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Ein aufregender Roman über Carola Neher, eine der schillerndsten Schauspielerinnen der Weimarer Republik von der Bestseller-Autorin Charlotte Roth. Wo sie auftritt, jubeln die Menschen der geheimnisvollen Carola Neher zu. Die Theater reißen sich um sie. Berlin liegt ihr zu Füßen in jenen letzten Jahren der Weimarer Republik. In durchfeierten Nächten verdreht sie einem berühmten Mann nach dem anderen den Kopf – doch im Herzen bleibt sie allein. Das ändert sich, als sie dem Dichter Klabund begegnet, ein Suchender und ein Getriebener wie sie selbst. Ausgerechnet sie, die begehrte femme fatale, verliebt sich in den scheuen, zurückhaltenden Dichter, der von der gleichen inneren Glut verzehrt wird wie sie selbst. Was keiner für möglich gehalten hätte, tritt ein: Sie heiratet ihn. Doch eine brave Ehefrau wird Carola nicht, denn schon bald lockt sie das wilde Leben – und die Künstler Berlins, darunter Bertold Brecht, der ihr die Chance ihres Lebens bietet … In diesem Roman setzt Bestseller-Autorin Charlotte Roth der Schauspielerin Carola Neher ein Denkmal, die in den 20er Jahren die Muse vieler berühmter Männer war und als Brechts erste Polly unsterblich wurde.
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Seitenzahl: 640
Charlotte Roth
Sie war die Muse von Bertolt Brecht. Roman
Knaur eBooks
Die Bühne war ihr Leben - und ihr Leben eine Bühne
Wo sie auftritt, jubeln die Menschen der geheimnisvollen Carola Neher zu. Berlin liegt ihr zu Füßen in jenen letzten Jahren der Weimarer Republik. In durchfeierten Nächten verdreht sie einem berühmten Mann nach dem anderen den Kopf – doch im Herzen bleibt sie allein. Das ändert sich, als sie dem Dichter Klabund begegnet, ein Suchender und ein Getriebener wie sie selbst.
Ausgerechnet sie, die begehrte femme fatale, verliebt sich in den scheuen, zurückhaltenden Dichter, der von der gleichen inneren Glut verzehrt wird wie sie selbst. Was keiner für möglich gehalten hätte, tritt ein: Sie heiratet ihn. Doch eine brave Ehefrau wird Carola nicht, denn schon bald lockt sie das wilde Leben – und die Künstler Berlins, darunter Bertold Brecht, der ihr die Chance ihres Lebens bietet …
Widmung
Grußwort Ihres Abendspielleiters
Ehe der Vorhang sich öffnet
Der Vorhang öffnet sich zum Vorspiel
1. Kapitel
Erster Akt
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
Zwischenspiel in dramatischem Moment. Obwohl Brecht einen Umbau auf offener Bühne wünscht, senkt sich aus Gründen des Taktes der Vorhang.
Zweiter Akt
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
Der Vorhang senkt sich noch einmal, die Darsteller brauchen eine Atempause, auch wenn der Herr Brecht keine Vorhänge mag.
Dritter Akt
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
Der Vorhang bleibt oben. Umbau zum Dreigroschenfinale
Ihr Abendspielleiter verabschiedet sich
Glossar
Rechtenachweise
Leseprobe »Die Wintergarten-Frauen«
Für dich, Pappchen.
Danke für die vielen Jahre im Theater, für deine Begeisterung, deine Klugheit, deine Freude an dem, was Menschen zustande bringen.
Liebe Leserin. Lieber Leser.
Sie halten dieses Buch in der Hand. Sie haben es aufgeschlagen. Dafür vielen Dank.
Damit Sie hoffentlich weiterblättern, weiterlesen und sich am Ende nicht betrogen fühlen, sei das Folgende vorangestellt:
Dieses Buch ist ein Roman. Und da es von einer Frau erzählt, die für das Theater lebte, von ihren Freunden (und Feinden), die um den Vulkanschlund des Theaters ihren Tanz aufführten, und vom Theater selbst, will es sich ein ganz klein wenig auch als ein Theaterstück gebärden.
(Es ist natürlich keines. Es kostümiert sich nur ein bisschen und setzt sich in Szene.)
Eines ist es allerdings ganz und gar nicht und will es auch nicht sein: eine Biografie.
Was dem Biografen verboten, dem Romanautor aber gestattet ist, habe ich, wo immer es mir nötig schien, getan: Ich habe Ereignisse, Spielorte, Figuren zusammengezogen, verschoben, gestrichen und ergänzt, wie es mir die Dramaturgie zu erfordern schien. Während mir viel daran gelegen war, die schillernden Eigenheiten meiner Gestalten, meiner Epoche und meiner Stadt so naturgetreu abzubilden, wie es mir möglich war, habe ich ihr faktisches Drumherum meiner Geschichte untergeordnet. Nicht umgekehrt. So habe ich beispielsweise eine Szene (zu Beginn des zweiten Aktes), von der niemand ganz genau weiß, ob und wo sie stattgefunden hat, dreist nach Berlin verlegt, einfach weil ich fand, da gehöre sie hin. Dass sie tatsächlich in Berlin stattgefunden hat, gilt übrigens als unmöglich – aber dann wiederum weiß man ja nicht einmal genau, ob sie nicht überhaupt Erfindung ist …
Zwar habe ich zwei Mitglieder der Familie Jakob Zieglers und weitere Nebenfiguren erfunden sowie die Lebensläufe anderer Nebenfiguren frei gestaltet, die Namen historisch verbürgter Figuren habe ich – bis auf Spitznamen zur Erleichterung – jedoch unverändert belassen. Somit mute ich Ihnen zu, sich durch das Gewirr von Juliussen, Jakobs und Josefs, Karolines und Katharinas zu wursteln, und hoffe, Sie behalten tapfer und unbeirrt den Überblick.
Falls Sie danach Lust bekommen, eine Biografie Carola Nehers zu lesen, würde mich das sehr freuen – für Carola, für mich und für Sie (lassen Sie sich bitte auch die hinreißend sinnliche, im Internet verfügbare Sehnsucht nicht entgehen, mit der sie den »Barbara-Song« intoniert – Ja, da muss man sich doch einfach hinlegen). Und sollten Sie dann der Ansicht sein, ich hätte dieses, jenes oder alles anders machen sollen, dann schreiben Sie mir doch eine Mail.
Nur falls Sie in meiner Darstellung des Berlins der Zwanzigerjahre Fehler finden sollten, die Sie von mir nicht gewohnt sind, üben Sie dieses eine Mal bitte Nachsicht. Mich hat bei all meinen Büchern rund um die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, mein Vater beraten, der der intimste Berlin-Kenner und Berlin-Liebhaber war, der mir je begegnet ist. Er ist jetzt nicht mehr da. Dieses hier, das wir zwei noch zusammen erdacht haben, ist das erste Berlin-Buch, das ich ohne ihn schreibe. Ich habe mir Mühe gegeben. In seinem Sinne.
Die den Romanteilen vorangestellten Szenenangaben entstammen der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht. Beim letzten Teil – Dreigroschenfinale – habe ich das Wort »Kein« ergänzt.
Die Gedichtzeilen zu Beginn der einzelnen Teile stammen wie angegeben von Klabund, den Sie hoffentlich lieb gewinnen. So wie Carola. Und ich.
Herzlichst,
Charlotte Roth
London im Sommer 2019
»Ja, da muss man sich doch einfach hinlegen,
Ja, da kann man doch nicht kalt und herzlos sein.
Ja, da musste doch viel geschehen.
Ja, da gab’s überhaupt kein Nein.«
Bertolt Brecht: »Barbara-Song«, aus: Dreigroschenoper
»Lass die Erde heiß sich drehen!
(Notabene: bis sie kalt ist)
Deine Liebste sollst du sehen
(Notabene: wenn sie alt ist).
Lache, saufe, hure, trabe –
(Notabene: bis zum Grabe).«
Klabund: »Das Notabene« (nach Carl Bellmann),
aus: Das heiße Herz
Weyher bei Edenkoben, Südliche Weinstraße, Pfalz.
Ein Ort mit etwa 700 Seelen,
im Spätsommer 1979.
»Habt ihr die Tränen, die ihr geweint,
Vergessen, vergessen, vergessen?«
Klabund: »Ballade des Vergessens«
Im Sommer ist es hier nicht so schlimm«, hatte Peter gesagt.
Der Peter, mit dem Annette ein paar Wochen lang »gegangen« war, auch wenn es in Weyher bei Edenkoben nicht viel gab, wohin man gehen konnte. Im Sommer immerhin trafen sich die jungen Leute nach der Arbeit – wenn sie Arbeit hatten – am See, um zu schwimmen. Der See lag außerhalb des Ortes, ganz und gar umrundet von mannshohem Schilf, in dem sich Paare verstecken konnten, wenn sie nicht schwimmen wollten, sondern knutschen. Knutschen, das war in dem Sommer mit Peter auch das gewesen, was sie mit Händen, Armen und dem Rest gemacht hatten, und derweil hatten ganze Schwärme von Mücken sich an ihnen satt getrunken.
Nach dem Schwimmen oder Knutschen konnte man sich die Haare auskämmen, die Schilfhalme vom T-Shirt klauben und in den Kronprinz gehen, die einzige Gaststätte in Weyher, die das ganze Jahr über geöffnet hatte. Kartoffelknepp gab es da, an manchen Tagen Blutwurst mit Sauerkraut, an anderen Leberknödel. Suppe immer. Kuchen meistens. Und Wein. Wenn es an etwas in diesem Teil der Welt niemals fehlte, dann am Wein.
Das sagt sich so einfach, dachte Annette. In diesem Teil der Welt. Das klang, als ließen die übrigen Teile sich kinderleicht erreichen, als wäre es nur eine Frage der Zeit, wann sie aus Weyher aufbrechen und anderswohin gehen würde und von dort wieder anderswohin und so weiter.
Bis sie die Welt kannte.
Konnte man das? Die Welt so gut kennen wie Weyher bei Edenkoben?
Davon, aus Weyher aufzubrechen und anderswohin zu gehen, hatte Annette geträumt, solange sie denken konnte. Sie war gut in der Schule gewesen. Die Beste in der Klasse. Zur weiterführenden Schule gingen die Kinder aus Weyher in Edenkoben, das lag mit dem Fahrrad keine halbe Stunde entfernt und hatte zehnmal so viele Einwohner. Als Annette als Zehnjährige zum ersten Mal allein dorthin geradelt war, hatte sie geglaubt, sie wäre in der großen Welt fern von Weyher angekommen. Mit der Zeit jedoch – erst Woche für Woche, dann Tag für Tag – war Edenkoben geschrumpft und näher an Weyher gerückt. Inzwischen waren Edenkoben und Weyher zu einem Ganzen verschmolzen. Nur dass es in Edenkoben neuerdings eine Pizzeria, ein Kino und mehrere Supermärkte gab.
Nach der Schule waren die ersten der jungen Leute, die am See im Schilf gelegen und im Kronprinz Wein getrunken hatten, aus Weyher weggegangen. Sie fanden keine Arbeit und zogen in die nächstbeste Stadt, wo es welche gab. Annette hatte in Edenkoben ihre Lehre gemacht. Sie hatte gehofft, später studieren zu können, Geschichte oder Geografie, um die Rätsel der Welt zu erforschen, aber schließlich war sie nach Weyher zurückgekehrt. Als schon so gut wie alle, die hatten bleiben wollen, weg waren, war sie, die von Anfang an weggewollt hatte, immer noch da.
Schließlich war auch Peter gegangen.
»Für dich ist es anders«, hatte er gesagt. »Du hast Arbeit. Aber für die meisten von uns gibt es hier keine Zukunft.«
Also war Annette immer noch hier und hatte immer noch Arbeit, und mit der Zeit wurde ihr klar, dass sie wohl auch nicht mehr fortgehen würde. »So spielt eben manchmal das Leben«, sagte ihre Großmutter. »Wir haben ja auch nicht fortgehen können und sind daran nicht gestorben.«
Ihre Mutter sagte: »Wenn es mir noch einmal eine Zeit lang besser geht, kannst du doch vielleicht eine von diesen Städtereisen machen. Mit dem Bus. In der Neuen Post sind immer Angebote, gar nicht teuer. Und mit deiner Arbeit hättest du’s doch schlechter treffen können, oder? Du musst dir wenigstens nicht den Rücken krumm schuften, sondern kannst den ganzen Tag sitzen.«
Möglicherweise besteht darin das Problem, dachte Annette. Das lange Sitzen war einschläfernd, und irgendwann hatte sie die Hoffnung aufgegeben, dass doch noch einmal etwas geschehen würde. Im Grunde aber stimmte sie der Großmutter zu: Sie hätte es schlechter treffen können.
Annette war Bibliothekarin in einer Bibliothek, in die nie jemand kam. Nie war natürlich übertrieben. Der Volksschullehrer kam mit seiner altersgemischten Klasse, um den neuen Schülern beizubringen, wie man eine Bibliothek benutzte. Annette saß hinter dem Tresen, der unter die Treppe gebaut war, und stellte den Sechsjährigen Bibliotheksausweise aus, von denen die meisten nie Gebrauch machen würden. Ab und zu lieh eine Hausfrau sich einen Krimi oder einen Liebesroman, und Annette versah die erste Seite mit einem Stempel, obwohl sie auch ohne Stempel keinen Zweifel daran hegte, dass sie das Buch nächste Woche um die gleiche Zeit zurückbekommen würde.
Es gab auch einen literarischen Zirkel in Weyher, der sich einmal im Monat in der Bibliothek traf, um über ein Buch zu debattieren. Dafür bestellte Annette im Kronprinz eine Beköstigung mit Schnittchen und – wie hätte es anders sein können – Wein. Im Herbst fiel der Zirkel meist aus, weil die Leute mit der Weinlese beschäftigt waren, im Winter fanden die Proben für das Krippenspiel in St. Peter und Paul statt, und im Sommer war es zum Lesen oft zu warm. Aber immerhin, den Zirkel gab es. Annette hätte es schlechter treffen können.
Außerdem war sie nicht allein Bibliothekarin, sondern obendrein Leiterin des Heimatmuseums von Weyher. Das Heimatmuseum lag im Obergeschoss, in das die Treppe über dem Tresen führte. Wie die Bibliothek bestand auch das Heimatmuseum vorwiegend aus einem einzigen Raum, doch gab es oben wie unten noch Lagerräume und im Museum einen Verkaufsstand mit Postkarten und allerlei Krimskrams. Auf halber Treppe befanden sich eine sogenannte Kaffeeküche und eine Toilette.
Ins Heimatmuseum kam noch seltener jemand als in die Bibliothek, weshalb im Bürgermeisteramt beschlossen worden war, es tagsüber aus Sicherheitsgründen abzuschließen. Ließ sich doch ein Besucher blicken, ging Annette mit ihm nach oben, schloss ihm das Heimatmuseum auf und fragte gleich nach, ob er Postkarten oder Krimskrams kaufen wollte. Der Volksschullehrer kam manchmal mit seinen Schülern, von denen die älteren Klemmbretter bei sich trugen, um sich Notizen zu machen. Die jüngeren spielten am Postkartenständer. Manche klauten Krimskrams.
Im Sommer natürlich, wenn die Frühstückspension und das Wanderheim geöffnet hatten, ließ sich gelegentlich ein Tourist blicken, und von Zeit zu Zeit schneite jemand herein, der dringend auf die Toilette musste. Außerdem tagte im Museum der Heimatverein. Vierteljährlich. Wenn die Sitzung nicht ausfiel, bestellte Annette im Kronprinz Schnittchen und Wein.
Das war ihr Leben. Abends ging sie nach Hause, löste Hilke, die Tagespflegerin, ab, und weiter würde nichts mehr geschehen. Sie würde hier sitzen bleiben und altern wie eine Kartoffel, die nicht durch Modergestank auf sich aufmerksam machte, sondern irgendwann einfach verschrumpelt war. Wiederum war ein Monat so gut wie zu Ende. Sie konnte damit beginnen, die Einnahmen und Ausgaben in die Spalten des dafür angeschafften Kassenbuchs einzutragen, die der Bibliothek auf der linken und die des Heimatmuseums auf der rechten Seite.
40 Pfennige für eine verkaufte Postkarte.
30 Pfennige Überziehungsgebühr für einen Krimi.
Ein Quietschen ließ sie aufblicken. Die Glastür, durch die sie hinaus auf die Straße sehen konnte, wenn sie sich etwas zur Seite neigte, wurde aufgeschoben. Nur bis zur Hälfte. Ein Mann blieb im Türrahmen stehen und sah sich so hastig im Raum um, als hätte er Angst. Als er Annette entdeckte, wich er noch einen halben Schritt zurück. Annette hatte einmal, auf dem Heimweg aus Edenkoben, ihr Fahrrad wegen eines platten Reifens schieben müssen und war in der Dunkelheit einem Hasen begegnet. Der Hase war aus einem Gebüsch geschossen und im Sprung erstarrt, der ganze Körper wie eine Sehne gespannt, der schmale, schöne Kopf nichts als zitternde Barthaare, Löffel und riesenhaft geweitete, fast schwarze Augen, in denen aller Schrecken zu stehen schien, den die Welt bereithielt.
Für ein Tier, das seinen Platz am Ende der Nahrungskette hatte, war das Leben eine immerwährende Gefahr. Der Mann, der Annette in der Tür gegenüberstand, schien unter den Menschen einen ähnlichen Platz einzunehmen wie der Hase unter den Tieren. Damals war Annette schließlich samt Fahrrad langsam zurückgewichen, bis der Hase sich aus seiner Schreckstarre gelöst hatte und mit mächtigen Sätzen davongesprengt war.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie schließlich.
»Mir? Sie? Nein.« Einen Akzent wie diesen hatte sie hier noch nie gehört – gerolltes R, gedehnte Vokale, drei Silben wie Schnalzer mit der Zunge. »Oder ja. Bitte doch. Ich suche das Stadtarchiv, habe mich in der Pension erkundigt. Man schickte mich hierher.«
War er Deutscher? Durch die Grammatik tastete er sich wie ein Blinder durch unvertrautes Terrain, beging jedoch keine Fehler, sprach nur ohne jede Selbstverständlichkeit. »Ein Stadtarchiv haben wir nicht«, sagte Annette. »Wir sind ja keine Stadt.« Dem Hasen hatte sie ihren Rückzug bieten können, für den Mann hatte sie ein Lächeln. Er war mittelgroß, schlank, trug eine Stoffhose und eine blaue Windjacke, die selbst in Weyher hoffnungslos altmodisch wirkten. Sein Haar war grau, obwohl er Annette nicht alt genug schien, um so komplett ergrautes Haar zu haben. Es stand vom Kopf ab wie windzerzaust, nur regte sich draußen kein Lüftchen. Sein Gesicht war schmal, schön, die Augen geweitet. In Gedanken hatte sie ihn längst Herr Hase getauft.
»Ja, natürlich. Entschuldigen Sie. Man hat mir das schon erklärt in der Pension, wo ich übernachte. Man sagte mir allerdings, vielleicht könnte ich hier doch Hilfe finden.«
»In der Pension Zum wilden Eber?«, fragte Annette. »Ich dachte, dort hätten sie schon geschlossen.«
»Ja, der Gastronomiebetrieb ist geschlossen«, sagte Herr Hase, und Annette fragte sich, warum jemand einen winzigen Ausschank, in dem zur Saison ein Frühstück und im besten Fall abends noch Schmalzgebäck zum Wein serviert wurde, so bezeichnete. »Das Fremdenverkehrsamt in Neustadt hat mir jedoch das Zimmer vermittelt. Weil mir so viel daran gelegen war, hier in der Stadt … ich meine, hier im Ort zu wohnen, war Frau Holzhauser bereit, eine Ausnahme zu machen.«
»Ich verstehe«, sagte Annette. »Und Gertrud Holzhauser hat Ihnen gesagt, ich könnte Ihnen bei Ihrem Anliegen helfen?«
Herr Hase nickte. »Sie sagte, wenn es im Ort überhaupt Dokumente, Artefakte oder sogar Bilder zu finden gäbe, dann im Heimatmuseum oder in der Bibliothek. Frau Dengler, die Leiterin des Museums, werde mir behilflich sein, sagte sie. Sind Sie Frau Dengler?«
»Annette Dengler«, bestätigte Annette. »Ich schließe Ihnen das Museum auf, wenn Sie wollen. Falls Sie mich wissen lassen, wonach Sie suchen, kann ich Ihnen vermutlich auch sagen, ob Sie bei uns fündig werden.«
Vermutlich nicht, dachte sie. Wer hätte je unter den Tabaksdosen, Zuckerschalen und Hochzeitskleidern der Leute, die vor hundert Jahren in Weyher gewohnt hatten, nach etwas von Bedeutung geforscht? Die Gegenstände in ihrem Museum erzählten eine Geschichte, aber eine, die kein Mensch hören wollte. So wie ihre eigene Geschichte eines Tages kein Mensch würde hören wollen.
Herr Hase hingegen forschte nach etwas von Bedeutung, das glaubte Annette zu spüren. Etwas war im Begriff zu geschehen, und auf einmal wünschte sie sich mit verblüffender Intensität, er möge hier, in ihrem lächerlichen Museum, auf den Schatz stoßen, nach dem er suchte.
Für einen Studenten war er zu alt. Zwischen vierzig und fünfzig schätzte sie ihn. In diesem Alter schrieben Akademiker manchmal noch Doktorarbeiten oder Habilitationen. Oder er mochte ein Professor sein, der für einen seiner Doktoranden zur Recherche unterwegs war. Einst hatte Annette sich nach der Welt der Universitäten gesehnt. Jetzt glaubte sie vor ihren Toren zu stehen, die einen Spaltbreit offen standen.
»Georg Becker«, sagte er, löste sich endlich aus seiner verkrampften Haltung und trat auf sie zu.
Herr Hase passt besser, dachte Annette. Er reichte ihr seine schlanke, schön geformte Hand, und sie nahm sie geradezu behutsam in die ihre. »Am besten erklären Sie mir erst einmal, worum es Ihnen geht.«
»Danke. Gern.« Er ließ den Blick über die Buchreihen schweifen. »Schön ist es bei Ihnen. Still. Und so viele Bücher. Ich bin übrigens Musikdozent.«
»An der Universität?«
Er schüttelte den Kopf. »Vorwiegend privat. Ein paar Stunden gebe ich am Konservatorium in Augsburg. Viel bringt beides nicht ein. Aber es war mein Traum, und ich habe ja nie viel gebraucht. Nur das jetzt, was meine Suche mich kostet.«
»Und was suchen Sie?«
»Eine Familie Ziegler«, sagte Georg Hase-Becker. »Sie soll hier bereits seit über zweihundert Jahren ansässig sein.«
»Die Zieglers? Ja, allerdings. Denen hat der Kronprinz gehört, unsere örtliche Weinstube. Und ein Weingut dazu. Um mit einem von ihnen zu sprechen, kommen Sie aber leider zu spät. Jakob Ziegler ist vor fünf Jahren gestorben. Jakob Witzbold haben die alten Leute im Ort ihn genannt, obwohl ich nie erlebt habe, dass er einen Witz gemacht hätte. Der Sohn ist, soweit ich weiß, in Stalingrad gefallen, das Gut ist verpachtet, und die Gaststätte hat eine Nichte oder Cousine an die Nachbarn, die Pechsteins, verkauft. Die jungen Leute bleiben nicht hier.«
Er musterte sie interessiert. »Aber Sie sind hier.«
»Ja«, sagte Annette. »Ich schon.«
»Warum?«
Es bestand nicht der geringste Grund, ihm darauf eine Antwort zu geben. »Meine Mutter hat Multiple Sklerose«, sagte sie. »Ich kann hier nicht weg.«
»Das tut mir sehr leid«, sagte er. »Für Ihre Mutter und für Sie. Aber wenigstens haben Sie einander.«
»Ja.« Annettes Lachen misslang. »Ich hätte es schlechter treffen können. Mit Dokumenten, die aus dem Betrieb der Zieglers stammen, können wir übrigens dienen. Auch mit einem Familienfoto, ein echtes Kuriosum: Die Familie sitzt um einen Gartentisch und trinkt Wein, wie wir Pfälzer es eben gewohnt sind. Da sich das für eine gutbürgerliche Familie der Kaiserzeit jedoch nicht gehörte, hat jemand die Weingläser wegretuschiert und ein geblümtes Kaffeeservice darüber gezeichnet. Ist es etwas in der Art, das Sie suchen?«
Der Hasenmann nickte und wirkte auf einmal erregt, fast atemlos.
»Wir haben oben sogar einen Satz Weingläser mit eingraviertem Namenszug«, fuhr Annette fort. »Ziegler-Riesling. Irgendwann, vor den beiden Kriegen, war das mal so etwas wie eine namhafte Marke, die bis nach München geliefert wurde.«
»Bis nach München!«, murmelte der Hasenmann. »Nach Berlin aber nicht, oder doch?«
»Nein, das wohl nicht«, sagte Annette, die früher einmal davon geträumt hatte, nach Berlin zu gehen, in die geteilte Stadt, deren Geheimnisse unter Trümmern verschüttet lagen. »Wenn es Ihnen um private Papiere geht – Taufscheine, Heirats- oder Sterbeurkunden –, dürften Sie in der Pfarrkirche besser dran sein. St. Peter und Paul. Vater Anselm führt ein Ortsfamilienbuch.«
»Vielen Dank«, sagte Georg Hase. »Aber ich glaube, ich würde lieber Bilder sehen. Fotografien. Und wenn das nicht möglich ist, dann Gegenstände, die sie in der Hand gehalten haben könnte.«
»Sie?«
Er nickte. »Ich möchte aufrichtig zu Ihnen sein: Es sind eigentlich nicht die Zieglers, nach denen ich suche, sondern nur eine ihrer Verwandten. Ihr Name ist Carola Neher. Haben Sie vielleicht schon einmal von ihr gehört?«
»Die Bettler betteln, die Diebe stehlen, die Huren huren. Ein Moritatensänger singt eine Moritat.«
Kein Jahrmarkt in Soho, sondern eine Straße in München, was im März des Jahres 1920 aber keinen allzu großen Unterschied macht.
»Die ganze schöne Erde ist ein einz’ges Tanzlokal.
Es tanzen Dissident und Christ, Beelzebub und Baal!«
Klabund: »Rag 1920«
Die Mutter
Katharina Baronek-Neher ging mit zwei Einkaufstüten aus zu teuren Geschäften die Nymphenburger Straße entlang. Es wurde ihr nachgerade lästig, dieses Schaulaufen mit Einkäufen, die sie sich nicht leisten konnte, die den Passanten, die ihnen begegneten, jedoch signalisieren sollten, dass mit der Gaststube Rheinpfalz auch in furchterregenden Zeiten alles zum Besten stand. So zerrauft, verstört, aus der Bahn geworfen, wie ein Mensch sich fühlte, nachdem er den Weltensturm dieses Krieges überlebt hatte, durfte sie sich ja nicht geben, sondern musste hübsch so tun, als wäre unter ihrem Dach schon alles wieder im Lot.
Im So-tun-als-ob hatte Katharina Übung. Sie hatte das Getue bis dorthinaus satt und war müde, aber was blieb ihr anderes übrig? Ihre Brut hatte sie in die Welt gesetzt, und ihre Brut würde sie durchbringen müssen, kein Mensch fragte, wie.
Jahrelang hatte sie sich geplagt. Die beiden Älteren – Emil und Maria – kamen nach ihrem friedlichen Vater, dem Baronek, den sie allzu rasch verloren hatte, und machten ihr kaum Kummer. Die drei Kleineren aber, die waren ein anderes Kaliber. Heißblütig, aufsässig, schwer zu lenken. Künstlerkinder. Die Köpfe voller Flausen. Von einem wilden, getriebenen Vater stammten die. Und aus einer wilden, getriebenen Zeit, von der keiner ahnte, wie weit es mit ihr noch kommen würde.
Ein Krieg verloren, ein Kaiser entthront, eine Republik ausgerufen, ein Ministerpräsident ermordet, ein Mann, der morgens in die Regierung bestellt worden war, am Abend als Hochverräter erschossen. Katharina ging durch die Nymphenburger Straße, sah die umgestoßenen Barrikaden, die verrammelten Schaufenster, die Plakate über den Hauseingängen, in denen sich zwielichtige Gestalten herumdrückten, und erkannte die Stadt, in der sie zu Hause war, nicht wieder. Wie sollte eine gewöhnliche Frau, die vom Land stammte, sich da noch zurechtfinden? Wie sollte eine gewöhnliche Frau drei junge Geschöpfe da ohne Schaden durch aufgewühlte Fluten steuern, nachdem der Vater, der sie ihr angehängt hatte, sich aus der Affäre gezogen hatte?
Vom Kriegsdienst ausgemustert und doch im letzten Kriegsjahr zu Grabe getragen, seine Sterbeanzeige zwischen all den Namen von Gefallenen. Nicht im Feld geblieben, sondern zu Tode gesoffen, zu Tode gewütet, zu Tode gebrüllt. So ein Mann, der machte es sich leicht.
Katharina zwang ihren Blick wieder geradeaus. Vorneweg spazierte mit schwingenden Schritten ihre Tochter Karoline und trällerte ein Liedchen, als wäre alles in bester Ordnung. Sie war die Älteste der drei. Die Schlimmste. Ihr Sorgenkind. Und weil sie vom Vater diesen seltsamen Zauber geerbt hatte, dieses Feuer, das jeden entflammte, zog sie die beiden Jüngeren mit. Josef, der Bruder, hatte sich bei ihr nach Art eines Verehrers eingehakt und schlingerte beim Gehen mit den Hüften wie ein Geck. Dabei war er gerade erst achtzehn. Martha, die Sechzehnjährige, ging zum Glück noch auf die Schule der Englischen Fräulein und war unter Aufsicht, doch im Frühjahr war es auch damit vorbei.
Katharina sorgte sich Tag und Nacht. Ihre Welt war wie ein Haus, in dem die tragenden Mauern eingestürzt waren, und auf einmal krochen aus sämtlichen Fugen und Ritzen mancherlei Gefahren. Karoline hatte man schon als kleines Mädchen nicht zügeln können. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sie im Klavierspiel zu unterrichten, aber das hatte der Vater mit allen dreien getan. Schließlich war er selbst Musiker und überzeugt, seine Sprösslinge müssten etwas von seiner Begabung geerbt haben.
Wie weit es mit seiner Begabung her war, hatte Katharina sich nicht selten gefragt, denn für den Lebensunterhalt sorgte sie mit ihrer Pfälzer Gaststube, und das Haus, in dem sie wohnten, hatte sie vom Geld ihrer Eltern gekauft. Nicht zu bestreiten war jedoch, dass Katharinas drei jüngste Kinder schöner spielten als die Kinder anderer Leute, und Karoline spielte tatsächlich ungewöhnlich schön.
Geradezu ergreifend. »Sie hat ein Klaviergesicht«, hatte Jakob, ihr Taufpate und Katharinas Bruder, festgestellt. »Man sieht sich das an und vom Hirn bis zu den Därmen fängt einem alles an zu tanzen. Was sie dazu noch spielt, ist im Grunde Jacke wie Hose.«
»Karoline hätte das Zeug zu einer großen Künstlerin«, hatte der Vater geprahlt. »Aber nicht den Charakter. Es ist, als hätte sie ein Tier in sich.«
Ein Tier, das sie von dir geerbt hat, hatte Katharina bei sich gedacht und die Zähne zusammengebissen. Was für ein Tier in diesem Menschen steckte, den sie in zweiter Ehe geheiratet hatte, würde von ihr keine Seele erfahren. Ihre Kinder aus erster Ehe, Sohn und Tochter des braven Baronek, waren ruhig und gut zu haben. Sie hatten keinen Musikunterricht erhalten und beschieden sich mit schnurgeraden Lebenswegen.
Vielleicht, so hatte Katharina zuweilen gedacht, wurmte es Josef Neher ja insgeheim, dass seine Tochter ihn über kurz oder lang am Klavier überflügeln würde. Vielleicht fürchtete er, dass ihr gelingen könnte, was ihm mangels Zielstrebigkeit verwehrt blieb, dass die Tochter erreichte, was er an Kneipentischen und in Lotterbetten verspielt hatte. In jedem Fall wollte er nicht, dass sie eine künstlerische Laufbahn einschlug. »Wir lassen sie etwas Solides lernen«, hatte er bestimmt, und was Josef Neher bestimmte, war im Haus Baronek-Neher Gesetz. »So liegt sie uns nicht auf der Tasche, falls sich keiner findet, der diese störrische, struppige Wilde zum Altar führt.«
Katharina betrachtete den Hinterkopf ihrer Tochter und fand ihn eigentlich nicht struppig, sondern wohlfrisiert, die dunklen Locken tadellos gelegt, als hätten sie sich einen teuren Friseur leisten können. Sie nahm Eigelb dafür, nur Gott wusste, woher das Mädchen solche Kniffe kannte. Dennoch kam Katharina nicht umhin, ihrem verblichenen Mann in diesem Punkt recht zu geben: Karoline hatte etwas Struppiges an sich. Wie ein Katze, bei der das seidige Fell nicht über das gesträubte Haar im Nacken hinwegtäuschte.
Auch was die solide Laufbahn für Karoline betraf, hatte Katharina ihrem Mann recht gegeben. Es war ja noch Krieg gewesen, als das Mädchen die Schule abgeschlossen hatte, das Leben ein Strudel, der Menschen mit sich riss und in dem sie allzu leicht verloren gingen. Wenigstens war es eine gute Zeit, um für ein junges Mädchen eine Stellung zu finden: An allen Ecken und Enden fehlten Männer, und in Fabriken, Geschäften und Amtsstuben drängten Frauen an ihre Plätze. An Lehrkräften fehlte es ebenfalls, deshalb ließ die Handelsschule, die Karoline nach ihrem Abschluss bei den Englischen Fräulein mit bockigem Widerwillen absolvierte, sie neben dem Examen gleich noch die Aufnahmeprüfung für das Lehrerinnenseminar absolvieren. Karoline bestand beides mit Bravour. Sie war kratzbürstig, aber beileibe nicht dumm.
»Das ist doch eine vernünftige Sache«, hatte Katharina zu ihrer Tochter gesagt. Als Lehrerin durfte ein Mädchen aus ihren Kreisen sich durchaus verdingen, das war respektabel, und wenn sich doch noch ein passender Bräutigam fand, hörte sie eben wieder damit auf.
Jede andere wäre über diese Lösung froh gewesen.
Nicht so Karoline.
»Lehrerin soll ich werden? Ich? Ein Fräulein mit Goldrandbrille, das sich nach jedem Halbsatz räuspert?« Sie machte das Räuspern vor, und ihr Bruder Josef, ihr ewiger Claqueur, lachte sich scheckig. »Kommt nicht infrage. Eher stelle ich mich auf den Viktualienmarkt und verkaufe stinkenden Fisch.«
Sie machte auch das Fischverkaufen nach. Sie spielte überhaupt eine Rolle nach der anderen, führte alles, was ihr in den Sinn kam, sofort leibhaftig vor. Katharinas Bruder – ihr innig geliebter, verrückter kleiner Bruder Jakob – war zur Feier des Schulabschlusses auf Besuch gekommen und hatte mit Josef gelacht. Aber Jakob lachte immer, für den war das Leben ein einziger großer Witz. »Warum machst du keine Fischbraterei draus?«, hatte er Karoline gefragt. »Da wird dann endlich mal so ein Bratgut noch heißer gegessen als gekocht.«
Jakob hatte Hirnwindungen, die um mehr als drei Ecken führten, und die Witze, die er riss, verstand zumeist nur er selbst. Und seine Rita, diese späte, völlig maßlose Liebe. Für gewöhnlich holte der Unsinn, den er schwatzte, Katharina auf den Boden der Tatsachen zurück, rief ihr ins Gedächtnis, dass die Welt so schnell nicht unterging. Seit dieser Krieg begonnen hatte, konnte man sich der Sache mit dem Weltuntergang jedoch nicht mehr so sicher sein, und was ihre Tochter Karoline betraf, war das Wort Sicherheit ohnehin ein Scherz, und zwar einer von den schlechten. Josef Neher, der fand, er habe seinen Vaterpflichten Genüge getan, hatte sich zum Wein einen Kurzen eingeschenkt, und Katharina war nichts anderes übrig geblieben, als die Angelegenheit selbst in die Hände zu nehmen.
Am Morgen nach der Schulabschlussfeier war sie also in die Nymphenburger Filiale der Dresdner Bank gestiefelt, wo ein beleibter, kahlköpfiger Mensch, der in ihr Lokal zum Trinken kam, einen leitenden Posten versah. Dem hatte sie einen Kasten vom besten Riesling ihres Vaters versprochen, sofern ihre Tochter morgen bei ihm am Schalter anfangen durfte.
»Morgen bereits? Das ist unüblich, aber ich könnte eventuell für den Monatsersten …«
»Morgen«, hatte Katharina Baronek-Neher beharrt und eine Fotografie von Karoline über den Schreibtisch geschoben.
Der leitende Bankangestellte betrachtete das Bild mit Stielaugen, die er dem Börsenbericht gewiss nicht widmete. »Das ist Ihre Tochter?«
»Wer sonst? Die Nielsen wird’s wohl kaum sein.«
Asta Nielsen, die Leinwandkönigin, war und blieb dem Krieg zum Trotz in aller Munde.
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte der Bankmensch und sah aus, als hege er daran Zweifel.
Anderntags fing Karoline in der Bank an, und Katharina glaubte sie vorerst vor den größten Übeln geschützt. Wenn ihre Tochter schimpfte, sich bitter beklagte oder die Kunden der Bank parodierend nachäffte, hörte sie einfach nicht hin. Sie würde sich an die Bank schon gewöhnen. Man gewöhnte sich an alles. Wer wusste das besser als sie selbst?
Karoline aber sprengte auch diese Regel und gewöhnte sich an nichts. Ein Jahr nach ihrem Arbeitsantritt war Josef Neher dann gestorben, und augenblicklich hatte sie Morgenluft gewittert. Mit hochgerecktem Kopf und triumphierendem Lächeln hatte sie ihrer Mutter erklärt, jetzt, wo »der Tyrann« ihr nicht länger befehlen könne, ginge sie nicht mehr in die Bank. »Ich nehme seit Längerem Schauspielunterricht. Bei Fritz Basil vom Hoftheater. Mit dem Hungerlohn, den die Bank mir zahlt, kann ich natürlich nicht viele Stunden nehmen, aber Fritz hält was von mir. Ich denke, er kann mich unterbringen, fürs Erste in kleinen Rollen, doch ich werde mich schon hocharbeiten.«
Katharina war aus allen Wolken gefallen. Der Gedanke an eine Tochter, die als Barpianistin durch dunkle Kaschemmen tingelte, hatte ihr schlaflose Nächte bereitet, doch dass ihre Tochter ernsthaft an eine Karriere beim Theater dachte, schlug dem Fass den Boden aus.
Dabei hätte sie es sich denken müssen. Karoline sprach schließlich von nichts anderem, und sie tat auch nichts anderes als Spielen. Im Grunde lief sie, seit ihre Beine sie trugen, im Kostüm durch die Gegend. Wenn man annahm, bei einem Nachtmahl aus Setzei und Speck der eigenen Tochter gegenüberzusitzen, hatte man es in Wahrheit mit der Jungfrau von Orleans oder mit Rusalka, dem Wassergeist, zu tun.
Und dann diese dunkle, grollende, weder kindliche noch weibliche Stimme, die sie hatte! Katharina erinnerte sich an einen Gast, der in die Weinstube gestürmt war und verkündet hatte, dass Deutschland im Krieg stünde. Am Abend hatte Karoline ihn nachgeahmt: »Deutschland steht nun im Krieg, meine Lieben, wahrhaftig im Krieg!«, aber bei ihr hatte es nach dem Weltensturm geklungen, der gefolgt war. Sie war eine Spielerin wie ihr Vater, doch bei ihr war das Spiel das Einzige, was sie ernst nahm.
Karoline also hatte einen Floh im Ohr, gegen den die Idee mit dem Klavier wie eine harmlose Schrulle erschien. Jemand musste ihn ihr austreiben, bevor ihr gesamtes Leben zum Flohzirkus mutierte.
»Du gehst in die Bank«, sagte Katharina. »Damit ist dieses Gespräch beendet. Solange du nicht weißt, was gut für dich ist, muss ich es für dich wissen.«
Das Fräulein Neher war einigermaßen verblüfft, dass ihre Mutter im Zweifelsfall denselben Hang zur Tyrannei aufwies wie ihr Vater. Offenbar erkannte sie aber, wann sie geschlagen war, fügte sich und trottete anderntags mit hängendem Kopf wieder in die Bank. Flüchtig hatte sie Katharina sogar leidgetan. Es war schließlich nicht ihre Schuld, dass sie war, wie sie war, so wie das Buschwindröschen keine Schuld daran trug, dass es mit dem biederen Flieder nichts gemein hatte.
Aber dann wiederum war ja Karoline nie ein Kind gewesen und auch keine junge Frau geworden, die Mitleid auf sich zog. Dazu war sie zu kühl. Zu unnahbar.
Zu fremd.
Der Gedanke erschreckte sie. War es nicht genug, dass dieses ganze München, diese ganze neue Welt ihr fremd war? Neben ihr hielt mit quietschenden Bremsen ein Automobil, sodass der arme Gaul, der zwischen Kraftfahrzeugen die letzte einsame Kutsche zog, schnaubend scheute. So kam auch Katharina sich vor: scheuend vor den eigenen Kindern, die sie nicht zu fassen bekam. War es nicht so, als hätte diese ganze Generation der im Krieg herangewachsenen jungen Leute sich einen metallenen Panzer umgelegt wie die Automobile, sodass die Älteren nicht mehr an sie herankamen?
Das war jetzt übertrieben. Katharina Baronek-Neher hob die Hand, an deren Gelenk eine der edlen Einkaufstüten baumelte, rückte sich den Hut zurecht und legte etwas Soldatisches in ihren Schritt. Sie war ja wohl kein Niemand, der sich ins Bockshorn jagen ließ. Im Gegenteil. Sie war eine respektable, ihre eigene Weinstube führende Witwe, und ihre Kinder waren, im Vergleich betrachtet, wohlgeraten: Emil vielleicht bald Staatsbeamter, Maria demnächst verheiratet, Karoline so hübsch und apart, Josef auf seine Weise kein Schlechter und die Kleine, ihr Marthchen, ein ganz herziges Wesen.
»Du hast dich nicht übel geschlagen, Schwesterchen«, hatte Jakob, ihr Bruder, zu Weihnachten gesagt und seinen kleinen Sohn voller Stolz auf den Knien geschaukelt. »Hast den Münchener Herrschaften gezeigt, was ein ehrlicher Riesling ist, und um deine Küken sorg dich mal nicht. Die werden schon groß, und ein ganz so aufregendes Pflaster wie Berlin ist München denn ja wohl doch nicht. Da soll’s jetzt Bars geben, wo man sich auf dem Tresen der Liebe hingeben darf, einerlei ob mit Damen, Herren oder Feldhasen. Das wäre was für meine Rita und mich. Man bräuchte nur erst einmal einen Schirm für den Hagel aus Bomben und Pflastersteinen.«
Sie wünschte ihn sich an ihre Seite, ihren Jakob, der verschwurbeltes Zeug schwatzte und das Leben leichter machte, indem er es liebte. Diese Gemeinschaft, die sie mit ihrem Bruder teilte, hatte sie mit keinem ihrer Ehemänner gehabt, obwohl sie in den zweiten einmal völlig kopflos verliebt gewesen war. Sie überlebte auch Jakobs späte Eheschließung, die Dauerverliebtheit, mit der er und seine Rita durchs Leben tändelten. Etwas ganz Ähnliches wiederholte sich in ihren Kindern, in Karoline und Josef, nur dass von den beiden die Schwester die Forschere, Führende war und dass dem Bruder, dem Labilen, Beeinflussbaren, Gefahr daraus drohte.
Sie redeten ununterbrochen miteinander, die Mundwerke wie Mühlenräder in ständiger Bewegung. Katharina schloss einen Schritt zu ihnen auf, um zu verstehen, was sie sagten.
»Ach, Karoline«, sagte ihr Sohn.
»Nenn mich nicht so«, sagte ihre Tochter. »Karoline heißen Kühe. Bin ich vielleicht eine Kuh?« Sie riss die Augen weit auf, hielt sich zwei Finger als Hörner an den Kopf und muhte ihn an: »Muh, muh, muh!«
Josef musste lachen. »Ich kenne eine ganze Menge Leute, die Karoline heißen und mit einer Kuh keine Ähnlichkeit haben. Mama zum Beispiel heißt Katharina Karoline, und du bist eben Karoline Katharina. Warum nicht?«
»Weil man so heißen kann, wenn man Klosterschwester werden will«, sagte Karoline. »Oder Suppenköchin bei der Heilsarmee. Oder eben Kuh. Schauspielerin jedenfalls nicht, und du nennst mich so nicht mehr, verstanden?«
»Zu Befehl, Fräulein General«, sagte Josef und ließ die Hand an die Stirn schnellen. »Und wie wollen Fräulein General dann künftig von Ihrem untertänigsten Diener genannt werden?«
Kokett legte Karoline den Kopf schräg. »Ich weiß es noch nicht. Was hältst du von Line? Oder Karline?«
»Um das eine gestrichene O ein solches Theater?«
»Ach du.« Spielerisch schlug sie mit ihrer Tasche nach ihm, und sie lachten beide. »Ich muss die Namen eben erst anprobieren wie ein Kostüm. Muss schauen, welcher mir steht.«
»Weißt du, was dein Problem sein könnte, Line-Roline-Nichtkaroline?«
»Was denn, Herr Schlaumeier?«
»Dass dir alles steht«, sagte Josef. »Du machst noch Furore, wenn du im Putzkittel die Terrasse ausfegst.«
Sie strahlten sich an. Zwei junge Leute, denen das Chaos, das um sie tobte, nichts anhaben konnte, weil sie im Mir-gehört-die-Welt-Alter waren und sich im Glanz ihrer eigenen Unbesiegbarkeit sonnten. Im nächsten Moment kam ein Herr in Melone und Staubmantel vorbei, zog in Karolines Richtung den Hut zum Gruß, und auf ihrem Gesicht erlosch das Strahlen.
»Wer war denn der?«, fragte Josef.
»Der Steffel aus der Bank.« Karolines Gesicht verdüsterte sich wie Gewitterhimmel. Woher nahm dieses Mädchen die Fähigkeit, auf ihrer Miene sämtliche Register menschlicher Empfindungen zu ziehen? »Im Putzkittel auf der Terrasse soll mir recht sein. Da habe ich meinen Kopf frei und kann mich hineindenken, in wen ich will. Aber im kreuzbraven Jackenkleidchen hinter dem Bankschalter – das halte ich nicht länger aus! Mein Leben schwimmt mir davon, Jo-Jo, und ich stehe auf der Maximiliansbrücke und bin zu feige, ihm hinterherzuspringen.«
Ein paar Schritte gingen sie schweigend weiter, hielten einander im Gehen die Gesichter zugewandt, und es kam einem Wunder gleich, dass sie niemanden rammten.
»Karoline«, sagte Josef dann leise, zog seinen Arm aus ihrem und nahm ihre Hand, war auf einmal nicht mehr der jugendliche Geck, sondern ein Kind, das zu schnell gewachsen war. »Wenn du von uns weggingst – wärst du dann nicht einsam?«
»Einsam?« Sie hob ihre hübsch geschwungenen Brauen. »Einsam bin ich immer, Jo-Jo, ob mit euch oder ohne. Vielleicht muss ich endlich fortgehen, um einen zu finden, der mich kennt. Ich kenne mich doch noch nicht einmal selbst.«
Mit den Augen versprachen sie sich etwas. Dann war auf einen Schlag das ganze Drama vorbei. Karoline lachte laut auf, und wieder einmal bemerkte Katharina, dass ihre Tochter ein Lachen wie ein Bierkutscher hatte und dass bei ihr sogar im Bierkutscherlachen etwas Verruchtes, Betörendes mitklang. Nun ließ Karoline Josefs Hand los und begann zu rennen. Dabei drehte sie sich um und lief rückwärts, rief lachend über die Straße hinweg: »Tut mir leid, Mama, grüß das Marthchen und die anderen. Mit der Bank ist Schluss. Ich gehe fort und werde Schauspielerin.«
Katharina reagierte blitzschnell und wie ein Automat. Sie ließ die kostbaren Einkaufstüten fallen und jagte los, stieß Menschen aus dem Weg und sah nichts mehr als die Gestalt ihrer Tochter. Einen letzten Blick erhaschte sie noch auf Karolines Gesicht mit den großen tiefdunklen Augen, dann schwang die Tochter herum und rannte ihr, mit den Sohlen einen Trommelwirbel auf dem Pflaster schlagend, davon.
Sie musste sie einholen, sie durfte sie um alles in der Welt nicht aus den Augen verlieren! Katharina rannte aus Leibeskräften und mit schmerzenden Lungen, sie schleuderte ihre Schuhe, die sie behinderten, fort und rannte auf Strümpfen über das Pflaster. Sie rannte, wie sie in ihrem Leben noch nie gerannt war, sie hörte ein Rauschen in den Ohren und erwartete, jeden Augenblick zu stolpern, und doch rannte sie weiter. Ihre Tochter war jung und das sportlichste Geschöpf, das man sich vorstellen konnte, doch sie selbst lief mit der Kraft der Verzweiflung. Die wirkte wie ein Paar Siebenmeilenstiefel.
Wenn Karoline ihr entwischte, wenn es ihr nicht gelang, dieses kostbare, rätselhafte, dieses so sehr gefährdete Kind einzufangen, war es für sie verloren. Tatsächlich machte sie Boden gut, streckte die Hände aus, um nach ihrer Tochter zu greifen. An ihrer Pelerine, die hinter ihr herwehte, würde sie sie zu fassen bekommen, und wenn sie beide dabei zu Boden stürzten, wenn die Leute sie für zwei am helllichten Tag besoffene Weiber hielten, wäre dies das kleinere Übel.
In dem Augenblick, in dem Katharina zupackte, warf Karoline den Mantel samt Pelerine ab, vollführte einen scharfen Schwenk zur Seite und stürmte auf die Fahrbahn, in deren Mitte Schienen verliefen. »Tut mir wirklich leid, Mama!«, rief sie. »Ich fühle mich deinetwegen ganz schlecht, aber ich kann nicht anders.«
Mit einem mächtigen Satz, bei dem ihr ratschend der Rock riss, sprang sie auf das Trittbrett der Straßenbahn und winkte noch im Davonfahren.
Katharina war so fassungslos, so geschlagen, dass sie sich hätte zu Boden fallen lassen und nicht mehr aufstehen wollen. Wozu nun das alles? All die Mühen, die Kämpfe, das Ertragen des betrunkenen Despoten, um für die Kinder die Fassade aufrechtzuerhalten? Wozu all das abgesparte Geld für Hutbänder, Handtäschchen, neumodische Schminkstifte, mit denen Mädchen sich den Mund bemalten? Geschenke, Zugeständnisse, um das Tier, das Karoline in sich hatte, zu beschwichtigen, um es ruhig zu halten, am Ende gar zu zähmen. Da ging sie hin, fuhr mit der Straßenbahn um die Kurve und verschwand ins Nirgendwo.
»Ist Ihnen nicht wohl, meine Dame?« Ein blassblonder Jüngling mit gepflegtem Schnurrbärtchen bot Katharina seinen Arm zur Stütze. »Darf ich Sie irgendwohin begleiten, benötigen Sie eine Kraftdroschke?«
Der hätte Karolines Verlobter sein können, war alles, was Katharina zu denken vermochte. Sie sah den jungen Mann, der sich, um schmuck auszusehen, aus einer Uniformjacke ein Sakko für die Straße hatte schneidern lassen, genauer an und schüttelte in einer neuen Welle von Resignation den Kopf. Nein, der hätte es nicht sein können und auch kein anderer von seinem Kaliber. Womit gewöhnlich Mädchen sich zufriedengaben, war für Karoline niemals gut genug gewesen.
Nicht einmal ihr Name, den schon ihre Großmutter getragen hatte!
»Danke, das wird nicht nötig sein, ich kümmere mich um meine Mutter selbst.« Das war ihr Sohn. Josef. Er nahm ihren Arm und zwang sie sanft zum Umdrehen. Nebeneinander trotteten sie den Weg zurück. An Josefs freiem Arm sah Katharina ihre Einkaufstüten baumeln, und nach ein paar Schritten reichte er ihr ihre Schuhe. Auch Karolines Mantel musste er irgendwo aufgesammelt haben.
Sobald Katharina sich halbwegs gefangen hatte, fuhr sie ihn an: »Mit dir hat sie’s besprochen. Du hast gewusst, was sie vorhatte, und du hast mir kein Wort gesagt.«
»Ach, Mama.« Aus seiner Brusttasche zog er ein blütenreines Taschentuch und betupfte ihr damit die Wange. »Was hätte das denn ausgerichtet? Meinst du nicht, dass ich alles versucht habe, um sie zu hindern? Und wenn es mir nicht gelungen ist, was hättest du dann mit ihr anstellen wollen?«
»Sie einsperren«, antwortete Katharina prompt.
»Ja, das hättest du natürlich tun können«, sagte Josef und ging ruhigen Schrittes mit ihr weiter. »Aber geändert hättest du damit nichts. Die Karoline wird Schauspielerin, was immer es sie kostet. Und wenn sie nächstes Jahr daran stirbt, wird sie’s in diesem Jahr dennoch.«
»Um der zunehmenden Verhärtung der Menschen entgegenzuwirken, hatte der Geschäftsmann J. Peachum einen Laden eröffnet, in dem die Elendsten der Elenden jenes Aussehen erhielten, das zu den immer verstockteren Menschen sprach.«
Alle Umwege führen nach Berlin.
Frühling 1920 bis November 1923.
»Mir ist so schwach in den Knien vor Sehnsucht nach Dir.«
Klabund: »Im Wagen durch den Englischen Garten fahrend.
Für Carla.«
Karoline
Ich habe dabei, was das Wichtigste ist, sagte sich Karoline beim Durchforsten ihrer Handtasche. Allzu leicht gestaltete sich dieses Durchforsten nicht, weil sie sich mit der Rechten an den Haltegriff klammern musste, um in der rumpelnden, ruckelnden Straßenbahn nicht gegen die anderen Passagiere geschleudert zu werden. Der Riemen der Handtasche hing über der rechten Schulter, sodass sie mit der linken Hand darin wühlen konnte, und mit den Zähnen hielt sie die Lasche auf. In der Tat nicht einfach. Aber auf der anderen Seite war die Tasche lächerlich klein, mehr modisches Accessoire als Gebrauchsstück, und im Nu durchsucht.
Das Wichtigste, erinnerte sie sich. Ich habe zwar nicht viel, aber nur auf das Wichtigste kommt es an. Ich habe meinen Lippenstift. Ich habe mein Nähzeug, um den Riss im Rock zu flicken, meinen Kamm für diesen Wischmopp auf dem Kopf, den Handspiegel, den Umschlag mit meinen Fotografien, ein kleines Bildchen vom Josef und mein Adressbüchlein. Meine Börse habe ich auch. Mit ein bisschen Barschaft für das Allernötigste.
Davon, dass ihr »bisschen Barschaft für das Allernötigste« ganze vierzehn Mark und achtundachtzig Pfennige betrug, würde sie sich nicht schrecken lassen. Ja, anstatt zu sparen, hatte sie das, was sie von ihrem Lohn in der Bank behalten durfte, dem Fritz in den Rachen geworfen für Schauspielunterricht. Aber der Unterricht beim Fritz würde sich letzten Endes als gute Investition erweisen. Immerhin war der Fritz beim Hoftheater, nicht nur als Schauspieler, sondern als Regisseur.
Ein paar Tanzstunden hatte sie auch nehmen müssen, denn ohne Tanzen konnte man sich gleich begraben lassen. Ein weiterer Batzen war für Fotografien draufgegangen, die man schließlich brauchte, wenn man sich bewerben wollte, und dann noch ein schönes Sümmchen für das Kleid, das sie beim Fotografieren getragen hatte, ein kurzes, nachtblaues, mit Pailletten besticktes, das verheißungsvoll verhüllte, was Karoline zu bieten hatte.
Es gab Seide, die knisterte, und solche, die beim Gleiten kein Geräusch machte, das hatte sie bereits gelernt, obwohl es das erste Seidenkleid war, das sie sich leistete. Es hatte eines aus der geräuschlosen Seide sein müssen, weil die geheimnisvoller war und etwas Verruchtes, Verbotenes hatte. Sündhaft war sie obendrein. Sündhaft teuer vor allem, und jetzt schmorte die verführerische Seidenpracht daheim in der Pilarstraße und nützte ihr Null Komma gar nichts.
Aber der Josef würde ihr das Kleid ja schicken. Auf den Josef, ihren Jo-Jo, war Verlass. Mit Geld würde er ihr auch aushelfen, wenn sie ihn darum bat, aber er hatte ja selber keinen Hosenknopf in der Tasche, der arme Kerl. Um an Geld zu kommen, würde er die Mutter anbetteln oder aus der Kasse der Weinstube etwas stibitzen müssen, und beides – das wusste Karoline – würde er um ihretwillen tun. Also bat sie ihn nicht. Jo-Jo hatte Ärger genug. Ich werde schamlos sein müssen, wenn ich etwas erreichen will, dachte sie, aber schamlos und unanständig, das ist nicht dasselbe.
Somit war sie auf ihre vierzehn Mark und achtundachtzig Pfennige zurückgeworfen.
Und gar so wenig war das schließlich nicht: Ein großes Glas Bier bekäme sie für eine Mark. Alkohol trank sie ungern, weil sie ihrem Körper nicht schaden wollte, und wenn überhaupt, dann war ihr Wein lieber als Bier, Sekt lieber als Wein und Champagner lieber als Sekt, wobei sie Champagner noch nie probiert hatte. Bier aber, so hatte sie sich sagen lassen, füllte im Notfall den Magen wie eine Mahlzeit und löschte zugleich den Durst. Und wo die Bäcker einem für einen Laib Brot bereits eine Mark siebzig abknöpften, schien Bier die bessere Wahl. Eine Biermahlzeit am Tag würde ihr genügen, also sollte ihr Geld beinahe fünfzehn Tage lang reichen.
Milchmädchenrechnung, hätte der Steffel, ihr unsäglicher Kollege aus der Bank, dazu gesagt. Was Sie da aufmachen, meine Kleine, ist die reinste Milchmädchenrechnung. Karoline aber hatte ihm an die hundert Mal erklärt, dass sie nicht seine Kleine war, hatte ihm am Ende auf die Finger geklopft, und überhaupt war die Bank mit allem Drum und Dran Schnee von gestern, der aus ihrer Erinnerung gefälligst schmelzen sollte.
Natürlich wusste sie selbst, dass von der kümmerlichen Barschaft noch die Fahrkarte bezahlt werden musste, dass sie in Berlin – denn anderswo wollte sie nicht hin – irgendwo würde unterkommen müssen und dass sie, bis Jo-Jo ihr etwas schicken konnte, zumindest Unterwäsche zum Wechseln brauchen würde. Wer sie jedoch der Rechenkünste eines Milchmädchens zieh, der hatte einfach keine Fantasie: Selbst wenn ihr Geld nicht für vierzehn, sondern nur für vier Tage mit Biermahlzeiten reichte, wären das vier Tage, in denen sie auf Wege sinnen konnte, sich weiteres Geld zu verschaffen.
Für ein Milchmädchen kam so etwas nicht infrage. Aber Milchmädchen hießen Karoline, und sie würde so nicht länger heißen. Wie sollte sie sich nennen? Karo vielleicht oder Karly? Das klang forsch und modern, klang nach dem neuen, jungenhaft kurzen Schnitt, den sie ihrem Haar verpassen würde, sobald die Frage der Finanzierung geklärt war. Aber klang es auch elegant? Sie würde sich entscheiden müssen, ehe jemand sie nach ihrem Namen fragte, sie wollte das neue Leben nicht als Karoline beginnen. Vielleicht probierte sie wirklich zuerst mehrere aus, bis sie spürte: Der ist es. Der passt.
»Darf ich Ihnen behilflich sein?«
Karoline erschrak und ließ die Lasche der Tasche aus dem Mund gleiten. Ein Herr mit Monokel war aufgestanden und bot ihr seinen Platz an. »Das geht doch nicht an, dass eine junge Dame in so prekärer Lage stehen muss.«
»Wer sagt Ihnen denn, dass ich mich in prekärer Lage befinde?«, fragte Karoline.
Der Monokel-Herr wies mit einem Kopfnicken auf ihre Tasche. »Sie sahen so aus, als hätten Sie Mühe. Mehr habe ich selbstredend nicht gemeint.«
»Dann ist es ja gut«, sagte sie. »Ich habe junge Beine und stehe gern.« Schamlos werde ich sein müssen, wiederholte sie für sich, aber schamlos und wahllos, das ist nicht dasselbe. Der Herr mit dem Monokel, der Worte wie selbstredend benutzte und dabei Speicheltröpfchen versprühte, gefiel ihr nicht.
Die Straßenbahn fuhr bis zum Hauptbahnhof. Sie hatte sie nicht bewusst ausgewählt, sondern war einfach aufgesprungen, weil diese Bahn gerade vorbeigefahren war und sie aus den Fängen ihrer Mutter gerettet hatte. Aber der Bahnhof war natürlich genau richtig. Wenn das kein Omen, kein Zeichen des Schicksals war, dann wollte sie wieder Karoline heißen!
In der Traube verbleibender Fahrgäste stieg sie aus der Bahn, war froh, weil kein Kontrolleur sie erwischt und ihre knappe Barschaft noch weiter dezimiert hatte. Sie überquerte den Platz, auf dem Schutzleute mit Pickelhauben auf weißen Pferden Patrouille ritten, und tauchte in die Arkade ein, die in die Bahnhofshalle führte. An einer der Säulen saß ein Kriegskrüppel, ein Alter mit zerzaustem Graubart, erbärmlich abgemagert, beide Beine vor sich ausgestreckt – das linke, das sich dürr wie ein Zweig unter der Hose abzeichnete, und vom rechten, das fehlte, nur die leere Hülle. Darauf lag ein Pappschild mit geschmierter Aufschrift: »Verwundet bei Verdun«.
»Ich bitt Sie, schönes Fräulein.« Flehend hob er die Hände. »Kein Platz mehr für unsereinen in der Welt, aber Hunger haben wir halt immer noch.«
Karoline kramte in ihrer Geldbörse, hielt ein Zehnpfennigstück bereits in den Fingern und fragte sich dann, was sich der arme Teufel davon kaufen sollte. Sie ließ den Groschen zurück ins Portemonnaie fallen und gab ihm eine Mark. Wenn schon, denn schon. »Kaufen Sie sich ein Bier. Soll den ganzen Tag satt machen.«
Als sie weiterging, schloss jemand mit langen Schritten zu ihr auf. »Das sollten Sie wirklich nicht tun, meine Dame – solchen Leuten Ihr Geld geben.«
Karoline wandte sich zur Seite und erkannte den Monokel-Herrn aus der Straßenbahn. Sie zuckte die Schultern. »Kriegskrüppel. Das waren doch gerade noch unsere tapferen Helden, für deren Winterbekleidung wir sammeln und stricken sollten. Und jetzt, wo wir sie nicht mehr brauchen, sollen wir sie verhungern lassen?«
»Der ist doch viel zu alt, um im Krieg gewesen zu sein!«, empörte sich der Herr.
»Waren Sie’s?«, fragte Karoline.
»Das nicht, aber …«
»Habe ich Ihnen das Geld aus der Tasche gestohlen?«, schnitt sie ihm das Wort ab.
»Selbstredend nicht.«
»Na also«, sagte sie, »was geht es Sie also an?« Dann fiel sie in Laufschritt und ließ ihn stehen. Sicher hätte sie sich ärgern sollen, weil sie sich von dem Alten aufs Glatteis hatte führen lassen und infolgedessen nur noch mit dreizehn Mark achtundachtzig dastand. Auf der anderen Seite war es ihr egal. Wenn einer den Kriegskrüppel spielen wollte, hatte er dafür sicher seine Gründe, und wenn sie so dumm war, ihm auf den Leim zu gehen, hatte er sich die Mark verdient. Sie hatte sie verschenkt, weil ihr in dem Augenblick danach gewesen war, weil sie sich reich gefühlt hatte und etwas hatte abgeben wollen, und bei wem das Geld gelandet war, änderte daran nichts.
Den Monokel-Herrn war sie zumindest jetzt los. Sie sah sich in der Bahnhofshalle um, entdeckte einen Fahrkartenschalter und stellte sich ans Ende der Schlange. Wie ihre Schritte in dem weiten Raum hallten, gefiel ihr. Es klang nach Abenteuer, nach etwas, das in den großen Dramen stattfand, nicht in ihrem kleinen Leben. Sie war noch nie verreist, nur allsommerlich und allweihnachtlich zu den Großeltern in die Pfalz, was nicht zählte. In dem winzigen Ort hatte sie sich gefühlt wie in einen Käfig gesperrt, manchmal war es ihr vorgekommen, als fehle ihr die Luft zum Atmen.
Die Großeltern waren streng und taten immer das Gleiche. Wenn Karoline mit ihrem Frühstücksei kleckerte, fuhr sich die Großmutter ins Haarnetz und schimpfte, das komme daher, dass ihre Tochter diesen Künstler geheiratet habe, diesen Luftikus. »Was soll aus den Kindern denn werden?«
»Luftballons«, schlug Onkel Jakob vor.
Schauspielerin, dachte Karoline.
Aber den Onkel Jakob, den hatte sie angelacht und den mochte sie gern, weil es in seinem Kopf sicher lustig zuging. Ein schönes Durcheinander musste dort herrschen, ganz anders als in der ordentlichen Stube seiner Eltern, in der jedes Stück an seinem Platz lag. Onkel Jakob schnäbelte mit seiner Liebsten Rita darin herum und ließ sich nicht beirren. Wenn die Großmutter am Sonntag auftischte, standen die Platte mit dem Braten, die Schüsseln mit Kartoffeln und Gemüse und die Sauciere stets an derselben Stelle, und ihre Form hatte sich ins Tischtuch eingedrückt. Karoline verschlug es regelmäßig den Appetit, aber Onkel Jakob langte herzhaft zu. »Ich denke, wir sollten unsere Augen zum Pfandleiher tragen«, hatte er in einem der Hungerjahre gesagt. »Bei uns findet man sich spielend auch als Blinder zurecht.«
Sie war an der Reihe. Durch das kleine Fenster, das sich in der Glasscheibe öffnen ließ, drang die schnarrende Stimme des Schalterbeamten: »Sie wünschen?«
»Einmal nach Berlin«, antwortete Karoline, lauschte den Worten nach und war sicher, dass jeder in der Schlange sie beneidete. Natürlich hätte sie auch in München ans Theater gehen können. Sie wäre sogar sehr gern in München ans Theater gegangen, denn Fritz Basil hätte ihr am Hoftheater behilflich sein können. Und dann gab es in München noch Julius, den lieben, guten Julius, der – außer ihr selbst – als Erster erkannt hatte, dass eine Schauspielerin in ihr steckte. Julius war an den Kammerspielen engagiert, bei dem berühmten Otto Falckenberg. Dort hätte es Karoline noch viel besser gefallen, auch wenn das Gebäude in der Augustenstraße von außen wenig hermachte und der Saal vergleichsweise klein war. Aber das Theater, das darin gegeben wurde, war umso größer – es war modern, revolutionär und aufregend, ließ sich von keinem spießbürgerlichen Zügel halten.
Eugen Levien, der Kommunist, den sie hingerichtet hatten, hatte auf der Bühne der Kammerspiele eine flammende Rede für die Rechte der Arbeiter gehalten, und der gesamte Zuschauerraum war ein Meer aus dicht gedrängten roten Fahnen gewesen. Karoline interessierte sich nicht sonderlich für Politik, sie hatte dafür weder Zeit noch Verständnis, sondern kam sich in der wirklichen Welt immer vor wie beim Blinde-Kuh-Spiel. Aber der Anblick entsprach ihrem Sinn für Dramatik. Außerdem gefiel ihr der Gedanke, Kind einer neuen Zeit zu sein und Wege zu gehen, die erst ins Dickicht geschlagen werden mussten und die vor ihr noch niemand gegangen war.
Die Münchner Kammerspiele also wären ihr Traum gewesen. Da aber irgendwann festgestanden hatte, dass ihre Mutter kein Einsehen haben würde, hatte sie handeln und ihr davonlaufen müssen. Fort aus München, wo die Mutter sie sogleich wieder eingefangen hätte. Und wenn der eine Traum platzte, musste ein größerer her, wenn nicht München, dann eben gleich Berlin.
Die Stadt, in der nichts unmöglich war.
Über Karolines Rücken lief ein ausgesprochen wohliger Schauder.
»Retour?«, fragte der Mann hinter der Scheibe.
»Nein, einfache Fahrt.« Sie hätte die Worte jubeln oder singen wollen.
»Welche Klasse?«
Warum hatte sie sich das nicht vorher überlegt? In die Pfalz waren sie immer in der dritten gefahren, weil die günstiger war als die ersten beiden, es aber immerhin Sitzbänke gab und man nicht wie in der Stehklasse neben Bauersleuten, ihren Kraxen voller Kohlköpfen und ihren Hühnerkäfigen eingepfercht war.
Also war das wohl die richtige Wahl. »Dritte bitte«, sagte sie ein wenig gedämpfter und nahm sich vor, eines Tages wieder hierherzukommen und einen Sitzplatz in der ersten Klasse zu verlangen.
Der Mann füllte etwas in das Billett ein und stempelte es ab. »Macht neunzehn Mark fünfunddreißig. Zug fährt um ein Uhr zwanzig vom Gleis vier.«
»Neunzehn Mark wie viel?«, stammelte Karoline.
»Fünfunddreißig.« Er schob ihr das Billett durch die Klappe zu. »Nun mach schon, Mädel, hinter dir warten Leute, die haben nicht alle Zeit bis zum Sanktnimmerleinstag.«
Karoline spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, und sie hasste es. Sie warf den Kopf in den Nacken, straffte die Schultern, fuhr sich mit geübtem Griff durchs Haar. »Ich habe mich umentschieden«, sagte sie. »Ich möchte doch lieber in der vierten Klasse fahren.«
Der Mann stöhnte, zog das Billett zurück und stempelte darauf herum. »Und das wär’s dann, ja? Macht siebzehn Mark zehn.«
Das Blut in ihren Wangen begann zu pulsieren, und der Schweiß brach ihr aus. Ein wenig fühlte es sich an, als würde sie lebendig gekocht. Was sollte sie tun? Sich zur Mutter zurückzuschleichen, kam nicht infrage. Sie hatte es satt, auf der Brücke zu stehen und jedem Tag nachzuschauen, der ihr davonschwamm.
Julius, der junge Schauspieler, den der gleiche Ehrgeiz beseelte und der acht Wochen vor Kriegsende eingezogen, aber nicht mehr an die Front geschickt worden war, hatte gesagt: »Vielleicht haben wir es so eilig, weil wir nicht wissen, wie viel Zeit sie uns lassen.«
»Was meinst du damit?«, hatte Karoline gefragt.
»Dass den nächsten Krieg, den sie anzetteln, vermutlich keiner von uns überlebt«, hatte er geantwortet, und Karoline hatte ihn verspottet, weil er sich in so düsteren Gedanken verlor. Was er meinte, hatte sie dennoch gespürt. Sie trug es in sich wie er, wie ihre ganze eilige Generation.
Zurück konnte sie nun nicht mehr. Sie musste voran, musste nach Berlin, hatte dafür kein Geld, und der Mann hinterm Schalter wollte ihr nicht helfen. Karoline war es nicht gewohnt, dass Männer ihr nicht helfen wollten. Aber sie war es gewohnt, sich selbst zu helfen, wann immer es notwendig war.
»Haben Sie auch einen Zug für zehn Mark?«, fragte sie. Drei Mark achtundachtzig hob sie sich besser auf, denn ganz ohne Geld durch die Fremde zu ziehen, war selbst für ihre Unerschrockenheit ein bisschen happig.
»Jetzt pass mal auf, mein Fräulein, ich sitz hier nicht zu meinem Privatvergnügen, und die Herrschaften da haben auch noch was anderes zu tun. Jetzt schleichst dich, und wennst dir überlegt hast, wo du hinwillst, dann kannst von mir aus wiederkommen. Aber nicht so bald!«
»Ich glaube, ich höre nicht richtig. Hat man Ihnen keine Manieren beigebracht? So können Sie doch die Dame nicht behandeln!« Jemand drängte sich an Karolines Seite und baute seine schmächtige Gestalt vor dem Schalterbeamten wie zum Boxkampf auf. Der Monokel-Herr aus der Straßenbahn. »Ich fahre ebenfalls nach Berlin und komme für den Fahrpreis meiner Begleiterin selbstredend auf. Nehmen Sie bitte zwei Platzreservierungen vor. Erster Klasse, versteht sich. Fensterplätze.«
Einen Herzschlag lang war die Versuchung überwältigend. Sie brauchte das Billett, das der Schalterbeamte schon im Begriff stand, auszustellen, nur zu nehmen und wäre auf dem Weg nach Berlin. Was sie dort mit dem Monokel-Herrn anfing, würde sich finden. Vorerst zählte doch nur, dass ihre Reise endlich begann!
Ich werde schamlos sein müssen, sagte sie sich. Und wie in den Tagen, wenn sie daheim vor dem Spiegel einen Dialog geprobt hatte, gab sie sich mit zweiter Stimme Antwort: Schamlos ja. Aber nicht wahllos. Und der da gefällt mir nicht.
»Begleiterinnen haben keinen Fahrpreis«, sagte sie zu dem Monokel-Herrn. »Und wenn doch, dann legen sie den selbst fest. Ganz abgesehen davon, dass ich nicht Ihre Begleiterin bin und mir gerade eingefallen ist, dass ich in Berlin ja erst vor zwei Wochen war.«
In ihrem Rücken brandete Gelächter auf. Mindestens dreistimmig, und nur darauf kam es an: die Lacher auf seiner Seite zu haben. Ein kleiner Mann, dem der Kugelbauch den Reisemantel wölbte, trat zu ihr vor. »Wie wär’s denn zur Abwechslung mit Baden-Baden? Ist auch nett, gerade jetzt, ehe im Frühling Hinz und Kunz anrücken. Für die drei Stunden Fahrt können die Ihnen mehr als zehn Mark nicht abknöpfen.«