Die Königschroniken: Ein Reif von Eisen - Stephan M. Rother - E-Book
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Die Königschroniken: Ein Reif von Eisen E-Book

Stephan M. Rother

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Beschreibung

Es war eine Zeit des Blutes und der Schwerter … Das Kaiserreich der Esche wird von Unruhen beherrscht … denn die ersten Blätter des heiligen Baumes sind gefallen und ein Krieg kündigt sich an. Der Stammesfürst Morwa will die Völker des Nordens unter seinem Banner vereinen, bevor seine Kräfte vollends schwinden. Nur die Magie einer geheimnisvollen Sklavin kann ihm eine letzte Frist erkaufen … Auch Morwas Tochter Sölva ist bereit, alles für die Zukunft ihres Volks zu tun – aber als Bastard schlägt ihr überall Misstrauen und Verachtung entgegen. Zeitleich begibt sich die junge Leyken aus dem südlichen Oasenvolk auf die Suche nach ihrer Schwester, um den letzten Wunsch ihres Vaters zu erfüllen. Während die längste und kälteste Nacht immer näher rückt, scheint das Schicksal der Welt schon bald in den Händen zwei junger Frauen zu ruhen … »Wer als Fantasy-Fan nicht auf die neue ›Game of Thrones‹-Staffel warten will, wird bei Rother fündig.« Focus Online »Ein Reif von Eisen« ist der Auftakt der epischen Königschroniken-Trilogie von Stephan M. Rother, die alle Fans von Andrzej Sapkowski und Patrick Rothfuss begeistern wird. Im zweiten Band, »Ein Reif von Bronze«, droht ein Schatten unter blutrotem Banner das Kaiserreich der Esche für immer zu zerstören. Können Sölva und Leyken sich ihm entgegenstellen? »Eine absolute Leseempfehlung für High-Fantasy-Fans.« Lovelybooks-RezensentIn

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Über dieses Buch:

Das Kaiserreich der Esche wird von Unruhen beherrscht … denn die ersten Blätter des heiligen Baumes sind gefallen und ein Krieg kündigt sich an. Der Stammesfürst Morwa will die Völker des Nordens unter seinem Banner vereinen, bevor seine Kräfte vollends schwinden. Nur die Magie einer geheimnisvollen Sklavin kann ihm eine letzte Frist erkaufen … Auch Morwas Tochter Sölva ist bereit, alles für die Zukunft ihres Volks zu tun – aber als Bastard schlägt ihr überall Misstrauen und Verachtung entgegen. Zeitleich begibt sich die junge Leyken aus dem südlichen Oasenvolk auf die Suche nach ihrer Schwester, um den letzten Wunsch ihres Vaters zu erfüllen. Während die längste und kälteste Nacht immer näher rückt, scheint das Schicksal der Welt schon bald in den Händen zwei junger Frauen zu ruhen …

Über den Autor:

Stephan M. Rother wurde 1968 im niedersächsischen Wittingen geboren, ist studierter Historiker und war fünfzehn Jahre lang als Kabarettist auf der Bühne unterwegs. Seit dem Jahr 2000 veröffentlicht er u. a. unter seinem Pseudonym Benjamin Monferat erfolgreich Romane für Erwachsene und Jugendliche. Der Autor lebt in einem verwinkelten Haus mit vielen Büchern und Katzen am Rande der Lüneburger Heide.

Stephan M. Rother veröffentlicht bei dotbooks:»Im dunklen Holz«»Sturmwelle«»Die letzte Offenbarung«»Das Babylon-Virus«

»Die Königschroniken: Ein Reif von Eisen – Band 1«

»Die Königschroniken: Ein Reif von Bronze – Band 2«

»Die Königschroniken: Ein Reif von Silber und Gold – Band 3«

Die Website des Autors: www.magister-rother.de/

Der Autor im Internet: www.facebook.com/stephan.m.rother/

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eBook-Neuausgabe Oktober 2024

Copyright © der Originalausgabe 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Copyright © 2023 by Stephan M. Rother

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: XXX

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)

ISBN 978-3-98952-483-5

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Stephan M. Rother

Die Königschroniken:Ein Reif von Eisen

Roman

dotbooks.

PROLOG

Es war eine Zeit des Blutes und der Schwerter. Eine Zeit, die Königreiche wanken sah, funkelnden Goldes wegen oder um den Schoß einer schönen Frau. Eine Zeit, da derjenige, der um die alten Sprüche wusste, Macht zu gewinnen vermochte über die Herzen der Menschen. Wie auf dem Spielbrett verschoben Strategen ihre Heere, und der unwillige Blick einer glutäugigen Favoritin konnte genügen, um Leben auszulöschen am Hofe des Kaisers in der Rabenstadt. Es war eine Zeit, von welcher kaum in Ahnungen Kunde auf uns gekommen ist, in Echos, im Hall und Widerhall der Sagen und Erzählungen. Eine Zeit, die in Umrissen nur sichtbar erscheint, durch Reihen von Spiegeln geschaut, matt und trübe im dunklen Glas.

KAPITEL 1: SÖLVA

DIE NORDLANDE: NAHE DER DRACHENKLAMM

Einer von ihnen würde sterben.

Sölva rührte sich nicht. Zusammengekauert hockte sie am Boden. Eisiger Wind fegte über das Geröll und stach ihr in die Augen. Doch sie wagte kaum zu blinzeln, denn das Murmeltier hatte sie noch immer nicht gewittert.

Der Wind kam aus Richtung des Tieres und trug den Hauch eines Geruchs zu ihr. Sie war sich nicht sicher, wie Murmeltiere rochen, und wie sie schmeckten, wusste sie noch viel weniger. In einer Hinsicht aber hatte sie keinen Zweifel: Einer von ihnen beiden tat in diesem Augenblick seine letzten Atemzüge. Das Murmeltier oder sie.

Sölva fror. Wie viele Tage war es her, dass sie sich an einem Feuer hatte wärmen können? Es gab keine Feuer mehr im Feldlager der Tiefländer, ausgenommen im Zelt des Hetmanns, wo der Dung des letzten Dutzends Pferde die Nacht über am Glimmen gehalten wurde. Und Morwa, Sohn des Morda, war zwar Sölvas Vater, doch schließlich war sie ein Mädchen und die Tochter eines seiner Kebsweiber obendrein. Sie brauchte gar nicht erst zu versuchen, sich den wärmenden Flammen zu nähern, die dem Hetmann und seinen Eisernen vorbehalten waren, den schwer gepanzerten Leibgardisten, deren Aufgabe es war, Tross und Lager zu beschützen.

Ihre Finger waren ungeschickt geworden wie jede Bewegung ihres ausgemergelten Körpers. Und sie war schon mager gewesen, bevor der Hunger begonnen hatte. So mager wie ein Mädchen von zwölf oder dreizehn Sommern nur sein konnte.

Ein Windstoß fuhr durch das trockene Gras. Sölvas Herz überschlug sich. Krampfhaft schlossen ihre Finger sich um den faustgroßen Stein, den sie als Waffe gewählt hatte. Das Murmeltier blickte auf, reckte misstrauisch die Schnauze. Es war kaum weiter als eine Armlänge entfernt, und Sölva konnte die zitternden Barthaare erkennen, die so anders waren als das dichte, dunkelbraune Fell, das vermutlich schon den Winterpelz darstellte. Es handelte sich um ein auffallend wohlgenährtes Murmeltier, wenn man bedachte, dass die Leute aus dem Lager seit Tagen keine Nahrung mehr fanden. Der letzte, besonders gewitzte Vertreter einer weitverzweigten Murmeltiersippe womöglich, der sich bis zu diesem Moment allen Nachstellungen hatte entziehen können. Für einen Lidschlag noch hielt das Tier inne, bevor es seine Schnauze wieder zwischen die Büschel harten Grases versenkte.

Es hat mich nicht gesehen! Sölva bekam eine letzte Chance. Vorsichtig holte sie Luft, spannte sich an ...

Ein ohrenbetäubender, dröhnender Laut hallte über die trostlose Landschaft. Sölva fuhr zusammen, und im selben Moment war das Murmeltier verschwunden. Atemzüge später, und die schweren Stiefel zweier Eiserner traten die Grasbüschel nieder und stürmten an ihr vorbei.

Sie kam auf die Beine, ihr schwindelte. Auf der Suche nach Essbarem hatte sie sich ein Stück von den Zelten und Jurten entfernt, die sich tief in die Senke kauerten. Grau und ausgeblichen, waren die Häute und Filzmatten der Bespannung kaum vom Felsgeröll zu unterscheiden. Ein armseliger Schutz gegen den schneidenden Wind. Doch nun, mit einem Mal, war das gesamte Lager in Aufruhr. Das gespenstische Dröhnen setzte sich fort, an- und abschwellend, jetzt aus dieser, gleich darauf aus jener Richtung. Ein Krähenschwarm flog auf, beschrieb unter unheilvollem Krächzen einen Kreis über den Zelten. Menschen taumelten ins Freie, wandten den Blick gehetzt umher. An der größten unter den Jurten, die mit den knochenweißen Schädeln zweier Keiler geschmückt war, wurde das schwere Fell vor dem Eingang beiseitegeschlagen. Weitere Eiserne eilten an Sölva vorüber – und schon hing das Fell wieder an Ort und Stelle. Irgendwo aus der Bespannung des Zeltes kräuselte sich ein Rauchfaden in die eisige Luft. Ihr Vater blieb unsichtbar.

Selten nur hatten seine Gefolgsleute ihn zu Gesicht bekommen in den Wochen, die sie nun in der unwirtlichen Senke lagerten. Und doch hatte das keine Rolle gespielt. Die Menschen wussten, dass er mitten unter ihnen war. Morwa, Sohn des Morda, der größte Kriegsherr diesseits der Öde, außerhalb der Grenzen des Kaiserreichs. Morwa, Hüter des Schreins von Elt, Eroberer von Thal und Vindt, Schutzherr der Seestädte, Gebieter über die Tieflande. Unbesiegbar. Die Tiefländer mochten hungern. Mit bangen Blicken mochten sie die verbliebenen Eisernen zählen und die Zahl der Unbewaffneten gegenrechnen. Doch Morwa war bei ihnen. Keiner von ihnen hatte den Mut verloren. Bis zu diesem Augenblick.

Das tiefe Dröhnen brach sich an den vergletscherten Gipfeln: Kriegshörner. Ihr Klang schien aus allen Richtungen zu kommen. Mit unsicheren Schritten folgte Sölva den Spuren der Eisernen. Sie führten eine niedrige Anhöhe hinauf, die die Senke auf der südlichen Seite begrenzte. Die Gebirgsriesen ragten bedrohlich über diesen Kamm hinweg. Die Männer waren schon außer Sicht, auf der Anhöhe indessen zeichneten sich die Umrisse einer langen Reihe von Kriegern ab, bewegungslos aufrecht wie zerlumpte Standbilder. Sölva sah sie nur von hinten, doch die mächtigen Schwerter in ihren Gürteln waren deutlich zu erkennen, die dunklen Felle wilder Tiere um ihre Schultern, die ledernen Stiefel, in denen ihre Füße steckten. Zwischen den gerüsteten Gestalten waren in regelmäßigem Abstand Standarten mit dem Zeichen des schwarzen Ebers in den Boden gerammt, Morwas Wappentier und damit das Zeichen aller Völker, die sich unter seinem Banner zusammengefunden hatten. Die Botschaft war unmissverständlich: Das Lager des Hetmanns hungerte, doch es war nicht unbewacht.

Rasch schob sich Sölva zwischen den starren Gestalten hindurch, wagte erst wieder zu atmen, als sie die Anhöhe überwunden hatte. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie andere Menschen aus dem Lager herbeieilten, sich furchtsam aneinanderdrängten. Ein halbes Dutzend Eiserner gab acht, dass sie sich keinen Schritt weiter nach Süden bewegten, wo sich Moose und Gräser zwischen die schroffen Felsen mischten, bis sich eine Meile entfernt das Gelände auf dramatische Weise veränderte.

Nahezu senkrecht ragte dort eine Felswand in die Höhe, das Gestein von makelloser Glätte. Nicht der geringste Riss war zu entdecken, der einem Kletterer hätte Halt bieten können. Höher als die Gipfel, die das Tal an den übrigen Seiten umgaben, immer höher reckte sich der Fels in den sturmgrauen Himmel, um schließlich in messerscharfen Graten zu enden. So weit das Auge reichte, zog sich die Gebirgskette der Drachenzähne über den Horizont und trennte das Siedlungsgebiet der Tiefländer von den wilden Stämmen der Hochlande. Unüberwindlich, ausgenommen an einer einzigen Stelle: Genau in Blickrichtung war eine Bresche auszumachen, als hätte die Axt eines Riesen eine gigantische Kerbe im Gestein geschaffen. Ein ausgetretener Pfad lief auf diesen Einschnitt zu, bis er im unergründlichen Dunkel verschwand. Gewaltige Befestigungstürme überragten ihn, die an die Hörner eines versteinerten Lindwurms erinnerten.

Sieben Jahrhunderte lang, dachte Sölva. Seit Ottas Zeiten hatte die Festung über der Drachenklamm jede Bedrohung von den Tieflanden ferngehalten. Sieben Jahrhunderte lang hatten die Banner ihres Volkes auf diesen Türmen geweht, die Banner der Herren von Elt und Eik, von Thal und Vindt und was der Fürstentümer mehr waren. Und nun hatte sich alles geändert. Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie an den Spitzen der Türme die Standarten ausmachen, auf die weite Entfernung dünn wie Grashalme. Doch sie wusste, dass sie das Zeichen der Charusken trugen, das Zeichen der Krähe. Ob die leibhaftigen Vettern des Tieres die Ähnlichkeit erkannten? Gespenstisch mischten sich ihre rauen Rufe in den Hörnerklang, während sie hoch über den nadelspitzen Felsen ihre Bahnen zogen. Die Einzigen, die in dem kargen Landstrich noch Nahrung fanden.

Sölva schloss die Augen. Wie hatte es so weit kommen können? In mehr als drei Jahrzehnten hatte Morwa, Sohn des Morda, die Völker des Tieflands unter einem Banner geeint. Der aus dem Grabe zurückgekehrte Otta, wie man munkelte, der das Königreich von Ord von neuem errichten würde. Ein einziges, mächtiges Reich, das einst den gesamten Norden der bekannten Welt umspannt hatte: das fruchtbare Tiefland wie das gebirgige Hochland, von den Grenzen des Kaiserreichs bis in jene Regionen des Eises, in denen sich die Konturen der Landkarte in zitternden, gestrichelten Linien verloren. Und war er diesem Ziel jetzt nicht nahe? Sämtliche Völker des Tieflands folgten seinen Fahnen, und im Frühjahr hatte er seine Streiter nun durch die Klamm geführt, in das wilde Land der Gebirgsstämme, auf jene Seite des Passes, auf der sie sich jetzt befanden. Die Stämme hatten hartnäckigen Widerstand geleistet, doch am Ende hatten sie einer nach dem anderen die Waffen gestreckt. Die mächtigen Hasdingen waren aus ihrem Hauptsitz vertrieben worden und tiefer in die Wildnis zurückgewichen, dem eisigen äußersten Norden entgegen. Der wehrhafte Teil von ihnen zumindest mitsamt seinen Sippen. Die in ihrer Heimstatt Zurückgebliebenen hatten ihre Tore geöffnet und Morwa den Eid der Gefolgschaft geleistet. Lediglich die Charusken hatten eine Entscheidung vermeiden können. Nun aber war der Herbst bereits fortgeschritten. Ihre Unterwerfung würde bis zum kommenden Frühjahr warten müssen.

Die frisch eroberten Gebirgsfestungen hatte Morwa durch starke Garnisonen unter Führung seiner Söhne gesichert, seiner Söhne mit der Hetfrau. Er selbst hatte sich mit dem Tross und einer bloßen Ehrengarde von Eisernen auf den Rückmarsch gemacht, um daheim im Tal von Elt zu überwintern. Fast hatten die Tiefländer das raue Gebirge schon hinter sich gelassen. Nur die Drachenzähne trennten sie noch von den freundlicheren Gefilden der Heimat. Und hier nun, an der Drachenklamm, hatten sie feststellen müssen, dass nicht länger die Standarte des Ebers über den Türmen der Passfestung wehte, sondern die Krähe des alten Gerwalth und seiner Charusken. Der Weg in die Heimat war ihnen abgeschnitten. In einem entvölkerten Land, in dem die kümmerliche Ernte auf den Feldern erfroren war, während der Winter mit unbarmherzigen Schritten näher rückte.

«Etwas bewegt sich!», flüsterte eine heisere Frauenstimme.

Sölva wandte sich um. Sie kannte dieses Gesicht.

«An der Klamm. Also ... In der Klamm», präzisierte die junge Frau und strich sich eine strohblonde Haarsträhne aus der Stirn. «Auf dem Weg, der durch den Pass führt.»

Dann kann sie offenbar durch massiven Fels sehen, dachte Sölva. Jetzt erinnerte sie sich an den Namen. Terve. Terve war nur wenige Jahre älter als sie und gehörte doch schon zu den Frauen, die dem Heereszug folgten, um den Kriegern für einen Anteil der Beute ihre Körper feilzubieten. Solange die Tiefländer einen Sieg an den anderen gereiht hatten, war es in ihrem Zelt niemals einsam gewesen. Selbst nach Wochen des Hungers waren ihre üppigen Formen noch deutlich zu erkennen. Schließlich hatte ja jeder Eiserne die Wahl, dachte Sölva. Ein voller Magen – oder eine Nacht an Terves runden Brüsten, nachdem er seine Mahlzeit mit ihr geteilt hatte. Eine Möglichkeit zu überleben, auf die sich viele der Trossweiber besonnen hatten, auch solche, die ursprünglich nicht zu jenen Frauen gehört hatten. Es war eine Möglichkeit, die Sölva selbst nicht offenstand und auch nicht offengestanden hätte, wäre sie einige Jahre älter gewesen.

Ihre Augen glitten über die Frauen und Männer, die sich in immer größerer Zahl mit Blick auf den Eingang der Klamm versammelten. Hier und da ein Nicken in ihre Richtung, aus dem ein gewisser Respekt sprach. Mit zusammengebissenen Zähnen betrachtete Sölva das Zeichen des Ebers auf den Schilden der Eisernen. Tochter des Hetmanns, dachte sie. Nicht aber der Hetfrau. Die Kebsweiber, die ein Anführer der Nordleute sich nebenher hielt, waren weit entfernt davon, mit einer standesgemäßen Gemahlin in Konkurrenz treten zu können. An ihre eigene Mutter hatte Sölva keine Erinnerung, und sie wusste von mindestens einem Dutzend Halbschwestern, die wie sie selbst den Zug begleiteten. Sobald sie anfing zu bluten, würde ihr Vater sie an einen seiner verdienten Veteranen geben, zusammen mit ein paar Bauern und deren Höfen irgendwo in einem abgelegenen Dorf. Wenn sie dieser Ehre denn wert war. Hetmannstöchter, die sich entehrt hatten, wurden in die Wildnis getrieben – zum Verhungern. Ein bitterer Hohn.

Was also blieb ihr übrig? Bis der Tag ihrer Vermählung gekommen war, wurde erwartet, dass sie sich im Lager nützlich machte. Der Umgang mit Nadel und Faden bereitete ihr kein gesteigertes Vergnügen. Glücklicherweise nahm der alte Rodgert, Anführer der Eisernen, ihr ihre Arbeiten trotzdem bereitwillig ab. Wärmende Wollhemden, die seine Männer brauchen konnten unter dem Stahl ihrer Kettenpanzer, wenn es Tag für Tag kälter wurde. In Zeiten des Hungers bekam sie so zumindest die Möglichkeit, sich am Abend vor den großen Kesseln um eine Kelle Suppe einzureihen, wie auch jeder andere, der keine Waffen trug. Allerdings war die Suppe in den vergangenen Wochen mit jedem Tag dünner geworden, während die Tiefländer im Schatten der Drachenzähne ausharrten. Erstarrt gleich dem Beutetier, das der siegreiche Jäger in die Enge getrieben hat. Zu keiner Regung in der Lage.

Mit zögernden Schritten trat Terve an die Seite des Mädchens. «Ich bin mir sicher, dass sich dort etwas bewegt», wisperte sie. «Im Eingang des Passes. Sie kommen!»

«Unsinn!» Ein alter Mann löste sich aus der Menge. Flint, ein greiser Waffenschmied. Faltig hing die Haut von seinem abgemagerten Körper. Kaum vorstellbar, dass er noch in der Lage sein sollte, den Hammer zu schwingen. «Ich war vor den Wällen von Vindt», schnaubte er. «Bei der Belagerung im Jahr ohne Sommer. Die Menschen haben gehungert wie wir heute, doch sie haben sich nicht ergeben. Weil sie einen Kampf Mann gegen Mann überhaupt nicht nötig hatten. Wir sind nicht an sie rangekommen, weil sie Ballistas hatten, die Bolzen mit Feuer verschossen haben, das niemand löschen konnte. – Von da nach hier ...» Er nickte zu den Befestigungsanlagen und spuckte auf den Boden. «Das hätten sie noch mit versoffenem Schädel hinbekommen, nach einer Nacht im Hurenhaus.»

«Halt den Mund, Alter!» Einer der Eisernen trat mit drohender Miene einen Schritt näher. «Wenn ihre Geschosse uns erreichen könnten, hätten sie schon vor Wochen Gelegenheit gehabt, sie zum Einsatz zu bringen! Um die Passfestung müssen wir uns keine Sorgen machen!»

Er brach ab. Das Dröhnen der Hörner wurde plötzlich lauter. Und eindeutig kam es nun von der entgegengesetzten Seite des Talkessels.

«Sie sind überall!», flüsterte Terve und raffte ihr Gewand schützend enger um den Körper. «Sie haben uns hier festgehalten, während sie sich in unserem Rücken gesammelt haben. Die Charusken, die Hasdingen und sonst wer. Jetzt kommen sie von allen Seiten!»

«Still!»

Sämtliche Köpfe fuhren herum.

Ein mächtiger Rappe hatte hinter den Hungernden haltgemacht. Im unsteten Licht glänzte sein Fell wie frisch gebürstet. Eine einschüchternde Gestalt thronte im Sattel, den Körper mit den breiten Schultern nicht im Kettengeflecht der Eisernen, sondern in einem schwarzen Lederpanzer. Eine Adlernase beherrschte die Züge des Mannes, sein Haar war von Grau durchzogen, genauso der Bart, der kurz gehalten war, sodass er ihn im Kampf nicht behinderte. Ein Reif von Eisen umschloss den Helm zum Zeichen der Würde des Trägers: Morwa, Sohn des Morda, Hüter des Schreins von Elt, Hetmann der Tiefländer und aller unterworfenen Völker. In diesem Augenblick allerdings Herr über ein Aufgebot, das nur noch wenige Dutzend waffenfähige Männer umfasste – und einen um ein Mehrfaches so großen Tross, in dem jeder zweite Mann, jede zweite Frau im Hunger darniederlag.

«Sie werden nur aus einer Richtung kommen», sagte Morwa. Seine Augen wanderten über die frierenden Menschen. Sölva war sich nicht sicher, wie ihm das gelang, doch die wenigen Worte sorgten dafür, dass sie ruhiger wurden. Einen Moment lang schien sein Blick bei ihr zu verharren. Erkannte er sie? Gewiss nicht, mit Dutzenden von Kindern, im Bett der Hetfrau geboren wie auf den Lagern der Kebsweiber.

Der Hetmann schwieg. Alle schwiegen jetzt, die Augen abwechselnd auf Morwa, dann wieder auf die Einmündung des Passes gerichtet, die er unverwandt zu betrachten schien. Immer wieder war der Ton der Kriegshörner zu vernehmen, von den Gletschern her, von verborgenen Pfaden, die tiefer in die Wildnis der Hochlande führten, wo sich die Stämme gegen seine Herrschaft erhoben haben mussten, kaum dass er ihnen den Rücken gekehrt hatte.

Sölva warf einen Blick zu Terve. Die junge Frau schien jetzt gefasster. Mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck betrachtete sie die Straße zum Pass, als ob sie sich ihre Möglichkeiten ausrechnete. Doch war nicht klar, was geschehen würde? Ein Kampf war sinnlos. Morwa würde die Waffen strecken, und der Tross würde in die Hände der Feinde fallen. Und mit dem Tross die Frauen. Und anders als die Männer aus dem Tiefland würden die Charusken es kaum für nötig halten, die Dirnen für ihre Dienste zu entlohnen. Plötzliche Kälte durchfuhr das Mädchen. Würden sie sich allein an die Dirnen halten? Würden sie vor einem abgemagerten Mädchen haltmachen, das noch nicht einmal begonnen hatte zu bluten?

Aus dem Augenwinkel konnte sie beobachten, wie sich mehrere andere Frauen unauffällig aus der Gruppe entfernten, sich zu Boden beugten, um ihre Gesichter, ihr Haar mit staubiger Erde zu schwärzen. Die Hand einer jüngeren Frau tastete nach dem kleinen Messer an ihrem Gürtel. Mit Tränen in den Augen begann sie, ihre goldene Mähne Strähne für Strähne abzuschneiden.

«Versucht es nur!» Die Stimme des alten Waffenschmieds war ein Schnauben. «Versucht euch nur in Männer zu verwandeln. Eure einzige Wahl besteht darin, ob sie euch gleich auf der Stelle die Kehle durchschneiden oder erst, nachdem sie ihren Willen mit euch hatten. – Ich war in Thal. Bei der Einnahme der Stadt in dem Jahr ...»

Er verstummte abrupt, als einer der Eisernen ihm die flache Seite seiner Klinge in den Nacken hieb. Morwa, Sohn des Morda, warf lediglich einen Blick in Richtung der beiden, sagte kein Wort. Schon waren seine Augen wieder auf die Drachenklamm gerichtet.

«Da bewegt sich wirklich etwas», wisperte Sölva. Die Dunkelheit in der Felskerbe schien sich zu vertiefen, und, ja dort war Bewegung, und in diesem Moment löste sich eine Gestalt aus den Schatten, dann eine zweite, eine dritte. Die Umrisse waren mehr als eine Meile entfernt, doch in der frostkalten Luft waren sie deutlich zu erkennen. «Reiter», hauchte Sölva. «Die Reiter der Charusken.»

Wieder spürte sie die Augen ihres Vaters auf sich, musternd diesmal, mit einer Spur von Interesse, doch auch dieses Mal sagte er kein Wort. Der Wind hatte zugenommen, und er kam geradewegs aus dem eisigen Norden. Ein gespenstisches Knattern war zu hören, als er auf dem Hügelkamm in die aufgepflanzten Banner fuhr, zwischen den schweigenden Wachtposten, aber keiner unter den Männern und Frauen wandte sich um. Die Augen blieben auf den Pass gerichtet, wo nun einer nach dem anderen Dutzende von Reitern sichtbar wurden, die Waffenröcke grau wie die Gerölllandschaft. Schließlich blieb die Einmündung des Passes leer. Unendlich langsam bewegte sich die Spitze des Zuges auf Morwa und seine Gefolgsleute zu.

«Das muss Gerwalth selbst sein», murmelte der alte Flint. Misstrauisch sah er sich um, doch der Mann, der mit der Klinge nach ihm geschlagen hatte, hielt Abstand. «Der Hetmann der Charusken an der Spitze seiner Eisernen. Sie allein müssen uns fünf zu eins überlegen sein.»

Und anders als wir hatten sie keinen Hunger zu leiden, seit der neue Mond am Himmel steht, ging es Sölva durch den Kopf. Sie wagte es nicht, einen Blick in Richtung ihres Vaters zu werfen. Wie oft musste der Hetmann in den vergangenen Wochen mit sich gezürnt haben? Einen Zug in die Hochlande zu unternehmen, ohne eine ausreichende Wachmannschaft zurückzulassen in der so wichtigen Passfestung, die den Rückweg schützte. Mit nichts als seiner Leibgarde hatte Gerwalth sie in seine Hand bringen können. Der Rest der Charusken hatte alle Zeit der Welt gehabt, die bereits unterworfenen Stämme zum Aufstand anzustacheln. Was, wenn sie die Hasdingen tatsächlich zur Umkehr bewogen hatten auf deren Rückzug an den Rand des Eises? Bedeutete das überhaupt noch einen Unterschied? Nun waren sie heran mit ihren Kriegshörnern, bereit, auf das halb verhungerte Häuflein der Tiefländer niederzustoßen, wenn Sölvas Vater sich weigerte, die Waffen zu strecken und sich auf Gedeih und Verderb in die Hände Gerwalths zu begeben.

In diesem Augenblick war ein neuer Laut zu vernehmen. Einer nach dem anderen wandten die Tiefländer sich um. Das Geräusch ähnelte einem monotonen Summen, doch nein, es war ein Singen in einer Sprache, auf die sich im Norden der Welt nur noch wenige Menschen verstanden. Mit gemessenen Schritten näherte sich ein sonderbarer Zug aus Richtung des Lagers: hagere Gestalten in langen weißen Gewändern. Die Bärte reichten bis zu den Gürteln der Männer hinab, doch ihre Schädel waren kahlgeschoren, und auf der Stirn eines jeden war die sichelförmige Narbe zu erkennen, die er vor Jahrzehnten zum Zeichen seiner Weihe empfangen hatte. Morwas Seher, voran der alte Hochmeister Ostil, schwer auf einen Stab aus dem Holz der Esche gestützt. Hinter ihm folgten die jüngeren Geweihten, Meister Tjark, Meister Lirka und andere. Auf ihren Schultern ruhte eine mächtige, mit kostbarem Zobelfell verhängte Lade, mit der sie an der Seite des Hetmanns innehielten.

Ein Murmeln erhob sich unter den Männern und Frauen, als der Hochmeister vor Morwa das Haupt neigte. Seine Züge waren aschfahl unter dem grauen Himmel. Die Narbe auf seiner Stirn leuchtete rot wie eine frisch gehauene Wunde.

«Mein Hetmann», verkündete er mit brüchiger Stimme. «Jene, die den Göttern dienen, bringen dir das Verlangte.»

Das Murmeln verstärkte sich. Der Alte war ein mächtiger Mann. Auf eine bestimmte Weise war er sogar mächtiger als Morwa selbst als oberster Mittler zwischen Göttern und Menschen, und doch blieb er in einer entscheidenden Hinsicht an die Anweisungen des Hetmanns gebunden. Die Tiefländer kannten jene Lade, die die Seher mit sich führten, und nach altem Brauch befand sie sich in der Obhut des jeweiligen Herrn von Elt. Einzig zu den großen Jahresfesten wurde das Allerheiligste enthüllt, der Schrein von Elt, den elf edle Jungfrauen aus dem Gebein der Könige des Sommervolks geschnitzt hatten. Und nur zu diesem Anlass war den Sehern erlaubt, mit eigenen Augen zu betrachten, was der Schrein hütete: die in Eisen gefassten Hauer des Schwarzen Ebers, der Otta getötet hatte.

Kein Hetmann über das Tal von Elt wäre zu einem Kriegszug aufgebrochen, ohne das ehrwürdige Behältnis mit sich zu führen, in dem der Geist der großen Bestie gefangen war. Im Chaos der Schlacht, so hieß es, beseelte die Kraft des Ebers die Söhne von Elt und schenkte ihnen den Sieg. Wieder und wieder war es so geschehen, seitdem Morwa an die Spitze des Stammes getreten war. Bis zu diesem Tag, an dem der größte Stammesführer, den der Norden seit Ottas Zeiten gekannt hatte, das Haupt vor Gerwalth und seinen Charusken würde beugen müssen, um ihnen das Heiligtum seines Volkes auszuliefern, wie die alte Sitte es verlangte.

Zerrissene Wolkengebilde zogen eilig über den Himmel. Noch vor dem Abend würde es schneien. Wenn es Gerwalth in den Sinn kam, den Befehl zu einem Massaker zu geben, würde sich über die entseelten Leiber der Tiefländer eine Decke aus Weiß legen wie ein Leichentuch.

Unverwandt betrachtete der Hetmann den Zug der Reiter, der den Hang empor auf sie zukam. Schon war Gerwalths Gestalt auszumachen, auf dem Rücken eines der mächtigsten Pferde, die Sölva jemals zu Gesicht bekommen hatte. Allerdings hatte er ein solches Tier auch nötig. Das Oberhaupt der Charusken musste noch mehr auf die Waage bringen als sein bedauernswertes Reittier.

Die verbliebenen Eisernen hatten einen schützenden Ring um Morwa gebildet. Sie waren nur mit Mühe zu unterscheiden hinter den breiten Nasenstegen, die auf Höhe der Stirn aus ihren Helmen hervorwuchsen und über die Gesichter ragten, kaum mehr als die Augen freilassend. Grimmig sahen sie den Widersachern entgegen. Gerwalth warf ihnen nur einen beiläufigen Blick zu, musterte dann einen Lidschlag lang Morwa selbst, bevor seine Augen über dessen Schulter hinweggingen: zum Hügelkamm mit der langen Reihe der Gerüsteten, die das Lager der Tiefländer zu bewachen schienen.

«Eine letzte List, Morwa?», fragte er mit einer Stimme, die auf seltsame Weise zu hoch klang für einen so massigen Mann. «Da dir keine Lebenden mehr folgen, lässt du dein Lager von Toten beschirmen?»

Erst jetzt wandte Sölva den Blick zurück, fast gegen ihren Willen. Aus der Nähe boten die aufgepflanzten Körper der Krieger einen grauenhaften Anblick. Leere Augenhöhlen glotzten ihr entgegen, aus zerfetzten Panzern sah bleiches Gebein hervor. An mehr als einem der Männer war der grauenhafte Streich der tödlichen Wunde zu erkennen: die Gefallenen der Tiefländer, die den Hetmann auf dem Rückweg in die Heimat begleitet hatten, um in der Erde von Elt ihre Ruhe zu finden. Aus der Ferne aber, von den Bollwerken der Passfestung aus, mussten sie den Eindruck von lebenden Kriegern vermittelt haben, bereit, das Lager ihres Volkes bis zum Letzten zu verteidigen.

«Dann lass dir sagen, dass deine List gescheitert ist, Mordas Sohn», hob Gerwalth wieder an, die Augen auf den Hetmann gerichtet. «Die Krähen ...» Mit dem Kopf deutete er auf sein Feldzeichen. «Die Krähen sind von alters her die engsten Verbündeten der Charusken. An den Kadavern erschlagener Feinde haben sie stets Geschmack gefunden. – Seit Tagen sahen wir sie über euren Wächtern kreisen, und mehr als eine hat gar einen besonders schmackhaften Bissen mit hinüber in die Festung gebracht, um ihn vor meinen Augen zu verschlingen.» Ein glucksendes Geräusch kam aus seiner Kehle, von dem Sölva nur vermuten konnte, dass es sich um ein Lachen handelte. Dann fuhr der Mann mit plötzlicher Schärfe fort: «So hütet der Herr des Nordens die Ehre der Gefallenen seines Volkes? Indem er sich hinter den Toten versteckt? – Und so sinnlos! Solltest du geglaubt haben, dass diese Maskerade mich davon abgehalten hat, dir und deinem zerlumpten Pack den Garaus zu machen, so hast du dich getäuscht. Die Zeit, Morwa, war auf meiner Seite. Gernoth ...» Ein Nicken in Richtung der Gebirgszüge auf der Linken. «... und Gerfrieth.» Ein Nicken nach rechts. «Meine Söhne sind heran, nachdem sie den größten Teil deiner Garnisonen vermutlich bereits niedergemacht haben. Zu einer Schlacht wird es nicht mehr kommen. Nicht einmal der Rückzug steht dir noch offen, um dich mit einer deiner Besatzungen zu vereinigen. Nichts als die Unterwerfung bleibt dir – und mir die Entscheidung, ob ich dir erlaube, unter der Krähe als Trossknecht zu dienen, oder ob du den Nacken unter meiner Axt beugen wirst.»

Morwa hatte die gesamte Zeit geschwiegen, den Blick des dicken Mannes ohne Regung erwidert. Jetzt stieg er wortlos vom Pferd. Einer der Eisernen kam heran, um ihm aus dem Sattel zu helfen, doch Morwa hielt ihn mit einer Geste zurück, während der Hetmann der Charusken von gleich zweien seiner Männer Unterstützung erhielt, als er seinen schweren Leib zu Boden wuchtete.

«Die Hauer des Schwarzen Ebers», flüsterte Gerwalth, als er auf den Schrein zutrat, den die Meister auf dem Boden abgestellt hatten. Morwa war neben der Lade stehen geblieben und sah ihm entgegen. «Wir werden sie auf den Stein von Ardo legen», murmelte der Charuske. «Und der Geist des Ebers wird auf die Krähe übergehen. Kein Skalde wird über das jämmerliche Ende deines Volkes singen.» Mit herrischer Miene wandte er sich an die Seher. «Öffnet den Schrein!»

Meister Tjark und Meister Lirka traten von rechts und links an die verhüllte Lade heran. Sie war etwa brusthoch, und die Zobelfelle reichten bis zum Boden. In einer einzigen Bewegung zogen die beiden Seher die Felle beiseite, Gerwalth beugte sich vor, streckte die Hand aus.

Und stutzte. Schien in der Bewegung zu gefrieren, schien zurückweichen zu wollen, hielt wieder inne, hob dann von neuem die Hand, unsicherer jetzt, zitternd beinahe.

«Was ...» Ein Flüstern, so leise, dass Sölva, die nur wenige Schritte entfernt stand, es kaum verstehen konnte. «Was zum ...»

Wie auf einen stummen Befehl stießen die beiden Meister das halb enthüllte Behältnis nach vorn. Stolpernd sprang der dicke Mann zurück. Doch es war keine Lade, kein Schrein. Es war ein Käfig mit eisernen Streben, aus dem etwas ins Freie rollte, zwei Gegenstände, kopfgroß, nein ... Es waren Köpfe, und einer von ihnen kam mit dem Gesicht nach oben zu liegen. Die Miene des Toten war verzerrt, Ansätze der Verwesung bereits auszumachen, und dennoch war die Ähnlichkeit unverkennbar. Die Ähnlichkeit mit Gerwalths Zügen. Der Schädel Gernoths – oder Gerfrieths, was allerdings gleichgültig war. Es waren zwei Köpfe. Die Köpfe von Gerwalths Söhnen.

«Verrat!» Die Stimme des Charusken überschlug sich. Seine Reiter hatten längst begriffen, dass etwas vorging, doch Morwas letzte Eiserne hatten ihre Reihen unvermittelt geschlossen, die Schilde gehoben, die Speere aufgepflanzt. Sie würden kaum Atemzüge durchhalten gegen die Reiter der Charusken, aber mehr als Atemzüge waren auch nicht notwendig.

Wiederum ertönte das Kriegshorn, doch näher, sehr viel näher jetzt, und im selben Moment wurden auf dem Grat des Hügels Krieger sichtbar, lebende Krieger in den schwarzen Panzern der Tiefländer. Morwen! Mornag! Sölvas Halbbrüder, an ihrer Seite die Jazigen des Gebirges, inzwischen enge Verbündete der Tiefländer und die besten Bogenschützen diesseits der Öde, nördlich der Grenzen des Kaiserreichs. Ihre Waffen waren gespannt, die Spitzen der Pfeile auf die charuskischen Reiter gerichtet, die unvermittelt innehielten.

«Die Zeit.» Morwa hob die Stimme. Er war einen Schritt auf Gerwalth zugetreten. Seine behandschuhte Rechte lag auf dem Stiel seiner Axt. «Die Zeit war auf meiner Seite, Gerwalth, Gerdoms Sohn. Die Hasdingen haben ihren Hauptsitz aufgegeben. Sie sind keine Gefahr mehr, und ich kann ihrem Widerstand ein Ende machen, wann immer es mir beliebt. Du aber hast dich monatelang einer Schlacht verweigert. Niemals hätte ich nach Elt zurückkehren können mit den ungeschlagenen Charusken in meinem Rücken. Nichts, was geschehen ist, geschah ohne meinen Willen. Die Stämme des Gebirges, die sich unserem Bündnis bereits angeschlossen haben, stehen treu an unserer Seite. Sie haben meinen Söhnen Pfade gewiesen und Orte, an denen sie Gernoth und Gerfrieth erwarten konnten. Und wenn sie nach meinen Anweisungen gehandelt haben ...» Sein Blick ging zu den jungen Männern auf der Hügelkuppe, die bestätigend nickten. «... dann sind auch die überlebenden Männer aus dem Aufgebot deiner Söhne nun Teil unseres Bündnisses. Wie ich hoffe, dass auch ihr euch anschließen werdet, Charusken!» Er sah in Richtung von Gerwalths Reitern. «Im Reich des Nordens ist Platz für Eber und Krähe und jeden anderen Glauben. Kein Geistertier muss vor dem anderen im Staube kriechen. – Denn in einem gebe ich dir recht, Gerdoms Sohn: Zu einer Schlacht wird es nicht kommen.»

Gerwalth starrte ihn an. Furcht flackerte in seinen Augen, gefolgt von jäher Hoffnung.

Dann aber geschah alles sehr schnell. Und doch nicht in der Kürze weniger Atemzüge. Selbst Morwa, Mordas Sohn, benötigte mehrere Schläge, bis er das Haupt des Charusken von den Schultern getrennt hatte.

KAPITEL 2: MORWA

DIE NORDLANDE: NAHE DER DRACHENKLAMM

Schneesterne tanzten vom nächtlichen Himmel. Doch die Methörner und die Becher mit funkelndem Südwein kreisten an den Feuern zu Füßen der Drachenklamm, und niemand schien an diesem Abend die Kälte zu spüren.

Morwa, Sohn des Morda, nickte zufrieden. Seine Männer hatten sich diesen Abend verdient, an dem sie im Kreise der Gefährten in der Wärme der Wachtfeuer beisammensaßen. Die Charusken waren geschlagen; Gerwalths Eiserne hatten nach dem Tod ihres Hetmanns willig die Waffen gestreckt und sich dem Bündnis von Ord angeschlossen. Morwa hatte Sorge getragen, dass ihr Anführer ein Grab bekam, wie es einem Anführer seines Ranges zustand. Ganz wie er es immer gehalten hatte. So viele seiner Widersacher hatten eindrucksvolle Gräber bekommen im Laufe der Jahre, während seine eigene Macht immer weiter gewachsen war. Von diesem Tage an aber konnte kein Zweifel mehr bestehen: Niemand kam Morwas Stellung noch gleich in der bekannten Welt, einmal ausgenommen der Herrscher über das Reich der Esche. Und das Kaiserreich war alt wie die Erde selbst.

Die Feuer seiner Krieger überzogen das karge Gelände gleich einem Meer flackernder Lichter. In einigem Abstand hielt er inne, um das Bild zu betrachten. Ihre Rufe klangen in seinen Ohren: Elt! Elt! Und, beinahe lauter schon und häufiger: Ord! Ord! Die Rückkehr von Ottas altem Königreich war so nahe: Der Hetmann brauchte kaum die Hand zu heben, um nach der Krone zu greifen. Wie von selbst würde sie auf sein Haupt gelangen, wenn Ostil sie mit zitternden Fingern auf seinen Scheitel setzte. Schließlich würde mit Morwas Macht auch der Einfluss des Hochmeisters und seiner Seher wachsen. Sein Leben lang hatte der Alte die Pläne des Hetmanns unterstützt.

Ein Reif von Bronze, dachte Morwa. Otta hatte seinen Schmieden genaue Anweisung gegeben. Kein einzelnes Metall allein, und sei es noch so kostbar, konnte für das vereinigte Reich der Hochlande und der Tieflande stehen. Einzig die Bronze war geeignet, in der das Kupfer aus den Gruben von Thal sich in lodernder Flamme mit dem Zinn vereinte, welches die Vasconen des Gebirges aus ihren Stollen zutage förderten. Bis auf diesen Tag wurde der Reif von Bronze bei den Hauern des Ebers im Schrein von Elt gehütet. Als Kind bereits, an der Hand seines Vaters, hatte Morwa den Reif des Reiches Ord mit großen Augen bewundert.

Wie würde sein Gewicht sich anfühlen? Anders als der Reif von Eisen, den er seit seinem zwanzigsten Jahre trug? Seit jenem Tag, an dem sie Mordas einzigen Sohn im Hain des Ebers auf den Schild gehoben, ihn zum Herrn über die winzige Domäne ausgerufen hatten, die Ottas Erben noch geblieben war. Er hatte alles wieder in seine Hand gebracht, alles, was andere in zwanzig Generationen verloren hatten. Der Norden war geeint oder beinahe geeint wie seit Dutzenden Menschenaltern nicht, und Gerwalth hatte sich getäuscht, wie ein Mensch sich nur täuschen konnte. Ohne jeden Zweifel würden die Skalden von Morwa und seinen Kriegern singen.

König! König! Die Männer hatten ihn entdeckt, der er sich mit seinem Gefolge unter ihnen bewegte, an seiner Seite Morwen, Mornag, die Seher und einige der Eisernen, Fackeln in den Händen. Jubelnd streckten die Krieger ihm ihre Trinkhörner entgegen, und Morwa hob grüßend das seine, das längst schon leer war. Ohne auf ihre unüberhörbare Aufforderung einzugehen: sich von seinem Heer auf den Schild heben zu lassen wie die Könige der alten Zeiten, gleich hier und auf der Stelle.

Noch nicht. Er hatte nur mäßig getrunken an diesem Abend, wie immer, wenn er sich auf einem Kriegszug befand. Nein, vorsichtiger noch. Soeben hatten sie die Anhöhe oberhalb seiner Jurte erreicht, auf der er die Leiber der Gefallenen hatte aufpflanzen lassen als Teil der List, der die Charusken erlegen waren. Wieder hatte er gesiegt, und wie gering war der Blutzoll ausgefallen, der ihn diesen so entscheidenden Schritt vorangebracht hatte. List, die Tapferkeit seiner Männer, die Gunst des Schwarzen Ebers. Drei Jahrzehnte lang hatte er gekämpft, und nun, beinahe, war es vollendet.

Eben noch rechtzeitig. Einem Meuchelmörder gleich hatte der Schmerz sich angeschlichen, hatte begonnen, peinigend in seinem rechten Bein zu pulsieren. Ehe der vierte Teil einer Stunde vergangen war, würde er sich als erstickender Ring um Morwas Brust legen. Schon jetzt bedeutete ein jeder Schritt eine Anstrengung. Der Hetmann war gezwungen, für einige Atemzüge stehen zu bleiben, verspürte einen Anflug von Erleichterung, als er seine Begleiter unauffällig betrachtete. Nein, keiner von ihnen schien etwas ungewöhnlich zu finden an seinem unvermittelten Verharren.

Niemand durfte von Morwas Schwäche erfahren. Nicht etwa, weil er um seine Position gefürchtet hätte. Seine Männer kämpften seit Jahrzehnten an seiner Seite und würden ihm folgen, solange Atem in ihm war. Es war eine andere Furcht, die ihre Klauen in sein Herz geschlagen hatte. Die Furcht vor dem, was nach seinem Tod geschehen würde. Die Furcht um die Zukunft des Bündnisses, in dem er die Völker des Nordens aneinandergeschmiedet hatte. So fest die Bande auch erscheinen mochten, war doch einzig und allein er es, der die Stämme beieinanderhielt. Und die Welt war grauer geworden in den Jahren seines Lebens. Die Dunkelheit würde kommen. Wenn die letzten Schritte nicht gelangen, wenn die Menschen des Nordens nicht voll und ganz zueinandergefunden hatten, dann würden sie sich in dieser Dunkelheit verlieren.

Das alte Königreich, dachte er. Das Königreich von Ord. Zu Ottas Zeiten hatte es selbst dem Kaiser in der Rabenstadt die Stirn geboten, und in ebenjener Machtfülle musste es nun von neuem erstehen. Denn verwirrende, schwer zu deutende Botschaften kamen von jenseits der Öde. Die große Esche habe in diesem Jahr nur an einigen letzten ihrer Zweige ausgetrieben. Der Kaiser liege im Sterben, nein, er sei bereits tot, nein, seine Raben hätten die Stadt in alle Winde verlassen, um jenseits von Borealis eine Streitmacht auszuheben, wie sie die Welt seit den Zeiten der Vorväter nicht mehr gesehen habe. Dem Kaiserreich selbst drohe Gefahr. Die Völker der Steppe hätten sich unter einem neuen, mächtigen Khan gesammelt, und ihnen werde sich das Aufgebot entgegenwerfen. Sobald der Widersacher aber vernichtet wäre, werde das Heer sich nach Norden wenden, um die Unterwerfung der Stämme zu vollenden, die zu Zeiten Ottas noch misslungen war.

Wir haben einmal widerstanden, dachte Morwa. Und als geeintes Königreich werden wir erneut widerstehen, wenn das Wort des Königs von Ord von den Grenzen der Öde bis an den Rand der Erfrorenen Sümpfe reicht, von Vindt an der Küste bis an die Tote Flut. Dann aber wird der Name des Königs nicht mehr Morwa lauten. Eine winzige Zeitspanne noch. Wochen? Monate? Nicht länger. Das Gewicht des Wolfsfells um seine Schultern nahm ihm den Atem, doch sie weigerten sich, auch nur um einen Zoll nachzugeben. Noch nicht.

Morwen neben ihm lachte, hob die Hand und deutete auf eines der Lagerfeuer, an dem ein Mann die Crotta schlug. Die Klänge des kleinen, einer Lyra oder Harfe ähnlichen Instruments drangen nicht bis an die Ohren der Beobachter, doch rund um die Feuerstelle hatten sich die Krieger und Trossfrauen zum Reigentanz erhoben. Eben machte ein Eiserner Anstalten, mit seiner Maid über die Glut hinwegzuspringen wie zum Frühlingsfest. Die rote Mähne der Leute aus Tal krönte das Haupt der Schönen.

«Eure Krieger scheinen zu allem entschlossen, damit sich Euer Volk nur weiter vermehrt, Vater!», bemerkte Morwen belustigt. «Und wenn es der Schnee ist, der ihnen das Nachtlager bereitet.»

«Besser der Schnee als diese verfluchten Steine», murmelte einer der Eisernen. «Auf denen holt man sich blaue Flecken am ...» Das Ende des Satzes ging im Gelächter der Männer unter.

«Erkennt Ihr es, Vater?» Morwens Stimme veränderte sich, als er sich erneut an den Hetmann wandte. Ein Funkeln trat in seine Augen, Eifer sprach aus seiner Stimme, die mit jeder Silbe durchdringender wurde. «Die Männer feiern, und wie viel Grund haben sie zum Feiern! Die Tiefländer und die Gebirgsländer, die Reiter aus Elt und die Lanzenträger aus Eik, die Jazigen und die Vasconen von dieser Seite der Klamm und nun sogar die Charusken. Wir sind nicht länger einzelne Stämme, Vater! Wir sind ein Volk, das Volk des Königreichs Ord. Hört Ihr sie? Hört Ihr, wie sie nach ihrem König rufen?»

Die Gespräche der Eisernen waren auf der Stelle verstummt, sobald Morwas Sohn die Stimme gehoben hatte. Er ist schon ganz ihr Heerführer, dachte der Hetmann. Und doch ganz einer der ihren. Bis nach Westerschild würden sie an seiner Seite reiten. Konnten sie sich einen besseren Hetmann wünschen? In jeder Schlacht war Morwen in der ersten Reihe zu finden. Von keinem seiner Männer würde er sich an Tapferkeit übertreffen lassen. Wo sie kein Obdach fanden, bettete auch er sein Haupt auf den blanken Boden. Doch das Königreich würde keinen Hetmann brauchen. Es würde einen König brauchen.

Er wollte eben den Mund öffnen, als ihm eine andere Stimme zuvorkam. Eine ruhige Stimme, die die Worte mit Bedacht aneinandersetzte, nicht anders, als auch Morwa es getan hätte. «Der Letzte, der die Krone von Ord getragen hat, war Otta selbst.» Einem Schatten gleich war Mornag hinter seinem Bruder stehen geblieben, unsichtbar beinahe. Unbeachtet, solange er nicht das Wort an sich zog. «Und es gibt keinen Zweifel, dass Euch, Vater, schon heute mehr Männer folgen, als ihm an jenem Tag gefolgt sind, da man ihm den Reif von Bronze aufs Haupt setzte. Thal befand sich an jenem Tag bereits in den Händen der Kaiserlichen. Vindt war eingeschlossen. Und dennoch ...» Eine Pause, ein Atemzug an jener Stelle, an der Morwa ebenfalls Atem geholt hätte. «Sämtliche Stämme, die noch Widerstand leisteten, sämtliche Städte, die der kaiserliche Seneschall noch nicht erreicht hatte, hatten ihre Vertreter in den Hain von Elt entsandt. Niemand stand abseits. Der gesamte Norden wollte Otta zum König, und ...»

«Und heute will der gesamte Norden Morwa zum König!» Morwen unterbrach ihn. «Tiefland und Gebirge und selbst die Überreste der Charusken!»

«Die Hasdingen sind ...» Mornag versuchte das Wort wieder an sich zu ziehen, doch es gelang ihm nicht.

Sein Bruder hatte sich umgedreht, die Hand auf dem Schwertknauf: «Hast du Vater nicht zugehört? Er kann sie unter sein Banner zwingen, wann immer es ihm in den Sinn kommt!»

«Kann er das? Warum tut er es dann nicht?» Mornag verstummte. Die letzten Worte schienen zwischen ihnen in der Nacht zu hängen. «Das werden die Leute fragen.» Er senkte den Kopf. «Sie werden fragen, ob unser Arm vielleicht doch nicht so weit reicht, wie wir behaupten.»

«Du wagst es!», fuhr Morwen auf.

Doch diesmal ließ Mornag sich nicht unterbrechen. «Natürlich wissen wir, dass das nicht wahr ist!» Mit einem Mal war ihm Ungeduld anzuhören. «Wir wissen, dass es die Nähe des Winters ist, die uns verbietet, den Feldzug fortzusetzen, wenn wir nicht ohne Not das Leben unserer Männer aufs Spiel setzen wollen gegen einen Feind, der ohnehin schon geschlagen ist. Aber das wird keine Rolle spielen, wenn die Leute einmal beginnen, solche Fragen zu stellen. Der Hetmann beendet den Feldzug, ohne dass es ihm gelungen ist, sämtliche Stämme zu unterwerfen. Nur das werden sie sehen. Und wie kann jemand König sein, dem nicht sämtliche Stämme folgen?»

Wieder öffnete Morwen den Mund, doch in diesem Moment fing er die Blicke der Übrigen ein. Und Morwa wusste, was in diesen Blicken zu lesen war. Morwens Haltung wurde steif. Seine Augen bohrten sich in die seines Bruders, bevor er sich schroff abwandte und den Hang hinab den Feuern entgegenstapfte, laut nach Wein und Weibern verlangte.

Selbst Morwen erkennt es, dachte der Hetmann. Doch er will es nicht sehen. Sie alle wollen nicht hinsehen, solange man sie nicht mit der Nase darauf stößt. – Wenn aber Eiserne oder Stammeskrieger ihre Augen abwandten, war das ohne Bedeutung. Bei einem Hetmann oder gar einem König dagegen konnte es über Sein oder nicht Sein von Völkern entscheiden. Mornag jedenfalls sah anders als sein Bruder auch die Dinge, die sich nicht zu seinen Gunsten verhielten, und er hielt die Augen offen. Nur mit offenen Augen waren alle Wege zu erkennen.

Mornag war kühler als sein Bruder. Abwägender. Dieses Mal hatte er sich von Morwen noch reizen lassen, doch er würde älter werden. Er würde lernen, sich zu zügeln. Der zweite von Morwas Söhnen: War er der Herrscher, den das Königreich brauchte? Die Seher würden gut leben können mit seiner bedächtigen Art. Vor allem anderen aber musste ein Herrscher des Nordens ein Krieger sein. Brachte Mornag die Härte mit, die ein solches Amt verlangte? Wie würde er handeln, wenn es galt, seine Reiter auf einen Angriff zu entsenden, der die meisten von ihnen das Leben kosten würde? Morwen würde das auf der Stelle tun. Allerdings würde er darauf bestehen, die Attacke persönlich anzuführen, und damit nicht allein sich selbst, sondern auch das Reich einer tödlichen Gefahr aussetzen.

Keiner der beiden stand dem anderen in seinem Ehrgeiz nach. So wenig wie Morwas jüngere Söhne, Mortil und Morleif, die mit ihren Kriegern in den Hochlanden geblieben waren. Solange nicht auch die Hasdingen unterworfen waren, war der Krieg nicht vorüber, und solange der Krieg nicht vorüber war, galt es die Siedlungen des Gebirges für das Bündnis von Ord zu sichern, und jeder von Morwas Söhnen hatte während des Feldzugs zuverlässig seinen Beitrag geleistet, ganz wie der Hetmann es bestimmt hatte. Jeder der jungen Männer brachte Fähigkeiten mit, die einen großen Anführer ausmachten. Es waren ganz unterschiedliche Fähigkeiten, die sich auf ganz unterschiedliche Weise auf seine mögliche Herrschaft auswirken würden. Eines aber war allen Söhnen des Hetmanns gemein: Keiner von ihnen würde freiwillig beiseitetreten, wenn Ostil einem seiner Brüder den Reif aufs Haupt setzte. Wenn Morwa zu keiner Entscheidung gelangte, blieb sie der Versammlung des Thing überlassen, die sich erst im Frühjahr wieder im Hain von Elt zusammenfinden würde. Tiefländer und Gebirgsstämme, Handelsherren aus Vindt und Weidevolk von den Ufern der Flut würden sich mit ihren unterschiedlichen Favoriten gegenüberstehen, und Morwa würde nicht mehr am Leben sein, um auf den Gang der Dinge Einfluss zu nehmen. Wofür er ein ganzes Leben lang gekämpft hatte, würde kaum seine letzten Atemzüge überdauern.

Er hatte sich getäuscht. Weit weniger als der vierte Teil einer Stunde war verstrichen, und schon spürte er, wie seine Brust sich in der Kälte zusammenschnürte. Der Schmerz in seinem Bein hatte sich von einem an- und abschwellenden Ziehen in ein Gefühl der Schwäche, ja, der Lähmung verwandelt, und für einen Moment flackerte schwarze Angst in ihm auf: Was, wenn die Männer es bemerkten? Wenn er auf dem Weg zu seiner Jurte strauchelte? Wenn sie ihm erschrocken zu Hilfe kommen mussten? – Würden sie es auf den süßen Wein schieben, der an einem Abend wie diesem auch von einem Hetmann seinen Tribut forderte? Hatten sie bemerkt, wie selten er sein Horn hatte füllen lassen?

Ich darf nicht darüber nachdenken! Seine Söhne, die Krone. Er presste die Lider aufeinander und focht einen Kampf, lautlos, unbemerkt von den Männern an seiner Seite. Einen Kampf, der mit jedem Tag härter wurde, um so vieles härter als all die Schlachten der Vergangenheit, das Gefecht vor den Toren von Thal, als sich der Herr der Stadt ein letztes Mal gegen ihn erhoben hatte. Morwa, Sohn des Morda, duldete keinen Verrat. Am wenigsten würde er ihn von seinem eigenen schwächlichen Körper dulden, der es wagte, ihm den Gehorsam aufzukündigen.

«Vater?»

Er öffnete die Augen. In Mornags Blick stand ein fragender Ausdruck. Sein Sohn musste das Wort an ihn gerichtet haben.

Morwa straffte sich. «Du bist in Sorge, Sohn, dass die Krieger Fragen stellen, wenn wir nicht gegen die Hasdingen ziehen?»

«Ich ...» Der junge Mann blinzelte überrumpelt.

«Wenn du Hetmann bist ...» Morwa hatte seine Schwäche überwunden. Jetzt schwieg er für einen Atemzug, beobachtete die Wirkung seiner Worte. «Wenn du König bist, dann musst du es sein, der die Fragen stellt. Und die anderen müssen dir antworten. Und die Antworten auf ihre Fragen musst du kennen, bevor es ihnen auch nur in den Sinn kommt, diese Fragen zum Ausdruck zu bringen. – Die Hasdingen sind aus ihrem Hauptsitz geflohen, dem Eis entgegen, wo nichts mehr ist als die Ruinen des Sonnenvolks. Sie werden nicht haltmachen, ehe sie die gefrorenen Sümpfe erreichen. Was wird geschehen?»

«Sie ...» Der junge Mann fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. «Sie werden kein Obdach finden, und der Winter hat dort schon Einzug gehalten. Wahrscheinlich werden sie erfrieren.»

«Wenn du eine Brücke vor dir hast, die das Gewicht deines Heerbanns wahrscheinlich tragen kann, würdest du deine Krieger dann hinübersenden?»

Das Fackellicht war hell genug: Der Hetmann konnte erkennen, wie Mornag schluckte. «Das käme darauf an. Wenn es einen anderen Weg gäbe ...»

«Den gibt es. Du kannst mit deinem Heer ins Tal hinabsteigen. Doch das wird eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen und dem Gegner Gelegenheit geben, sich zurückzuziehen. Oder Verteidigungspositionen einzunehmen, um dich in einem Hinterhalt zu erwarten. Auf diese Weise könntest du weit mehr Männer verlieren als jene wenigen, die du über die Brücke sendest, um zu prüfen, ob sie der Belastung standhält. All das könnte sein. Ob es sich tatsächlich so zutragen wird, steht in den Sternen. – Was tust du?»

«Ich kann nicht wissen ...»

«Du musst wissen. Du bist der Hetmann.»

«Ich ...»

Morwa nickte knapp. Er durfte den Jungen nicht bloßstellen vor den Augen der Eisernen, die ihm dereinst in die Schlacht folgen würden. Wenn denn er es war, den der Reif erwartete.

«Du hast es selbst bereits ausgesprochen», erklärte der Hetmann. «Wenn wir den Hasdingen nachsetzen, dann wird das viele unserer Männer das Leben kosten. Den Stämmen der Hochlande ist das Gelände weit vertrauter als uns, und die Berge sind wie geschaffen für Hinterhalte. Zudem ist die Kälte in einem jeden Winter ihr Begleiter, während mancher unserer Krieger sterben wird, bevor er den ersten Gegner auch nur zu Gesicht bekommt.» Er hielt inne, sah, wie der junge Mann nickte, sah, wie ein Ausdruck des Unbehagens auf die Gesichter der umstehenden Eisernen trat. «Oder aber wir überlassen die Hasdingen ihrem Schicksal. Denn in der Tat werden sie wahrscheinlich bis auf den letzten Mann in der Wildnis zugrunde gehen, und falls es dennoch Überlebende geben sollte, so werden sie mit Sicherheit keine Gefahr mehr darstellen. Was allerdings nichts daran ändert, dass damit der Winter die letzte Schlacht gewonnen hätte. Und nicht das Bündnis der Völker des Reiches von Ord. Und wir wissen, wem die Treue der Gebirgsstämme gehört.»

«Sie folgen nur dem Stärksten», murmelte Mornag.

«Sie folgen nur dem Stärksten. Wenn wir dem Winter den letzten Sieg dieses Krieges überlassen, dann wird immer ein Zweifel an unserer Stärke bleiben. Niemals wird es mir möglich sein, diesen Zweifel zu zerstreuen.» Eine kurze Pause. «Noch dem, der nach mir kommt.»

«Dann werden wir zurück in die Hochlande ziehen, weiter noch als im Sommer? Obwohl der Winter beinahe da ist?»

Einer der Eisernen stand mit seiner Fackel im Rücken des jungen Mannes. Wie zur Bekräftigung lebte der Wind unvermittelt auf, brachte die Flamme zum Tanzen. Für die Dauer eines Lidschlags ließ er die Männer den Biss der nahenden Kälte spüren.

«Die Tiefländer hingegen sind von anderer Art.» Weder Mornags Frage noch den eisigen Gruß aus dem Norden nahm Morwa zur Kenntnis. Nicht mit seinen Worten. Die Kälte sandte einen Stich durch seine Schulter. Wie von selbst hob sich seine Hand, legte sich schützend auf sein Schlüsselbein. «Seitdem ich auf den Schild gehoben wurde, haben die Tieflande kein einziges Jahr des Friedens gesehen. Als wir im Frühjahr in diesen Krieg gezogen sind, habe ich geschworen, dass dies unser letzter Feldzug sein wird: ‹Im nächsten Jahr schon wird es keine Bedrohung mehr geben bis in den Schatten der Drachenzähne hinein. Im tiefsten Frieden werden eure Väter, eure Männer, eure Söhne ihre Felder bestellen können.›»

«Und doch werden nun noch viele von ihnen sterben.» Mornag schien mit sich selbst zu sprechen. «Wenn wir den Hasdingen folgen, obwohl der Feldzug gar nicht mehr nötig ist.»

«Der ...» Morwa musste ein zweites Mal ansetzen. Das Atmen bereitete ihm plötzlich Mühe. «Der Winter nimmt keine Gefangenen. Die Leiber der Hasdingen werden die bleichen Flanken der Gipfel decken, Männer, Frauen und Kinder ohne Unterschied. – Jazigen und Charusken, Vasconen und Hasdingen hassen einander in einer Feindschaft, an deren Ursprung sich kein Mensch mehr erinnern kann, und uns ...» Ein unvermittelter Hustenanfall ließ ihn für Augenblicke verstummen. «Uns, die Tiefländer, hassen sie noch einmal mehr. Ihr größter Feind aber ist der Winter. Denn der Winter kennt keine Gnade mit den Unterlegenen, und Gnade gilt den Stämmen als höchste Tugend, wenn der wahrhaft Starke sie den Besiegten gewährt. Sobald er sie denn einmal eingeholt und gestellt hat, um diese Gnade tatsächlich zu gewähren. – Die Brücke, Mornag, Morwas Sohn? Oder der Weg durch das Tal, der dich Zeit kostet? Welche Wahl du auch triffst: Sie ist die richtige. Welche Wahl du auch triffst: Sie ist die falsche. Das aber ändert nichts. Denn du bist der Hetmann. Du bist der König.» Er ballte die Hand zur Faust. «Du triffst die Wahl.»

«Vater!»

Mornag sprang vor, noch bevor Morwa es spürte: Ein Gefühl gleich einem feuerglühenden Speer, der sich durch seine Brust bohrte, nein, aus seiner Brust nach außen wollte, keinen Weg fand.