Die Komponistin von Köln - Hanka Meves - E-Book
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Die Komponistin von Köln E-Book

Hanka Meves

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Beschreibung

Das bewegende Schicksal zweier jüdischer Frauen zur Zeit des wirtschaftlichen und kulturellen Aufbruchs in Köln. Köln, um 1900. Maria und Franzi kennen sich seit ihrer Schulzeit. Doch ihre Wege trennen sich, als Maria sich verliebt und nach England zieht, wo sie eine Familie gründet und Musikerin werden will. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verflicht das Leben der beiden jungen jüdischen Frauen erneut miteinander. Zwischen Zerstörung, Angst und Wut versuchen sie, sich ihre Träume zu bewahren und trotz aller Widrigkeiten ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.

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Hanka Meves arbeitet als Autorin und Journalistin in Köln. Sie hat ein Geschichts- und Postgraduierten-Europastudium absolviert und schreibt Sachbücher sowie Kurz- und Kindergeschichten. Mit »Die Komponistin von Köln« legt sie ihren ersten historischen Roman vor.

Die Geschichte von Maria Herz, geborene Bing, genannt Mariechen, ist von ihren vielen Briefen und dem Familiennachlass inspiriert. Einige Ereignisse sind im Interesse der Dramaturgie erfunden oder zeitlich versetzt. Die Familie von Franziska Beyer, geborene Stein, genannt Franzi, dazugehörige Namen und Dialoge sind sämtlich erfunden. Jede Ähnlichkeit mit realen Begebenheiten, Personen, Namen und Orten ist rein zufällig und nicht beabsichtigt. Im Anhang befindet sich ein Personenverzeichnis.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Auguste Renoir, Yvonne et Christine Lerolle au piano, 1897 via Wikimedia Commons

Umschlaggestaltung: Leonardo Magrelli

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-136-2

Historischer Roman

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Für meine Freundin Barbara, meine Schwester Heike

Prolog

1948

Ich hatte Mühe, ihren Brief zu öffnen. Meine Hände zitterten vor Aufregung. Wie lange war es her, dass ich von ihr gehört hatte? Dabei hatten wir uns geschworen, uns wöchentlich zu schreiben. Hatten!

Während des Krieges hatte ich sie schreiben sehen, als sie mich in England aufnahm, jede Woche einen nummerierten Brief an ihre Kinder in den Vereinigten Staaten, egal ob sie erschöpft von der Hausarbeit war oder von der Arbeit an ihrem Buch über Musiker oder einem Beitrag für den Rundfunk. Ich hatte sie arbeiten sehen, so wie immer in ihrem Leben, während ich darauf wartete, endlich zu meinen Söhnen nach Palästina ausreisen zu dürfen.

Ein gezackter Riss im Briefumschlag gab die Öffnung frei. Ein Foto fiel heraus. Ihr Foto. Eine Aufnahme vom Auftritt des Bing-Quartetts, aus der Zeit, die uns zu Freundinnen gemacht hatte. Neugierig schauten mich ihre Augen an. Stolz. Ein leichtes Lächeln. Überzeugt von sich selbst. Sie könnte ein Junge sein: kurze Haare, dunkle Augen wie ihre Brüder Moritz, den alle Menny nannten, und Hugo und ihr Cousin Richard. Sie war damals zehn Jahre alt, ihre Brüder wenig älter als sie. Die Jungs schauten ernst drein, ihre Geigenbogen nach unten gerichtet. Richard wirkte erwachsen, obgleich er gerade einmal vierzehn Jahre alt war. Doch sie, sie lächelte. Sie war sich ihrer Sache sicher gewesen. Die Musik war ihr Leben. Während ich grübelte, hatte sie längst ihre Entscheidung getroffen. Ob dies heute noch so war?

Das Visum lag vor, die Überfahrt war gebucht für den 11. März 1948, in die USA zu Nora und Marga. Natürlich mit ihrem Sohn Robert. Treuer Robert! Unwillkürlich stellten sich mir die Haare an den Armen auf. Wie würde es ihr wohl dort ergehen? Ihr, die so sehr den kühlen Wind Yorkshires mochte, die sich bei Schwüle in die Mitte ihres Hauses verkroch, deren Arme nicht mehr schön genug für ein ärmelloses, luftiges Kleid waren. Ihr, die es vorzog, sich in die warme, weiche Wollunterwäsche Englands zu kuscheln. Worsted spinning. Feinstes Kammgarn aus Bradford. Ihr, die in den schwülen Sommern so häufig in Ohnmacht gefallen war. Wie ich sie beneidet hatte, wenn eine Traube von Schulmädchen sich um die Gefallene versammelte und um Hilfe schrie. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Es war heiß heute, zum Glück nicht schwül. Der Sommer in Palästina ist unerträglich heiß.

Teil I

Ein weiter Weg

Köln, 1888

»Hier entlang!«, rief Mariechen mir zu, als wir auf die Straße traten.

Ich richtete meinen Blick in die andere Richtung. »Ich dachte, du wohnst dort.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich zeige euch was.«

Meine kleine Schwester Lea zupfte an meinem Rock. »Wir dürfen keinen Umweg gehen.«

Mariechen lachte. »Fünf Minuten.« Schon griff sie meine Hand und zog mich hinter sich her. Lea folgte uns widerwillig, als könnte sie uns mit ihrer Langsamkeit aufhalten.

Wir liefen vor bis zu dem breiten Streifen, durch den das Sonnenlicht fiel, das uns blendete, weil die alte Stadtmauer Stück für Stück abgerissen wurde. Dort erst warteten wir auf Lea, die sich bitterlich beschwerte.

»Das hier wird alles abgerissen«, trompetete Mariechen in das Jammern hinein. »Für eine Oper, ein Konzerthaus.« Sie hob begeistert die Arme. »Und ich spiele das erste Cello.« Sie fasste Lea und mich an den Händen und drehte sich mit uns im Kreis.

Und ich?

Bereits am ersten Schultag war mir ihr Lachen aufgefallen. Unweigerlich musste ich sie anstarren. Sie stand am Eingang der Schule und klopfte mit ihrem rechten Fuß einen Takt. Ihre Haare hatte sie – oder war es das Kindermädchen gewesen? – streng zurückgekämmt und zu einem Zopf geflochten. Doch die Locken versuchten der Strenge zu entfliehen. Ihr Kleid war von feinstem Stoff, die Rüschen lagen sorgfältig an den Puffärmeln und auf der Brust, ein aprikosenfarbenes Taillenband zog meinen Blick magisch an. Es passte wunderbar zum Blau des Rockes und zu ihren dunklen Augen. Dann schaute ich an mir hinunter und wieder hoch. Mittelblau, alles in einem Ton. Inzwischen war sie aus meinem Blickfeld verschwunden.

Es war ein kalter Frühlingstag. Die Sonne beleuchtete die engen Gassen nur spärlich, strahlte einmal auf dieses, einmal auf jenes Dreifensterhaus. Wir liefen an Kneipen und Geschäften vorbei, deren üppige Auslagen den Spaziergang verlängerten.

Lea und ich hatten viel Freude an dem zehnminütigen Weg zur neuen Schule. Wir dachten, dass die Tornister leicht wären, obgleich die Lederriemen in unsere Schultern schnitten. So wie sich unsere Ranzen leicht anfühlten, fühlte ich mich frei. Endlich kam ich aus der einzig erlaubten Elisenstraße heraus in die Welt. Bisher hatten wir sie nur in Begleitung verlassen dürfen.

Die Schaufenster am Rande des Wegs waren mit leckeren Kamellen gefüllt, mit Glasmurmeln, von denen wir nie genug bekommen konnten, und mit Stoffen, von denen die Bewohner dieser Stadt nie genug bekamen.

»Komm, komm schon!«, rief ich und trieb Lea zur Eile an. Sie ließ es geschehen, ohne die Augen von den Auslagen zu lösen, und lief mehr rück- als vorwärts. Es dauerte länger als die zehn Minuten, doch dann sahen wir das Eingangstor zu unserer Schule, der Evangelischen Höheren Töchterschule in der Antoniterstraße, davor warteten die Mädchen.

Die Bänke in unserem Klassenzimmer standen eng aneinandergedrängt. Die Wände waren bis zu unserer Augenhöhe mit einer tiefdunkelgrünen Ölfarbe geschützt. Darüber hellte ein fahles Gelb die Wand etwas auf. Außer einem Bild mit einer Schneelandschaft war der Raum schmucklos. Es roch nach Putzmittel. Ich ließ meine Augen durch das Klassenzimmer wandern. Sofort erspähte ich das Mädchen mit dem lauten Lachen wieder. Sie hatte sich einen bequemen Platz in der dritten Reihe ausgesucht. So saß sie nicht zu sehr im Blickfeld der Lehrerin, aber auch nicht im toten Winkel, der dazu führen konnte, dass man nicht auffiel und keine guten Noten bekam. Ich drängelte mich an den anderen Schülerinnen vorbei und ergatterte tatsächlich den Stuhl neben ihr.

»Franziska«, flüsterte ich ihr zu.

»Genau wie meine Großtante Franzi«, erwiderte sie und streckte mir ihre schmale Hand entgegen. »Mariechen.«

»Wie das Funkenmariechen?«

Sie kicherte leise und wehrte ab. »Ich mag Karneval nicht so sehr.« Dann klopfte sie auf der Heftablage unter dem Tisch einen Rhythmus. Langsam, danach etwas schneller.

Ich starrte auf ihre Finger, die sich federleicht bewegten, konzentrierte mich, strengte mich an und flüsterte: »Robert Schumann.«

Sie nickte. Ich war erleichtert.

Mit einem lauten Knarzen öffnete sich die Tür, und unsere Lehrerin betrat den Raum. Wir sprangen auf, um sie zu begrüßen.

»Guten Morgen!«

»Guten Morgen, Fräulein Baumann!«

Seelenruhig blieb Mariechen sitzen, klopfte ihren Rhythmus zu Ende, erhob sich dann und stimmte in das Begrüßungsritual der Klasse ein. Von diesem Tag an nannten mich alle Franzi.

Brüder

Fräulein Baumann hatte die schönste Schrift, die wir uns vorstellen konnten. Sie hinterließ keine Schliere auf der Tafel. Ihre Stimme war warm und freundlich. Und ihre Taille! Wie schön sich ihr Kleid um ihre Figur schmiegte. Ich versuchte, ihre Schrift nachzuahmen, Mariechen trommelte ihre Musik auf die untere Tischplatte. Ich strich meinen Rock glatt, meine neue Freundin störte sich nicht an einem Fleck auf ihrem Kleid. Als meine Kreide vom Tisch rutschte, berührte ich aus Versehen Mariechens Taillenband. »Wie weich es war!«

Einen Tag später fand ich es in einem Briefumschlag in meinem Ranzen mit den Worten: »Sowieso zu grell für mich.« Auf dem Briefumschlag stand eine gedruckte Adresse: Gebr. Bing & Söhne, Samt- und Seidenband-Lager, Pipinstraße 6–8. Einen Tag später lud sie mich zu sich ein. Sofort sagte ich zu.

Mein Herz klopfte vor Aufregung, als wir unser Zuhause verließen. Wieder hatte ich Lea im Schlepptau. Schon nach wenigen Schritten bogen wir in die prächtige Hohe Straße ein. Große Fenster präsentierten Kleider, Schuhe, Hüte, wunderbare Leckereien. Meine Schwester hüpfte voller Freude, hielt dann plötzlich an und drückte ihre Nase an eine Scheibe, hinter der Süßigkeiten auslagen. Lutscher und Bonbons waren nach Farben sortiert, aufgereiht wie in einem Regenbogen. Aus der offenen Tür wehte uns der Duft von süßem gebranntem Zucker entgegen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Doch ich wollte zu Mariechen.

»Komm!«, sagte ich und zog Lea hinter mir her. Endlich standen wir vor der Nummer 47.

»H. und Alb. Rauch, Mainzer Möbelfabrik«, las meine Schwester langsam vor, was auf dem Schild neben der Haustür stand. Ich klingelte.

»Ich denke, sie heißt Bing, und wo gibt es hier Seidenbänder?« Kleine Schwestern können unendlich nerven.

»Das Geschäft ist nicht weit weg von hier. Hier wohnen sie.«

Lea stampfte mit den Füßen auf. »Ich wollte die Seidenbänder sehen.«

Ein junges Mädchen öffnete die Tür. »Die Damen Stein und Stein?«

Ich nickte eifrig und spürte, wie mir Röte vor Aufregung ins Gesicht schoss.

»Über dem Laden.« Das Mädchen schob uns in den Hausflur und verschwand im Gewühl der geschäftigen Ladenstraße.

»Hierher, hier oben!«, tönte uns eine bekannte Stimme entgegen. Mariechen beugte sich über die Treppenbrüstung und winkte.

Zugleich drang ein Gewirr von Tönen zu uns, das sogleich von einer hohen Stimme unterbrochen wurde: »Es reicht!«

Mariechen war ein Abbild ihrer Mutter Henriette. Glücklicherweise fehlte ihr deren Strenge. Henriette trug ein langes graues Kleid, das den Hals durch eine helle Rüsche verdeckte, die schwarzen Haare streng gebunden. Sie sah ernst aus.

Die Tür zur Wohnung stand offen. Eine riesige Diele führte direkt in den Salon, in dem wie bei uns ein Flügel den Raum füllte. Doch während bei uns nur unsere Mutter diesen Platz beanspruchte, lehnten hier drei Knaben mit ihren Geigen lässig daran. Eine dunkel- und hellgrün gestreifte Stofftapete schützte die Wände. Ein schweres Ledersofa und zwei dicke Sessel luden zum Verweilen ein. Auf dem runden Tisch davor stand ein großer Blumenstrauß, von dem ein betörender Duft ausging. Ein blumiger Teppich bedeckte den Boden.

Ich zog meine Schuhe am Eingang aus und versank in dem unendlich weichen Bodenbelag. Lea tat es mir nach. Wir waren sprachlos.

Mariechen zeigte auf ihre Familie. »Meine Frau Mutter, meine Brüder Menny und Hugo, mein Cousin Richard.«

Ihre Mutter verabschiedete sich in ihr Zimmer. Schon setzten die drei Jungen ihre Streichinstrumente wieder an und begannen ihr schauerliches Musikspiel von Neuem.

»Schluss!«, rief Mariechen und tat so, als würde sie einen Taktstock halten.

Lachend schubste Hugo den imaginären Dirigentenstab weg. »Eine Dirigentin. Das ist nicht zugelassen.«

Sie stellte sich auf den Klavierhocker, hob stolz ihren Kopf und erwiderte: »Dann bin ich eben der Dirigent.«

Richard trat an sie heran und schaute seiner Cousine auf dem Hocker direkt in die Augen. »Lass gut sein, Kleine.« Er war lang und schlaksig, selbst seine Hände und Finger waren schmal und lang, wie auch sein Gesicht, besonders im Vergleich zu dem weichen, runden von Mariechen. Menny und Hugo hingegen waren kaum größer als Marie. Sie wirkten wie Zwillinge, waren jedoch zwei und drei Jahre älter als ihre Schwester. Was alle vier einte, waren die unglaublich dichten dunklen Haare und Augenbrauen, die ihre Blicke verwegen und mutig aussehen ließen. Besonders hatte es mir Richard angetan.

»Wir wissen, dass du Musikerin werden willst, aber wir dürfen auch mal experimentieren. Außerdem hast du Besuch.« Richard zeigte mit seinem Bogen auf Lea und mich.

Mariechen hüpfte mit einem Satz vom Hocker, griff meine Hand und ging hocherhobenen Kopfes aus dem Raum. »Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt.«

»Jetzt bin ich doch froh, dass ich eine große Schwester habe«, lobte mich Lea am Abend, als wir in unseren Betten lagen.

Erst hatten Richard, Menny und Hugo uns aus dem Salon geschickt, dann waren sie immer wieder in Mariechens Zimmer gestürzt, um mal einen Berg Noten als Inspiration vor uns hinzuwerfen, ein anderes Mal, um unser Klavierspiel mit vier Händen durch fürchterliches Geigengekratze zu unterbrechen. Meine Schwester war immer wieder aufgeschreckt, gerade wenn sie sich in eines der vielen Bücher vertieft hatte, über die Mariechen verfügte.

»Wie hältst du deine Brüder nur aus?«, fragte ich sie am nächsten Tag während der Pause.

Mariechen zuckte mit den Schultern. »Sie waren schon vor mir da.«

»Und Richard?«

»Auch. Seitdem mein Vater nicht mehr ist.« Dann schmunzelte sie. »Willst du mehr über Richard erfahren?«

Natürlich wollte ich das.

Richard wohnte mit seinen Eltern Nathan und Marie Goetz, seiner älteren Schwester Anna und dem jüngeren Bruder Alfred in der Wohnung über den Bings. Im Raum der Brüder stand neben dem Klavier eine große Staffelei, die bei den Bings keinen Liebhaber gefunden hätte. Otto, Richards großer Bruder, studierte und tauchte nur zu Feiertagen zu Hause auf.

Ihr Vater Nathan Goetz war nach dem plötzlichen Tod von Mariechens Vater vor fünf Jahren mit seiner Familie nach Köln gezogen. Seine Frau Marie war die Schwester von Mariechens Vater, also ihre Tante. Während Mariechens Mutter sich der Trauer um ihren Mann und, wie meine Mutter, dem Klavierspiel widmete, hatte Tante Marie nun das Sagen im Haus und ihr Onkel Nathan das in der Firma.

Mariechen machte ein wichtiges Gesicht. »Otto wird einmal das Geschäft übernehmen.« Dazu nickte sie, als wollte sie dieser Behauptung noch mehr Bedeutung verleihen.

»Und Richard?«

»Er kann machen, was er will. Im Moment will er Maler werden, Alfred Physiker.«

Ich nickte, denn auch bei uns würde mein Bruder den Arztkittel meines Vaters erben.

»Nur Anna muss heiraten, die Arme«, ergänzte Mariechen.

Ich lachte. »Ich will auch einmal heiraten.«

Das Geschenk

Wenig später besuchte Mariechen uns. Richard begleitete sie. Unser kleiner Bruder Fritz hüpfte an ihm hoch wie ein junger Hund. Mariechens Cousin ließ sich davon nicht beeindrucken, bleiben wollte er aber nicht. Das Kindermädchen zog Fritz in sein Zimmer, und unsere Mutter machte sich mit der Köchin Berta zum Markt auf. Wir hatten also fast die gesamte Wohnung für uns.

Mariechen warf einen Blick in den Salon. »Ein Bechstein. Wie schön!«

Während Lea und ich pflichtgemäß die tägliche Unterrichtsstunde bei unserer Klavierlehrerin absolvierten und nur mit Mühe hier und da das Üben in die Woche einfließen ließen, spielte Mariechen jede freie Minute mal auf dem Cello, mal auf ihrem Klavier oder im Schulunterricht mit den Fingern unter dem Tisch. Fräulein Baumann rief sie mehrfach zur Ordnung. Das Klopfen wurde leiser, aber es hörte nie auf.

Ich zog Mariechen zum Flügel und bot ihr den Klavierhocker an. Lea bekam rote Flecken im Gesicht. »Das ist Mutters Flügel.«

Mariechens dunkle Augen blitzten zwischen zwei Schlitzen hervor. »Nur einen kleinen Moment.«

Ich nickte ihr kräftig zu. »Mutter und Berta kommen bestimmt erst in einer Stunde wieder.«

»Nein, nein«, jammerte Lea. »Das gibt Ärger.«

Doch schon berührte Mariechen die Tasten, schloss die Augen und begann zu spielen. Lea hörte auf zu schimpfen und zog sich in eine Ecke zurück. Mariechen spielte die Melodie, die ich schon so oft auf der Tischplatte gehört hatte, erst leise, dann etwas lauter. Nachdem sie ihr Spiel beendet hatte, öffnete sie die Augen. »Was für ein schönes Instrument.«

In diesem Moment hörte ich einen Schlüssel im Schloss klacken. Ich zuckte zusammen, Lea sprang von ihrem Stuhl auf.

Unsere Mutter betrat die Wohnung. »Ich hatte …«

»Entschuldige!«, erwiderte ich und senkte den Kopf.

Mariechen stand vom Hocker auf. »Entschuldigen Sie bitte, Frau Stein. Ich habe Franzi gedrängt. So ein schönes Instrument. Ich wollte es unbedingt ausprobieren.«

Auf der Stirn unserer Mutter erschien eine tiefe Falte. »Dann will ich hören, was du unbedingt spielen musstest.«

Mariechen setzte sich erneut an den Flügel. Meine Hände waren eiskalt, und ich fragte mich, wie sie sich in dieser Situation konzentrieren konnte. Sie begann zu spielen. Es war ihr Schumann, die »Träumerei«, der Anfang. Sie bewegte langsam ihre Finger, spielte ruhig und mit viel Gefühl, als hätte sie dieses Stück schon Tausende Male vorgespielt. Noch im Mantel trat Mutter in den Salon und schaute Mariechen ruhig zu. Uns beachtete sie nicht.

Nach zwei, drei Minuten hörte Mariechen auf. »Mehr kann ich noch nicht.«

Unsere Mutter lächelte sie an. »Bei wem nimmst du Unterricht?«

Mariechen stand auf und machte einen Knicks. »Nur Cello bisher.«

»Das scheint aber ein besonders guter Cellolehrer zu sein.« Unsere Mutter ging in die Diele, reichte dem Mädchen ihren Mantel und verschwand in ihrem Zimmer.

»Kein Donnerwetter«, staunte Lea.

Verwundert schaute ich meine Freundin an. »Danke!«

Von diesem Tag an suchte ich nach einer Gelegenheit, unsere Freundschaft mit einem kleinen Mitbringsel zu besiegeln. Als meine Mutter darüber klagte, dass ihr die Tinte für die Noten ausginge, kam mir die passende Idee. »Wir könnten auf dem Heimweg von der Schule bei Tante Bompart vorbeigehen.«

Das war ein wunderbares Geschäft. Natürlich waren Süßigkeiten, zum Beispiel die Kamellen von Stollwerck, noch besser, aber der Schreibwarenhandel kam gleich danach. Es war ein kleiner, schöner Laden über zwei Etagen, in den die alte Frau Bompart, eine entfernte Verwandte unserer Familie, all ihre Liebe sowie Papiere, Stifte, Malutensilien und vor allem ihre berühmten Füller gestopft hatte. Das Beste war, dass Tante Bompart, wie wir sie nannten, keine Kinder hatte und uns bei jedem Besuch immer einen Schatz zusteckte. Vielleicht würde es mir auch diesmal gelingen, ihr etwas zu entlocken, das ich Mariechen schenken könnte.

Bei Einkäufen begleitete uns unser Kindermädchen. Uns war es nicht erlaubt, einen noch so kleinen Geldbeutel mitzunehmen. »Überall lauern Taschendiebe«, klagte Mutter stets.

Wir hüpften freudig vor dem Kindermädchen her und erreichten den Laden vor ihr. Sie war ohnehin mehr mit den Auslagen der Geschäfte beschäftigt als mit dem Aufpassen auf uns. Die Türklingel schellte laut, und wir platzten in den Laden hinein. Obgleich es ein gewöhnlicher Nachmittag war und es weder regnete noch stürmte, waren wir allein.

Auf dem Tresen hatte Tante Bompart unter einer Scheibe die schönsten Neuheiten ausgebreitet. Wir drückten unsere Nasen am Glas platt. Ich entdeckte einen wunderschönen goldenen Füller. Es klingelte ein zweites Mal. Unser Kindermädchen trat ein. Sie stellte Mutters Tintenfass mit einem Klirren auf das Glas. Tante Bompart kam aus ihrem Kabuff, das hinter dem Verkaufsraum lag, herangeschlurft.

»Vorsichtig, vorsichtig! Das Glas ist teuer.« Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie uns erkannte. »Na, was wollen denn meine liebsten Mädchen heute?« Sie nahm das Fass und hielt es gegen das Licht, das durch die großen Auslagefenster fiel. »Tinte für die fleißige Notenschreiberin?«

Aus einem der vielen Schränke mit unendlich vielen kleinen Schubladen nahm sie zielsicher ein Fläschchen, aus dem sie die gute Flüssigkeit in Mutters Fässchen füllte.

»Wie weißt du, wo sich was befindet?«, rief Lea dazwischen.

Tante Bompart lachte. »Ich habe sie doch auch alle gefüllt.«

»Ich habe nur eine Kommode mit sechs Schubladen und finde dennoch nichts.«

»Du brauchst eine kleine Hilfe.« Tante Bompart fasste unter ihren Tresen und holte eine Holzkiste mit genau neun Schubladen heraus. »Vielleicht fängst du damit an.«

Begeistert drückte Lea die Kiste an ihre Brust und hüpfte dreimal im Kreis.

»Und du?«

Ich musste tief Luft holen. Dann zeigte ich auf den goldenen Füller. »Was kostet er?«

Tante Bompart zog ihre Stirn kraus. »Den kannst du bezahlen, wenn du Frau Doktor bist.«

»Aber es dürfen doch nur Jungen studieren.«

»Eben genau.« Dann setzte sie wieder ihr Lächeln auf und fasste nochmals unter den Tresen. Sie gab mir ein winziges Kästchen. Mein Herz fing an zu pochen, als ich es umständlich aufzog. Tante Bompart strahlte mich an. »Er ist nicht aus Gold, aber genauso schön.«

Und tatsächlich befand sich in dem winzigen Kästchen, das nicht länger als mein kleiner Finger war, ein ebenso kleiner Füller, der zwar nicht golden, dafür aber leuchtend dunkelrot war.

Der Kamm

Ein lautes Grummeln ging durch die Reihen der Mädchen, als er den Raum betrat. Es war tatsächlich ein Lehrer, der uns in Physik unterrichten sollte, Professor Raue. Er musste unendlich alt sein. Sein graues, schütteres Haar sprach davon. Dennoch schritt er geraden Rückens zum Pult, schlug zweimal mit seinem Stock darauf und forderte uns auf, uns zu setzen.

Mit Schwung öffnete er den Schrank hinter sich und holte verschiedene Utensilien heraus, darunter ein Pendel. »Meine Damen, wir werden uns mit richtiger Physik beschäftigen.«

Alle Mädchen raunten vor Begeisterung. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.

Mariechen rempelte mich an und flüsterte: »Menny und Hugo haben das auch.«

Ich bemerkte, dass Professor Raue die Augen auf uns richtete, und senkte vorsorglich meinen Blick. Er rückte das Pendel, das aus sieben an Metallseilen hängenden Metallkugeln bestand, zurecht und schubste die rechte Kugel an.

»Sie sehen, wie sich Kraft in Bewegung umwandelt.« Die Kugel schlug an die nächstgelegene, diese gab ihre Energie weiter bis zur letzten, die das Spiel von Neuem, diesmal in die andere Richtung, fortsetzte.

Mariechen flüsterte erneut: »Stell dir vor, so würde ein Klavier funktionieren.«

Urplötzlich schlug Professor Raue mit seinem Stock auf das Pult. Ein lauter Knall entlud sich. Alle zuckten zusammen. »Was haben die jungen Damen denn zu tuscheln, Fräulein Bing?«

Ruhig stand Mariechen auf. »Meine großen Brüder haben mir das Experiment bereits gezeigt.«

»Na, dann weißt du ja schon alles und kannst mir gleich helfen.« Professor Raue winkte Mariechen an seine Seite. Ihre Augen leuchteten. Mir hingegen fiel ein Stein vom Herzen, dass er nicht mich gewählt hatte.

»Nicht nur sichtbare Kräfte können Dinge bewegen.« Er hob die Kugel ein weiteres Mal hoch und setzte das Pendel in Bewegung. Ein ruhiges, gleichmäßiges Klacken erfüllte den Raum. Es erinnerte mich an das Metronom, das unsere Klavierstunden monoton beherrschte. Unser Lehrer sprach im Takt weiter.

»Es gibt unsichtbare Kräfte, die etwas in Gang setzen können.« Er griff noch einmal hinter sich in den Schrank und nahm einen großen Kamm und ein Tuch heraus. Dann rieb er beides aneinander, hob den Kamm triumphierend in die Höhe und hielt ihn an Mariechens Haar. Nichts geschah. Er schüttelte den Kopf. Erneut grummelte es im Raum, denn alle verstanden, dass irgendetwas nicht funktioniert hatte. Wir wussten nur nicht, was.

Mariechen ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern stand nach wie vor lächelnd vor der Klasse. Also rieb er nochmals den Kamm am Tuch und berührte mit ihm hastig Mariechens Haar. Nichts geschah. Aus den hinteren Reihen hörte ich leises Gekicher.

Professor Raue raunte unglücklich: »Da haben wir wohl ein Problem.« Er führte sein Experiment ein drittes Mal durch. Doch auch diesmal bewegte sich nichts, rein gar nichts. Das Kichern wurde lauter, und als Professor Raue ein viertes Mal seinen Kamm am Tuch rieb, fiel Mariechens Haltung plötzlich zusammen.

»Wenn ihr mit dem Lachen aufgehört habt, komme ich wieder.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum. Die Tür klackte ins Schloss.

»Fräulein Bing!«, rief Professor Raue. Die Mädchen kicherten. Ich jedoch erstarrte und schaute gebannt auf die Tür.

»Ruhe!«, rief unser Lehrer jetzt energisch. Er klopfte dreimal mit seinem Stock auf das Pult, rieb den Kamm ein letztes Mal und hielt ihn an Elsas Kopf. Sie saß in der ersten Reihe, und ihr feines rötliches Haar löste sich ohnehin ständig aus ihren Zöpfen. Und tatsächlich: Elsas lange Locken bewegten sich wie von Zauberhand und schlugen gegen den Kamm.

Ich weiß nicht, wer damit angefangen hatte, doch nach und nach klatschten alle, und das Lachen erlosch. Kaum war auch das Klatschen verstummt, bewegte sich die Tür. Mariechen betrat den Raum und setzte sich wieder neben mich. Professor Raue tat so, als wäre nichts geschehen.

Ich zog das winzige Kästchen mit dem roten Füller aus meinem Ranzen und legte es Mariechen hin. Sie öffnete es und lächelte.

Von diesem Tag an war der Professor unser Lieblingslehrer. Wir bewunderten ihn beinahe mehr als Fräulein Baumann.

Der Salon

»Wir werden als Bing-Quartett auftreten, Menny, Hugo, Richard und ich.« Mariechen hüpfte aufgeregt im Kreis, ihre Stimme überschlug sich.

»Waren deine Brüder nicht dagegen?«

Sie hörte auf zu hüpfen und antwortete trotzig: »Sie haben gesagt, dass nur Leute in Hosen und mit kurzen Haaren Musik machen dürfen.« Mariechen zog mich lachend in ihr Zimmer. »Ich muss üben.«

Das Konzert fand in unserem Salon statt. Unsere Mutter hatte sich extra ein neues Kleid fertigen und unser Vater seinen Bart sorgfältig stutzen lassen.

Mir legte Mutter ihre schwarze Seidenbluse hin, die ich mit Widerwillen anzog. Irgendwie kratzte mich der Stoff und bestärkte mich in meiner Ahnung, dass irgendetwas Merkwürdiges am heutigen Tag passieren würde. Lea trug ein Kleid von mir. Nur Fritz, unser kleiner Bruder, durfte ganz wie gewohnt in kurzen Hosen auftreten.

Begeistert deklamierte unsere Mutter vor dem Auftritt: »Fräulein Hedwig Meyer am Klavier, hört, hört, eure Lehrerin, ›Sonate 32, Opus 111 c-Moll‹ von Ludwig van Beethoven.«

Meine Gedanken schweiften ab, bis meine Mutter mir auf die Schulter klopfte. »Das Bing-Quartett.« Sie schüttelte den Kopf. »Merkwürdig. Bisher dachte ich, dass sie ein Trio wären.«

»Mariechen spielt mit«, erwiderte ich.

Mutter ging darauf nicht ein und führte weiter aus: »Ihr werdet es kaum glauben …«, dabei strahlte sie wie Mariechen, »ich spiele von Schumann die ›Träumerei‹.«

Unser Vater klopfte bestätigend mit seinem Stock auf den Boden.

Lea und ich waren froh, dass wir nicht zum Konzertieren geladen worden waren. Besonders ich vermied zum Ärger unserer Mutter das Vorspielen. Immer wenn mir jemand am Klavier auf die Finger schaute, schienen sich diese zu verhaken.

Von unserer Küche breitete sich inzwischen ein verlockender Duft von Frikadellen, frisch gebackenem Brot und würzigem Käse aus. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Das Mädchen rannte hin und her, stellte zusätzlich Beistelltische in die Diele, rückte die Stühle im Salon gerade und uns Kinder zur Seite.

Endlich klingelte es. Unser Nachbar kam. Hermann Herz begrüßte unsere Eltern, danach uns überschwänglich. Er küsste meiner Mutter, dann Lea und mir die Hände. Röte schoss mir ins Gesicht. Ich schaute verwundert meine Hand an. Fritz klopfte er energisch auf die Schulter. Zum Glück lenkte uns ein weiteres Klingeln ab.

Thekla Herz, die Frau von Hermann, und ihre Söhne folgten. Der Mode entsprechend trugen die Männer einen Schnurrbart und Fliege, die Frauen weit ausladende Röcke. Die Diele füllte sich, wir Kinder wurden in den Salon gedrängt. Albert Herz, einer der Söhne, verhielt sich besonders zuvorkommend und machte uns Platz. Er hatte besonders dunkle Augen und blieb mir in Erinnerung. Dann schlug die Uhr Viertel vor. Von den Bings war keine Spur zu sehen. Das Mädchen verteilte Sektgläser. Für uns gab es Limonade. Ich nippte daran und drängelte mich zur Eingangstür durch, denn ich wollte Mariechen nicht verpassen.

Doch die Bings kamen und kamen nicht. Langsam verteilten sich die Erwachsenen auf die Stühle im Salon. Es wurde ruhiger, und meine Mutter winkte mich zu sich. Der Gong schlug elf Mal.

Zögernd setzte ich mich zu meiner Familie. Mariechen war noch nie zu spät gekommen. Hermann Herz ging zu meinem Vater und flüsterte ihm etwas zu. Sie nickten eifrig, dann trat mein Vater vor den Flügel.

»Herzlich möchte ich Sie heute zu unserem kleinen Konzert begrüßen.« Alle klatschten. Es klingelte noch einmal.

Endlich kamen sie: Nathan Goetz und seine Frau Marie, dahinter Mariechens Mutter Henriette, Menny und Hugo. Richard folgte, alle überragend, dann seine Geschwister, erst Anna, dann Alfred und zuletzt … Ich schlug die Hände vor den Mund. »Nein!« Mariechen hatte raspelkurze Haare. Sie trug kurze Hosen und sah aus wie ein Junge. Aber sie strahlte.

Das Konzert begann. Fräulein Meyers Klavierspiel füllte den Raum aus. Die Zuschauer wurden still, versanken in der Musik. Nur ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her und wartete sehnsüchtig auf den Moment, Mariechen sprechen zu können.

Tosender Applaus für das Klavier wurde von den Streichinstrumenten der Bings abgelöst. Menny und Hugo standen, Mariechen und Richard bildeten auf Stühlen sitzend den Rahmen. Vorsichtig setzte Mariechen ihren Bogen an. Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder, bewegte den Kopf zu ihren Brüdern, die ihr mit ihren Streichinstrumenten antworteten. Gemeinsam wurden sie sicherer, spielten gefühlvoller, der Satz erklang lauter, die Gäste flüsterten leise, hörten auf zu sprechen. Die Bings spielten von Robert Schumann ›Ein Choral‹, als hätten sie nie etwas anderes in ihrem Leben getan.

Es war nur ein kurzes Stück. Ein kleiner nervöser Fleck zeigte sich auf Mariechens Wange. Aber schon verschwand er wieder. Marie lächelte, dann erstrahlten die Gesichter der Jungs. Kaum senkte das Bing-Quartett die Bogen, klatschten alle begeistert.

Nach dem Streichquartett spielte meine Mutter, doch ich hatte nur Augen für Mariechen, die unweit von mir Platz gefunden hatte, und ihre kurzen Haare.

Das Konzert endete. Nach dem Beifall dankte unser Vater und bat alle zum Essen und zu den Getränken. Endlich konnte ich zu meiner Freundin eilen. »Was ist geschehen?«

»Was soll schon geschehen sein?«

»Mit deinen Haaren?«

Sie lächelte verschmitzt. »Es war nötig.«

Verwundert fragte ich nach. »Nötig?«

Sie nickte. »Mehr sage ich dazu nicht.«

Von da an begleiteten mich drei Fragen durch mein Leben:

Hatte Mariechen sich selbst die Haare geschnitten?

Wieso wusste sie immer, was sie wollte?

Was wollte ich eigentlich?

Der Ausflug

Unsere Eltern schwärmten von der Familie Bing. Am folgenden Wochenende würden wir alle einen Ausflug in die Flora machen. Ich freute mich darauf, Zeit mit Mariechen zu verbringen. Und vielleicht würde ich etwas über ihren neuen Haarschnitt herausfinden können.

Am Sonntagmorgen, einem milden Herbsttag im Jahr 1888, war die Aufregung groß. Meine Schwester wollte nichts essen, Fritz goss sich Milch über seinen Anzug. Nachdem das Mädchen ihn gereinigt und Lea mit einem Zwieback gefüttert hatte, machten wir uns auf den Weg.

Zur vollen elften Stunde vereinte sich unsere Prozession mit der Bing’schen an der Glockengasse, genau vor der Synagoge. Das Glockenspiel der Parfümerie 4711 lieferte sich mit den Domglocken ein Duell. Meine Mutter atmete tief ein, als wollte sie ein wenig vom Duft des Parfümherstellers mit auf den Weg nehmen. Die Männer reichten sich die Hände, die Frauen küssten sich auf die Wangen. Endlich gingen wir los. Vorn schritten die Männer, danach die Frauen, am Ende Jugendliche und Kinder.

Obgleich Mariechens Onkel Nathan und mein Vater nicht unterschiedlicher hätten sein können, der eine Kaufmann, der andere Arzt, der eine untersetzt, der andere schlank und groß, der eine mit Vollbart, der andere glatt rasiert, der eine im dunklen Mantel, der andere im auffällig hellen Rock, führten sie eine rege Unterhaltung. Dahinter folgten die Mütter, denen sich mein kleiner Bruder immer wieder entriss.

Fritz hüpfte zu den Männern vor und rief unentwegt: »Wir fahren mit der Pferdebahn. Wir fahren mit der Pferdebahn.« Er stolperte. Ein Aufschrei, die Mutter hob ihn auf und stellte ihn hin. Dann ging es weiter. Schließlich erbarmte sich Mariechens Bruder Hugo und übernahm die Aufsicht über den Zweijährigen. Kurz vor der Haltestelle war er jedoch das Einsammeln leid und nahm Fritz auf den Arm.

Begeistert ließ sich der Kleine dann auf einen Sitz in der Straßenbahn bugsieren und lehnte sich an seinen neuen, großen Freund an. Kaum waren wir alle eingestiegen, fuhr die Bahn mit lautem Gebimmel los, und Fritz schlief ein. »Jetzt verpasst er wieder alles«, meinte Lea. Recht hatte sie.

Uns bot sich zu einer Seite der wunderbare Blick auf den Rhein und zur anderen die prächtige Silhouette der gerade neu entstandenen großen Stadthäuser am Rheinufer, die mehr Schlössern als Häusern ähnelten.

An der Flora wachte unser kleiner Bruder wieder auf. Er hatte genug Kraft geschöpft und begann sein Spiel von Rennen, Fallen, Geschrei und Aufgehobenwerden von Neuem. Wir jedoch genossen den Blumenpark, der mitten in der emsigen Stadt Ruhe und frische Luft bot.

Mariechen und ich folgten unseren Müttern, um von ihren Gesprächen etwas zu erhaschen, während unsere Geschwister ruhig spazierten und zu singen begannen.

Meine Mutter klagte über den Aufwand, den sie mit Fritz habe, dabei hatten wir ein Kindermädchen. Ich war froh, dass sie nichts über Lea und mich erzählte.

Mariechens Mutter hingegen sprach von neuen Klavierstücken, die sie gerade einübte. Beide Frauen waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie nicht bemerkten, wie sie vom Weg abkamen und auf ein völlig aufgeweichtes Beet traten. Unsere Mutter rutschte aus, rief um Hilfe, versuchte sich an einen Ast zu klammern und fiel vor unser aller Augen hin. Die Sänger hörten auf zu singen, die Gesellschaft erstarrte.

Unser Vater eilte zu ihr. Kaum stand sie wieder auf den Beinen, begann sie zu schimpfen, denn ihr schönes Kleid war schmutzig. Doch unser Vater hatte nichts Besseres zu tun, als mal wieder einen Reim von sich zu geben. »Beim Spaziergang, was ein Schreck, fällt die Mutter in den Dreck.« Dabei lächelte er sie an und putzte mit seinem Brusttuch etwas Schmutz von ihrem Rockteil, was den Fleck jedoch nur vergrößerte. Sie aber konnte seinem Charme nicht widerstehen und lachte. Da stimmten wir alle in ihr Lachen ein.

Auf dem Rückweg überboten sich die Männer mit dem Erzählen von Witzen. Unsere Mütter jedoch fanden dies gar nicht so lustig und hatten nun Grund genug, über ihr schweres Leben zu klagen.

Das Klavier

»Sie ist wunderbar!«, jubelte Mariechen, als sie mir von Fräulein Meyer, die nun auch ihre neue Klavierlehrerin war, die beste der Stadt, erzählte.

»Und was findest du so wunderbar an ihr?« Ich saß auf Mariechens Bett und schaute sie skeptisch an.

»Sie ist so voller Energie und Ideen. Ich dachte, ich müsste wieder mit Tonleitern anfangen wie beim Cello, doch ich durfte gleich Noten von Schumann spielen.«

»Aha«, bemerkte ich verwundert. »Uns quält sie täglich mit Tonleitern.«

Mariechen setzte sich an ihr Klavier und spielte mir den Schumann vor, den sie ständig getrommelt hatte.

»Aber altmodisch ist sie schon mit ihren dunklen Kleidern und dem strengen Dutt«, warf ich ein.

»Na und«, erwiderte Mariechen und spielte weiter, ohne auf die Tastatur zu sehen.

»Was für flinke Hände du hast!«

Sie zeigte auf ihre kurzen Locken. »Flinke Hände, störrisches Haar. Professor Raue wird mich nie wieder zu einem Experiment an die Tafel rufen.«

Wir lachten und probten kleine Stücke für vier Hände, während Lea wieder einmal Mariechens Bücher durchforstete. Dann klopfte es an der Tür.

»Bitte«, rief Mariechen laut.

Ein junges Mädchen schaute zur Tür herein und fragte ungelenk und mit einem merkwürdigen Akzent, ob wir eine heiße Milch wünschten. Natürlich wollten wir.

»Sie kommt aus England und soll mindestens ein Jahr bleiben«, erklärte uns Mariechen. »Und sie ist nett. Ständig gibt es etwas zu trinken und Kekse dazu.«

»Aus England? Wie kam sie zu euch?«

»Onkel Nathan hat häufig dort zu tun und meint, sie könnte unserem Englisch guttun.«

»Dazu müssten wir erst mal gut in Englisch sein«, erwiderte ich.

Mariechen brach in lautes Lachen aus. »Das stimmt, das stimmt.«

Von diesem Tag an legte sie kleine Zettel auf ihre Möbel und Sachen. Mit meinem Geschenk schrieb sie fein säuberlich die dazugehörigen Begriffe darauf: table, chair, piano, key …

»Mariechen, du wärst eine gute Lehrerin«, lobte die englische Louise, als sie uns bei einem weiteren Besuch warme Milch mit Keksen brachte. Als es an dem Tag erneut klopfte, nahmen wir natürlich an, dass es wieder die Englische sei, wie wir Louise von nun an nannten. Doch wir lagen falsch.

Menny, Hugo und Richard stürmten in das Zimmer und warfen bunte Schnipsel in die Luft. »Kamelle, Kamelle!«, riefen sie laut und ungestüm und hüpften umher. Besonders hoch sprang Richard. Dabei streckte er seine langen Beine und Arme in alle Richtungen und steckte uns mit seinem lauten Lachen an.

So schnell, wie der Spuk begonnen hatte, hörte er wieder auf. Hinter ihnen schlug die Tür zu. Übrig blieb eine bunte Landschaft. Sorgfältig pustete Mariechen die Schnipsel aus der Tastatur ihres Klaviers und schloss den Deckel. Dann rief sie das Mädchen zum Aufräumen und nahm uns mit in den Salon, wo wir weiter vierhändig übten.

Als Lea und ich gingen, flüsterte Mariechen mir zu: »Der Richard ist verrückt. Das sag ich dir. Aber nett, ausgesprochen nett.«

Erste Liebe

Mit der Zeit wuchs Mariechens Haar. Erst stob es wie wild in alle Richtungen, dann wurde es von der Englischen, ihrer Louise, gezähmt. Schließlich zeigte sich ein erster kurzer Zopf.

Es war ein sonniger Herbsttag im Jahr 1889, als Mariechen uns mit in ihren Samt- und Seidenband-Palast nahm. Louise war an unserer Seite. Ein junger Mann öffnete uns die Tür und verbeugte sich tief vor Mariechen. Sie lächelte, ich war beeindruckt. Lea hüpfte aufgeregt umher, als wäre sie ein Kleinkind. Dabei war sie zehn Jahre alt, und wir waren stolz auf unsere elf Jahre.

Helles Licht erfüllte den großen Raum, der einem Markt glich. An den Seiten des Gebäudes waren die Regale prallvoll mit Stoffen und Bändern gefüllt. Sortiert waren sie nach Farben und Stoffarten. Lea rannte sofort an eine Seite, um die Auslagen zu berühren. Wir folgten ihr, während sich uns eine junge Verkäuferin näherte, die genauso jung wie die Englische sein musste.

»Mein Name ist Schmitz, Emma Schmitz. Kann ich den Damen Bing und Stein etwas zeigen?«, fragte sie höflich.

Wir ließen sie gewähren und fuhren mit unseren Händen über die präsentierten Bänderrollen, berührten den weichen Samt, staunten über die kräftigen Farben der Seidenbänder. Stolz führte uns Mariechen herum, sie teilte unser Interesse, das ihr noch vor einem Jahr völlig unverständlich gewesen war.

»Was für ein schöner Tag!«, jubelte Lea nach dem Besuch.

»Immer wieder schön!«, lobte auch die Englische.

Ich schaute Mariechen von der Seite an und sah, wie gerade sie stand, wie stolz sie war. Dann verbeugte sie sich noch tiefer als der junge Mann, der uns die Tür geöffnet hatte. »Es war mir ein Vergnügen, meine Damen.« Dabei lachte sie laut, und wir stimmten in ihr Lachen ein.

Danach bot ich Mariechen an, uns in das jüdische Krankenhaus zu begleiten, in das uns Vater fast jeden Abend mitnahm. Sie lehnte dankend ab. »Diese Exponate, Augen in Gläsern, bah, eklig.«

Ich zwinkerte ihr zu. »Soll ich dir eins mitbringen?«

»Wehe!«, warnte sie.

Wenn Mariechen nach der Schule zum Klavierüben nach Hause eilte, bummelte ich mit Lea zum Gymnasium in der Kreuzgasse. Ich hoffte, einen Blick auf Richard erhaschen zu können, und war mir sicher, dass meine Freundin nichts von meinen heimlichen Spaziergängen ahnte. Doch schon bei ihrem nächsten Besuch hatte Mariechen einen Vorschlag für mich.

»Die Jungs geben ein Konzert mit Staffelei.«

»Mit Staffelei?«, wunderte ich mich.

»Du wirst sehen.«

Die Wohnung der Familie Goetz war sachlicher eingerichtet als die der Bings, doch auch hier fanden sich weiche Teppiche und gute Stoffe an den Fenstern. Die Goetzens hatten weniger Leuchter, Vasen und Nippes, dafür waren die Wände voller Gemälde. Eine Landschaft mit Blick auf den Rhein sprach mich sofort an. Mariechen flüsterte uns zu: »Onkel Nathan sammelt das.«

Mein Herz klopfte vor Aufregung, und ich betete in Gedanken, dass die Jungs meine Nervosität nicht spüren würden.

Wir gingen in Richards Zimmer. Es lag genau über dem von Mariechen. Dort, wo bei ihr das Klavier den Raum dominierte, standen bei dem Fünfzehnjährigen drei Staffeleien, die sofort meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Auf einer wiederholte sich der Blick auf den Rhein. »Von Richard«, hauchte Mariechen mir zu.

Die drei Jungs hatten für sich einen Läufer ins Zimmer gelegt und uns eine kleine Stuhlreihe als Zuschauerraum zugedacht. Hugo wies uns Plätze zu.

»Ruhe!«, rief Menny energisch und klopfte mit seinem Geigenbogen auf das Notenpult. »Mögen die Damen bitte ruhig sein.«

Dann stellten er und Hugo sich mit ihren Instrumenten auf, während Richard mit einem Pinsel vor einer Staffelei Platz nahm. Während Menny den Ton angab, klopfte Hugo mit seinem Bogen den Takt »Ba-bada-dabap-bada«. Richard nahm ihn auf und tupfte dazu Farbe auf die Leinwand. Es war ein ulkiges Spektakel von nicht einmal fünf Minuten, das mit einem lauten »Bap« und einem deutlichen Pinselstrich auf dem Bild endete. Ein getupfter Wald vor blauem Himmel war entstanden. Die drei verbeugten sich tief.

Mariechen klatschte wie wild, und wir stimmten in ihre Begeisterung ein. Dann jagten uns die Jungs wieder aus der Wohnung. Noch auf der Treppe rief Mariechen lachend: »Der Richard ist einfach verrückt.« Lea schüttelte dazu heftig den Kopf, doch ich fand diese Verrücktheit wunderbar.

Glücklicherweise für mich, unglücklicherweise für Lea erkrankte meine kleine Schwester an einer Angina. Endlich konnte ich Mariechen allein besuchen.

»Ein richtiger Künstler«, schwärmte ich.

»Ein Verrückter«, habe ich dir doch gesagt. »Außerdem ist er vier Jahre älter als wir.«

Mir wurde heiß im Gesicht. »So habe ich das nicht gemeint.«

»Doch, doch«, widersprach Mariechen. »Franzi ist verliebt.«

Ich drehte mich von ihr weg, fächerte mir Luft zu. »Und du bist in dein Klavier verliebt.«

Mariechen fasste mich an der Taille und begann zu tanzen. »Nein, gar nicht.«

»In wen denn? Erzähl doch bitte!«, bat ich neugierig, doch Mariechen spannte mich noch ein Weilchen auf die Folter, bevor sie mir ihr Geheimnis verriet.

Richard geht

Lea und ich waren zum Mittagessen nach der Schule bei Mariechen eingeladen. Heute fand es bei der Familie Goetz statt. Es roch verführerisch nach Braten, als wir zur Tür eintraten. In der Küche klapperten die Köchin und das Mädchen mit den Töpfen. Im Salon war gedeckt. Gemeinsam mit Mariechen gingen wir um den Tisch und erkundeten, wer am Essen teilnehmen würde: Onkel Nathan, Tante Marie, Richard und sein Bruder Alfred, der ein Jahr älter als wir war. Anna, Richards Schwester, aß mit ihrem Mann, hatte aber extra Tischkarten für uns geschrieben.

Mariechen nahm sich die Speisekarte vom Tisch. »Kartoffelsuppe und rheinischer Sauerbraten, ich liebe es.«

Lea rieb sich den Bauch. »Und ich erst.«

Alfred kam hinzu. Er machte ein mürrisches Gesicht, das sich jedoch aufhellte, als er uns entdeckte. »Wie gut, dass ihr da seid!«

Ich freute mich. »Gern.«

Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Mariechen setzte sich zu ihm. »Sollten wir was wissen?«

Alfred nickte. »Dicke Luft.«

Richard trat ein und begrüßte uns überschwänglich. »Damenbesuch. Unterhaltung für die Seele.«

Tante Marie folgte, strich Lea und mir zur Begrüßung sanft über die Haare und wandte sich Richard zu. »Heute nicht. Hast du verstanden?«

Ich wollte gern wissen, was heute nicht stattfinden sollte. Aber das erwähnte sie nicht.

Richard machte ein ernstes Gesicht. »Ich gebe mein Bestes.«

Tante Marie forderte uns zum Platznehmen auf. Lea lehnte sich leicht an mich und flüsterte: »Oje. Ich hasse so etwas.«

»Geflüstert wird nicht«, ermahnte uns Mariechens Tante.

Bestimmt hätte sie Lea aufgefordert zu sagen, was sie mir zugeflüstert hatte, doch Onkel Nathan unterbrach dieses Anliegen. Er kam von der Arbeit. Mit Schwung warf er dem Mädchen im Flur Mantel und Hut zu. Geschickt fing sie beides auf.

Nathan Goetz war zweiundfünfzig Jahre alt, wirkte jedoch jung und voller Elan. Er hatte einen gemütlichen Bauch, und man sah ihm seine Lebensfreude an. »Was gibt es Schöneres, als sich nach einer anregenden Arbeit einem Sauerbraten zu widmen?«

»Bratwürstchen«, erwiderte Alfred.

Sein Vater war anderer Meinung. »Es gibt nichts Besseres als Sauerbraten unter der Woche.«

Die Köchin und das Mädchen trugen sieben Teller mit der Suppe herein. Uns Mädchen hatten sie diese nur halb gefüllt. Lea atmete auf. Sie hasste Suppen. Nachdem Onkel Nathan ein kurzes Gebet gemurmelt und den ersten Löffel genommen hatte, nickte er uns zu.

Wir löffelten langsam. Kartoffeln, Möhren, Pastinaken, nicht gerade meine Lieblingsspeisen. Mariechen jedoch hatte sichtlich Freude daran und pickte sich zuerst die Pastinaken heraus. Alfred und Richard aßen hastig und nahmen sich vom Brot, das auf dem Tisch stand. Was Jungs alles essen können!

Schließlich unterbrach Onkel Nathan das Löffeln seiner Suppe und wandte sich an mich. »Was gibt es bei euch an Neuigkeiten?«

Artig antwortete ich. »In der Schule läuft es gut. Wir haben einen Physiklehrer, der mit uns Experimente macht.« Lea stimmte mir zu. »Nächste Woche machen wir zudem einen Ausflug in die Flora.«

Nathan freute sich. »Ich liebe die Flora.«

Tante Marie nickte zustimmend. »Im Herbst haben wir Osterglocken gesetzt. Ich freue mich jetzt schon auf den Frühling, wenn die Knospen herauskommen und unseren kleinen Garten in ein gelbes Meer verwandeln.«

»Und bei euch?«, wandte sich Nathan an seine Söhne.

Alfred zögerte, doch dann brach es aus ihm heraus. »Wir sind mit unserem Sportlehrer zum Rhein gegangen und haben uns den Ruderklub angeschaut, doch dort haben sie uns gesagt, dass wir jüdischen Schüler nicht erwünscht sind.«

Nathans Gesicht verdüsterte sich. »Er hätte sich wenigstens vorher erkundigen können, ob das ein Angebot für alle ist.«

Richard legte mit einem lauten Klacken seinen Löffel auf den Teller. »Beim Rudern dürfen wir nicht mitmachen, und der Kunstlehrer ist ein Dilettant. Diese ganze Schule ist furchtbar.«

Tante Marie unterbrach ihn. »Richard. Wir haben Gäste.«

Nathan gebot mit einer Geste Ruhe. »Im Leben läuft halt eben nicht immer alles so, wie man möchte. Das ist so in der Schule und in der Arbeit. Das solltet ihr lernen.«

Trotzig erwiderte Richard: »Wir leben nur einmal. Diese Schule bringt mir nichts, gar nichts. Ich brauche kein Abitur, um Künstler zu werden.«

Ich erschrak und blickte hinüber zu Mariechen. Auch sie schaute erstaunt.

»Und wovon bitte willst du leben?«

Ruhig antwortete Richard. »Von der Kunst.«

Alle schwiegen, doch ich sah, wie Onkel Nathan und seine Frau innerlich bebten. Sie klopfte an das Glas und rief die Köchin und das Mädchen, die hastig die Teller abräumten und die Hauptspeise servierten. Sauerbraten mit Rotkohl, Kartoffeln und viel Soße. Köstlich, doch irgendwie wollte sich der Genuss bei mir nicht so recht einstellen.

Onkel Nathan füllte die Stille mit Erzählungen von der Arbeit. Er sprach freundlich, als hätte es keinerlei Meinungsverschiedenheit gegeben. Neue Stoffe aus England waren eingetroffen, eine Filiale in Florenz in Italien eröffnet worden. Sie suchten dringend Verkäuferinnen, denn die jungen Frauen würden ständig heiraten und Kinder bekommen. Wir schwiegen, nur Tante Marie stimmte ihrem Mann immer wieder zu.

Am Ende des Mittagessens waren wir zwar gesättigt, jedoch hungrig nach einer angenehmeren Atmosphäre und verabschiedeten uns schnell mit dem Hinweis, noch Hausaufgaben erledigen zu müssen. Doch kaum hatten wir den Salon hinter uns gelassen, hörten wir Onkel Nathan einen anderen Ton anschlagen.

»Was denkst du dir eigentlich, mitten in ein Essen mit Gästen mit so verrückten Ideen hineinzuplatzen? Schule abbrechen und Künstler werden? Wir sind eine Familie von Kaufleuten.«

Darauf hörten wir Richard laut antworten: »Otto arbeitet im Geschäft und wird es bestimmt in deinem Sinne führen. Ich jedoch will Künstler werden. Ich kann das und nur das.«

Mariechen zog uns hinter sich her in die Diele, dann hinunter in ihre Wohnung. Sie schlug die Tür zu, lehnte sich an und atmete tief aus. »Richard bricht das Gymnasium ab.«

»Aber wir sind doch mitten im Schuljahr?«

»Er geht nach Düsseldorf und will Künstler werden. Mutter hat es mir erzählt, aber ich wollte es nicht glauben.«

»Er zeichnet wirklich schön.«

»So ein Idiot!«, rief sie laut.

»Aber du hast doch gesagt, dass er werden kann, was er möchte.«

Mariechen ließ sich in ihrem Zimmer auf den Klavierhocker fallen. »Wenn er das Abitur hätte, aber das hat er noch nicht.« Sie schimpfte: »Wenn ich Abitur machen dürfte, dann könnte ich auf das Konservatorium gehen. Ich könnte Klavier studieren, lernen, was ich will. Und er schmeißt alles hin.«

»Vielleicht überlegt er es sich noch einmal?«, warf Lea leise ein.

Mariechen schüttelte den Kopf. »Onkel Nathan hat Albert gerufen, Albert Herz. Er hat ihn gebeten, Richard umzustimmen. Albert hat die Schule auch gehasst. Immer sagen sie, dass alle gleich sind, doch dann durfte er bei keiner Sportart mitmachen. Er hat sich unendlich darüber aufgeregt, noch mehr als Richard. Jetzt macht er in Duisburg Abitur. Also hat Onkel Nathan Richard vorgeschlagen, auch in Duisburg seinen Abschluss zu machen.«

Ich wunderte mich. »Aber das ist doch mehr als siebzig Kilometer entfernt.«

»Richard hat sich nicht umstimmen lassen. Am Ende des Schuljahres will er die Kreuzgasse verlassen.« Mariechen stand auf, hielt einen imaginären Pinsel hoch und sprach mit schriller Stimme: »Ich will Künstler werden.«

Plötzlich brodelte es in mir. »Aber du willst doch auch Klavier spielen.«

Mariechen setzte sich wieder. »Und du?«

»Was und ich?«

»Was willst du eigentlich machen?«

Ich schaute Mariechen an und sah den Zettel mit »piano« auf ihrem Klavier liegen. Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«

»Ich will auf jeden Fall heiraten und mindestens vier Kinder haben, zwei Mädchen und zwei Jungs«, piepste Lea dazwischen.

Mariechens Gesicht hellte sich auf. »Vielleicht habt ihr recht? Ich mag nur nicht, wenn Onkel Nathan wütend ist, und ich mag es nicht, wenn die Familie streitet.«

Richard änderte seine Meinung nicht. Im Frühjahr 1890 ging er nach Düsseldorf, nahm Zeichenunterricht und kam nur noch selten nach Köln, meist an Feiertagen, an denen ich bei meiner Familie war. Meine Spaziergänge zur Kreuzgasse gab ich auf. In Gedanken fand ich jedoch Richards Entschluss gut. Einfach so gehen, einfach das machen, wozu er Lust hatte. Welch ein Mut!