanger war. Es war für sie beide zunächst ein Schock gewesen, aber im Verlauf der Zeit hatte zumindest Jule sich an den Gedanken gewöhnt. Bei Ivan war sie sich aller Beteuerungen zum Trotz bis zum Schluss nicht ganz sicher gewesen.

Wo bleibt er nur? Ich brauche eine Pause.

Hastig schob Jule sich den Rest der Banane in den Mund, bevor auch diese Frucht noch braun und unansehnlich wurde, wie das Obst von heute morgen. Wieder blickte sie zu Johan und bemerkte erleichtert, dass er eingeschlafen war. Sein Mund hatte die Brustwarze verloren und war leicht geöffnet, die Augenlider waren geschlossen. Er wirkte entspannt. Jule lächelte, sie sah ihm gerne beim Schlafen zu. Vorsichtig zog sie den Bademantel über ihren nackten Busen. Würde er jetzt länger schlafen? Er hatte gut getrunken, aber das hatte ja nichts zu bedeuten.

Sie dachte daran, wie sie vorhin vorsichtig in die Küche geschlichen war, eine Nachricht an ihre beste Freundin Fenja geschrieben hatte, um sich dann zu entscheiden, das Aufräumen zu verschieben und doch endlich duschen zu gehen. Auf Zehenspitzen und mit wild pochendem Herzen war sie durch den Flur ins Bad geschlichen. Immer noch Stille, obgleich die Diele im Flur geknarrt hatte, die Johan sonst verlässlich aufweckte.

Vorsichtig hatte sie den Lichtschalter betätigt, das Badlicht war weiß-kalt aufgeflammt, und Jule hatte ihr Gesicht im Spiegel gemustert. Augenringe, strähniges Haar, und doch war da auch etwas anderes in ihrem Blick, das sich nicht leugnen ließ: Glück. Ja, es war auch ein Glück, Johan zu haben. Und trotzdem war es anspruchsvoller, ein kleines Kind zu betreuen, als sie sich das je vorgestellt hatte.

Das hat mich überrascht. Kinderlos war ich die perfekte Mutter. Aber so ein Kind schlief nicht unbedingt, wenn man das wollte, es trank auch nicht, wenn man gerade Zeit hatte, es war manchmal stundenlang wach und wollte sich doch nicht ablegen lassen, sodass man wie ein Raubtier durch die Wohnung lief mit einem Bündel im Arm, das entschieden hatte, nur dort Ruhe zu finden.

Ich muss Ivan sagen, dass ich es ohne ihn nicht schaffe, erinnerte sie sich und wischte ihre klebrigen Bananenfinger am Bademantel ab. Er muss wissen, dass ich ihn brauche.

Vorsichtig ließ sie ihre Hand zu der Stelle an der Hüfte wandern, mit der sie bei ihrem Sprung aus der engen Duschkabine gegen die Tür gerumpelt war. Es tat ein bisschen weh. Morgen hatte sie dort bestimmt den nächsten blauen Fleck.

Sie schaute wieder auf den schlafenden Johan herunter.

Ich muss glücklich sein, glücklich und entspannt für das Baby … Und tatsächlich verschaffte ihr die Erinnerung daran Erleichterung, sich immerhin gerade noch das Shampoo aus den Haaren gewaschen zu haben, bevor Johan zu schreien begann. Sogar das neutrale Duschmittel, das einzige, das ihn nicht unruhig machte, hatte sie von ihrem Körper spülen können.

Jule reckte ihren Arm zur Tasse auf dem Tisch und trank den Rest kalten Kaffee. Ohne Kaffee überstand sie den Tag mittlerweile nicht mehr.

Dann überprüfte sie ihr Handy, das sie auf stumm geschaltet hatte.

Immer noch keine Nachricht von Ivan.

Sie selbst hatte mehrfach versucht, ihn anzurufen, aber immer nur die Mailbox erreicht. Verdammt, wann kam er endlich nach Hause? Eigentlich hatte er sich doch schon am Nachmittag bei ihr melden wollen. Kurz stellte Jule sich vor, wie er ihr nach seiner Rückkehr von dem Kunstevent erzählen würde, das er besucht hatte, und sie sich ein wenig wie eine normale Erwachsene fühlen würde, die Erwachsenengespräche führte.

Heute Mittag hatte sie zum wiederholten Male bedauert, der Reise überhaupt zugestimmt zu haben. Aber es half ja auch nichts, wenn sie beide zu Hause saßen und sich die Decke auf den Kopf fallen ließen. Ivan hielt das noch schlechter aus als sie, und irgendwann würde alles sicher wieder besser werden: Kinder wurden größer, man bekam sein altes Leben zurück …

Jule rückte den Bademantel zurecht, stand auf und begann, leise und vorsichtig mit dem schlafenden Kind auf dem Arm die Küche aufzuräumen. Ihr Handgelenk schmerzte. Sie ignorierte es. Nach einem Blick in den Kühlschrank beschloss sie, Ivan per Whatsapp-Nachricht zu bitten, Sushi zum Abendessen mitzubringen.

Ja, Sushi würde diesen Tag definitiv verschönern.

Seit der Geburt hatte sie geradezu unglaubliche Lust auf Sushi, auf das sie während der Schwangerschaft verzichtet hatte. Sie hatte es einfach nicht gewagt, rohen Fisch zu essen wegen der Gefahr eines Befalls mit den hochgefährlichen Listerien. Zum wiederholten Male fragte sie sich, ob Japanerinnen während der Schwangerschaft wohl auch auf Sushi verzichteten? Das konnte sie sich kaum vorstellen.

Und natürlich hatte neben rohem Fisch noch viel mehr auf der Verbotsliste gestanden: Rohmilchkäse durfte es nicht sein, und auch kein rohes Fleisch. Salat und Gemüse und Obst mussten akribisch gewaschen werden, wobei auch nicht einfach so jede Obst- und Gemüsesorte verspeist werden durfte. Wenn man nur lange genug suchte, barg jede Speise ein potenzielles Problem.

Und leider konnte man all diese Vorschriften nicht mehr vergessen, wenn man einmal von ihrer Existenz erfahren hatte.

Heutzutage konnte man ja auch auf keinerlei Erfahrungen mehr zurückgreifen. Sie war die erste Schwangere in ihrem Umfeld, niemand konnte ihr Ratschläge aus der Praxis erteilen. Ihre Mutter wohnte weit weg, erinnerte sich nicht oder antwortete standardmäßig: So etwas gab es bei uns nicht. Was blieb einem also übrig, als sich doch nach dem zu richten, was die Experten oder Ratgeber sagten? Jule war froh gewesen, zumindest im Vorbereitungskurs einige Fragen stellen zu können.

Nach dem Küchentisch räumte Jule die Arbeitsplatte auf, wischte, so gut es mit Johan auf dem Arm ging, erst feucht und dann trocken darüber. Geschafft. Sie empfand ein Gefühl tiefer Zufriedenheit. Ihr Blick fiel auf das Babyphone, das auch jetzt wieder ungenutzt herumstand. Bei der Nachsorge hatte eine Mutter erzählt, ihr Kind habe so lange geschlafen, dass sie befürchtet hatte, es sei tot. Sie hatte es mehrfach aufgeweckt beim Versuch, seine Atmung zu ertasten.

Mit Johan passiert mir das nie.

Jule beschloss, ihre Haare doch noch rasch zu kämmen. Sie legte Johan vorsichtig auf das warme Fell unter den Spielbogen und rannte zurück ins Bad. Natürlich brüllte er sofort los. Jule kämmte sich hastig, knotete den Gürtel ihres Bademantels neu und war in weniger als einer Minute wieder bei ihrem Kind. Zu spät. So fühlte es sich jedenfalls an. Johans Mund brüllte viereckig, seine Ärmchen ruderten, von oben pochten die Nachbarn gegen den Boden.

Seufzend nahm Jule Johan in die Arme. Dieses Mal klang er empört, obgleich er noch nichts von Empörung wusste. Sie bot ihm die Brust. Er drehte den Kopf weg. Hilflos versuchte sie es weiter, während gleichzeitig ein Gefühl von Wut in ihr hochkroch, das sie mühevoll unter Kontrolle hielt. Bitte, Johan, bitte! Weitere Minuten vergingen voller Gebrüll. Dieses Mal weinte sie nicht – sie hatte schon zu viele Tränen vergossen –, aber es waren Minuten wie die Ewigkeit. Als er die Brust endlich wieder akzeptierte, unterdrückte sie einen Schmerzensschrei, so fest begann er zu saugen. Sie hielt vor Schmerzen die Luft an, dann hatte er endlich die richtige Position gefunden. Schmatzte.

Jule nahm die Fernbedienung vom Tisch und lehnte sich zurück. Es kam ihr nicht nur so vor, als habe sie schon ganze Tage auf diese Weise verbracht. Johan saugte und schluckte und sah sie dabei an, bis ihm die Augen zufielen. Sie schaltete den Fernseher an, landete bei einer CSI-Folge.

Johan öffnete die Augen, und es kam ihr vor, als mustere er sie, als wolle er sichergehen, dass sie ihn nicht wieder ablegte. Sie lächelte ihm zu. Er trank mit großen ernsthaften Schlucken. Wieder fielen seine Augen zu, wieder öffnete er sie. Irgendwann schlief er ein.

Im Fernsehen hatte die nächste CSI-Folge angefangen. Für Zuschauer unter sechzehn Jahren nicht geeignet. Ein junges Pärchen tauchte auf, und sie wusste bereits jetzt, dass am Ende dieser Szene einer von beiden tot sein würde oder vielleicht auch beide …

Als Jule aufwachte, war das Wohnzimmer nur noch vom Flimmern des Fernsehers erhellt. Johan hatte ihre Brustwarze freigegeben und schlief mit offenem Mund. Jule schob den Bademantel über der Brust zusammen und schaltete den Fernseher aus.

Dann horchte sie in die Stille hinein. War sie etwa immer noch allein? Verdammt, Ivan! Sie zog das Handy aus der Tasche ihres Bademantels. Ein entgangener Anruf. Sie hatte so tief geschlafen, dass sie das Brummen gar nicht mitbekommen hatte.

Ivan hatte sie um dreiundzwanzig Uhr angerufen. Jetzt war es fünf Uhr morgens, und er war immer noch nicht hier! Jule drängte die Angst beiseite, dass er gar nicht mehr auftauchen würde und gab mit zitternden Fingern seine Nummer ein. Wartete. Sie war verdammt wütend, und sie hatte nicht die Absicht, Rücksicht zu nehmen. Es war ihr egal, wie spät oder früh es war und ob er schlief oder nicht.

»Ivan.«

Seine Stimme klang erstaunlich wach für die Uhrzeit. Dabei war er eigentlich ein Langschläfer.

»Wo bist du denn?«, fragte sie ohne Umschweife.

»Wer ist denn da?« Kurze, irritierte Pause, dann: »Jule, bist du das? Wie klingst du denn?«

»Klar bin ich das.« Hatte er ihre Nummer denn nicht gesehen? Er schaute doch sonst immer nach, wer ihn anrief. Eine Eigenschaft, die sie immer als nervig empfunden hatte. Manchmal nahm er das Gespräch dann nämlich auch nicht an. Kein Bock, hatte er einmal auf ihre Nachfrage geantwortet. Und sie hatte sich bei dem Verdacht ertappt, dass er das manchmal auch bei ihr tat. Vielleicht hatte er ja manchmal einfach keinen Bock, mit der hysterischen Mutter seines Kindes zu sprechen? Aber vielleicht war das auch einfach gehässig. Er war ein guter Vater. Anfangs hatte er Johan viel herumgetragen, in letzter Zeit jedoch immer seltener. Ivan hatte den Eindruck, dass Johan nicht herumgetragen werden wollte. Jedenfalls nicht von ihm. Natürlich musste er auch erst in seine Aufgaben als Vater hineinwachsen. Und vielleicht fiel ihm das einfach sehr schwer. Für sie war es ja auch nicht leicht. Erstlingsmutter zu sein war gewiss die größte Veränderung, die man durchlaufen konnte.

»Wo bist du denn?«, fragte sie noch einmal.

»Warum klingst du so komisch?«, gab er zurück.

»Wieso komisch?«

Das konnte er wirklich gut, ihr den Eindruck suggerieren, dass sie irgendwie komisch rüberkam, dass ihre Stimme falsch klang oder vorwurfsvoll, dass sie mit Johans Geburt einfach eine andere geworden war und dass sie sich dringend bemühen sollte, wieder die alte Jule zu werden, damit alles gut werden konnte.

Vielleicht bin ich aber auch immer so gewesen, dachte sie bitter, zickig und hysterisch.

»Ich war mit Freunden unterwegs«, sagte er.

Vorwurf … Sie fühlte sich schlecht.

Anfangs, kurz nach der Geburt, war sie zufrieden damit gewesen, zu Hause zu sein. Inzwischen sehnte sie sich danach, ihre Wohnung öfter zu verlassen. Aber das war schwierig mit Johan. Er mochte zu viel Lautstärke nicht. Oder zu viel Bewegung um ihn herum. Im Moment war es draußen noch so warm, dass sie mit ihm auch am Abend unterwegs sein konnte, wenn weniger Trubel herrschte, aber sie wusste nicht, wie das weitergehen sollte. Sie unterdrückte einen Seufzer. Eigentlich wollte sie ja gar nicht streiten. Ivan sollte nur nach Hause kommen.

»Wann kommst du? Ich vermisse dich.«

Ivan schwieg einen Moment zu lang.

»Du, ich weiß nicht, ob ich heute überhaupt nach Hause komme.«

Es fühlte sich an wie ein Stich. Sie atmete tief ein, hielt die Explosion zurück, die in ihr aufbrodelte.

»Ok. Morgen dann?«

»Weiß nicht.« Ivans Stimme klang leise, dann räusperte er sich. »Weißt du, Jule, ich glaub, ich brauch ’ne kleine Auszeit. Das ging alles so schnell, und alles ist jetzt so anders. Ich muss erst einmal über ein paar Dinge nachdenken …« Stille. »Glaub ich«, fügte er dann hinzu.

Worüber wollte er denn jetzt nachdenken? Er war Vater, was gab es da nachzudenken? Darüber hätte er ja wohl vorher nachdenken müssen.

»Das ist alles nicht so leicht für mich, weißt du, Jule.«

Jule hörte ihren eigenen Atem und wusste immer noch nichts zu sagen als Dinge, die sie sicherlich bereuen würde. Machte er gerade Schluss mit ihr? War er wieder auf dem Weg weg von ihr? Da war ein Geräusch im Hintergrund, das ihr irgendwie bekannt vorkam. Eine Ansage …

»Bist du am Bahnhof?«

»Am Flughafen. Komisch, nicht, ich bin einfach hierhergefahren und …«

Ivan beendete den Satz nicht, er ließ die Stimme einfach ausklingen. Es war erstaunlich, dass er es wieder einmal schaffte, sich als Leidtragenden darzustellen, als denjenigen, dem alles zu viel geworden war.

»Was machst du am Flughafen?«

Sie fragte und wusste doch schon die Antwort. Was machte man wohl am Flughafen? Man holte jemanden ab, oder …

»Holst du jemanden ab?«

»Ich habe einen Flug gebucht.«

»Wohin?«

»Weiß nicht, irgendwohin … Ich brauche Abstand, Jule, das ist alles so anders geworden mit uns.«

Sie holte tief Luft, um etwas zu sagen, doch Ivan legte einfach auf. Als sie Sekunden später wieder anrief, hatte er sein Handy ausgeschaltet.

Sechs Jahre später, kurz vor den Herbstferien

Endlich hatte Jule die passende Übersetzung für den Satz gefunden, da machte der schrille Klingelton ihres Handys schon wieder alles zunichte. Wie ärgerlich! Normalerweise stellte sie das Handy während der Arbeit auf Vibrieren, aber heute hatte sie es offensichtlich vergessen. Das war typisch für die letzten Wochen. Sie konnte von Glück reden, wenn sie das Haus morgens nicht in Pantoffeln verließ. Eigentlich müsste sie sich erholen, weniger arbeiten, aber das ging ja nicht, als Alleinerziehende. Sie trug hier schließlich die Verantwortung für alles.

Verdammter Mist.

Jule seufzte und nahm das Gespräch an.

»Hallo?«

»Spreche ich mit Jule Scherer?«

»Ja, am Apparat.«

Sie überlegte. Die Stimme kam ihr nicht bekannt vor, aber natürlich klangen Leute am Telefon auch anders. Leider hatte sie es versäumt, einen Blick auf die Telefonnummer im Display zu werfen. Sie lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und wippte ein wenig nach hinten.

»Frau Scherer, also es geht um Ihren Sohn.«

Jetzt erkannte sie die Stimme. Das war Frau Brückes, Johans Klassenlehrerin! Jule saß mit einem Mal kerzengerade.

»Ist etwas mit Johan?«

»Nein, nein … Nichts, nichts in dem Sinne, es geht ihm gut. Hier ist übrigens Frau Brückes …«

»Hallo.«

»… seine Klassenlehrerin.«

Ja, ja, dachte Jule, komm zur Sache.

»Johan ist heute leider zum wiederholten Male handgreiflich geworden. Wir mussten ihn aus der Klasse schicken. Jetzt ist er natürlich aufgewühlt, und ich glaube nicht, dass er noch am Unterricht teilnehmen kann. Ich wollte fragen, ob sie ihn nach Möglichkeit abholen können …«

Jule musste an den Satz denken, den sie eben unwiederbringlich verloren hatte. Sie runzelte die Stirn. Er würde ihr nicht wieder einfallen.

»Sie sind doch selbstständig, oder?«, hakte Frau Brückes in der entstandenen Pause nach. »Johan hat gesagt, dass seine Mama zu Hause arbeitet. Also können Sie ihn doch holen, ohne Probleme, meine ich?«

Jule spürte, wie sich allmählich ihr Nacken verspannte. »Ja, das stimmt«, sagte sie schließlich. Sie räusperte sich. »Wo ist Johan jetzt? Ist er alleine? Ich frage nur, weil Sie sagten, Sie mussten ihn rausschicken. Er ist nicht gerne alleine, wissen Sie. Er ist erst sechs Jahre alt, er …«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Scherer. Die Schulsozialarbeiterin ist bei ihm.«

Frau Brückes Stimme klang ruhig, bestimmt und freundlich. Trotzdem verspürte Jule das Bedürfnis, ihren Punkt zu verdeutlichen.

»Johan ist nicht gerne alleine. Das verunsichert ihn. Er hat gerne jemand Vertrautes bei sich.«

»Frau Scherer, Sie können ganz beruhigt sein. Wir lassen unsere Erstklässler nicht alleine.«

»Entschuldigen Sie. Das wollte ich eigentlich auch gar nicht behaupten.«

Einen Moment lang war es still.

»So einen Anfall…«, sagte Frau Brückes. Sie klang nachdenklich und hatte ganz offenbar ihre Schwierigkeiten, das auszusprechen, was ihr durch den Kopf ging. »So einen Anfall … Haben Sie so etwas schon einmal erlebt? Waren Sie vielleicht einmal beim Arzt mit ihm?«

»Nein«, hörte Jule sich wie aus weiter Ferne antworten. Sie wusste ja nicht einmal, was genau heute in der Schule geschehen war. Johan war ganz sicher kein einfaches Kind, aber Johan war auch nicht bösartig. Manche Dinge fielen ihm schwer. Manchmal war er wütend und wusste nicht, wohin mit seiner Wut. Er hatte seine Eigenheiten, aber sie hatte nie daran gedacht, deshalb mit ihm zum Arzt zu gehen. Kinder waren verschieden. Johan war Johan. Da war nichts falsch an ihm.

Aber manchmal hast du schon gedacht, sagte diese leise Stimme in ihrem Kopf, dass da etwas nicht stimmt mit ihm …

»Was hat er denn gemacht?«, fragte sie vorsichtig.

»Er hat ein Mädchen geschubst.«

Jule horchte auf.

»Einfach so?«

»Sie hatte versehentlich seine Stifte auf den Boden geworfen.«

Die Szene stand sofort vor Jules Augen. Johan hatte seine Stifte sicher nach Größen und Farben sortiert vor sich auf dem Tisch angeordnet. Das machte er, wenn er nervös war. Auch ihr gegenüber hatte er schon sehr ungehalten reagiert, als sie einmal in einer solchen Situation gegen den Tisch gestoßen war. Damals war er für einen Moment wie von Sinnen gewesen und hatte auch sie heftig geschubst. Anschließend hatte er sich nicht mehr an das Ereignis erinnern können.

»Frau Scherer«, war jetzt wieder Frau Brückes Stimme zu hören. »Ich denke, es wäre wirklich gut, wenn sie Johan abholen würden. Es wäre besser für ihn. Er ist, wie gesagt, bestimmt ohnehin nicht mehr dazu in der Lage, am Unterricht teilzunehmen. Und, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, vielleicht gehen Sie wirklich einmal zum Arzt mit ihm. Ich sage Ihnen das als erfahrene Lehrkraft.«

Jule wurde unruhig, ihre Kopfhaut begann zu kribbeln. Sie atmete tief ein und aus. »Ja«, brachte sie schließlich hervor.

»Ich würde auch gerne einmal mit Ihnen über Johan sprechen«, fuhr Frau Brückes indes fort. »Können wir in den nächsten Tagen telefonieren?«

»Natürlich.«

Sie verabschiedeten sich. Jule legte auf.

Einen Moment lang starrte sie auf die Übersetzung vor sich auf den Tisch. Der Gedanke, sie jetzt nicht fortführen zu können, zurrte ihr den Magen zusammen. Wie so oft schon. Sie hatte gedacht, dass sich etwas ändern würde, wenn Johan regelmäßig in die Schule und danach bis vierzehn Uhr in die Nachmittagsbetreuung ging. Aus dem Kindergarten hatte sie ihn immer spätestens um dreizehn Uhr abgeholt, danach war er erst einmal fertig gewesen. Kaum ansprechbar. Meist hatte er über eine Stunde lang Kugeln durch seine Fisher-Technic-Kugelbahn laufen lassen. Immer und immer wieder. Klack, klack, klack. Direkt neben ihrem Schreibtisch. Dort stand die Kugelbahn und durfte auch nicht verschoben werden. In der Schule, hatte sie sich vorgestellt, würde das anders sein. Er hatte sich darauf gefreut, richtig lesen und schreiben zu lernen. Und rechnen. Er rechnete sehr gerne. Zahlen hatten ihn schon früh fasziniert.

In die Nachmittagsbetreuung hatte sie ihn dann schon nach einer Woche nicht mehr geschickt. Ihm gefiel es dort nicht. Es war ihm zu laut, die Kinder ärgerten ihn, und die Hausaufgaben mussten danach auch noch gemacht werden. Die Schule strengte ihn deutlich an, und er hatte wieder viel geschrien, mehr als im letzten Kindergartenjahr.

Jule versuchte noch einmal, sich an den Satz zu erinnern. Vergeblich. Mit einem Seufzen speicherte sie das Dokument ab und klappte ihren Laptop zu.

Auf dem Weg zu ihrem Twingo überkam sie ein Gefühl der Verzweiflung. Wirklich, sie hatte so gehofft, dass es jetzt besser werden würde, dass der Kindergarten einfach nicht mehr das Richtige für Johan gewesen war und es deshalb zu diesen Vorfällen gekommen war.

Fing jetzt alles wieder von vorne an? Sie musste doch Geld verdienen! Schon nach dem letzten Projekt, das sie hauptsächlich nachts bewältigt hatte, hatte sie sich am Ende ihrer Kräfte gefühlt. Es gab einfach niemanden, der ihr Johan einmal abnahm, seit Ivan sich aus dem Staub gemacht hat.

Johans Vater hatte sich nie wieder gemeldet, seit diesem letzten Telefonat damals am Flughafen, kurz vor seiner Abreise. Aus dem Abstand, den er brauchte, war Schweigen geworden. Manchmal dachte Jule darüber nach, wie es wohl wäre, wenn er plötzlich wieder auftauchen würde, so wie damals. Sie konnte nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass ihre Gefühle für ihn nicht wieder aufflammen würden, wenn er ihr gegenüberstand, aller Vernunft zum Trotz. Sicher war hingegen, dass sie ihn zur Rede stellen und ihm laut und deutlich die Meinung sagen würde. Oh ja, sie würde ihm unmissverständlich klarmachen, wie das war, ganz allein mit einem Kind wie Johan zu sein, ohne Unterstützung vom Vater. Oder sonst jemandem.

Ihre eigenen Eltern wohnten zu weit entfernt. Natürlich kamen sie manchmal zu Besuch und unternahmen etwas mit Johan, der die beiden aus tiefstem Herzen liebte, aber meistens war sie doch alleine. Auch ihre Freundinnen wollte und konnte sie nicht ständig um Hilfe bitten.

Ich kann nicht mehr.

Johan war ein liebenswertes Kind, aber er hatte seine Eigenheiten. Sie hatte Erziehungsratgeber gelesen und die Tipps darin befolgt, nichts hatte funktioniert. Johan ähnelte den Kindern, die in diesen Büchern beschrieben wurden, nicht im Geringsten. Nein, nicht einmal im Ansatz. Johan passte in kein Raster. Wenn er etwas nicht wollte, dann wollte er nicht und ließ sich auch durch keine Überredungskunst der Welt dazu bewegen.

Du musst strenger mit ihm sein, hatte ihr Vater irgendwann gesagt. Jule hatte empört abgelehnt, Johan ein paar Tage später abends aber angebrüllt. Im ersten Moment hatte es sich gut angefühlt, die Wut und Hilflosigkeit loszuwerden, dann hatte sie sich unendlich geschämt. Johan hatte sich erschreckt die Hände auf die Ohren gepresst. Dann war er unter seinen winzigen Kindertisch gekrochen und dort erst einmal nicht wieder vorgekommen.

Als Jule wenig später endlich in die ruhige Seitenstraße einbog, in der die Schule lag, fuhr gerade ein Auto aus einer Parklücke. Wenigstens etwas. Einen Moment später hatte sie eingeparkt und stieg aus.

Das Schulgebäude war alt. Eine breite Treppe führte zum Eingang hinauf, deren zweiflüglige Tür Elemente des Jugendstils aufwies. Jules Herz klopfte etwas schneller. Sie ließ den Blick über den Schulhof schweifen, bevor sie die Stufen hinaufging. Was Johan wohl in den Pausen machte? Er erzählte nie davon. Im Kindergarten war er gerne ins Freie gegangen. Er hatte immer einen hohen Bewegungsdrang gehabt. Jule hielt mitten auf der Treppe inne, als ihr die Erinnerung an die Tage in den Kopf kam, an denen Johan wie wild im Kreis herumgelaufen war. Auch damals hatte es Momente gegeben, in denen sie ein seltsames Gefühl gehabt hatte, den Eindruck, dass etwas Gravierendes nicht stimmte. Aber Johan war ihr erstes Kind, sie hatte keine Erfahrung mit ihm oder anderen Kindern … Sie hatte einfach nicht gewusst, wie Kinder waren.

Ich will nicht glauben, dass etwas nicht stimmt.

Andererseits wollte sie auch, dass sich etwas änderte, denn die Tage konnten schwierig sein mit Johan. Manchmal hatte sie den Eindruck, Fortschritte zu erzielen, dann wieder kam es ihr so vor, als entwickelten sie sich viele Schritte zurück.

Jule schob die Tür auf, und gleich schlug ihr der typische Schulgeruch entgegen, den wohl niemand je vergisst. Sie sah sich selbst vor sich, wie sie die kleinen Finger nach dem Handlauf ausstreckte, hörte das Klingeln der Schulglocke, hörte, wie Klassentüren aufgerissen wurden und Kinder hinausströmten. In diesem Moment klingelte es wirklich, und sofort kamen ihr Massen an Schülern und Schülerinnen laut kreischend entgegen. Jule blieb stehen, bis der Trubel vorüber und es plötzlich wieder ganz still war. Stiller als still.

Sie wusste, wo Johans Klassenraum lag. Sie kannte ihn vom Tag der Einschulung, und einige Male hatte sie Johan auch schon dort abgeholt. Einmal hatte Frau Brückes sie dort bereits zum Gespräch gebeten, war aber vage geblieben.

Etwas stimmt nicht.

Jule bemerkte, dass ihre Schritte langsamer geworden waren, als könne sie damit die Begegnung hinauszögern. Vor dem Klassenraum blieb sie kurz stehen und holte tief Luft. Die Klassentür stand offen, gerade verließen die letzten Kinder den Raum. Ein Junge war noch dabei, etwas aus seiner Tasche zu holen, zwei Mädchen hatten die Lehrerin umringt. Jule klopfte an die offene Tür und trat ein.

»Frau Brückes?«

Johans Lehrerin sah auf.

»Oh, hallo Frau Scherer. Einen Moment bitte.«

Sie lächelte. Jule versuchte, das Lächeln zu erwidern, war aber zu angespannt. Frau Brückes verabschiedete sich von den zwei verbliebenen Schülerinnen. Sie nickte ihnen aufmunternd zu, die beiden hüpften zur Tür, winkten noch einmal überschwänglich und entfernten sich giggelnd. Dann ging die Lehrerin auf Jule zu, die ihr die Hand entgegenstreckte, während das eigene Unbehagen in ihr wuchs. Sie schüttelten sich die Hände und schwiegen, für einen flüchtigen und doch zu langen Moment, beide. Frau Brückes räusperte sich.

»Frau Scherer, schön, dass Sie so rasch kommen konnten. Zu Hause zu arbeiten ist in solchen Augenblicken sicher sehr praktisch.«

Sie lächelte erwartungsvoll. Jule brachte nur ein Nicken zustande. Frau Brückes wartete, dann räusperte sie sich erneut.

Sie ist nervös, dachte Jule.

»Wie gesagt, heute gab es einen Vorfall mit Johan.«

»Ja, das sagten Sie.«

»Kürzlich ist schon einmal etwas passiert, als ich mich für zwei Unterrichtsstunden vertreten lassen musste. Die Kinder sollten in dieser Zeit am Unterricht anderer Klassen teilnehmen, aber leider hat Johan sich geweigert, die Klasse zu verlassen, und sich sogar körperlich gewehrt, als meine Kollegin ihn mitnehmen wollte.«

Jule dachte an ähnliche Situationen zu Hause, einfache Veränderungen, die Johan vollkommen aus dem Takt brachten.

»Was hat er gemacht?«

»Er hat mehrere Stühle umgeworfen und …«

»Was war mit dem Mädchen heute?«

»Es geht ihr so weit gut. Er hat sie geschubst, sie hat sich erschreckt. So wie ich ihre Eltern kenne, werden sie Verständnis haben.« Frau Brückes schwieg. »Und damit haben Sie wirklich Glück, Frau Scherer«, fuhr sie dann fort. »Es gibt da ganz andere Kaliber, sage ich Ihnen.«

»Wo ist Johan jetzt?«

»Wir haben ihn in den leeren Turnraum gebracht. Er hat so geschrien, dass es den anderen Kindern Angst machte. Das ist übrigens auch so ein Punkt, er …«

»Ich möchte zu ihm«, unterbrach Jule sie. Sie konnte jetzt nicht reden. Und sie war zu aufgeregt, um richtig zuzuhören.

»Natürlich.« Frau Brückes schien sich zu besinnen. »Natürlich wollen Sie das. Es tut mir leid, aber heute hat er uns alle wirklich erschreckt … Dabei ist es ja eigentlich nicht das erste Mal, dass …«

»Ich würde ihn jetzt wirklich gerne sehen.«

»Er ist nicht allein, das sagte ich Ihnen ja bereits.«

»Ich weiß.«

»Die Sozialarbeiterin ist bei ihm. Er ist ja auch erst sechs Jahre alt …«

Die Unruhe in Jules Magen verdichtete sich zu einem immer festeren Knoten, als zögen unbekannte Kräfte an beiden Seiten. Frau Brückes’ dicker Schlüsselbund klimperte, als sie Jule voraus durch die Tür schritt. Johans Klassenlehrerin war groß und schlank, und sie strahlte etwas Freundliches aus, das Jule von Anfang an gefallen hatte. Aber das reichte offenbar nicht. Jule hatte so sehr gehofft, dass Johan hier seinen Platz finden würde, aber das war nicht eingetreten. Sie hatte sich getäuscht.

»Gehen wir.«

Frau Brückes zog die Tür hinter sich zu und schloss ab. Von draußen drangen die Geräusche der großen Pause herein, während sie schweigend hintereinander durch die Flure schritten. Vor einer grauen Tür mit dem Bild einer Gruppe Fußball spielender Kinder darauf blieben sie stehen. Lauschten. Von drinnen war dumpf ein hoher Ton zu hören, ein Heulen, das Jule vielleicht unheimlich vorgekommen wäre, wenn sie es nicht schon öfter gehört hätte.

Hätte ich aufmerksamer sein müssen? Stimmt wirklich etwas nicht mit ihm?

Kurz entschlossen trat Jule an Frau Brückes vorbei und drückte die Klinke herunter. Sofort fiel ihr Blick auf Johan. Er stand am anderen Ende des Raumes, hielt sich an der Heizung fest und stieß diese seltsamen Laute aus, während er mit dem Körper vor- und zurückschaukelte. Es war offensichtlich, dass er sie gar nicht wahrnahm. An seiner Seite auf dem Turnhallenboden saß die Sozialarbeiterin, die sich nun sichtlich erleichtert erhob und nach ihrer Tasche griff, um sie zu schultern.

»Ich muss dann«, sagte sie zu Frau Brückes. »Ich hoffe, das ist in Ordnung für dich, Karla?«

»Klar, das ist ok«, hörte Jule Frau Brückes antworten.

Jule ging langsam auf Johan zu. Er schien für einen Moment innezuhalten, als er sie bemerkte, dann wippte er wieder vor und zurück und gab dieses Heulen von sich, das sie kannte und das sie doch jedes Mal verstörend fand.

Weil es zeigt, dass wirklich etwas nicht stimmt mit ihm.

»Johan«, sagte sie sanft und ging vor ihm auf die Knie. Johan wippte weiter und gab diese Töne von sich, und für einen winzigen Moment schämte Jule sich dafür.

Mein Kind ist anders. Es ist nicht normal, nicht wie alle Kinder.

Und dann schämte sie sich für ihre Scham, die sich wie Verrat anfühlte. Dabei wusste sie nur zu gut, was für ein kluger, kreativer, liebenswerter Junge Johan war, und sie wollte nichts lieber, als dass alle das sahen. Stattdessen nun das. Schon wieder.

Vielleicht ist er geistig behindert, schoss es ihr durch den Kopf, während sie ihr Kind ansah, das da vor und zurück schaukelte und dieses Heulen ausstieß.

»Johan«, sagte sie noch einmal. Sie streckte langsam die Hand aus und berührte ihn kurz. Erleichtert registrierte sie, dass er es zuließ. Das war gut und bei Weitem nicht immer so. Er hatte in einer solchen Situation auf eine Berührung hin auch schon gekotzt. Das passierte nicht immer, aber es kam vor.

Ungefiltert strömten Erinnerungen an ähnliche Vorfälle in Jules Bewusstsein.

Die Geräusche wurden leiser. Johan wandte ihr den Blick zu. Er wippte immer noch, aber er sah sie an.

»Johan, komm, wir gehen jetzt.«

Der letzte Ton verhallte. Das Wippen endete. Johan verharrte vollkommen reglos. Dann streckte er eine Hand aus und berührte Jules linke Wange.

»Mami«, sagte er.

Jule schluckte schwer. Da war dieses Gefühl von Erleichterung in ihr und zugleich der Eindruck, am Anfang eines langen steinigen Weges zu stehen. Sie stand auf.

»Komm.«

Johan setzte sich langsam in Bewegung, zur Tür, wo Frau Brückes wartete.

»Das ging aber schnell«, sagte diese sichtlich erstaunt.

»Ja, manchmal geht es schnell.«

Frau Brückes schwieg. Sah auf Johan herunter, sah dann Jule an.

»Denken Sie bitte an meine Worte. Sie sollten das überprüfen lassen. Sie werden Ihrem Kind damit helfen.«

Mein Kind hört Ihnen zu, fuhr es Jule durch den Kopf. Warum dachten Erwachsene eigentlich immer, es sei richtig, in der Anwesenheit von Kindern über sie zu sprechen, als seien sie nicht da? Dann nickte sie, fast mechanisch. Vielleicht hatte Frau Brückes recht, vielleicht sollte sie mit Johan wirklich einmal zu einem Arzt gehen. In diesem Moment zog Johan an Jules Handgelenk, und die beiden Frauen sahen zu ihm herunter.

»Darf ich morgen wiederkommen, Frau Brückes?«

Er strahlte sie beide an, als sei nichts gewesen. Und vielleicht würde ja ab jetzt wirklich alles besser werden. Sie würde zu Hause mit ihm reden. Er würde ihr zuhören und versprechen, sich mehr anzustrengen, wie so viele Male zuvor. Er wollte ja alles richtig machen. Er wollte, dass man ihn gern hatte.

Kurz vor dem Schlafengehen redeten sie darüber, dass er keine Kinder schubsen durfte. Johan beschwerte sich, das Mädchen habe seine Stifte extra heruntergeworfen.

»Vielleicht wollte sie das nicht«, widersprach Jule sehr vorsichtig, und schon drehte er sich von ihr weg, den Körper steif vor Anspannung.

»Doch, sie wollte mich ärgern«, stieß er hervor.

Dann sah er sie mit einem Mal an, fragend, als sickerte zum ersten Mal in sein Bewusstsein, dass es tatsächlich ein Versehen gewesen sein könnte. Es ist, fuhr Jule durch den Kopf, als könnte er das Verhaltens des Mädchens eigentlich nicht richtig einschätzen. Als könnte er solche Situationen einfach nicht lesen, so wie es andere taten.

»Nein, Johan. Ich glaube, das hätte Frau Brückes mir gesagt.« Sie holte tief Luft. »Und es ist doch trotzdem auch eine Regel, dass man nicht schubsen darf.«

Sie sah, wie er sich innerlich wand. Johan hasste es, gegen Regeln zu verstoßen, und er hatte im Kindergarten selbst nicht selten Kinder mit dem Verweis auf Regeln genervt, gegen deren Einhaltung sie seiner Meinung nach verstoßen hatten.

Schließlich nickte er und drehte sich wieder zu ihr. »Ich hab dich lieb, Mami«, sagte er, bevor sie das Licht ausmachte.

»Ich dich auch, mein Floh.«

Jule schaffte es gerade noch aus seinem Zimmer hinaus in die Küche, bevor sie ihren Tränen aus Frust, Überanstrengung und Hilflosigkeit freien Lauf ließ.

Krk, kurz vor der Hauptsaison

Jakov verstaute die Angel sorgfältig im Boot und sah dann zu seinem Bruder Ivan hinüber, der gerade mit zwei amerikanischen Touristinnen flirtete. Die beiden sahen aus, als seien sie einer Kaugummiwerbung entsprungen. Beide hatten sie strahlend weiße, vollkommen gerade Zähne. Eine hatte dunkles, kurzes Haar, auf dem ein schwarzes Basecap saß, die andere hatte die blonden Haare perfekt zu einem wippenden Pferdeschwanz gebunden. Sie trugen beide weiße Shorts und T-Shirts mit Aufdrucken irgendeiner Universität, dazu Sneakers. Nur Amerikanerinnen hatten diesen Cheerleaderinnen-Stil, nur sie sahen aus, als sei die Kleidung gerade frisch gewaschen und gebügelt, nur ihre Zähne blitzten so unnatürlich weiß. Jakov hörte sie etwas aufgedreht lachen und beobachtete, wie wohl sich Ivan in ihrer Aufmerksamkeit fühlte.

Er verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Touristinnen fuhren stets auf seinen Bruder ab. Ivan hatte etwas von einem Surfer mit seinen stahlblauen Augen, den blonden schulterlangen, gewellten Haaren, in seinen jeansfarbenen Bermudas und dem gebatikten Hemd. Er war cool, wie einer von diesen Fernsehserien entsprungen. Einer, den es eigentlich gar nicht geben konnte und den es doch gab. Gänzlich aus der Fassung gerieten die Mädels, wenn er sie skizzierte. Die meisten kauften ihm dann auch noch irgendeines seiner Bilder ab, die er in der Strandhütte der Familie zusammen mit den Surfbrettern aufbewahrte. Ein Surfer, dazu noch Künstler, was konnte es Besseres geben?

Die Frauen, mit denen Ivan ein Bier trank und den Sonnenuntergang beobachtete, wechselten mit der jeweiligen Anzahl ihrer Urlaubstage. Immerhin machte er keiner von ihnen vor, dass da mehr sein könnte. Es war ein Urlaubsflirt, keine Verpflichtung auf ewige Liebe. Beide Seiten wussten das, und offenbar machte es beiden Seiten Spaß. Zwischendurch traf er sich seit fast einem Jahr mit Irina.

Trotzdem hätte Jakov ihn jetzt am liebsten angefahren, dass sie hier noch etwas zu erledigen hatten und dass keine Zeit für Vergnügen war. Es gab Arbeit. Es gab immer Arbeit, aber das würde Ivan nie verstehen. Verantwortung war ein Fremdwort für ihn, trotz seiner zweiunddreißig Jahre.

Vor knapp einem Jahr war er plötzlich hier auf Krk aufgetaucht, nachdem die Familie all die Jahre nur sporadisch von ihm gehört hatte. Mal hatte er aus Südamerika geschrieben, mal aus der Karibik, mal hatte er angeblich eine Kunstausstellung in Brooklyn gehabt.

Als der verlorene Sohn der Familie Antolíc heimkehrte, kam er aus Australien, und Mama war überglücklich. Ihr Ivan war endlich wieder da, ihr Kleiner, ihr Jüngster, der sie längst um einen Kopf überragte. Ivan brachte sie zum Lachen. Ivan wusste Geschichten zu erzählen. Jakov hatte ihn auch nach Deutschland gefragt, und warum er dort überhaupt weggegangen sei. Ivan hatte gelacht. Ich bin ein freier Geist, hatte er gesagt, und dass es ihm in Deutschland zu eng geworden sei: Die Deutschen mit all ihren Regeln und ihrer Strenge, du weißt schon, hatte er gesagt und dabei gezwinkert. Für ihn sei das nichts.

Und natürlich hatte Ivan auch keine Schwierigkeiten mit dem Stiefvater gehabt. Er hatte ein einnehmendes Wesen. Mit niemandem Probleme. Schon nach einem Monat hatte er einen großen Freundeskreis aufgebaut, mit dem er abhing.

Jakov verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere, während er seinen zwei Jahre jüngeren Bruder beim Flirten beobachtete.

Das Gespräch drehte sich offenbar um das Boot, und wahrscheinlich versprach Ivan den beiden gerade, mit ihnen in den Sonnenuntergang zu segeln. Die Dunkelhaarige schaute kurz zu Jakov herüber, wandte den Blick aber fast genauso schnell wieder ab. Im Vergleich zu seinem Bruder war Jakov uninteressant.

So war es mit Frauen schon immer gewesen. Jakov hatte eine paar Tage gewartet, bis er Ivan nach seiner Rückkehr nach Jule gefragt hatte; Jule Scherer aus Deutschland mit ihren dunklen Locken und den Sommersprossen, die wie goldbrauner Staub auf ihrer Nase lagen. Da war dieser Sommer gewesen, als die beiden achtzehn und er zwanzig gewesen war, der letzte Sommer, den er in Deutschland verbracht hatte. Der Sommer, in dem er sich in Jule verliebt und sie Ivan gewählt hatte.

Weil es Jule gab, hatte Jakov Deutsch gelernt, aber er hatte sich in all den Jahren nie getraut, sie anzurufen. Er war ein Feigling. Wahrscheinlich erinnerte sie sich ohnehin nicht mehr an ihn. Das alles war schließlich eine Ewigkeit her. Die Situation konnte also nur peinlich werden. Na ja, heute konnte er sein Deutsch zumindest im Umgang mit den Touristen einsetzen.

»Was macht Jule eigentlich?«, hatte er Ivan schließlich eines Tages gefragt. Um 11 Uhr am Vormittag, er erinnerte sich noch genau, denn Ivan war gerade erst aufgestanden und reckte und dehnte sich gähnend.

»Keine Ahnung, hab sie schon länger nicht gesehen oder was von ihr gehört.«

Das Lachen der Amerikanerinnen riss Jakov aus seinen Gedanken. Er stieß einen durchdringenden Pfiff aus, und Ivan sah zu ihm hinüber.

»Sorry, Ladies, die Arbeit ruft.«

»Hi«, riefen die Frauen ihm zu und winkten. Jakov verzog keine Miene und zurrte das Segel fest.

»Du könntest ruhig etwas freundlicher zu ihnen sein«, sagte Ivan, als er nach einem überschwänglichen Abschied herantrottete.

»Warum?«, gab Jakov zurück. »Ich kenne sie nicht.«

»Und was sollen sie von der sprichwörtlichen kroatischen Gastfreundschaft denken? Du willst doch auch, dass sie zurückkommen, vielleicht sogar einen Urlaub bei uns in der Pension verbringen?«

»Interessiert mich nicht.«

»Das sollte es aber. Außerdem machte es dein Leben nicht einfacher, wenn du so ein Griesgram bist.«

Jakov hielt mitten in der Bewegung inne und sah seinen jüngeren Bruder an.

»Das Leben ist nicht einfach, und jetzt lass mich in Ruhe.«

»Gerne, ich muss ohnehin noch etwas an der Website tun. Kannst du unseren Fang alleine zu Mama bringen?«

»Natürlich kann ich das, ich habe unser Leben ganz gut alleine gemeistert, bis du wieder aufgetaucht bist.«

»Ja, ja …« Ivan wandte sich ab und lief in Richtung Haus. »Ich weiß, dass du mich nicht brauchst. Dennoch, ich habe hier einiges verändert. Zum Besseren übrigens. Vergiss das nicht.«

Jakov griff nach dem Eimer mit den Fischen und folgte ihm schweigend.

Ivan ging auf direktem Wege zur Terrasse der Pension und grüßte die Gäste, die sich dort zum Mittagessen Gulasch und Surlice, die für die Insel typischen Nudeln, schmecken ließen. Er sah Gideon Foster aus Oxford, auch »der Professor« genannt, der nun schon ein Jahr hier wohnte, und Lotti, die etwa fünfundsiebzigjährige Deutsche mit den lila-grauen Haaren. Außerdem den jungen Fotografen, der offenbar nur ein Paar Sandalen hatte, das er bei jedem Wetter trug. Sie alle grüßten Ivan fröhlich zurück. Der lächelte für einen Moment in sich hinein. Die Leute mochten ihn, weil er immer gut gelaunt und freundlich war und mit jedem einen kleinen Schwatz hielt. Lotti, die künstlerisch interessiert war, nahm neuerdings an einem Tag der Woche an einem Kunstkurs in der Stadt teil. Sie fragte Ivan stets nach seinen neuesten Entwürfen und genoss die Gespräche mit ihm. Heute vertröstete er sie auf später.

Kurz nachdem er nach Krk zurückgekehrt war, hatte er die kreative Leitung des Hauses übernommen, wie er es nannte. Jakov hatte darüber gelacht, Mama war Feuer und Flamme gewesen, so wie sie generell Feuer und Flamme für ihn als ihren jüngsten Sohn war, von dem sie zu lange getrennt gewesen war.

Innerhalb kürzester Zeit hatte er das Innere des Hauses mit Wandbildern neu gestaltet, deren Motive von seiner Reise nach Australien geprägt waren. Zurzeit arbeitete er an einem Bild, das von der auf der Insel verbreiteten, alten kyrillischen Schrift inspiriert war. Außerdem war er für die Website verantwortlich. Als er vor einem Jahr gekommen war, hatte es überhaupt keine gegeben. Das hatte er natürlich sofort geändert.

»Und woher wissen eure Gäste von euch?«, hatte er Jakov gefragt.

»Wir haben Stammgäste.«

»Genügend?«

»Meistens.«

Es war wirklich an der Zeit gewesen, die Dinge in die Hand zu nehmen.

Ivan fragte noch einmal in die Runde, ob jemand etwas brauchte, dann machte er sich auf den Weg in die Küche, wo seine Mutter den Großteil des Tages am Herd stand, stibitzte ein Stück Schinken und eine Flasche Cola und entwischte nach oben.