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Essays, Interviews und Betrachtungen aus dreizehn Jahren sind im Buch «Die kleinen Dinge des Lebens» versammelt. Alex Capus ganz direkt, ohne Netz und doppelten Boden. Die in diesem Buch versammelten Texte ergänzen das beeindruckende Gesamtwerk des Bestsellerautors und geben einen etwas anderen Einblick in sein Schaffen. In seinen Essays, Betrachtungen und Interviews erklärt Alex Capus: - Weshalb das E-Bike die Vorstufe zum Rollator ist. - Warum er zu Neujahr nie Vorsätze fasst. - Was die Pyramiden von Gizeh mit Profifussball und systemrelevanten Banken zu tun haben. - Wie man als Mann in Würde alt wird. - Warum er Bäume, Kinder und Hunde mag. - Woher er als Schriftsteller seine Ideen nimmt. - Warum er kein Fussballfan ist. - Wie er's mit dem Gendern hält. - Was ihm seine beiden Grossväter, die beide fast hundert Jahre alt wurden, fürs Leben mitgegeben haben.Einundzwanzig Essays, Interviews und Betrachtungen aus dreizehn Jahren – mal fröhlich und mal nachdenklich, aber immer unverblümt, ungekünstelt und menschenfreundlich. Die Texte und Interviews sind in Magazinen, Zeitungen, Sammelbänden oder Publikationen erschienen.
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Seitenzahl: 160
Inhalt
Über das Buch
Gefährliche Klippen, sichere Häfen
Erinnerungen an meine Grossväter
Maradonas Hand und Schrödingers Katze
Woher der Autor seine Ideen nimmt
Bäume, Kinder, Hunde – warum ich ihre Biomasse mag
Essay
Systemrelevanz – worauf wir auch verzichten könnten
Essay
Sprechende Mülleimer
Neues aus der Kleinstadt
Die ideologische Legokiste
Über Neujahrsvorsätze und rote Ampeln
Wie man als Mann in Würde alt wird
Ein Ratgeber
Wir müssen reden
Die Schweiz und ihr Europa-Tabu
«Sind Sie ein linker Immobilienhai?» «Nein, ein Delphin.»
Interview mit der Wochenzeitung (WOZ)
«Die SP ist heute eine Partei der Besitzstandswahrung»
Interview mit CH Media
«Das E-Bike ist die Vorstufe zum Rollator»
Interview mit dem Winterthurer Landboten
«Die gute alte Zeit ist jetzt»
Interview mit der Coop-Zeitung
Ein Greyerzer Kuhhirte erobert Versailles
Historische Miniatur
Warum ich kein Zirkuspferd sein mag
Warum literarische Wettkämpfe nicht sein müssen
Johann August Sutter – wie ein Romanheld zum historischen Denkmal geriet
Nachwort zu Blaise Cendrars’ «Gold»
Mein Held John Fante – wie ich seinen Roman zu Ende schrieb
Nachwort zu «Die Strasse nach Los Angeles»
Der Tag, an dem ich das Gendern erlernte
Warum ich gern das Schriftsteller Alex Capus wäre
Warum ich kein Fussballfan bin
Essay für das Fussball-Magazin Zwölf
Hard boiled wie ein Zwanzig-Minuten-Ei
Nachwort zu James M. Cains «Der Postbote klingelt immer zweimal»
Rosarote Blitze aus schwarzen Gewitterwolken
Nachwort zu Alexandre Dumas’ «Kapitän Pamphile»
Wenn der Autor auf Tournee geht
Eine Wunschliste
Über den Autor
Essays, Interviews und Betrachtungen aus dreizehn Jahren sind im Buch «Die kleinen Dinge des Lebens» versammelt. Alex Capus ganz direkt, ohne Netz und doppelten Boden. Die in diesem Buch versammelten Texte ergänzen das beeindruckende Gesamtwerk des Bestsellerautors und geben einen etwas anderen Einblick in sein Schaffen. In seinen Essays, Betrachtungen und Interviews erklärt Alex Capus:
Weshalb das E-Bike die Vorstufe zum Rollator ist.Warum er zu Neujahr nie Vorsätze fasst.Was die Pyramiden von Gizeh mit Profifussball und systemrelevanten Banken zu tun haben.Wie man als Mann in Würde alt wird.Warum er Bäume, Kinder und Hunde mag.Woher er als Schriftsteller seine Ideen nimmt.Warum er kein Fussballfan ist.Wie er’s mit dem Gendern hält.Was ihm seine beiden Grossväter, die beide fast hundert Jahre alt wurden, fürs Leben mitgegeben haben.Einundzwanzig Essays, Interviews und Betrachtungen aus dreizehn Jahren – mal fröhlich und mal nachdenklich, aber immer unverblümt, ungekünstelt und menschenfreundlich. Die Texte und Interviews sind in Magazinen, Zeitungen, Sammelbänden oder Publikationen erschienen.
Alex Capus und wie er die Welt sieht – unverblümt und menschenfreundlich, ohne Netz und doppelten Boden.
Erinnerungen an meine Grossväter
Seltsam, wie ähnlich meine Grossväter einander waren. Beide waren gross gewachsene und freundliche, aber schweigsame und in sich gekehrte Männer. Der eine rauchte Pfeife, der andere filterlose Parisiennes carrées. Beide trugen Anzug und Krawatte. Ohne Hut gingen sie nicht aus dem Haus.
Mag sein, dass sie in ihrer Jugend anders und unterschiedlich gewesen waren; ich habe sie erst als alte Männer gekannt. Bei Tisch waren sie wortkarg, das Gespräch überliessen sie den Frauen und Kindern. Als ich klein war, fand ich sie geheimnisvoll. Später neigte ich zu der Vermutung, dass ihre Schweigsamkeit weniger ein Zeichen von Tiefsinn war als vielmehr nur von Schweigsamkeit. Und Einsamkeit. Einsamkeit wohl vor allem.
Ihre Geburtsstätten liegen tausend Kilometer auseinander. Der eine ist 1900 in Guingamp in der Bretagne zur Welt gekommen, der andere 1899 in Seewen im Basler Hinterland. Soweit ich weiss, haben ihre Wege sich nur einmal 1960 für ein paar Stunden gekreuzt, anlässlich der Hochzeit meiner Eltern in Paris. Gestorben sind sie kurz nacheinander gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihre Langlebigkeit verdanken sie vermutlich günstigen Genen, gewiss auch eigener Tüchtigkeit und nicht zuletzt der Fürsorge ihrer Frauen. Hinzu kam biografisches Glück – eine glückliche Synchronisation ihrer Lebensläufe mit der Weltgeschichte, könnte man sagen, ohne die es meine Eltern, mich und meine Geschwister nie gegeben hätte. Und unsere Kinder und Kindeskinder auch nicht.
Ein erstes Mal hatten meine zwei Grossväter Glück, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Da waren sie vierzehn und fünfzehn Jahre alt – der eine zu jung, um in Verdun durch den Fleischwolf gedreht zu werden, der andere noch nicht alt genug, um am Rhein Wache zu stehen. Wären sie nur zwei oder drei Jahre früher zur Welt gekommen, hätten vor allem die Nachfahren meines französischen Grossvaters schlechte Chancen gehabt, das Licht der Welt zu erblicken.
Ein zweites Mal hatten sie Glück, als sie auf die zwanzig zugingen und die Spanische Grippe Millionen junge Männer das Leben kostete. Sie überlebten. Aus irgendeinem Grund hat das Virus sie nicht getötet und ihrer Fortpflanzung keinen Riegel geschoben.
Ein drittes Mal hatten sie Glück, als Inflation und Weltwirtschaftskrise Millionen in Armut, Hunger und Vereinzelung stürzten. Meine Grossväter schafften es, Fuss zu fassen in ehrbaren, existenzsichernden Berufen. Der eine wurde Polizeichemiker in Paris, der andere Grundschullehrer in Büsserach. Sie heirateten, gründeten einen Hausstand und zeugten Kinder, von denen – noch mehr Glück – keines in jungen Jahren starb. Gelegenheiten für einen frühen Tod hätte es viele gegeben in jenen Jahrzehnten, in denen noch keine Antibiotika und erst wenige Impfungen existierten.
Mitte der Dreissigerjahre bezog der Vater meines Vaters eine geräumige Beamtenwohnung in der Rue des Écoles, aus der er zeitlebens nicht mehr auszog, weil der staatlich festgelegte Mietzins über ein halbes Jahrhundert gleich blieb. Der Vater meiner Mutter baute mit dem Geld seines Schwiegervaters, der Gastwirt und Posthalter war, ein Haus ausserhalb des Dorfs auf einem einsamen Hügel. Die Parzelle war riesig, das Land billig. Die Leute zeigten ihm den Vogel, dass er so weitab vom Schuss baute. Heute ist der Hügel übersät mit Einfamilienhäusern aus den Siebziger- und Achtzigerjahren.
Ein viertes Mal hatten meine Grossväter Glück, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Da waren sie schon um die vierzig und zu alt, um noch durch den Fleischwolf gedreht zu werden. Die Beschaffung von Nahrungsmitteln während der Okkupation in Paris war mühselig, die Rationierung im Basler Hinterland auch. Man musste sich ducken und den Gürtel wirklich eng schnallen. Aber insgesamt, so scheint es, sind sie in diesem namenlosen, weltumspannenden Grauen doch ganz ordentlich über die Runden gekommen.
Mein Grossvater väterlicherseits hat einmal frühmorgens beim Gang zur Boulangerie Adolf Hitler gesehen, als dieser in seiner Mercedes-Limousine über den Boulevard Saint-Michel fuhr. Es muss am 23. Juni 1940 gewesen sein. Mein Grossvater mütterlicherseits hatte einmal Werner Bergengruen zu Besuch. Dieses Datum ist unbekannt.
Was nach dem Krieg noch kam, war für meine Grossväter, glaube ich, ein vergleichsweise sorgenfreies Auslaufen. Das Wirtschaftswunder der Fünfzigerjahre sorgte für Vollbeschäftigung, gefüllte Ladenregale und volle Bäuche. Die Erinnerungen an die Schrecken des Krieges verblassten, man machte mindestens einmal jährlich Urlaub. Meine Schweizer Grosseltern fuhren nach Rimini, die französischen nach Deauville. Im Alltag gab es kaum noch lebensgefährliche Klippen zu umschiffen, meine Grossväter waren nach Jahrzehnten gefährlicher Überfahrten in sichere Häfen eingelaufen.
Beide stritten sich mit ihren Frauen, gewiss. Die Zerwürfnisse müssen hier wie dort furchtbar gewesen sein. Aber noch schlimmer war es dann, als das Streiten ein Ende hatte und sie einander nur noch anschwiegen. Andrerseits nahm das Leben seinen geordneten Lauf. Die Kinder meiner Grossväter wurden erwachsen und heirateten, bald wurden die ersten Enkel geboren. Alle paar Monate fand eine Taufe statt.
Und dann hielt die Welt noch die eine oder andere Aufregung bereit. Sputnik umkreiste piepsend die Erde. In Budapest rollten schon wieder die Panzer. Frankreich führte Krieg in Indochina und Algerien. In Paris trieben Leichen in der Seine. Die Schweiz kaufte Uran für eine eigene Atombombe. Es folgten Elvis Presley, der Pillenknick und Cassius Clay. Und ehe meine Grossväter es sich versahen, wurden sie fünfundsechzig und gingen mit einer ganz anständigen Rente in Pension. In diese Zeit gehen meine frühesten Erinnerungen zurück.
Meine Grossväter waren alt, als ich sie kennenlernte. Wer damals in Rente ging, war wirklich alt. Heute geht man nach der Pensionierung Gleitschirmfliegen oder beginnt ein Studium in Astrophysik, oder man eröffnet ein Bed and Breakfast in Thailand. Damals setzte man sich tatsächlich zur Ruhe. Man ging am Stock, trank altertümliche Likörs und sass gedankenverloren auf dem Sofa, und man erfreute sich der kleinen Dinge des Lebens.
«Es ist eine schöne Sache, fünfundsechzig zu werden», sagte dazu Peter Bichsel. «Dein Leben ist vorbei, aber du bist noch nicht tot.»
Mein Grossvater väterlicherseits rauchte Pfeife. Ich habe das leise Plopp noch im Ohr, das er mit den Lippen machte, wenn er Rauch ausstiess, und ich sehe seinen schrundigen Daumen vor mir, mit dem er die Glut auf dem Tabak festdrückte.
Ich kann mich nicht erinnern, dass einer meiner Grossväter jemals etwas erzählt hätte. Sie waren schweigsame Männer, wie gesagt. Aber beide hatten die Fähigkeit, mit uns Buben zu balgen. Mit den Mädchen balgten sie nicht, wenn ich mich richtig erinnere, nur mit den Buben. Dazu legten sie sich in der guten Stube rücklings auf den Teppich und wehrten sich mit gespieltem Entsetzen ächzend gegen den Ansturm ihrer jauchzenden Enkel, bis wir alle heillos ineinander verkeilt waren und den Kampf schnaufend für beendet erklärten. Ich erinnere mich an die Kraft ihrer Muskeln, den sauren Duft ihrer Hemden, die vom Tabak gegerbten Hände und die weissen Bartstoppeln am faltigen Hals, die der Rasur entgangen waren.
Aber ansonsten befassten sich die Grossväter nicht mit uns Welpen; höchstens, dass sie uns gelegentlich amüsierte Seitenblicke zuwarfen. Fürs Verwöhnen, für Zärtlichkeit und Fürsorge waren ihre Frauen zuständig. Immerhin waren sie verlässlich in ihrer freundlich-hölzernen Verschlossenheit. Wir konnten uns darauf verlassen, dass sie uns zu Weihnachten, zu Ostern und zum Geburtstag mit verschämter Beiläufigkeit einen Schein zusteckten. Der Schein war immer gleich gross, bei jeder Gelegenheit und bei allen Beschenkten. Nur einmal ist es geschehen, dass mein Grossvater mütterlicherseits bei der weihnächtlichen Geldverteilung murmelte, man möge ihm die profane Geste nachsehen; Männer seiner Generation hätten das Schenken nicht gelernt. Das war unerhört und aussergewöhnlich, wir sassen da wie vom Donner gerührt. Grossvater hatte für einen Augenblick das Tor zu seiner Seele geöffnet. Er hatte Schwäche und Verletzlichkeit gezeigt und um Vergebung gebeten. Das ist, soweit ich weiss, nie wieder vorgekommen.
Der andere Grossvater hat sein Tor stets fest verschlossen gehalten, nie hat er die Zugbrücke heruntergelassen. Rückblickend könnte man das bedauern. Welche Reichtümer hätten unsere Grossväter uns schenken können aus den Schätzen ihrer Lebenszeit? Andrerseits: Vor welchen Irrtümern, Torheiten und Plattheiten haben sie uns verschont? Denn der Mensch akkumuliert ja nicht nur Weisheiten im Lauf eines langen Lebens. Und hat man als Enkel überhaupt Anspruch auf irgendetwas, und ist man umgekehrt als Grossvater etwas schuldig? Ist es nicht ausreichend, einfach da zu sein – nicht mal füreinander, und vielleicht nicht mal physisch präsent, sondern einfach zu sein? Unsere Grossväter haben uns nicht mit Lederriemen verprügelt, ist das nicht schon mal gut? Sie haben uns nicht im Schweinestall eingesperrt, ist das nicht schön? Sie waren keine Tyrannen und keine Sektengurus, sie haben unsere weichen Kinderseelen in Frieden gelassen, ist das nicht ausreichend als Liebesbeweis? Und der nikotingelbe Schnurrbart und die Crêpes im Jardin du Luxembourg, und die Ersatzreifen des Citroën DS, die wir den Hügel hinunterrollen und wieder hinaufstossen, den Hügel hinunterrollen und wieder hinaufstossen durften – ist das nicht alles, was ein Grossvater seinen Enkeln bieten muss?
Hinter dem Elternhaus meiner Mutter stand eine Trauerweide. Wenn wir Grossvater besuchten, stellte er meinen Bruder und mich an den Stamm und sägte mit seinem Fuchsschwanz über unseren Scheiteln eine Kerbe in die Rinde. Wir schossen in die Höhe, bei jedem Besuch kamen neue Kerben weiter oben hinzu. Dann wurden wir Teenager, unser Wachstum verlangsamte sich. Nach Grossvaters Beerdigung wurde sein Haus verkauft. Wir besuchten ein letztes Mal die Trauerweide und staunten. Die untersten Kerben waren vernarbt, die obersten und jüngsten aber befanden sich hoch über unseren Köpfen. Wir waren nicht mehr gewachsen, die Trauerweide hingegen schon.
Text aus: Fragen hätte ich noch – Geschichten von unseren Großeltern, Hg. Wolfram Schneider-Lastin, Rotpunktverlag, August 2024.
Woher der Autor seine Ideen nimmt
Wie jeder Schriftsteller werde ich gelegentlich gefragt, woher ich eigentlich meine Ideen habe. Keine Ahnung, sage ich dann jeweils. Die flüstert mir mein kleiner Finger ins Ohr. Wenn ich am Schreibtisch sitze und auf eine Idee warte, kommt meistens keine.
Manchmal kommt doch eine. Und dann noch eine und noch eine. Die schreibe ich dann auf.
Manche sind vielleicht gut, andere wohl weniger. Qualitätsmessung auf dem Gebiet der Kreativität ist eine heikle Sache.
Als Kreativer kreiert man ja nicht wirklich – nicht aus dem Nichts. Man nimmt ein paar Dinge, die es schon gibt, und macht etwas Neues daraus, was es zuvor nicht gab. Aber von nichts kommt nichts, Ideen ploppen nicht aus dem Nichts auf. Sie sind Resultat und Fortführung von Gedanken und Empfindungen, die man früher gehabt hat – die Früchte von Dingen, die wir im Lauf unseres Daseins erlebt oder gehört, gelesen oder gesehen oder sonst wie erfahren haben. Eigentlich wäre die Frage also leicht zu beantworten, woher wir unsere Ideen haben – wenn nur unser Gedächtnis leistungsstark genug wäre, sich all der bewussten und unbewussten Einflüsse zu erinnern, die uns zu ihnen geführt haben.
So gesehen ist der menschliche Geist nichts weiter als eine Abfolge von Ursache und Wirkung, eine einzige Kausalkette, sämtliche Ideen in der Geschichte der Menschheit hübsch aufgereiht auf einer fadengeraden Zeitachse. Aber ist das nicht furchtbar langweilig? Wäre das nicht entsetzlich öde, wenn unser Innenleben sich – tick-tack, tick-tack – sklavisch an naturgesetzliche Regeln hielte wie das tote Uhrwerk der Himmelskörper, oder wie die kleinsten Teile im Innern eines Atomkerns? Wären dann letztlich nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch die schönen Künste reine Mechanik? Ursache und Wirkung, Hammer und Amboss? These, Antithese und Synthese, im besten Fall? Totes Geröll auf einer Halde?
Ich fände das fad, wie gesagt. Ich bewundere die Newtonsche Mechanik, aber sie langweilt mich in ihrer Überprüfbarkeit. Weshalb soll ich mich mit ihr abrackern, dachte ich am Gymnasium immer, wenn das einzig richtige Resultat von vornherein feststeht? Macht ihr nur mal weiter, dachte ich mit mitleidigem Blick auf meine Mitschüler, und las unter der Bank meine Buddenbrooks.
Erst später, als Heisenbergs Unschärfe hinzukam und Schrödingers Katze, fand ich Physik vergnüglich und freute mich an der Bestätigung meiner Ahnung, dass es zwischen Himmel und Erde ungleich fantastischer zu und her geht, als es die Newtonsche Schulweisheit uns träumen lässt. Leider fehlten mir dann die mathematischen und die Newtonschen Grundlagen, um auch nur den Hauch einer Ahnung eines Verständnisses von Quantenphysik zu erlangen. Zwar bin ich bis heute weit davon entfernt, irgendetwas davon zu begreifen, aber ich schwelge trotzdem gern in der poetischen Vorstellung von gekrümmter Raumzeit oder dem bodenlos banalen Höllenschlund der Schwarzen Löcher. Und die unberechenbare Anarchie der Quanten, die, wie es scheint, aus reinem Übermut Dinge tun, die kein Forscherhirn verlässlich voraussagen kann, ist mir ein köstliches Vergnügen und bestätigt mich in meiner Ahnung, dass Ideen eben doch aus dem Nichts aufploppen.
Denn wenn schon im ganz Grossen wie im ganz Kleinen der toten Materie Ursache und Wirkung verschmelzen, weil Zeit keine Bedeutung mehr hat: Muss es dann nicht auch für den menschlichen Geist – und die Seele! – eine Chance geben, sich aus dem Kerker der Kausalität zu befreien und wie ein Quant nach eigenem Gutdünken mutwillig unvorhersehbare, ursächlich nicht herleitbare Gedanken zu fassen? Einfach so, weil die Gedanken frei sind?
Das fände ich schön.
Ich stelle mir gern vor, dass mein Hirn und mein Herz nicht nach Isaac Newtons Mechanik funktionieren, sondern Werner Heisenbergs Quantenphysik folgen. Ich wünsche mir von Herzen, dass meine Fantasie in der Lage ist, aus reinem Übermut wirklich nicht vorhersehbare Ideen zu schöpfen.
Die alten Griechen nannten diesen Vorgang wohl den Kuss der Muse.
Für gläubige Menschen ist es der göttliche Funke.
France Gall besingt das Phänomen als «ce tout petit supplément d’âme, cette petite flamme».
Diego Maradona nennt es, was die Welt des Fussballs betrifft, «die Hand Gottes».
Und ich danke meinem kleinen Finger, wenn er mir hin und wieder etwas ins Ohr flüstert.
NZZ Bücher am Sonntag, März 2024
Ein Essay
Vor dreizehn Jahren hatte ich mit zwei Freunden die Idee, im Städtchen, in dem ich lebe, eine seit Langem stillgelegte Quartierkneipe zu neuem Leben zu erwecken. Sie steht gleich hinter dem Bahnhof an einer recht öden Strasse, an der eigentlich niemand verweilen will.
Gerade deshalb, dachte ich. Da muss man doch was tun.
Keiner von uns dreien hatte eine Ahnung von Gastronomie. Der Direktor der lokalen Bank fand die Idee so hirnrissig, dass er sie schon wieder gut fand, und gab uns Geld. Das war vor dreizehn Jahren, wie gesagt. Damals entschied über die Kreditwürdigkeit von Menschen und Ideen noch nicht der Algorithmus, sondern ein Bankdirektor mit Hirn und Herz.
Wir machten uns an den Umbau. Eine neue Küche nach neusten Standards musste her, die kostete viel Geld. Im Gastraum sollte der hundertjährige Charme der Eisenbahnerkneipe bewahrt werden, das kostete noch mehr Geld. Das eigentliche Problem aber lag draussen vor der Tür – die schnurgerade, schmuck- und schattenlose Strasse, ein trostloses schwarzes Band aus Bitumen von zweihundert Metern Länge, das zwischen Blockrandbebauung und den Gleisen der Linie Hamburg–Mailand vom Hauptbahnhof zur Fachhochschule führt. Auf dieser Strasse herrschte ganzjährig ein extrem kontinentales Mikroklima. Im Winter war es klirrend kalt, im Sommer flirrend heiss. Ein paar Hydranten und Kandelaber da und dort, dazwischen die verblichenen Gebeine von Fachhochschulstudenten, die es nicht geschafft hatten.
Da muss man etwas tun, dachte ich noch mal, so geht das doch nicht. Eine Baumallee wäre nett, am besten über die ganzen zweihundert Meter, eine grüne, schatten- und sauerstoffspendende Viertelmeile von zwanzig oder fünfundzwanzig Platanen.
Wie es sich fügte, fuhren genau zu jener Zeit Bagger und andere Baumaschinen heran und rissen den Bitumen auf. Die Werkleitungen mussten ersetzt, der Belag erneuert werden. Das ist die Gelegenheit, dachte ich. Ich rief die städtische Baudirektion an, der Sekretär verband mich mit dem Leiter der Stabsstelle Stadtplanung.
«Wie stellen Sie sich das vor», sagte der Mann.
«Na ja», sagte ich. «Eine Flucht von Bäumen halt. Grün. Ein paar Sitzbänke dazwischen.»
«So was muss man ordentlich planen, dann budgetieren und von der Politik bewilligen lassen. Das dauert Jahre. Wenn nicht Jahrzehnte.»
«Verstehe», sagte ich. «Aber wo die Bagger schon hier sind, könnten die nicht wenigstens vor meiner Kneipe zwei Löcher für zwei Bäume buddeln? Ich würde alles bezahlen, ich habe Geld von der Bank. Und die Bäume besorge ich selbst.»
«Da sind Leitungen im Boden», sagte der Mann. «Da kann man nicht einfach Löcher buddeln, wie man’s grad lustig findet.»
«Könnte man die Leitungen nicht umlegen?»
«Die Planung ist abgeschlossen. Und wissen Sie, ganz offen gesprochen …»
«Ja?» Ich konnte hören, dass ihm die Geduld ausging.
«Aus städtebaulicher Sicht ist diese gerade, ununterbrochene Flucht nicht ohne Reiz.»
«Die Parallelen, die sich in der Unendlichkeit schneiden?»
«Genau.»
«Verstehe. Aber zwei Bäume …»
«Hören Sie», sagte der Mann. «Wenn ich Bäume sehen will, gehe ich in den Wald.»
Das hat er wirklich gesagt damals. Der Fairness halber sei wiederholt, dass das Gespräch vor dreizehn Jahren stattfand, also im Frühjahr 2010. Damals sprach noch kaum jemand vom Klimawandel. Heute würde er es wohl nicht mehr so formulieren. Aber auch nicht ganz anders, fürchte ich.