Bis wieder ein Tag erwacht - Charlotte Roth - E-Book
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Bis wieder ein Tag erwacht E-Book

Charlotte Roth

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Beschreibung

Der große Résistance-Roman der Bestseller-Autorin und eine dramatische Liebesgeschichte aus dem besetzten Frankreich von Charlotte Roth. Ein Roman über die Kraft der Liebe, den Kampf für die Freiheit und den Mut zum Leben. Ein verwunschenes Küstendorf in der Provence in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts: Über alle Klassenunterschiede hinweg wachsen fünf Kinder miteinander auf: Nathalie, die Bürgerstochter, Fabrice und Didier, die Brüder vom Schloss, und das Mauerblümchen Delphine sowie Nathalies algerischer Diener Salah. Doch auf dem Weg zum Erwachsenwerden zerbricht ihre kleine geborgene Welt: Nathalie ist in Didier verliebt, dieser aber bringt den Mut nicht auf, um sie zu kämpfen. Als die enttäuschte Nathalie nach Paris flieht, stürzt sie sich in einen Tanz auf dem Vulkan und begegnet dem Deutschen Alwin, der zum ersten Mal erahnt, wie die Freiheit schmeckt. Doch das zaghafte Glück und alle Hoffnung finden ein jähes Ende, als Frankreich über Nacht im Krieg steht. Der zweite Weltkrieg beginnt, und aus Freunden werden Feinde, auf Seiten von Résistance und Besatzungsmacht stehen sich die, die sich gestern noch liebten, auf Leben und Tod gegenüber. Plötzlich müssen die jungen Leute Entscheidungen treffen - nicht mehr nur über ihr eigenes Schicksal, sondern über die Zukunft ihres Landes und sogar der halben Welt.

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Charlotte Roth

Bis wieder ein Tag erwacht

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Der große Résistance-Roman der Bestseller-Autorin und eine dramatische Liebesgeschichte aus dem besetzten Frankreich von Bestseller-Autorin Charlotte Roth.

Ein Roman über die Kraft der Liebe, den Kampf für die Freiheit und den Mut zum Leben

Ein verwunschenes Küstendorf in der Provence in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts: Über alle Klassenunterschiede hinweg wachsen fünf Kinder miteinander auf: Nathalie, die Bürgerstochter, Fabrice und Didier, die Brüder vom Schloss, und das Mauerblümchen Delphine sowie Nathalies algerischer Diener Salah. Doch auf dem Weg zum Erwachsenwerden zerbricht ihre kleine geborgene Welt: Nathalie ist in Didier verliebt, dieser aber bringt den Mut nicht auf, um sie zu kämpfen. Als die enttäuschte Nathalie nach Paris flieht, stürzt sie sich in einen Tanz auf dem Vulkan und begegnet dem Deutschen Alwin, der zum ersten Mal erahnt, wie die Freiheit schmeckt.

Doch das zaghafte Glück und alle Hoffnung finden ein jähes Ende, als Frankreich über Nacht im Krieg steht. Der zweite Weltkrieg beginnt, und aus Freunden werden Feinde, auf Seiten von Résistance und Besatzungsmacht stehen sich die, die sich gestern noch liebten, auf Leben und Tod gegenüber. Plötzlich müssen die jungen Leute Entscheidungen treffen – nicht mehr nur über ihr eigenes Schicksal, sondern über die Zukunft ihres Landes und sogar der halben Welt.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoPrélude – Aprèslude – Vorspiel – NachspielJeu d’enfant – KinderspielNathalie1. Kapitel2. KapitelAlwin3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelNathalie6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelDelphine9. Kapitel10. Kapitel11. KapitelSalah12. Kapitel13. KapitelInterlude – ZwischenspielAlwin14. Kapitel15. KapitelNathalie16. Kapitel17. Kapitel18. KapitelDidier19. Kapitel20. Kapitel21. KapitelJeux interdits – Verbotene SpieleDörte22. KapitelAlwin23. Kapitel24. KapitelSalah25. KapitelNathalie26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. KapitelAlwin30. Kapitel31. KapitelRieke32. Kapitel33. KapitelJeux de guerre – KriegsspieleDelphine34. Kapitel35. KapitelNathalie36. KapitelSalah37. KapitelAlwin38. Kapitel39. KapitelNathalie40. Kapitel41. KapitelJeu de la mort – TodesspielRieke42. KapitelAlwin43. KapitelNathalie44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. KapitelSalah50. KapitelNathalie51. Kapitel52. KapitelAlwin53. KapitelLes jeux sont faits – Das Spiel ist entschiedenParis und Nathalie54. KapitelNachbemerkungGlossarLeseprobe »Grandhotel OdessaDie Stadt im Himmel«
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Für Lilly –

und ihre Stadt mit den blauen Dächern.

 

(Und für Fréhel –

der ich über den Wolken so sehr eine Mühle am weißen Platz, einen Tabakskiosk und ein kleines Bistrot wünsche.

Und jeden Tag Sonntag.)

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»Da stehe ich auf der Brücke und bin wieder mitten in Paris, in unserer aller Heimat. Da fließt das Wasser, da liegst du, und ich werfe mein Herz in den Fluß und tauche in dich ein und liebe dich.«

Kurt Tucholsky, »Ein Pyrenäenbuch«, 1927

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Prélude – Aprèslude Vorspiel – Nachspiel

1943

Sans numéro

Die Stadt hielt still. Am blauen Schiefer der Dächer zersprang funkelnd der Glanz des Abendlichts. Sie war sonst nie so, ihre Stadt. Für gewöhnlich betrug sie sich wie eine der fünf großen Katzen, die sich vor einer Ewigkeit im Milchhof des Châteaus gesonnt hatten. Kaum hatten sie einen Menschenblick gespürt, war es vorbei gewesen mit dem Frieden. Zwei – darunter die wilde, heiß geliebte – hatten auf der Stelle begonnen, sich in Szene zu setzen, zwei waren herangeschlichen, um schnurrend und bittend dem Betrachter um die Beine zu streichen, und die fünfte hatte den Schwanz eingeklemmt und sich verdrückt. Keine von ihnen hatte stillgehalten, solange Augen auf ihr ruhten, und Paris verhielt sich genauso. Kokett oder zärtlich, scheu oder stolz, aber heute war sie nichts von alldem – nur blaugrau und still.

Bist du müde, meine Wilde, Überwache, meine nächtliche Tänzerin mit den Wadenmuskeln aus Stahl? Ich an deiner Stelle wäre todmüde und hätte den Wahnsinn, der in meinem Namen aufgeführt wird, über alle Maßen satt.

Nathalie war erschöpft, obwohl jeder Strang in ihrem Körper sich anfühlte wie zum Zerreißen gespannt. Erschöpft vor Angst. Sie war lange nicht hier gewesen, und in diesem Zimmer überhaupt erst einmal. Ihr Gastgeber hatte beim Öffnen weder gelächelt noch ihr das Kopftuch zurückgestrichen, um ihr die Wangen zu küssen.

»Was ist denn jetzt los? Ich dachte, dir ist jeder gekachelte Geisterbahnhof lieber als die vier Wände, in denen ich lebe.«

Das stimmte. Sooft er sie auch gebeten hatte, ihn in seiner Wohnung, auf die er stolz war, zu besuchen, Nathalie hatte immer abgelehnt. Zu groß war die Angst gewesen, von einem ihrer Leute entdeckt zu werden und hinterher allein dazustehen. Verstoßen, dachte Nathalie. Wenn es nach dieser Nacht wieder Tag wird, habe ich niemanden mehr. Jemand würde sie gesehen haben, wie sie im Schutz der Kastanien aus dem Vélo-Taxi gesprungen war, um im Portal des Hauses unterzutauchen. Jemand würde es einem anderen weitersagen und dieser dem Nächsten, bis jeder es wusste. Aber das spielte keine Rolle, denn sie würde nicht zurückkehren.

Ihr Gastgeber hatte sie in den schmalen Flur gezogen und die Tür hinter ihr ins Schloss geworfen. »Was willst du?«

Nathalie hatte keine Antwort gegeben, weil das auf diese Frage die klarste Antwort war.

Er hatte sie verstanden. Ein, zwei Herzschläge lang war sein Blick wie suchend über ihr Gesicht gewandert, dann hatte er sich abgewandt. »Einverstanden«, hatte er gesagt und mit dem Kinn in den Gang hinein und zur letzten Tür gedeutet. Dahinter lag sein Schlafzimmer. »Zieh dich aus.«

Kurz hatte Nathalie gezögert, hatte ihm sagen wollen, dass er sie diesmal nicht wieder verlieren würde, dass sie bereit wäre, mit ihm fortzugehen, wohin er wollte – in was auch immer von der Welt noch übrig war. Als sich nichts davon in Worte fassen ließ, war sie wortlos gegangen. Jetzt lag sie auf seinem Bett und blickte durch Zigarettenrauch, Fensterscheibe und Balkongitter hinaus auf das stille, müde Paris.

Der Blick über das Mosaik aus Dächern war einzigartig, ihr Gastgeber hatte die Wohnung ausgesucht, weil er Paris von ganzem Herzen liebte.

»Paris und dich. Ich kann an das eine nie ohne das andere denken.«

Und der Rauch roch gut. Gauloises Caporal, schwarz und stark und im Maispapier. Sonst kaum zu bekommen. Männer erhielten auf Bezugsschein zwanzig Stück in zehn Tagen, was ein Witz war, und zwar einer von den schlechten. Frauen erhielten nicht einmal den Witz, weil die Heldenfrau, mit der Hitlers Gefolgsleute ihre neue Welt bevölkern wollten, nicht rauchte, sondern beim Sex die Hände faltete. Dennoch hatte Nathalies Gastgeber eins der blauen Päckchen auf dem Nachttisch liegen, als hätte er auf ihren Besuch gewartet. Vermutlich hatte er das. Nathalie hatte sich ausziehen wollen, sich auszuziehen war die leichteste Übung, es lag ihr im Blut wie anderen das Töten. Doch sie streifte sich nur das Kopftuch vom Haar und blieb reglos auf dem Rücken liegen, zu nichts anderem fähig, als zu rauchen und Paris zuzusehen.

Wenn ich dich nicht wiedersehe, mein Paris, sogar wenn es dich nicht mehr gibt, glaub bloß nicht, dass ich dich vergesse. Es hat mich immer glücklich gemacht, dich anzusehen, du Hindu-Göttin mit den Armen, die jeden umschlingen, aber niemanden festhalten. Jetzt macht es mich traurig, inmitten von all der Angst. Ich vergesse dich nicht, und wenn ich hundert Jahre alt werde. In meinen Grabstein können sie deinen Namen meißeln – wir zwei haben ineinander gepasst wie ein Kerl mit schlanken Hüften in ein rotgelocktes Mädchen. Hundert Jahre, das sind noch fünfundsechzig ohne dich, mein Paris, und wenn ich jetzt heulen muss, weil du mich mit deinen Splittern von Abendlicht blendest, wie soll ich dann rauchen?

An einer Gauloise Caporal im Maispapier musste man unentwegt ziehen, denn sonst ging sie aus. Als der Gastgeber das Zimmer betrat, war Nathalie noch immer nicht ausgezogen.

»Pardonne-moi«, sagte sie. Dann verbesserte sie sich, obwohl das eine so lächerlich klang wie das andere: »Tut mir leid.«

Er schüttelte den Kopf, streifte die Jacke ab und legte sich in Hemd und Hosen neben Nathalie aufs Bett. »Gib mir auch eine.«

»Ich dachte, das französische Kraut ist dir zu stark?«

»Mir ist manches zu stark«, sagte er und griff über sie hinweg. »Aber ich kann daran ja nun einmal nichts ändern.«

Nathalie hörte das Feuerzeug schnappen und sah aus dem Augenwinkel, wie er an der Zigarette zog. Sich ihm zuzuwenden, wagte sie nicht. Wenn sie es tat, würde sie nicht über sich bringen, wozu sie gekommen war, und das durfte nicht sein. Sie durfte den Gedanken nicht einmal zu Ende denken, oder die Angst würde stärker sein als sie.

»Nathalie.« Er sprach ihren Namen durch den Rauch zur Decke.

Sie wollte das Gleiche tun, ihn beim Namen nennen, doch ihr trockener Mund brachte keinen Ton heraus. Wenn er sie küsste, würde seine Zunge dann spüren, dass ihre wie ein Reibeisen war? Bei der Vorstellung, von ihm geküsst zu werden, schauderte sie, als wäre ihr in dem stickigen Zimmer, in der Julihitze kalt.

Sei nicht albern, schalt sie sich. Er hat dich oft geküsst und du ihn noch öfter, du hast mit ihm geschlafen und mochtest es, er hat dir etwas gegeben, was keiner der anderen zu bieten hatte.

Keiner.

Pétain, der verdammte Maréchal, tönte in seinen Reden, er habe seine kostbare Person den Franzosen zum Geschenk gemacht, und Nathalie hatte ihren Spott darüber ausgegossen, nachts, nach der Sperrstunde, wenn Gäste, denen man nicht trauen durfte, brav in ihren Betten lagen. Sie war in Uniformrock und Képi über ihre winzige Bühne gehüpft, eine Geschenkschleife um die Taille drapiert, die Stimme ätzend vor Hohn. Das Geschwafel machte sie wütend, weniger weil der Maréchal ein Verbrecher war, sondern weil hohle Phrasen sie wütend machten. Niemand verschenkte sich selbst, nicht einmal ein aufgeblasener Greis, nach dem ohne diesen Krieg kein Hahn mehr gekräht hätte. Menschen waren besessen von sich, egal was sie behaupteten, sie waren ihr eigener Nabel der Welt.

Der Mann, der neben ihr lag, war eine Ausnahme. Er hatte ihr beigebracht, dass es möglich war, sich selbst zu verschenken und fortan um einen anderen Fixstern zu kreisen – ohne zu fragen, ob das Geschenk willkommen war.

Es hatte Nathalie Angst gemacht, es hatte sie überfordert, doch es hatte sie auch berührt wie vielleicht sonst nichts.

»Nathalie«, sagte er noch einmal.

Nathalie nickte mit seltsam verzweifelter Anstrengung.

Versteh mich doch. Ich habe ein Spiel mit dir gespielt, weil ich nach Spielen süchtig bin, seit ich damals beim Weltenspiel damit angefangen habe. Du hast mitgemacht, obwohl du schon als kleiner Junge zum Spielen zu ernst und zu tapfer warst, und als ich gewonnen hatte, hast du mir mehr gegeben, als ich haben wollte. Ich habe es dir nie vergolten, aber ich tue es jetzt. Kein Paris mehr. Keine Nathalie. Nur du. Ich bin der Maréchal mit der Schleife vor dem Bauch, gib mir das eine, das ich um jeden Preis brauche, und ich werde dich für den Rest unseres Lebens um nichts mehr bitten.

»Nathalie«, sagte er noch einmal. Dann war ihre Zigarette zu Ende geraucht, und seine ging aus. »Du bist gekommen, um mir etwas zu verkaufen, ich habe dein Angebot angenommen, aber die Ware musst du schon liefern, denke ich.«

Sein Versuch, den Zyniker zu spielen, geriet so schlecht, dass sie auflachte. Er war zu ehrlich dafür, zu unschuldig, obwohl das bei dem, was er tat, wie ein schlechter Witz klang. Im Grunde hatte er nicht einmal Humor, weil man dazu ein Minimum an Bosheit brauchte. Die ging ihm ab, und wenn er hundertmal ein Diener des Teufels war und sie allen Grund hatte, ihn zu hassen.

Nein. Sie nicht. Die anderen ja, aber sie hatte keinen. Er hatte den Hemdkragen geöffnet, der Stoff war verrutscht und entblößte ein blasses, glattes Stück Haut. Es war diese Haut, die Nathalie entwaffnete. Sie hatte mehr nackte Männer gesehen als Gilles, der Schlachter, Kaninchenbäuche, aber diese Haut mit dem rötlichen Haarflaum gab ihr den Rest. Er warf die Zigarette weg. Lauernd, wie um eine Frage zu stellen, fuhr seine Hand an den Hosenschlitz. Was Nathalie dort zu sehen bekam, hatte sie ohnehin gewusst.

Sie war deswegen gekommen. Weil sie wusste, dass er ihr ausgeliefert war, dass er keine Wahl hatte, als nach dem Strohhalm zu greifen, den sie ihm bot, und den Preis dafür zu zahlen.

Den höchsten Preis.

»Hast du es dir anders überlegt?«, fragte er.

Wie von selbst streckte sich ihre Hand nach dem Stück Haut … Ich darf das nicht tun!

Die Erkenntnis durchfuhr sie, als ihre Fingerspitzen das Klopfen des Blutes ertasteten, das verriet, dass ein Mensch am Leben war. Wenn sie jetzt mit ihm schlief, damit er ihr gab, was sie brauchte, würde er glauben, sie habe sich ihm immer nur verkauft.

Für Zigaretten. Für Nylonstrümpfe, deren Naht man sich nicht mit Augenbrauenstift aufs Bein malen musste. Für eine Flasche Champagner, einen Tiegel pâté de foie gras, eine Razzia, die anderswo stattfand, ein Dokument, auf das kein zweiter Blick geworfen wurde, eine Tür, die in der Mauer offen blieb. Sie nannte ihn beim Namen. Vor dem Fenster igelte das müde Paris sich zum Schlafen ein. »Du darfst das nicht glauben, mon chou rouge.«

»Nenn mich nicht so. Und was darf ich nicht glauben?«

»Dass ich nur zu dir gekommen bin, wenn …« Sie verstummte.

»Dass du nur zu mir gekommen bist, wenn du etwas wolltest, das dir kein anderer beschaffen konnte? Dass du eine Hure bist, eine von den großen, une dame aux camélias, bei der es Kaviar sein muss, weil so eine für Graubrot nicht den Hintern hebt?«

Nathalie zuckte zusammen. »Mir hat Kaviar nie geschmeckt«, flüsterte sie. »Mir bleibt kein anderer Weg.«

»Wohl wahr«, sagte er. »Bliebe dir einer, wärst du nicht hier.«

Nathalie konnte noch immer nur flüstern: »Bitte hilf mir.«

»Hilf ihm, meinst du wohl.«

Sie sah von ihm weg auf das Weiß des Lakens, das in der Dämmerung leuchtete. »Hilf uns.«

Er beugte sich über sie und begann das rote Kopftuch, das um ihren Hals lag, aufzuknoten. »Das hier ist so hübsch, so frivol, so leichtfertig – genau wie du. Worüber machst du dir Sorgen? Du weißt doch, dass du mich in der Hand hast. Ich bin ein Waschlappen, den du auswringst, bis kein Tropfen mehr kommt.«

Ehe sie widersprechen konnte, hatte er seine Lippen auf ihre gepresst. Es tat weh. Als er sie freigab, atmete sie auf.

»Also los, bring’s hinter dich.« Mit einer Hand öffnete er seine Hosen und zerrte sie sich bis auf die Schenkel hinunter. Auf seinen Schwanz, der erwartungsgemäß in die Höhe schnellte, sah Nathalie nur kurz. Ihr Blick wanderte zu der weißlichen Narbe über Bauch und Hüfte, die er sich im Duell um sie zugezogen hatte. Sie erinnerte sich, wie zornig sie in jener Nacht gewesen war, wie sie die Männer hatte anschreien wollen: Verdammt, in einer Welt, in der so viel Leid ist – gibt es da nichts Wichtigeres, als sich mit solcher Kinderei einen glücklichen Moment zu verderben?

Salah hatte es ausgesprochen: »Warum nicht teilen? Was Nathalie braucht, kann ein Mann allein sich sowieso nicht aus den Rippen schneiden.«

In der Tat, in jener Nacht hätte sie sein wollen wie Paris – die Arme ausbreiten und sie beide darin einschließen, um sie wieder loszulassen, wenn sie ihrer müde war und in Idelles Kiosk eine Atempause brauchte. Warum konnte das Leben nie so sein, hübsch, frivol und leichtfertig, warum brachte man sich Narben bei, statt sich beim Kartenspiel zu betrügen, warum zerbrach der Mann neben ihr an der Welt, warum saß ein anderer Mann in der beginnenden Nacht hinter Mauern und wartete auf den Tod?

Er strampelte sich aus den Hosen frei wie ein Kind. »Na komm«, sagte er. »Du hast schon Üblere als mich überlebt, und ab und an hatten wir beide es doch nicht schlecht miteinander.«

Nein, dachte Nathalie, damals, vor dem Krieg, hatten wir es wie im Paradies. Das weiß ja ein Mensch nicht, dass er es wie im Paradies hat, wenn er in einem warmen Bett liegt, mit einem neben sich, der es gut mit ihm meint, wenn er noch etwas zu rauchen hat, zur Not gerollte Artischockenblätter, und ein Glas Wein aus der eisernen Ration, wenn niemand ihn bedroht, wenn niemand die Tür einschlägt, wenn niemand ihm Entscheidungen abverlangt, nach denen der eine lebt und der andere stirbt.

Dazu ist ja ein Mensch zu dumm, um das zu wissen: Wer so ein Bett hat, so eine Sicherheit, wer nicht hungert, nicht friert und sich nicht fürchtet, wer nicht allein ist, sondern einen zum Lieben hat, der hat es wie im Paradies.

Er begann sie zu streicheln. Sie lag still und sah auf seine Bauchdecke, die sich hob und senkte. Die Haut war hier noch zarter als die am Hals, der Flaum noch feiner, nur dort, wo er verletzt worden war, wuchs gar nichts mehr. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, sie musste sich jetzt nur den Rock herunterziehen und die Sache zu Ende bringen, dann würde niemand sterben. Der Krieg konnte ja nicht alles zermalmen, manche mussten davonkommen. Sie würde mit ihm irgendwohin entfliehen, wo der Wein nicht rationiert war, wo sie sich ins Vergessen trinken konnten und wo niemand ihre Gesichter kannte.

»Ich geh morgen früh nicht zurück«, flüsterte sie. »Ich bleib bei dir. Wir können aus Paris wegziehen, wie du es dir gewünscht hast. Wohin du willst.« Ihr Flüstern geriet so leise, dass sie es selbst nicht hörte. War das überhaupt möglich? Sie blickte auf und erkannte in seinem Gesicht, dass er es ebenfalls nicht gehört hatte. Sie hatten beide nichts gehört, denn sie hatte nichts gesagt.

Ich kann das nicht tun.

Er kam noch näher, und sie nahm seinen Geruch wahr. Anders diesmal. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, ob er herber, süßer, verschwitzter, parfümierter, stärker oder schwächer war, nur dass er anders war als der, der in der Nacht zu ihr gehörte. Es war der falsche Geruch, der falsche Mann, die falsche Entscheidung.

Ich kann das nicht tun.

Sie schob ihn von sich und schwang die Beine aus dem Bett. »Pardonne-moi«, sagte sie und verbesserte sich nicht. Das rote Tuch glitt zu Boden, sie hob es auf und knotete es sich wieder um.

»Was ist denn jetzt los?«

»Nichts.« Nathalie biss sich auf die Lippen. Sie würde diesen Raum verlassen und hinaus in die Nacht gehen, es würde niemanden mehr geben, bei dem sie zu Hause war, und nichts mehr, das ihr zu tun blieb. Gehen musste sie trotzdem. Den einen opfern, um den anderen zu retten – das durfte sie nicht.

»Komm zurück. Ich habe gesagt, wir sind im Geschäft.«

»Nein«, sagte sie, »ich kann nicht. Ich mag eine Hure sein, aber selbst die macht es einem, den sie liebt, umsonst.«

Er sprang aus dem Bett. »Du liebst doch nicht mich!«

Traurig sah sie zu, wie er sich ohne Hosen vor ihr aufbaute. »Doch, mon chou rouge. Auch wenn dir das nichts nützt.«

»Nathalie.« Hart packte er sie bei den Armen und zog sie an sich. »Geh nicht. Bleib bei mir. Diese Nacht ist so schlimm.«

»Ich weiß. Aber ich muss ja gehen.«

»Warum? Du bist ihm nichts schuldig. Er ist ein Mörder, so sieht die Wahrheit aus. In diesem Cabaret waren Frauen.«

»Ich weiß.«

Er sprach weiter, sagte Dinge, denen sie hätte widersprechen müssen, aber sie hörte kaum zu. »Er hat gewusst, worauf er sich einlässt«, beendete er seine Rede. »Hat er dich vielleicht gefragt, was du davon hältst?«

»Nein«, sagte sie. »Aber ihn hat auch niemand gefragt.«

Er stieß sie zurück, und sie taumelte gegen die Wand. »Wenn du ihn willst – warum sagst du dann mir, dass du mich liebst?«

»Weil es stimmt.«

»Hör auf!« Er schrie. »Wenn du jetzt gehst, kannst du nicht mehr zurück, und dein feiner Terrorist ist morgen tot.«

»Ich weiß.«

Er wollte ihr den Weg abschneiden, aber sie war schneller und floh auf den Gang. »Ich hätte euch sowieso nicht geholfen!«, schrie er ihr hinterher. »Glaubst du, ich mache mich zum Verräter für eine Hure und ihren Bomben werfenden Liebhaber?«

Nathalie drückte die Wohnungstür auf, sein Brüllen drang bis ins Treppenhaus. Fast glaubte sie die schlurfenden Schritte auf den krummgetretenen Holzdielen zu hören, das Wispern und Rascheln, wenn Ohren sich gegen die Tür pressen. Sie wandte sich um. Vor ihren Augen verschwamm sein Gesicht. »Du bist verrückt.« Seine Stimme kippte. »Bei Gott, wir haben den Verstand verloren.«

»Ich weiß«, sagte sie, schon im Gehen. »Und hätte die Welt nicht das Gleiche getan, wären wir damit vielleicht davongekommen.«

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Jeu d’enfant – Kinderspiel

Les Adrets-de-l’Estérel, Provence, Frankreich. Und Berlin.

Nathalie

November 1918

1

Nathalie saß auf dem Klosett.

Wenn sie sich reckte, den Rücken straff wie die Osterkerze in Notre-Dame de l’Assomption, konnte sie im Wandspiegel sehen, wie ihr Haar aus den gelösten Zöpfen um Wangen und Schultern fiel. Einmal hatte sie grand-mère Rose’ Topf mit Pinienhonig vom Bord gestoßen, um dem Strom aus dunklem Gold zuzuschauen, der sich über das Holz der Dielen ergoss. Jetzt neigte sie den Kopf zur Seite, betrachtete ihr Haar und verliebte sich. Ihr Herz klopfte, und unter ihrer Bauchdecke begann ein zartes, wildes Flattern. Es war das schönste Gefühl der Welt.

Auf ihre Beine, die kurz und stämmig von der Schüssel baumelten, sah sie nicht. Fabrice, das Ekel, behauptete, an den Beinen könnte ein Blinder eine Deutsche von einer Französin unterscheiden.

»He, traînarde, hast du Kohl gegessen wie die Hunnen, oder warum vergeigst du den halben Tag auf dem Klo?« Kaum dachte man an ihn, war der Teufel schon da! Fabrice’ Stimme dröhnte, als gehöre ihm das Château, als tanze das ganze Dorf Les Adrets nach seiner Pfeife. Sie hatten zu viert am Hang ihr Weltenspiel spielen wollen, und er hasste es, wenn er warten musste. Nathalie hasste es selbst, doch ihre Sitzung auf dem Klosett ließ sich nicht umgehen. Rhythmisch hämmerten Fabrice’ Fäuste an die Tür, bis Bernardine, die Kinderfrau, ihn zu fassen bekam. Mit ihrem Fliegenwedel verpasste sie ihm einen Patscher auf den Hintern, kräftig genug, dass Nathalie es durch die Tür hörte.

»So ein Wort nimmt kein wohlerzogener Mensch in den Mund, mon petit maître du monde. Und wenn eine Dame sich aufs privé begibt, hat sich ein Herr zu betragen, als hätte er nichts bemerkt.«

»Die ist doch keine Dame, nur Natou von der Mühle!« Fabrice fauchte wie ein wilder Kater, aber es nützte ihm nichts. Er war zehn Jahre alt, zwei Jahre älter als Nathalie, doch zu seinem Ärger schmächtig, und Bernardine besaß Bärenkräfte. Ohne Federlesens zerrte sie den jüngsten Spross des Hauses Cadière de l’Estérel aus der Halle, wobei ihr Fliegenwedel noch einmal höchst hörbar auf Hinterbacken aus ältestem provenzalischem Adel klatschte.

Nathalie strich sich Haar von der Wange und korrigierte ihre Haltung. Geschah ihm recht, fand sie. Wenn sie keine Dame war, war er dann etwa ein Herr, nur weil sie in einer Mühle und er auf einem Schloss geboren war? Beide lagen nicht mehr als hundert Schritte über einen Bergpfad für Ziegen voneinander entfernt. Seine Brüder waren Herren, der fabelhafte Claude, der im großen Krieg für Frankreich kämpfte und eines Tages das Erbe des Comte antreten würde, und Didier, der Manieren wie ein Prinz hatte. Fabrice dagegen kläffte wie die Dorfköter, die am Brunnen vor Sebastiens Bar auf Bissen lauerten. Einer, der sich beim Gehen auf die Schnürsenkel trat, dem das Hemd aus der Hose schlappte und der obendrein schmutzige Lieder pfiff, hatte wohl kaum ein Recht, seine Angebernase über Nathalies Herkunft zu rümpfen!

Ja, es stimmte, sie hatte Kohl gegessen, aber auf dem Klosett, das im Château privé hieß, saß sie aus anderen Gründen, von denen der Flegel Fabrice keine Ahnung hatte. Daheim, in grand-mère Roses Mühle, gab es kein privé, nur ein Kabuff aus Holz, in dem es übler stank als im Ziegenstall. Nathalie hasste es, sich dort im Finstern einzuriegeln. Sie wurde die Angst nicht los, ihr Hintern könnte auf der Schüssel festkleben, und sobald sie es unter sich plumpsen hörte, flitzte sie wie von der Tarantel gestochen ins Freie.

Kein Mensch bei klarem Verstand hätte in der dunklen Bude einen Spiegel aufgehängt, und insgeheim fragte sich Nathalie, warum überhaupt jemand auf so eine Idee kam. Wer brauchte einen Goldrahmen auf schwarzen Marmorfliesen, um sich selbst beim Kacken zuzusehen? Praktisch war der Spiegel trotzdem. Wie eine Dame ihr Haar zurückwarf, wie sie den Kopf neigte und die Lider senkte, wollte schließlich geübt sein, wenn man nicht auf einem Plumpsklo bei der Mühle kleben bleiben wollte. Und Nathalie wollte alles andere als das: Sie wollte eines Tages selbst ein privé in Marmor und Gold ihr Eigen nennen, und wenn die Reichen sich beim Kacken zusahen, würde sie es in Gottes Namen auch tun.

Außerdem aß dieser Tage jeder Kohl. Es war ja kaum mehr etwas anderes zu bekommen, weil die Männer fehlten und daher die Ernte verkam. Außerdem musste allzu vieles, was gut schmeckte, abgegeben werden, selbst von den Eiern, die grand-mères stinkende Hühner legten, durften sie nicht mehr als fünf für den Sonntag behalten. All die Eier, Trauben, Kirschen, die Pinienkerne, Ölfässer und Käselaibe wurden in Kisten genagelt und nach Paris geschafft. Als Nathalie sich einmal beklagte, weil in der soupe au pistou statt Bohnen und Nudeln nur Kohl und glasige Rüben schwammen, schimpfte grand-mère Rose: »Falls es dir entgangen sein sollte, Mademoiselle Erbsenprinzessin: Da draußen ist Krieg, und unsere tapferen provenzalischen Söhne verrecken nicht dafür, dass eine kleine Hunnin sich den Bauch mit Kaviar vollschlagen kann.«

Die Erinnerung brannte wie Galle im Hals. Nathalie biss sich auf die Lippen. Als sie sich im Spiegel sah, klappte sie den Mund wieder auf. Zerbissene Lippen passten zu Armut und Kohl, nicht zu Nathalie Delage, die sich eines Tages mit Kaviar nicht nur den Bauch vollschlagen, sondern darin baden würde! Dann würde niemand mehr wagen, sie eine Hunnin, eine dickbeinige Deutsche, zu schimpfen, die schuld am Krieg war, weder das Großmaul Fabrice noch grand-mère Rose. Die sagte, die Welt wäre besser dran, wenn es keine Deutschen mehr gäbe, aber weil es sie gab, weinte im Dorf Les Adrets unter jedem Dach eine Mutter. »Die überziehen unser Land mit Tod, und ich muss mit denen mein Haus teilen. Gleich mit zweien. Mir bleibt nur zu hoffen, dass die Hunnin nicht noch mehr Bälger kriegt.«

Jedes Mal, wenn grand-mère Rose am Esstisch in der Küche ihren Hass versprühte, wünschte sich Nathalie, einer aus der Familie – papa, maman oder wenigstens Tante Edwige – möge aufstehen und ihr sagen, dass das alles Unsinn war. Dass Nathalie keine Schuld daran trug, wenn unter den Dächern von Les Adrets Mütter weinten. Aber es stand nie jemand auf. Papa flüsterte ihr höchstens danach, wenn sie allein waren, zu, dass grand-mère Rose es nicht so gemeint hätte, aber Nathalie wusste es besser. Grand-mère Rose meinte alles so, wie sie es sagte. Sie war eine böse Vettel und wurde noch böser, seit Pâcome von der Post ihr den graublauen Brief hinauf ans Mühlentor gebracht hatte.

Für gewöhnlich hob der Postbote eine Hand vom Lenker und brachte sein Rad ins Schlingern, indem er schon von weitem mit der Sendung wedelte. Hier oben, wo es so wenig Abwechslung gab, freute sich jeder über Post, und Pâcome wiederum freute sich, weil er der Überbringer war. An jenem Tag aber hatte er den Brief erst vor dem Tor aus seinem Postsack genestelt und dazu eine Leichenbittermiene aufgesetzt. »Leider keine gute Nachricht, Madame la meunière. Sind sie nie, die grauen. Gewiss muss man nicht gleich ans Schlimmste denken, aber wenn’s grau ist, sag ich immer, dann ist es ganz bestimmt nichts Gutes.«

Pâcome hatte sich samt Rad an den Lattenzaun gelehnt und die Hand nach dem Glas Wein ausgestreckt, das er sich nach dem harten Herweg verdient hatte. Sein Glas Wein bekam er in schönster Regelmäßigkeit, sooft er hier heraufstrampelte, und grand-mère Rose, die gar keine meunière, also keine Müllerin, war, sondern nur in einer Mühle wohnte, hielt eines in der Hand, doch sie starrte an ihm vorbei. Ohne ein Wort zu sprechen, nahm sie ihm den grauen Brief ab und trug das volle Glas zurück ins Haus. Vor ihren Schritten flohen die Hühner gackernd nach allen Seiten. Als Nathalie noch einmal nach draußen lief, um dem armen, abgehetzten Pâcome seinen Wein zu bringen, war der Postbote, der sonst nie Eile hatte, bereits davongefahren.

Auch später, als die Familie in der Küche um den Tisch saß und aufs Essen wartete, hatte grand-mère Rose kein Wort gesprochen, sondern wie jeden Tag in der Suppe gerührt. Nathalie hatte an den blaugrauen Brief denken müssen, daran, dass er inzwischen gewiss geöffnet worden war, und daran, wie grand-mère Rose jedes Mal, wenn sie sich über papa ärgerte, loskeifte: »Dem Himmel und der gesegneten Jungfrau sei Dank, dass ich noch zwei Söhne habe und das Amt deines Vaters keinem Nichtsnutz in den Schoß fällt.«

Papas Vater, der vor Nathalies Geburt gestorben war, hatte Stéphane geheißen wie sein ältester Sohn. Er hatte das Château für den Comte Claude Cadière de l’Estérel verwaltet wie schon sein Vater und Großvater vor ihm. Vater und Großvater hießen ebenfalls Stéphane, die des Comte dagegen hießen Claude, und so war es immer gewesen, vielleicht schon so lange, wie das Château auf seinem Felsen stand. Die Mühle mochte wohl auch schon so lange dort stehen, obwohl der Mühlbach mit den Jahren abgeflacht war und wilder Thymian die Uferhänge überwucherte. Als er schließlich so flach geworden war, dass das Mühlrad im Schlamm stecken blieb, hatte einer der Claudes den Betrieb eingestellt und die nutzlose Mühle einem der Stéphanes zum Wohnen überlassen.

Sie wohnten noch immer dort, die Stéphanes mit ihren Familien. Ihr Haus war das letzte an der Straße, die aus dem Dorf auf den Berg führte, und das erste vor dem Pfad, der sich zwischen Wiesen, rot zerklüfteten Felsnasen, Schirmpinien, Kiefern und Korkeichen zum Château hinaufschlängelte. Die Bewohner des Dorfes, das sich in Inseln aus gelbweißen Häusern um die Felsen schmiegte, nannten sie les meuniers, die Leute von der Mühle.

Als der Krieg begann, war der derzeitige Stéphane – papas ältester Bruder – eingerückt, um tapfer für Frankreich zu kämpfen. Mit ihm gingen der mittlere Bruder Christophe, der gerade erst Tante Edwige geheiratet hatte, die jungen Männer aus dem Dorf und Claude, der älteste Sohn des Comte. Als sie aufbrachen, standen Frauen und Kinder an der Straße und winkten mit Tüchern, Mützen und Fähnchen. Claude ritt ein weißes Pferd und trug eine prächtige Uniform: grüner Rock, leuchtend rote Hosen und ein Képi mit Streifen, fesch aus der Stirn geschoben. Er war Offizier und führte eine Eskadron der Kavallerie, obwohl er noch bartlos und keine zwanzig Jahre alt war.

Die Übrigen, die als gewöhnliche Soldaten dienten, trugen zu den roten Hosen Himmelblau und stampften grölend und Zoten reißend die Gasse hinauf. Zwar hatte papa behauptet, jetzt, wo Frankreich in Gefahr sei, gehörten alle Franzosen zu einer Union sacrée, einem geheiligten Bund, in dem es zwischen ihnen keinen Unterschied mehr gäbe, aber das war Blödsinn. Den Unterschied sah ein Blinder: Der junge Claude saß zu Pferd und sah blitzsauber und hübsch aus, während die anderen wie eine Rotte Wildschweine herumtrampelten und die neuen Uniformen im Nu verdreckten.

Alle bis auf Stéphane. Der war zwar auch nur einfacher Soldat, aber so wie schon immer ein Claude vom Château für einen Stéphane von der Mühle gesorgt hatte, so hatte auch der junge Claude für papas Bruder Stéphane gesorgt: Er hatte ihn sich als Offiziersburschen gewählt. Mit Würde ging er bei der Schulter des Pferdes, trug ein fesch gestreiftes Képi wie sein Herr und beherrschte den Marschschritt, als hätte er mit dem Pack aus dem Dorf nichts zu schaffen.

Papa war nicht eingerückt, weil er mit seinem krummen Rücken nicht zum Heldentum taugte. Grand-mère Rose aber fand, als Verwalter des Châteaus tauge er noch weniger, weshalb sie ihn nicht als Stéphanes Vertreter einsetzte, sondern bis zu dessen Rückkehr alles selbst erledigte. Nur wenn der Comte Erntearbeiter für seinen Wein brauchte, durfte papa als Werber losziehen.

»Ein Mann, der nichts zu tun hat, kann sich einsargen lassen«, hatte papa geklagt. »Ist dir das wenigstens klar, dass du einen Mann damit zum Tode verurteilst?«

Grand-mère Rose hatte sich auf Zehenspitzen gereckt und über ihn hinweggeblickt. »Ich kann hier keinen Mann finden«, hatte sie gesagt. »Hätte ich einen im Haus, würde ich mich gewiss nicht an Pflichten krummschuften, die für Kerle gedacht sind, nicht für Weiber.«

Dann aber war der blaugraue Brief gekommen, grand-mère Rose hatte am Herd in der Suppe gerührt, und Nathalie war vor Aufregung auf ihrem Stuhl herumgerutscht, dass das Holz unterm Hintern quietschte. Was würde geschehen? Im Dorf Les Adrets mit seinem Château, seiner Mühle, seinen Claudes und Stéphanes blieb immer alles, wie es war, aber Nathalie sehnte sich danach, dass etwas sich änderte, wie bei ihrem Weltenspiel, wo sie mit einem Zug alles umstoßen und tausend neue Möglichkeiten auftun konnte.

Endlich hatte grand-mère Rose sich umgedreht, hatte den Topf zum Tisch getragen und einem nach dem andern aufgetan. Bei jedem wartete sie ab, bis er sich das pistou, in dem der Käse fehlte, in die Schüssel gelöffelt hatte, und füllte dann Suppe obendrauf. Bei Nathalies Mutter wartete sie nicht, sondern holte mit der Kelle aus und ließ die Suppe in die Schüssel platschen, dass sie maman auf die Bluse spritzte. »An der verdammten Somme bringt mir der Hunne den Sohn um«, sagte grand-mère Rose. »Und in meinem eigenen Haus muss ich ihm Essen hinstellen.«

Nathalies Mutter sagte nichts, sondern senkte das Gesicht bis fast in die Schüssel. Wie ein kleines Mädchen, fand Nathalie und schämte sich. Wäre die Mutter tatsächlich noch ein Mädchen gewesen und hätte Zöpfe getragen, wären deren Enden in die Suppe getaucht.

Nathalie, vor dem Spiegel im Klosett, zerbiss sich noch einmal die Lippen, um nicht loszuheulen. Scham fühlte sich an, als hätte man ein ekelhaftes Tier verschluckt, aber sie war keine Heulsuse, die sich wie maman von grand-mère Rose zur Schnecke machen ließ. Sie war Nathalie, papas Goldstern, der einzige an seinem schwarzen Himmel. Damals hatte sie auch nicht geweint. Sie hatte den Atem angehalten und sich mit aller Kraft gewünscht, maman würde sich wehren. Papa würde grand-mère Rose den Mund verbieten. Oder wenigstens Tante Edwige, die als Braut so hübsch ausgesehen und so fröhlich gelacht hatte, würde sagen, dass doch Nathalie und ihre Mutter für das, was der Hunne tat, nichts konnten.

Als sie ihren Atem nicht länger anhalten konnte und noch immer niemand etwas gesagt hatte, stand sie auf, packte ihre vollgeschöpfte Schüssel und schleuderte sie vor grand-mère Rose zu Boden. Die Schüssel war nicht zerschellt, doch die Suppe war über grand-mère Rose’ braunen Rock gespritzt wie zuvor über die Bluse der Mutter.

Grand-mère Rose brauchte höchstens eine halbe Minute, um sich zu fassen, dann wandte sie sich ab und trug den Suppentopf zurück zum Herd, ohne sich den Rock abzuwischen oder Nathalie eines Wortes zu würdigen. »Ma minette«, murmelte papa, aber Nathalie hörte nicht hin. Sie hatte begriffen, dass ihr gegen grand-mère Rose niemand beistehen würde. Sie war auf sich gestellt, und auch wenn sie allein keinen Sieg erringen konnte, war kämpfen besser, als wie leblos dazusitzen und sich nicht zu wehren.

Grand-mère Rose tauchte in dem bespritzten braunen Rock nie wieder auf, weil sie von dem Tag an stets einen schwarzen trug. Sie sagte auch nie wieder: »Dem Himmel und der gesegneten Jungfrau sei Dank, dass ich noch zwei Söhne habe«, sondern: »Ich muss ja dankbar sein, dass mein Christophe mir geblieben ist.«

Nathalie schüttelte die Bilder ab, straffte erneut die Schultern und sah ihr Gesicht zwischen honigbraunen Wellen wieder auftauchen. »Wart’s ab«, zischte sie ihrem Spiegelbild zu. »Aufs Château komme ich trotzdem, auch wenn meine grand-mère eine Vettel ist und maman und papa zwei Schafe, die immer ja und amen zu allem sagen.« Nathalie war kein Schaf. »Eine Ziege bist du«, behauptete Fabrice. Ziegen hatten Hörner.

Wie sie es anzustellen hatte, Herrin auf dem Château zu werden, erklärte ihr papa, solange sie denken konnte, allerdings nur, wenn grand-mère Rose außer Hörweite war: »Du bist was Besonderes, ma minette. Alle Sterne, nach denen ich gegriffen habe, sind mir entglitten, doch ein einziges Mal habe ich einen erwischt. Du gehörst in keine verfallene Mühle, du gehörst auf ein Schloss, und es ist kein Zufall, dass hoch über deinem Köpfchen eines steht. Noch bist du das kleine Zuckermädchen von deinem papa, aber einmal wirst du die sein, die alle wollen. Und die, die keinen will – keinen als Claude vom Château.«

Das war Nathalies Marschroute. Claude vom Château, der junge Comte Cadière de l’Estérel, war ihr heimlicher Bräutigam, für den sie sich tagein, tagaus aufs Klosett setzte. Als er in den Krieg geritten war, war er neunzehn gewesen und sie vier, auf dem Hintern seines Pferdes hatte ein Muster geglänzt, und sein Képi war hübsch wie eine Bonbonschachtel. Die Mädchen aus dem Dorf hatten ihm Blumen zugeworfen und sich die Kopftücher heruntergerissen, um ihm zu winken. Nathalie hätte sich ein rotes gewünscht, doch sie besaß nicht einmal ein weißes. Dennoch hatte Claude in all dem Getümmel nur Augen für sie gehabt.

»Sieh an, kleine Müllerin«, sagte er. »So jung und schon die Schönste. Den Kameraden, die von überall her kommen, um für unser Land zu kämpfen, werde ich sagen: In der Union sacrée mag es keine Unterschiede geben, aber die schönsten Mädchen von Frankreich sind noch immer die Knospen der Provence.«

Das klang ein bisschen albern, doch wegen der Leute, die zusahen, gefiel es Nathalie trotzdem. Ihr Verehrer hatte sich so tief zu ihr herabgebeugt, dass ein schlechterer Reiter vom Pferd gerutscht wäre, aber Claude saß im Sattel wie angeleimt. In der Hand hielt er ein Sträußchen aus aufgefangenen Blumen, die schon zu welken begannen. Er drückte es ihr in die Hand. »Wer weiß, vielleicht steht, wenn ich wiederkomme, eine junge Dame am Tor, und wenn ich sie nach ihrem Namen frage, ruft sie: Aber Monsieur le Comte, erkennen Sie mich denn nicht? Ich bin doch Nathalie, die kleine Demoiselle von der Mühle!«

Das war ihr halbes Leben her, doch die Erinnerung blieb immer frisch. Deswegen unterbrach sie ihr Weltenspiel, schlich sich aufs Klosett und übte ihren Part als junge Dame ein. Delphine brachte ihr immer Le Petit Journal mit, die farbig gedruckte Beilage, in der alle möglichen Arten von Damen abgebildet waren, weil es so etwas in der Dépêche du Midi, die papa las, nicht gab. Das war nett von Delphine. Delphine war immer nett, aber Nathalie hätte ihre bunte Zeitung nicht gebraucht. Sie hatte von selbst ein Gespür dafür, was zu tun war, ihr fehlte nur ein wenig Übung.

Die jedoch zeigte mit jedem Tag mehr Wirkung. Längst war Nathalie kein Baby von vier mehr, sondern ein Mädchen von acht, davon die Hälfte Kriegsjahre, die doppelt zählten. Wenn sie mit den anderen zwischen Rebstöcken im Gras lag und ihr jeu des mondes spielte, war es noch immer göttlich, ein Kind zu sein, doch vor dem Spiegel sah sie sich bereits mit erwachsenen Augen. Es war ein Rausch wie von stibitztem Zucker. Das schönste Gefühl der Welt.

2

Kaum hatte Nathalie den Zauber wiedergefunden, da platzte ihr von neuem der elende Fabrice dazwischen. Fingerknöchel trommelten an die Tür und zerschlugen die gläserne Kugel, in der sie mit sich allein war. Der Kerl war eine Landplage! Ehe sie jedoch eine Beschimpfung ausstoßen konnte, erkannte sie, dass der Takt der Schläge anders war, als sie es von ihm kannte. Nicht rhythmisch, sondern holprig; nicht wild, sondern verzagt. »Nathalie? Meinst du, du könntest bitte recht bald zu uns herauskommen?«

Didier, nicht Fabrice. Hätte Nathalie sich unter den drei Brüdern vom Château einen aussuchen können, so hätte sie, ohne zu zögern, Didier gewählt. Didier mit seiner zarten Locke, die er sich fortwährend aus dem Gesicht pusten musste, Didier mit seinen großen Augen, Didier, der immer sprach, als hätte er Angst, die Zikaden im Gras zu erschrecken. Das verhaltene Klopfen erstarb. »Schau, wir müssen dir etwas sagen. Es lässt sich eben leider nicht vermeiden.«

Auf so eine geschraubte Formulierung wäre außer Didier wohl kein Junge von zwölf verfallen. Nathalie musste lachen und rutschte vom Klosett. »Ich komme ja schon. Mach dir bloß nicht die Hosen nass.«

Sofort hätte sie die Worte gern zurückgenommen. Eine junge Dame sprach nicht so, schon gar nicht zu Didier, der zu nett war für diese Welt. Alle anderen Leute waren böse, zumindest ein bisschen, auch sie selbst, die mit dem fiesen Fabrice darüber lachte, wenn Pâcome mit dem Rad auf einer platt gedrückten Artischocke ausglitt. Didier lachte über so etwas nie, und er sah aus, als litte er Schmerzen, wenn jemand ein hässliches Wort benutzte. »Tut mir leid«, murmelte sie und entriegelte die Tür.

Didier stand mit hängenden Armen davor, wie bestellt und nicht abgeholt. Sein Matrosenanzug wirkte wie üblich blütenweiß und frisch gebügelt, obwohl er an diesem Vormittag mit Nathalie, Fabrice und Salah stundenlang im verschlammten Gras gekauert hatte. Spuren von Schmutz hafteten nur an den Spitzen der Knie, die wie zwei scheue Tiere unter dem Hosensaum hervorragten. Didier blies sich die braune Locke aus dem Gesicht, und Nathalie musste lachen, weil sie ihn so sehr mochte.

»Was lässt sich denn leider nicht aufschieben?«, fragte sie und blickte zu ihm auf. Er war lang und dünn und hatte Mädchenwimpern, die über den aufgerissenen Augen flatterten.

»Du musst mitkommen, Nathalie. Zu dir nach Hause.«

Ein Fuß scharrte über den Boden, und Nathalie fielen die Leute auf, die im Zwielicht hinter ihm standen. Die Herrschaft von Cadière gab Geld für Spiegel über dem Klosett aus, sparte aber an Brennholz und Gas. Nathalie schlang die Arme um den Leib und fragte sich, warum sie zuvor nie bemerkt hatte, dass es in der Halle mit dem mannshohen Kamin bitterkalt war. Mit dem Fuß gescharrt hatte Fabrice, den Bernardine noch immer beim Schlafittchen gepackt hatte und der seinerseits eine Katze unter dem Arm hielt, die er irgendwo aufgelesen hatte, die langhaarige, beinahe blonde. Sie wird ihn gleich kratzen, dachte Nathalie, doch die Katze hielt still und schien sie aus grünen Augen ebenfalls anzustarren.

Neben Bernardine reihten sich Monsieur Bruno, der majordome, und eine Schar Bedienstete, alles Frauen und Mädchen, weil die Männer für Frankreich kämpften. Im Hintergrund drückte sich Salah herum und wirkte zwischen dem Weiß der Schürzen dunkler denn je. An Fabrice’ anderer Seite stand Jeanne-Camille, die einzige Tochter des Hauses, im Alter zwischen Claude und Didier und viel zu erhaben, um mit Müllerstöchtern auf verschlammten Wiesen zu spielen. Neben ihr befand sich Madame la Comtesse, Odette Cadière de l’Estérel. Bei ihr waren noch zwei der Cousinen oder Schwägerinnen, die in diesem Haushalt ständig auf Besuch waren, doch Nathalie hatte nur Augen für die Comtesse.

Odette Cadière war eine Frau, die jeder für groß hielt, obwohl die meisten Erwachsenen sie überragten. Sie trug ihr Haar zu einer Krone gesteckt, und auch ihr Kleid war königlich: enges Mieder, hohe Taille und eine Schleppe in der Farbe der blassen Weinbergpfirsiche, die an Spalieren zwischen den Rebstöcken wuchsen. Wenn ihr Mann, der Comte, in Kriegsangelegenheiten auf die Präfektur nach Toulon musste, oblag ihr die Herrschaft über das Château. Vielleicht oblag sie ihr auch sonst. Ihr Mann war ja ständig weg, ob in Sachen Krieg oder aus Gott weiß welchen Gründen. Er spielte begnadet Billard, behauptete Nathalies Vater, aber als Schlossherr war er womöglich nicht sonderlich geeignet. Vornehm und fein wie Didier war er, und die paar Locken, die ihm geblieben waren, tanzten zimtfarben um seinen Kopf.

Seine Frau war ruppiger, roher, mehr wie Fabrice, auch wenn sie ihr Bestes tat, um es zu verbergen. Salah hatte einmal während einer Jagd beobachtet, wie einer ihrer schönen Hunde gerissen und getötet worden war. Unberührt war sie über den blutigen Körper hinweggestiegen, begierig, keine Sekunde der Jagd zu versäumen. Das war böse, fand Nathalie, noch böser als Fabrice, der wenigstens nett zu streunenden Katzen war. Insgeheim vermutete sie, Odette Cadière konnte so wenig weinen wie grand-mère Rose. Doch lachen konnte sie erst recht nicht.

Um die Erziehung ihrer drei jüngeren Kinder machte die Comtesse wenig Wind. Jeanne-Camille war vermutlich schon erwachsen und stocksteif zur Welt gekommen, und Didier und Fabrice überließ sie der Obhut der resoluten Bernardine. Sie hatte ja Claude, den Erstgeborenen, und damit ihre Pflicht erfüllt.

»Siebzehn war sie, als der Comte sie geheiratet hat«, hatte Tante Edwige, die nicht aus Les Adrets stammte, zu grand-mère Rose gesagt. Über die Cadières vom Château redeten die beiden ständig, so dass Nathalie weit mehr von ihnen wusste als von ihrer eigenen Familie. »Und trotz der Tragödie hat sie ihm neun Monate später schon einen Jungen geboren. Mehr kann kein Mann von einer Frau verlangen, und drei sind noch hinterhergekommen.«

»Die hat’s umsonst«, hatte grand-mère Rose erwidert. »Die Jüngsten missraten meist, aber solange man seinen Ältesten hat, ist das nicht das Ende der Welt.«

Demzufolge sah Madame la Comtesse wohl darüber hinweg, dass ihr ungebärdiger Jüngster und sein zwei Jahre älterer Bruder mit Mühlenkindern und Dienstboten spielten. Andere Kinder gab es ja nicht, bis auf Delphine, und die kam nur über den Sommer. Es war Krieg, die Erwachsenen hatten anderes zu tun. Dennoch standen sie jetzt alle versammelt und starrten Nathalie an. Die Blicke weckten Argwohn in ihr. Ein klebriges Unbehagen.

»Nathalie.« Didier spreizte die leeren Hände und trat einen Schritt zurück.

Seine Mutter räusperte sich. Bernardine, die sonst so Beherzte, setzte dreimal an, ehe sie etwas herausbekam: »Du gehst besser heim in die Mühle, poupée, da warten sie auf dich.«

»Tun sie nicht«, versetzte Nathalie. »Grand-mère Rose freut sich, wenn sie mir kein Abendessen hinstellen muss, und den anderen ist es egal.«

Eine kleine Stille entstand, dann murmelten ein paar Bedienstete durcheinander, aber niemand sagte ein verständliches Wort. Nathalie spürte, wie ihr Körper vor dem Unheil, das keiner beim Namen nannte, zurückweichen wollte. Aber sie war kein Feigling. »Didier!«, rief sie. »Warum sagst du nichts? Hältst du den Mund und schaust zu, wie deine Leute mich rauswerfen?«

Nett war das nicht. Letztendlich hatte sie in der Halle des Châteaus nichts zu suchen, und Didier taugte nicht zum Haudegen. Er war sanft wie Watte, wollte keinen Menschen verärgern, und sie mochte ihn, weil er so vollkommen anders war als sie. Dennoch musste sie ihn herausfordern. »Welcher Teufel dich reitet, weiß ich nicht«, sagte manchmal maman, die sonst kaum den Mund aufbekam, in der verhassten Sprache der Hunnen, und Nathalie wusste es auch nicht.

Didier trat von einem Fuß auf den anderen und rieb sich die Hände, die, wie Nathalie vermutete, völlig verschwitzt waren. »Du musst doch jetzt bei deiner Familie sein«, sagte er. »Es tut mir so leid, Nathalie. Es tut uns allen so furchtbar leid.«

Madame la Comtesse wandte scharf den Kopf. »Bruno«, rief sie den majordome und klang dabei nach Migräne und drei schlaflosen Nächten. »Seien Sie so gut und schicken Sie jemanden mit der Kleinen zur Mühle. Hier gerät die Welt gerade aus den Fugen, und ich habe nicht noch die Nerven, mich um eine Krabbe aus dem Verwalterhaus zu kümmern.«

Ich bin keine Krabbe, schrie es in Nathalie auf. Ich bin Nathalie, und eines Tages wirst du dir meinen Namen merken – wenn dein Claude mit mir in Notre-Dame de l’Assomption vor dem Altar steht. Zornbebend starrte sie ihrer Widersacherin entgegen, und auf einmal fiel ihr in all der Perfektion ein Makel auf: Die schöne Odette hatte einen Hängebauch, der den Stoff des Pfirsichkleids dehnte. Die Erlauchte wurde alt und schlaff wie jede gewöhnliche Frau.

»Virginie«, sagte Bruno, der majordome, zu einem der weißbeschürzten Hausmädchen. »Du gehst und bringst die kleine Müllerin nach Hause, zu ihrer Großmutter.«

»Niemand bringt mich nirgendwohin!«, rief Nathalie in den Tumult, den Salah nutzte, um zwischen den Mädchen hindurchzuschlüpfen und sich an ihre Seite zu stellen. Wie stets hielt er sich hinter ihr, aber so, dass sie am Hals seinen Atem spürte. Natürlich hätte Salah nie das Wort erheben dürfen, wenn jemand sie angriff, ob Odette oder grand-mère Rose, aber er war immer da. Fabrice hatte er sogar einmal geschlagen. Ich würde auch jeden schlagen, der dich angreift, dachte Nathalie. Salah war nur ihr Diener. Aber dass Diener keine Freunde sein konnten, galt nicht in ihrer Welt, in ihrem Spiel, in dem sie die Regeln bestimmten.

»Also los, beeil dich, Valerie oder wie du heißt«, fuhr die Comtesse das Hausmädchen an. »Mit der Krabbe wirst du ja wohl fertig werden.«

Das Mädchen stolperte einen Schritt vorwärts, Salah richtete sich schützend hinter Nathalie auf, und dann schnitt eine Stimme in die Stille. Eine Kinderstimme, noch nicht gebrochen und zu hoch für einen Jungen: »Merde alors«, sagte Fabrice.

»Fluchende Grafensöhne.« Bernardine stöhnte und ließ den Fliegenwedel auf Fabrice’ Hintern sausen. »Heilige Mutter, sei uns gnädig, was hat dieser Krieg nur aus uns gemacht.«

Die Katze fauchte und schlug nach ihr, Bernardine zuckte zusammen und ließ Fabrice entwischen. Der schüttelte sich, wie von einem Insekt gebissen. »Wieso steht ihr alle da wie die Spalierstangen, wieso sagt keiner Natou, was los ist?« Er ließ seine Katze laufen, schwang herum und sah Nathalie an. »Deine Mutter ist gestorben«, sagte er. »Deshalb sollst du nach Hause, auch wenn’s deiner Mutter ja wohl kaum noch was nützt.«

Jeanne-Camille kreischte auf, riss ihren Bruder zu sich und ohrfeigte ihn. Nathalie wusste nicht, was sie mit ihren Händen anfangen sollte, die ihr groß wie Schaufeln vorkamen, und ebenso wenig, was sie sagen, denken oder empfinden sollte.

Ihre Mutter war gestorben, maman, die Hunnin, die stille Frau, die sich von grand-mère Rose kleinmachen ließ und erlaubte, dass ihre Tochter kleingemacht wurde. Maman, die nie ein Wort auf Französisch zu ihr sagte, sondern immer in der Sprache der Todfeinde sprach, selbst wenn Nathalie sich die Hände auf die Ohren presste. Sie war tot – was sollte das heißen? Fabrice hatte einmal geprahlt, seine Mutter sei die schönste Frau der Welt, wenn sie in Abendtoilette ins Kinderzimmer kam, um gute Nacht zu wünschen. Mit jäher, wilder Verzweiflung wünschte sich Nathalie, ihre Mutter wäre auch die schönste Frau der Welt gewesen, wenn sie ihr gute Nacht wünschte, oder die hässlichste – irgendetwas, das sie im Gedächtnis behalten und nie verlieren würde. Aber da war nichts. Wo das Bild der Mutter hätte sein sollen, fand sich nur ein Schema ohne Gesicht.

Mühsam erinnerte sie sich, dass die Mutter am Morgen nicht bei Tisch gesessen hatte, um ihren Zichorienkaffee zu trinken, für den keine Milch mehr da war. War sie gestern beim Abendessen noch dabei gewesen? Es hatte Steckrübeneintopf gegeben, der grässlich stank. Nathalie wusste es nicht mehr. Mit Entsetzen entdeckte sie: Ob die Mutter da war oder nicht, fiel überhaupt nicht auf.

Von den Versammelten machte niemand Anstalten, sich zu bewegen, nur Fabrice, der jedoch nicht die Kraft besaß, sich aus dem Klammergriff seiner Schwester zu befreien. Sie standen still, bis ein Knall sie zusammenfahren ließ. In einem der Höfe musste etwas umgefallen sein, oder einer der Jäger hatte sich zu nah ans Haus gewagt. Als es noch einmal knallte, stand fest, dass es sich um Schüsse handelte. »Ich bitte um Verzeihung, Madame«, sagte Bruno. »Ich werde mich darum kümmern.«

»Das lassen Sie den Delage machen«, versetzte die Comtesse. »Zu irgendetwas muss der Mann ja zu gebrauchen sein.«

»Aber seine Frau ist doch gestorben«, kam es kaum hörbar von Didier, der sich gleich darauf eine Hand auf den Mund presste. Nathalie kämpfte noch immer darum, zu begreifen, dass es sich bei »dem Delage« und seiner Frau um ihre Eltern handelte, dass all das, was hier geschah, mit ihr zu tun hatte. Zwei weitere Schüsse hallten, und Geschrei ließ die Fenster hinter ihren Gittern klirren.

»Nom d’un chien, das ist ja nicht zum Aushalten.« Die Comtesse hielt sich mit den flachen Händen die Schläfen. »Tun Sie etwas, Bruno, ich beschwöre Sie. Am liebsten würde ich all diese Nichtskönner aus dem Jagdrevier fernhalten, aber was bleibt mir übrig? Brauchbare Jäger haben wir nicht mehr, und Fleisch von irgendeinem Vieh muss der Mensch ja essen.«

Eine Hand streifte Nathalies Schulter. »Komm«, sagte Salah. »Es ist besser, wenn wir jetzt gehen.«

»Warum?« Sie wollte nicht gehen. Hier oben, auf dem Château, fühlte sie sich sicher, vor dem Weg ins Mühlhaus dagegen erfüllte sie eine klamme, dumpfe Angst.

Salah gab keine Antwort, sondern zog sie am Arm von den anderen weg. Aus der Halle führte ein Gang in den Milchhof, wo in windgeschützten Ecken die Katzen lungerten, und von dort zu einer Tür in den Küchengarten, die Lieferanten und Bedienstete nutzten. Nathalie wollte nicht gehen, ihr ganzer Körper sträubte sich, doch welche Wahl hatte sie? In ihrem Rücken hörte sie das Scharren von Schritten und das Rascheln von Kleidern, dazu verhaltenes Murmeln. Nicht nur der majordome, sondern die ganze Menschenhorde samt der vier – nein, neuerdings fünf – Katzen aus dem Milchhof schien ihnen zu folgen.

Sie hätte sich gern herabgebeugt und eine der Katzen gestreichelt. All dies war so fremd, so schwer zu begreifen, und was half dagegen besser als warmes Katzenfell und tiefes, gleichmäßiges Schnurren?

Sobald Salah das Tor aufzog, ertönte ein weiterer Schuss, und das Geschrei schwoll wieder an. Jetzt waren Stimmen erkennbar, vor allem von johlenden Frauen und ein paar Männern und Kindern. Nathalie sah den Nebel, der schwer über den Beeten des Küchengartens hing. In den Schwaden verschwanden wie Geister vier der Katzen, nur die beinahe blonde war noch zu erkennen. Nathalie wünschte, sie hätte es ihnen gleichtun können, sich nach Katzenart bei Gefahr wegducken und im Nebel untertauchen.

Etwas löste die Starre in ihren Gliedern und veranlasste sie dazu, loszulaufen. Sie rannte den vom Regen aufgeweichten Gartenweg hinunter und spähte über den Zaun. Über den Dächern der vorderen Häuserinsel verlor sich eine Rauchwolke wie die aus papas Trompetenflinte, die er abzufeuern pflegte, um aus den Kirschbäumen Vögel zu vertreiben. Auch im Dorf musste es etwas zu vertreiben geben, denn eine weitere Salve wurde in die Luft gedonnert. Zugleich stürmte ein Zug aus Frauen, Kindern und Alten den Weg hoch, schwenkte weiße, an Stöcke geknotete Tücher und eine halb zerfetzte Fahne der Provence mit Adler und Delphin.

Nathalie erkannte ein paar Gesichter – die Leute stammten aus dem Dorf, waren Angehörige der Männer die als unabkömmlich oder untauglich auf dem Château verblieben waren. Die ließen ihre Forken und Äxte fallen und strömten ihren Familien entgegen. Alles grölte, die ganze Bergflanke schien ein Teppich aus Stimmen. Für gewöhnlich wirkte dergleichen auf Nathalie wie ein Elixier. Sie liebte Festtage in Sebastiens Bar, wo sie in Menschenlärm baden konnte, und verspottete Didier, der wie ein Mäuslein nach einem Loch suchte. Heute dagegen schlug das Getöse über ihr zusammen und überforderte sie. Sie hätte die Leute wegschieben wollen bis irgendwann später, wenn ihr Kopf sich nicht mehr wie zum Platzen voll und leer zugleich anfühlte.

Eine der Frauen, eine große mit blauem Kopftuch, riss einer anderen die Fahne weg und schwang sie über ihrem Kopf. »Lang lebe Frankreich!«, schrie sie. »Die boches, die verdammten Hunnen, haben die Waffen gestreckt, der Krieg ist aus!«

Der gegenüberliegende, fast blutrote Felshang, der aussah wie ein in Stein gehauenes Gesicht, bekam eine Stimme, griff das Echo auf: »… ist aus, ist aus, ist aus …« Einer nach dem anderen fielen die Männer ein: »Der Krieg ist aus, grâce à Dieu, diese Geißel von Krieg ist aus!«

Der Krieg. Der mochte weit weg von Les-Adrets-de-l’Estérel ausgefochten werden, aber dennoch galt ihm ein Wort in jedem Satz. In Nathalies Erinnerung war er so wie maman: stumm, so gut wie unsichtbar, aber immer da. Wenn jetzt der eine aus war und die andere tot – wer hatte dann künftig an allem Schuld, an Müttern, die unter Dächern weinten, und an Zichorie im Kaffee, an stinkendem Kohl, an jungen Männern, die nicht wiederkamen, an brachliegenden Feldern, verwilderten Kindern und zu viel Regen im November? Wie würde ihr Leben weitergehen, wenn der Krieg es nicht länger regelte, würde alles sich ändern, nichts so bleiben, wie es war?

Nathalie hatte sich so etwas gewünscht: einen frischen Spielzug, beide Hände voller brandneuer Möglichkeiten, doch jetzt überfiel sie die Angst. Würde wirklich alles anders werden, als es in den Jahren des Krieges gewesen war, würde kein Stein, aus dem ihre Welt gebaut war, auf dem anderen bleiben?

Solange Krieg herrschte, hatte kein Erwachsener Zeit, sich darum zu scheren, ob zwischen Weinstöcken und Pfirsichspalieren fünf Kinder bäuchlings im Gras lagen und sich in einem Spiel verloren, das sie niemandem hätten erklären können. Wenn aber nun der Krieg vorbei war, wenn die fehlenden Männer zurückkehrten und die Frauen nicht länger von früh bis spät mit Warten und Sorgen zu tun hatten, mochte einer von ihnen bemerken, dass die fünf Kinder im Weinberg nicht zusammengehörten.

Nur zwei von ihnen waren von Adel, nur drei von ihnen waren reich, und nur vier waren Provenzalen. Oder auch nur drei. Augenblicklich begehrten Nathalies Gedanken auf. Ich bin sehr wohl eine von hier!, hätte sie in die feuchte Luft und den Lärm hinausrufen wollen, ich bin durch und durch Provenzalin, und wenn es in dieser Union sacrée nur noch Franzosen gibt, bin ich durch und durch Französin. Mein Vater ist einer, und was meine Mutter ist, zählt nicht, die spricht nicht in meiner Sprache zu mir, und wenn sie in ihrer spricht, höre ich nicht hin.

Wieder gerieten ihre Überlegungen ins Stocken. Wenn die Mutter jetzt tot war, wenn sie dort, wo sie alle zusammen gewohnt hatten, nicht mehr zu finden war, musste sie dann nicht erst recht zählen? Hätte sie nicht doch hinhören sollen, wenn die Mutter in der verhassten Sprache redete, damit sie sich erinnerte? War es andernfalls nicht so, als hätte Nathalie nie eine Mutter gehabt?

Was für komplizierte, verworrene Gedanken! Sooft Delphine beim Weltenspiel mit so etwas anfing, verdrehte Nathalie die Augen und begann zu gähnen. »Der Krieg ist aus!«, johlte die Horde, die an ihr vorbeidrängte, und das Echo hallte von den roten Felsen wider.

»Komm weiter, Nathalie.« Salah hatte sie eingeholt und stieß die Gartenpforte auf. »Dein Vater will dich bei sich haben.«

Nathalie rührte sich nicht. Salah hatte mehr Kraft als Didier und Fabrice zusammen, er hätte ihr spielend leicht seinen Willen aufzwingen können, doch er hielt mit einem Seufzen inne. »Ich geh nicht«, beharrte Nathalie und krümmte die Zehen, wie um sie in der Erde festzukrallen. Sie wollte nicht nach unten, in das Totenhaus! Sie hatte Angst davor, und vor allem hatte sie Angst, nicht mehr zurückkehren zu dürfen, wenn sie jetzt ging.

Die anderen brauchen mich ja, versuchte sie sich zu beschwichtigen. Wenn sie mich nicht mehr haben, haben sie auch unser Spiel nicht mehr. Das Spiel lebte davon, dass einer Bewegung aufbrachte, Wellen schlug, auf denen die Übrigen reiten konnten, und diese Bewegung kam nie von Didier, Delphine oder Salah, sondern immer von Nathalie. Und von Fabrice, besann sie sich. Selbst wenn Didier wie so oft an seinem guten Herzen scheiterte, würde Fabrice darum kämpfen, dass Nathalie weiterhin aufs Château kommen durfte. Ihr Spiel würde er sich nicht nehmen lassen, es war ihr Geheimnis, ihre Welt, in die nichts eindrang, weshalb sie ihm auch diesen Namen gegeben hatten – Weltenspiel.

Wie es entstanden war, wusste niemand mehr. Nathalie erinnerte sich an den Tag, an dem Didier mit einem Rebmesser den Umriss einer Hand in den Boden geritzt hatte, dort, wo der hohe, fast schwarze Wacholder die Reihen der Reben und Spaliere von den Olivenbäumen trennte. Es war August gewesen, die rotbraune Erde zwischen den Grasbüscheln so hart gebrannt, dass Salah ihm hatte helfen müssen und schließlich das Messer übernahm. Der erschöpfte Didier hatte ihm die Namen genannt, die er einen nach dem anderen in die fünf Finger schreiben sollte: »Didier. Fabrice. Delphine. Nathalie. Und Salah.«