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Über einen Zeitraum von fast 400 Jahren ist die europäische Kunst des Mittelalters durch den Stil der Gotik geprägt. Von Frankreich und Italien aus verbreiteten sich ab Mitte des 12. Jh. seinerzeit neue bautechnische Lösungen und räumliche und figürliche Gestaltungsweisen über ganz Europa. Barbara Schedl stellt die Zentren gotischer Kunst vor und erörtert zeitspezifische Sichtweisen. Anhand ausgewählter Beispiele beschreibt sie die Vielfalt, Bedeutung und Funktion der gotischen Kunst. Ein Glossar erschließt zentrale Begriffe und Quellentexte. Die Katalogtexte zu den Bauobjekten sind durch Grundrisszeichnungen illustriert. Dieser Band stellt eine profunde Einführung in den internationalen Kunststil der Gotik dar, die Basiswissen anschaulich und strukturiert vermittelt und motivieren will, das ein oder andere Thema eingehender zu studieren.
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Seitenzahl: 300
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Barbara Schedl
Die Kunst der Gotik
Eine Einführung
2013
BÖHLAU VERLAG
WIEN KÖLN WEIMAR
Barbara Schedl ist Dozentin für Kunstgeschichte an der Universität Wien.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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Umschlagabbildung:
Gottvater als Architekt der Welt, Bible Moralisée, Österreichische Nationalbibliothek Cod. 2554, fol. 1 v
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Außenlektorat: Volker Manz, Kenzingen
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld
Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel
Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier
Printed in Germany
UTB-Band-Nr. 8525] Print-ISBN 978-3-8252-8525-8
ISBN dieser Ausgabe: ISBN 978-3-8463-8525-8
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Begriffe, die im Glossar erläutert werden, sind bei ihrem ersten Vorkommen im Hauptkapitel verlinkt. Unangenehme Dopplungen wurden so vermieden.
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Inhaltsverzeichnis
Cover
Impressum
Über dieses eBook
Vorwort
1 Rahmenbedingungen
1.1 Annäherung an den Begriff „Gotik“
1.2 Struktur von Zeit und Ort
2 Lebensbedingungen, Vorstellungen und Konzepte der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen
2.1 Mensch, Technik und Umwelt
2.2 Geschichte und Politik, Kirche und Kloster
2.3 Wissen und Universität
2.4 Zusammenfassung: Neue Bild- und Raumformen
3 Der Grundstein in Frankreich
3.1 Skelettbau und Spiritualität: Saint-Denis und Abt Suger
3.2 Die gotische Kathedrale und ihre Strukturelemente: Chartres, Reims, Amiens
3.3 Effizienz und Bautechnik
3.4 Farbe und Licht – der Kirchenraum
3.5 Der Pariser Hof – Sainte-Chapelle und Buchkunst
4 Entfaltung – England, Italien und deutsches Sprachgebiet
4.1 Rivalität zum Kontinent: Gotik in England
4.2 Tradition und Innovation: Gotik in Italien (13. und 1. Hälfte 14. Jh.)
4.2.1 Friedrich II. – stupor mundi
4.2.2 Die Räume der Zisterzienser und Bettelorden
4.2.3 Konkurrenz der Kommunen
4.2.4 Das Atelier Pisano
4.2.5 Giotto und sein Umfeld – davor und danach
4.2.6 Der selbstbewusste Künstler
4.3 Rezeption und Synthese – Gotik im deutschen Sprachgebiet (13. und 1. Hälfte 14. Jh.)
4.3.1 Klosterkirchen, Bischofsitze, Pfalzkapellen
4.3.2 Liturgie und Inszenierung
4.3.3 Der Zackenstil
5 Neue Zentren, Formen und Funktionen (14./15. Jh.) – Spätgotik
5.1 Der Papst in Frankreich
5.2 Ressourcenmanagement nach den Katastrophen
5.3 Zentrum „Prag“
5.4 Luxus und Andacht
5.4.1 Bibliophile Kostbarkeit – das Stundenbuch
5.4.2 Das eigenständige Porträt
5.4.3 Retabel und Altar
5.4.4 Andachtsbilder – Frömmigkeitsformen
5.5 Globalisierung um 1400
5.5.1 Burgund und Berry
5.5.2 Böhmen
5.5.3 England
5.5.4 Deutsches Sprachgebiet
5.5.5 Oberitalien
5.5.6 Schöne Madonnen
5.6 Die neue Wirklichkeit – die altniederländische Malerei
5.7 Architektur im Wettbewerb
5.8 Farbe, Dramatik und Erzählfreude – Bildwerke nördlich der Alpen (2. Hälfte 15. Jh.)
5.9 Neue Medien
6 Resümee
Literaturhinweise
Literatur zu Kapitel 1: Rahmenbedingungen
Literatur zu Kapitel 2: Lebensbedingungen, Vorstellungen und Konzepte der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen
Literatur zu Kapitel 3: Der Grundstein in Frankreich
Literatur zu Kapitel 4: Entfaltung – England, Italien und deutsches Sprachgebiet
Literatur zu Kapitel 5: Neue Zentren, Formen und Funktionen (14./15. Jh.) – Spätgotik
Abbildungsverzeichnis
Glossar
Register (Personen, Orte, Werke)
Rückumschlag
„Die Geschichte der Gotik ist eine Geschichte der Emanzipation“
(Karl Brunner)
Dieser Band „Die Kunst der Gotik. Eine Einführung“ ist eng mit dem Studium der Kunstgeschichte an der Universität Wien verbunden. Schon seit Jahrzehnten beinhaltet unser Studienplan die Absolvierung einer, sich über vier Semester erstreckenden, zyklisch wiederkehrenden Vorlesung, deren Ziel es ist, den Studierenden einen Überblick über das Kunstgeschehen von den Anfängen der christlichen Kunst bis in die Gegenwart zu vermitteln.
Nach vielen interdisziplinär angelegten Forschungsprojekten zur mittelalterlichen Kunst an in- und ausländischen Forschungsinstituten und Universitäten war es für mich eine reizvolle Aufgabe und eine große Herausforderung, sozusagen mit dem Blick von außen, den zweiten Teil dieser traditionellen Vorlesungsreihe zu übernehmen. Angestrebt wurde eine knappe Darstellung – ein schlankes Konzept, das das Kunstgeschehen in überlieferter, klassischer Form darstellt, also Architektur und bildende Kunst in historischer Perspektive erläutert, andererseits aber auch kulturwissenschaftliche und mentalitätsgeschichtliche Aspekte berücksichtigt.
Ein derartiges Vorhaben braucht Mut, sich zu Lücken zu bekennen, nicht nur des Umfangs wegen, sondern auch, weil es kompetentere Spezialisten für so manchen Sachverhalt gibt. Nicht alle Kunstgattungen konnten in gleicher Dichte berücksichtigt, nicht alle Zentren und Protagonisten genannt werden. Randgebiete, wie das Kulturgeschehen auf der Iberischen Halbinsel oder im Norden bzw. Nordosten Europas, wurden gar vernachlässigt.
Damit ist auch schon gesagt, was das Buch zu leisten vermag. Es ist ein Begleitband zu der Vorlesung und richtet sich darüber hinaus an all jene „Fachfremden“, die Interesse an dem Kulturgeschehen im Zeitalter der Gotik haben. Die Lektüre soll einen Überblick geben, soll Basiswissen vermitteln und dazu motivieren, das ein oder andere Thema eingehender zu studieren.
Dem entspricht auch der strukturelle Aufbau des Buches, mit einem Verzeichnis zu Überblickswerken und aktueller Forschungsliteratur, geordnet nach den behandelten Kapiteln, und einem ausführlichen Glossar, das fachspezifische Termini erörtert, um gezielte Mehrinformationen zu erhalten. Die in dem Band besprochenen Bild- und Bauwerke sind, gemessen an dem erhaltenen Bestand an gotischen Kunstwerken, zwangsläufig von geringer Zahl; diskutiert werden dabei jene Hauptwerke gotischer Kunst, die in ausgesprochen guter Fotoqualität im Internet dokumentiert sind. Dementsprechend ist auch der Abbildungsteil bewusst reduziert gehalten und bildet nur jene Werke ab, die schwer auffindbar sind.
Die Idee und die Anregung zu diesem Buchprojekt kamen von Ursula Huber vom Böhlau-Verlag. Volker Manz übernahm das professionelle Lektorat des Manuskripts; Ralf Kapalla und
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Franziska Creutzburg waren für die Herstellung verantwortlich. Ihnen allen möchte ich meinen Dank aussprechen.
Karl Brunner las mit unermüdlichem Einsatz und kritischem Auge mein Manuskript. Durch zahlreiche Gespräche steuerte er viele inhaltliche Anregungen bei und motivierte mich, dieses Unternehmen zu Ende zu führen. Für seine Unterstützung und Hilfestellung bin ich ihm sehr verbunden.
Daniela Tollmann gebührt ein großes Dankeschön für ihren beharrlichen Einsatz beim Korrekturlesen.
Rat, Hilfe, Aufmunterung und Zuspruch kamen von Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden. Für die vielen anregenden Gespräche und spannenden Diskussionen möchte ich mich bei Marc Grellert, Eva Maria Hirsch, Rainer Hahn, Felicitas Hausner, Eveline Lackner, Thomas Meixner, Kurt Mitteregger, Michael Viktor Schwarz, Herwig Weigl und Franz Zehetner herzlich bedanken.
Barbara Schedl, Januar 2013
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„Kunst der Gotik“ steht für jene Epoche, die gemeinhin mit jenem Kunst- und Kulturgeschehen bezeichnet wird, das gegen die Mitte des 12. Jahrhunderts zunächst in Frankreich zu beobachten ist und sich dann, bis in das frühe 16. Jahrhundert, in verschiedenen europäischen Landstrichen ausweitete. Humanistische Gelehrte „vor allem der italienischen Renaissance“ prägten diese Bezeichnung, als sie die Baukunst nördlich der Alpen beschrieben. Das heißt, dass zur fraglichen Zeit der Wortgebrauch „Gotik“ noch gar nicht existierte. Etymologisch leitet sich der Begriff von dem germanischen Volk der Goten ab, die in spätantiker Zeit oft in Konflikt mit den Römern standen.
So findet sich der Terminus „Gotik“ erstmals in der italienischen Ausgabe Della pittura libri tre 1435 von Leon Battista Alberti (1404–1472), und etwas später, 1440, unterscheidet Lorenzo Valla (1406–1457) zwischen gotischen und römischen Buchstaben, wobei alles Gotische in seinen Ausführungen als barbarisch bezeichnet wird. Ebenso spricht Giorgio Vasari 1550 u. a. von maniera tedesca oder maniera de’ Goti und Questa maniera fu trovata dai Goti, womit er ebenso seine Geringschätzung gegenüber der Kunst des Nordens zeigt, denn diese sei „etwas, dem jegliche Harmonie abgeht und das man am ehesten als Durcheinander und Unordnung bezeichnen kann“.
Noch ganz in der Tradition von Giorgio Vasari steht Johann Georg Sulzer (1720–1779) in seiner „Allgemeinen Theorie der Schönen Künste“ (1778). Erst Johann Wolfgang von Goethe stellt sich gegen diese allgemeine negative Auffassung in seinem Aufsatz „Von deutscher Baukunst“ (1772). Die damit einsetzende positive Würdigung erreicht in Franz Kuglers „Handbuch der Kunstgeschichte“ 1842 einen ersten Höhepunkt.
Damals setzen auch die ersten bauhistorischen bzw. denkmalpflegerischen Auseinandersetzungen mit den gotischen Bauten ein. Der Kunsthistoriker und Restaurator Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc (1814–1879) analysierte die Konstruktionsprinzipien der großen Kathedralbauten und hob den Fortschritt in Technik und Ingenieurwesen hervor. Seine umfangreichen und detaillierten Untersuchungen und Schnittzeichnungen, u. a. zur Kathedrale von Amiens, besitzen noch heute größte Aktualität. In den folgenden Jahren entstanden zahlreiche Kirchen, Schulen, Fabriken und Eisenbahnbauten, die neugotische Formen verwendeten und die, im Verständnis der damaligen Zeit, hochtechnisierten gotischen Konstruktionsprinzipien umsetzten. Man vollendete damals den bereits im 13. Jahrhundert begonnenen Kölner Dom. Auch am Weiterbau des Mailänder Doms im 19. Jahrhundert lernten viele europäische Architekten, z.B. der Erbauer des neugotischen Wiener Rathauses, Friedrich von Schmidt.
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Neben der rationalistischen, bautechnischen Betrachtungsweise gotischer Baukunst setzte sich ein zweiter Standpunkt zur Analyse gotischer Objekte durch, der auf Bildsprache und -inhalt ausgerichtet war. Ein früher Vertreter dieses ikonografischen Denkmodells gotischer Kunst ist der französische Gelehrte Emile Mâle (1862–1954). Er betrachtete Kathedralen, als wären sie „Bücher aus Stein“, in denen man lesen könne, und versuchte dadurch die Bedeutung von deren Formenrepertoire zu erklären.
Wichtige Beiträge zur gotischen Kunst leisteten fortan im 20. Jahrhundert Georg Dehio, Hans Jantzen, Max Dvořàk, Hans Sedlmayr, Erwin Panofsky, Otto von Simson, Dieter Kimpel und Robert Suckale, wobei hier formanalytische sowie stilkritische und ikonografische bzw. ikonologische Aspekte im Vordergrund standen – also Betrachtungs- und Interpretationsmodelle, die sich auf Form und Inhalt der Objekte konzentrierten. Dies änderte sich ab den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als unter dem Einfluss der französischen Schule der Annales auch funktionsgeschichtliche Aspekte der Bauten und Kunstgegenstände miteinbezogen wurden und damit eine Annäherung an die Lebenswirklichkeit aller Bereiche zur Grundlage des Forschungsinteresses gemacht wurde. Jacques LeGoff, Jean-Claude Schmidt und Michael Camille trugen hierzu wesentlich bei.
Diese kurzen Ausführungen lassen schon erahnen, dass es sich um ein äußerst mühsames Unterfangen handeln würde, „Gotik“ zu definieren, wurde doch dieser kulturelle Zeitabschnitt bereits von vergangenen Forschergenerationen aus völlig unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und interpretiert. Ein gewisses Rahmengerüst ist allerdings notwendig, um Kunstwerke einordnen zu können bzw. sich mit deren geschichtlicher Entwicklung und Errungenschaften auseinandersetzen zu können.
So hat man seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Einordnungssysteme entwickelt, die sich auf die Betrachtung der Kunstwerke stützen, um (anonyme) Werke verorten und datieren zu können. Neben dem Terminus „Gotik“ etablierten sich besonders für die Kunstgattung der Architektur Unterkategorien wie „Früh-“, „Hoch-“ und „Spätgotik“, um eine zeitliche Differenzierung vornehmen zu können. Es gibt aber auch Begrifflichkeiten, die geografische Klassifizierungen in den Vordergrund stellen, wie etwa „Early English“ oder „Deutsche Sondergotik“ oder „Internationaler Stil“, und Termini, die Formen explizit beschreiben wollen: So steht „Zackenstil“ für die hartbrüchigen Faltenkonfigurationen in den Bildkünsten, die um 1300 auftreten. „Weicher Stil“ beschreibt schönlinige Oberflächen, die um 1400 in den Bildkünsten zu finden sind, „flamboyant“ steht für flammenartig ausgebildete Maßwerkformen, die ab 1370 auftreten, und „perpendicular“ bezeichnet die Geradlinigkeit von Schmuckelementen der spätgotischen, englischen Architektur. Daneben gibt es Bezeichnungen, die die Materialität der Bauten hervorheben, wie etwa der Terminus „Backsteingotik“. Bei all diesen Unterkategorien sollen jedoch nicht die übergreifenden Gemeinsamkeiten und Charakteristika der materiellen Ausdrucksformen aus den Augen verloren werden, die bereits in der Renaissance als vertikal, emporsteigend, illusionistisch und gebrechlich beschrieben wurden.
Es kann aber nicht allein bei der Analyse der Formen und einer Deutung verwendeter Symbole bleiben, es bedarf vielmehr auch eines mentalitätsgeschichtlichen Zugangs, der die massiven Veränderungen der Zeit und die Reaktionen der Menschen miteinbezieht. Denn es handelt sich bei der Epoche der Kunst des Spätmittelalters um ein gesamtheitliches Konzept, das sich über ganz Europa ausbreitet und den Alltag aller sozialen Schichten – vom Adel bis zu
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den Handwerkern, von den Tagelöhnern und den Reisenden bis zu den Mönchen und Nonnen – bestimmte. Dazu gehören Bau- und Gebetsleistungen ebenso wie die Gegenstände des täglichen Gebrauchs, die Kleidung jedes Einzelnen, wie der Schnabelschuh und ganz bestimmte Kopfbedeckungen, oder die bildlichen Darstellungen der Figuren, die in gotischer Tracht wiedergegeben und mit modischen Details ausgestattet wurden.
Die Struktur, die dieser Abhandlung zugrunde liegt, orientiert sich an der in der Forschungsliteratur allgemein gebräuchlichen chronologischen Einteilung der gotischen Kunst, bereichert und gegliedert durch die Lebensbedingungen der damaligen Menschen.
Politische Konstellationen, umwelthistorische Bedingungen, demografische Entwicklungen sowie wirtschaftliche und wissenschaftliche Errungenschaften beeinflussten Denkweise, Betrachtung und Lebensmodelle der Menschen. Die Auseinandersetzung mit der Natur und der Umwelt, mit Gott, dem Tod, die Positionierung der eigenen Bedeutung in Form von Repräsentation und Öffentlichkeit sowie die internationale Vernetzung (Handel, Kommunikation) hatten Auswirkungen auf das kulturelle Schaffen. Die Kunstwerke und die Architektur sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Auch wenn es nicht gelingen wird, sich in eine andere historische Epoche hineinzuversetzen, soll dennoch versucht werden, Bilder, Skulpturen und Architektur aus dem Blickwinkel der Personen zu betrachten, für die sie angefertigt bzw. von denen sie geschaffen wurden. Was war in den Köpfen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen? Das ist ein Zugang, den diese Publikation geben soll. Der andere Zugang ist aus der Perspektive der Kunsthistorikerin und des Kunsthistorikers des 21. Jahrhundert zu verstehen und soll mit dem möglichen und nötigen Abstand eine stilistische Entwicklung zeigen, d. h. Zentren aufzeigen, in denen Spitzenleistungen künstlerischen Schaffens erbracht wurden, die weitreichende „Bedeutung“ hatten.
Zeitlich versetzt und in einer unterschiedlichen länderspezifischen Ausbreitung spricht man von einer frühgotischen, einer hochgotischen und einer spätgotischen Stilrichtung und avanciert zu Recht die Architektur zur Leitkategorie – dies aufgrund des Erhaltungszustandes (speziell für das 13. Jahrhundert) und aufgrund der Tatsache, dass die Bauhütte um und nach 1200 der zentrale Ort ist, an dem sich alle Handwerker und Künstler zusammenfinden, um an einem Gesamtkunstwerk – der Kathedrale – zu arbeiten. Architektur, Skulptur, Glas- und Wandmalerei sind hier ebenso erfasst wie Goldschmiede- und Textilkunst.
Am Beginn stehen die baulichen Aktivitäten Abt Sugers von Saint-Denis (ab 1140) in Frankreich. Aus historischer Perspektive betrachtet, stellt der damalige Umbau der Abteikirche und königlichen Grablege den Anfang für jene innovativen Bauprinzipien dar, die bezeichnend für die gotische Kunst wurden – den Spitzbogen und das damit kombinierte Kreuzrippengewölbe. Es darf aber nicht übersehen werden, dass zu Lebzeiten des bauwilligen Abtes der Fortschritt dieser Baukunst noch nicht absehbar war.
Von Frankreich breiteten sich diese neuen Ideen und Konzepte im 13. Jahrhundert nach Italien, auf die Iberische Halbinsel, nach England (Early English) und ins deutsche Sprachgebiet aus und wurden in den jeweiligen Ländern spezifisch umgesetzt. Technische Errungenschaften,
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wirtschaftliches Wachstum, Handel und Geldwirtschaft ließen Städte wachsen, prägten ein neues Selbstbewusstsein der damaligen (städtischen) Gesellschaft und etablierten damit neue Ausdrucksformen – sowohl in der architektonischen als auch in der bildlichen Umsetzung (Profanbauten in den Städten, Illusionsräume und Naturdarstellungen).
Große Einschnitte, besonders was die personellen und materiellen Ressourcen betraf, brachte das 14. Jahrhundert. Zahlreiche Naturkatastrophen, Hungersnöte und Epidemien änderten die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen, was sich auch auf das Kunstschaffen nachfolgender Generationen auswirkte, z.B. in einer elitären Hofkunst oder einer zunehmenden Verflechtung des Kunstschaffens in den Bildkünsten (internationaler Stil), in der Schaffung neuer Bildthemen und Frömmigkeitsformen oder im Wettstreit bei der Errichtung der Kirchtürme.
Im 15. Jahrhundert avancierte das „Zweidimensionale“ zur Leitkategorie. Hervorzuheben ist die Tafelmalerei, die fortan verstärkte Aufmerksamkeit erfuhr. In Italien hatte sich damals um die Mitte des 15. Jahrhunderts die Renaissance durchgesetzt; im Norden entstanden in den Niederlanden neue Kunstzentren, deren Errungenschaften die Bildkünste in den Nachbarländern prägten. Und in weiten Teilen Mitteleuropas wurde weiterhin gotisch gebaut. Am Ende der Ausführungen steht dann die Zeit um und knapp nach 1500, also das Ende des Spätmittelalters, und es wird der künstlerische Einsatz der neuen Drucktechniken thematisiert.
Literatur zu Kapitel 1, Rahmenbedingungen
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Die wesentlichste Veränderung, die sich im Laufe des 12. Jahrhunderts mehr und mehr manifestierte, bestand im wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung der Städte, des Handels und der Geldwirtschaft. Damit begann eine Entwicklung, die anstelle der feudalen, persönlichen Bindung des mittelalterlichen Menschen an seinen Herrn (Grundherr, Adeliger) eine rechtlich legale ermöglichte und zum Erstarken eines selbst- und machtbewussten Stadtbürgertums führte (Vorbild für den modernen Staatsbürger).
Der nach sozialen, berufsständischen Kriterien definierte dreigliedrige Aufbau der frühmittelalterlichen Gesellschaft – Klerus, Adel, Bauer – veränderte sich im Laufe des 11. und 12. Jahrhunderts zu einem komplexen Sozialgefüge, zu dem fortan auch Handwerker, Gelehrte und Kaufleute gehörten. Im frühen Mittelalter nahmen die Städte in ihrer rechtlichen und sozialen Bedeutung stark ab. Eine gewisse Ausnahme stellten jedoch die Bischofsstädte, vor allem jene mit antiker Tradition, dar. Damals waren Burgen und Städte befestigte Bereiche und allenfalls Mittelpunkt der Verwaltung. Die Bewohner blieben in ihren rechtlichen und sozialen Systemen (Feudalsystem) voll integriert.
Die hoch- und spätmittelalterliche Gesellschaft zeichnete sich hingegen durch ein soziales Beziehungsgeflecht aus, innerhalb dessen verschiedene Kategorien der sozialen Zuordnung, wie Stand, also familiär-soziale Herkunft („Adel“, „Nichtadelige“ oder „Erbbürgertum“), Familie, Dynastie, die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe, zu einem Land oder Territorium sowie Alter und Geschlecht, politische Allianzen und Beziehungen zu weltlichen und geistlichen Eliten eine Rolle spielten. (Abb 1) Das bedeutet aber, dass besonders weltliche und geistliche Lebensformen nur aus moderner wissenschaftlicher Perspektive gegensätzlich zu betrachten sind.
Die Bevölkerung Europas stieg – nach vorsichtigen Schätzungen – von ca. 46 Millionen um das Jahr 1050 auf rund 61 Millionen Menschen um das Jahr 1200. Die Zuwachsrate um fast 50 Prozent stand in enger Beziehung zu einer enormen Vergrößerung der damaligen Anbauflächen. An dieser Entwicklung hatten die alten Orden, die „Benediktiner“ und vor allem die „Zisterzienser“, einen großen Anteil. Nicht nur durch Rodung der Wälder, sondern auch durch Entwässerung, Trockenlegung und Deichbau kamen neue Bebauungsflächen hinzu. Der verstärkte Einsatz des Räderpflugs und die Einführung der Dreifelderwirtschaft seit dem Hochmittelalter steigerten die Erträge um ein Vielfaches. Die zunehmende Verbreitung der vertikalen Wassermühlen und die Erfindung der Windmühlen waren entscheidende technische
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Neuerungen, welche die Produktivität, aber auch die Arbeitsteilung in den Städten erhöhte. Das hohe technische Niveau (wie das z.B. detaillierte Bauzeichnungen zu erkennen geben) und die zahlreichen technischen Erfindungen im Maschinenbau (Laufrad mit Baukran, Winde, Zange) fanden auch in der Bauorganisation und -konstruktion ihren Niederschlag. Diese agrarischen Umwälzungen und technischen Neuerungen ließen nicht nur die Bevölkerungszahlen in die Höhe schnellen, sondern regten auch Handel und Gewerbe an, denn es galt, die vielen Menschen zu versorgen. Der Warenaustausch erlangte wieder überregionale Bedeutung, und es etablierten sich in dieser Zeit wichtige Handelswege und große Umschlagszentren, wie York, Rom, Venedig, Santiago de Compostela, Mainz, Köln usw.
Abb 1 Aspekte mittelalterlicher Gesellschaftshierarchien
Bis in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts erreichte das Ausmaß gerodeter Gebiete einen Höchststand. Weiträumige ehemalige Waldflächen wurden jetzt als Acker- und Grünflächen genutzt, was sich, so wird vermutet, schließlich auch auf die klimatische Situation auswirkte. 1313 bis 1318 führten vor allem starke Niederschläge zu Missernten und verheerenden Hungersnöten. Die Preise landwirtschaftlicher Produkte stiegen abrupt an. Menschen, die im Einzugsgebiet von Rhein, Weser, Elbe und Donau lebten, waren 1342 mit den heftigsten Niederschlägen und den stärksten Überschwemmungen zumindest des zweiten nachchristlichen Jahrtausends konfrontiert. Die Veränderung des Ökosystems durch Erosionsprozesse und die geänderten Wasserbilanzen führten bereits gegen Ende des 13. Jahrhunderts zu einer Stagnation der Bevölkerungszunahme. Die Katastrophen des 14. Jahrhunderts kulminierten 1348 bis 1350 in der großen Pestpandemie, in der ein Drittel der europäischen Bevölkerung starb. Vor allem sozial niedrige Schichten waren aufgrund der schlechten hygienischen Bedingungen in den Städten betroffen. Es war schwer, Arbeitspersonal wie Knechte, Mägde oder Bauarbeiter zu bekommen oder grundsätzlich eine Mannschaft zusammenzustellen, was auch die Löhne in die Höhe trieb. Zwischen 1350 und 1500 blieb die Bevölkerung stabil, wuchs also nicht an, was nicht nur durch weitere Seuchen und Ressourcenknappheit an Rohstoffen, Heizmaterial und Nahrungsmitteln zu erklären ist, sondern auch durch späte Heirat, meist erst nach 25 Jahren, und einer relativ hohen Ehelosigkeit von heiratsfähigen Mädchen (10 bis 15 Prozent der Frauen).
Nicht nur die erwähnten technischen Errungenschaften in den Bereichen Landwirtschaft und Handwerk (Mühle, Pflug, Dreifelderwirtschaft) stellten die Menschen in eine neue Umwelt, auch die Erfindung des Hemmungsmechanismus, der die Anfertigung mechanischer Uhren mit präzisem Glockenschlag zu jeder Stunde ermöglichte, stellte die Zeitwahrnehmung der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen auf eine völlig andere Grundlage. Diese neue Art der Zeitmessung ersetzte Sonnen-, Wasser- oder Kerzenuhr und musste lediglich zweimal am Tag nachgestellt werden, um die Genauigkeit sicherzustellen. Der Tag konnte fortan in gleich lange Stunden eingeteilt werden, und im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts wurden öffentliche Uhren an europäischen Kirchtürmen angebracht.
Die hier nur kurz skizzierten Entwicklungen beeinflussten die Lebensbedingungen des Großteils der mittelalterlichen Menschen; diese waren geprägt von einer geänderten Ressourcenbasis (Ver- und Entsorgung der lebensnotwendigen Güter), unterschiedlich dicht besiedelten Lebensräumen (Stadt und Land), von neuen sozialen Gruppen (Bürger, Patrizier, Stadtherr), aber auch von anderen religiösen Gemeinschaften (Bettelorden, Ketzer). Dichter gewordene Kommunikationswege infolge der neuen Beweglichkeit der Händler, Pilger und Kreuzfahrer erweiterten den Erfahrungshorizont der Menschen erheblich. Besonders Kaufleute, Händler, Handwerker
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und Künstler knüpften ein weitgespanntes Netz von Beziehungen und förderten den Warenaustausch und den Wissenstransfer, was technische und künstlerische Errungenschaften betraf.
Die Politik zur Zeit der Gotik war im Wesentlichen bestimmt durch drei Machthaber, die ihre Position und Bedeutung immer wieder neu definierten und verhandelten: erstens den König von Frankreich, zweitens den deutschen König, der zugleich auch den Titel des römischen Kaisers beanspruchte, und schließlich den Papst.
War die territoriale Macht des französischen Königs im 12. Jahrhundert besonders durch die Konflikte mit den Fürsten und dem normannischen England, zu dem auch weite Gebiete des Festlandes gehörten, eher beschränkt, änderte sich diese Situation im 13. Jahrhundert mit der Rückgewinnung der Westküste und der Normandie sowie der Ausweitung nach Süden bis hin zum Mittelmeer. Frankreich entwickelte sich zu einer zentral gelenkten stabilen Monarchie.
Das Heilige Römische Reich erstreckte sich theoretisch von Sizilien über weite Teile Italiens bis an die Nord- und Ostsee. Es war im Westen vom Königreich Frankreich (etwa am Flussverlauf der Maas und der Saône) und im Osten von den Königreichen Polen und Ungarn begrenzt. Der deutsche König bzw. römische Kaiser, gewählt von den Reichsfürsten (später sieben Kurfürsten), hielt dieses in zahlreiche Territorien unterteilte Gebilde zusammen. Die einzelnen Herzöge, Fürsten, Bischöfe, aber auch die italischen Städte (italienische Stadtstaaten) errangen im Laufe der Zeit unterschiedliche, mehr oder minder autonome Machtbefugnisse, was zu zahlreichen Konflikten führte. Der Süden Europas hingegen, insbesondere die Iberische Halbinsel, wurde vom arabischen Einfluss dominiert, der mit dem Fall Granadas erst im 15. Jahrhundert völlig zurückgedrängt werden konnte.
Seit der Karolingerzeit existierte in Europa (mit Ausnahme der Iberischen Halbinsel) ein festes kirchenpolitisches hierarchisches System mit dem Papst und seinem Sitz in Rom (von 1309 bis 1376 in Avignon), gefolgt von Kardinälen, Erzbischöfen und Bischöfen als Häuptern der kirchlichen Verwaltungsgebiete (Erzdiözesen bzw. deren Suffraganbistümer) sowie deren Unterteilungen, den Pfarreien. Der Pfarrer war für die wichtigsten Bereiche der Seelsorge zuständig, wie Taufe, Beichte, Hochzeit und Begräbnis. Die kirchlichen Hochfeste sollten nur in der eigenen Pfarrkirche besucht werden. Das Leben der Menschen war stark geprägt von kirchlichen Vorgaben, basierend auf der christlichen Lehre, die durch den Klerus vermittelt wurde.
Kirchliche Würdenträger erlangten im Laufe des Frühmittelalters große Machtbefugnisse, und dies auch gerade in weltlichen Angelegenheiten, was letztendlich zu großen Konflikten führte, etwa zum Investiturstreit (1077–1122), aus dem das Papsttum allerdings gestärkt hervorging. Diese Situation änderte sich im 13. Jahrhundert. Damals wurde die Position der Kirche, besonders die Durchsetzungsgewalt des Papstes gegenüber der weltlichen Macht, aber auch innerhalb der eigenen kirchlichen Strukturen, schwächer. Das zunehmende Machtstreben der weltlichen Herrscher, besonders des erstarkten französischen Königtums unter dem Herrscherhaus der Kapetinger und dem Hause Valois sowie des römisch-deutschen Kaisers aus den Dynastien der Habsburger, Nassauer, Luxemburger und Wittelsbacher, ließen den Papst unter französischen Einfluss gelangen, was letztendlich im Großen Abendländischen Schisma (1378–1417) gipfelte.
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Einen wesentlichen Aspekt der mittelalterlichen Gesellschaft bildeten religiöse Gemeinschaften, die in festen Klosterverbänden nach der Regula Benedicti (Benediktiner, Zisterzienser) oder nach der Regel des hl. Augustinus lebten (Priestergemeinschaft). An den zahlreichen Kathedralen und Bischofsitzen wirkte ein Kollegium von Weltgeistlichen (Stift, Domkapitel). Daneben gab es eine Fülle von religiösen Frauenkommunitäten, wie Frauenklöster, adelige Damenstifte, Beginen usw., und Doppelklöster, in denen Männer und Frauen streng getrennt voneinander lebten, organisatorische Abläufe jedoch teilten. Die Priester unter ihnen übernahmen auch die Seelsorge der weiblichen Mitglieder, die Frauen kümmerten sich um Altarwäsche und geistliche Gewänder.
Ende des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts bereiteten neue religiöse Bewegungen in zahlreichen dicht bevölkerten Gebieten in Süd- und Mitteleuropa den Amtskirchen große Probleme. Häretiker (Katharer, Albigenser) und Wanderprediger hatten großen Zuspruch in der Bevölkerung, die die mehr und mehr „verweltlichte Amtskirche“ und die kirchliche Lehre infrage stellte. Vergebens versuchte man von kirchlicher Seite mit konventionellen Kommunikationsstrategien gegen diese ketzerischen Thesen anzukämpfen, was aber erst grausamen Feldzügen und den Bewegungen von Dominikus von Toulouse (1170–1221) und Franz von Assisi (1181/82–1226) gelang. Besonders die Dominikaner waren extrem gut geschulte Rhetoriker. Sie versuchten durch Predigt in der Sprache der Laien die weniger Gebildeten und Andersgläubigen von der christlichen Lehre zu überzeugen und „zurückzugewinnen“. Sowohl Franziskaner als auch Dominikaner (Bettelorden) gewannen durch ihr engagiertes Auftreten großes Ansehen in der Bevölkerung. Sie waren gut organisiert und vernetzt. Zudem gingen sie auf die Bedürfnisse der einfachen Menschen ein, indem sie sich in den Städten niederließen und zahlreiche seelsorgerische Tätigkeiten übernahmen, die die Pfarrorganisation nicht mehr leisten konnte. Zu den großen Erfolgen des Papsttums im 13. Jahrhundert gehörte vor diesem Hintergrund die Inkorporation der Bettelorden, und zwar sowohl der männlichen als auch der weiblichen Zweige, in die Amtskirche und somit die Anerkennung von deren Klosterregeln. Im Zuge dieser Anerkennung erhielten die Bettelorden Sonderrechte, die es ihnen erlaubten, in den verschiedenen Pfarrsprengeln zu predigen, die Beichte abzunehmen und das Begräbnis zu zelebrieren.
Trotz der schwierigen kircheninternen Situation und der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Amtskirche entfremdeten sich die Menschen nicht von der christlichen Religion selbst. Vermehrt kam es im 13. Jahrhundert zu Klostergründungen. Besonders viele Frauen waren bestrebt, in ein Kloster einzutreten. Die einen ließen das Eheleben hinter sich, andere wurden bereits als Kleinkind dem Kloster anvertraut, denn es galt als etwas Besonderes, ein religiöses (asketisches) Leben zu führen. Der Eintritt ins Kloster war besonders für Frauen teuer; allerdings kostete er nicht mehr als eine ordentliche Mitgift. Viele Familien waren bedacht, zumindest eine Tochter (oder einen Sohn) dem Kloster zu übergeben. Gründe dafür gab es zahlreiche: bessere Lebensbedingungen, die Möglichkeit, sich vermehrtes Wissen aneignen zu können (Bildung), die Chance auf eine gewisse Karriere. Am wichtigsten war aber wohl das hohe Ansehen, das man als religiöse Frau (oder als religiöser Mann) genoss, denn man leistete einen wichtigen geistlichen Dienst an der Familie sowie an der Gesellschaft. Die permanenten Gebete geistlicher Frauen und Männer waren ein wichtiges Instrument zur Erlangung des eigenen Seelenheils und sie dienten dem Gedächtnis an die Lebenden und Toten (Memoria). Die Gebetsleistungen der klösterlichen Gemeinschaft wurden regelrecht von allen sozialen Gruppen „gekauft“.
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Eine gravierende Veränderung der gesellschaftlichen Lebensformen war die Gründung der Universitäten. Zentren von Wissensvermittlung und mittelalterlicher Gelehrsamkeit waren bislang Schulen an Pfarreien, bei Kathedralen und lange Zeit vor allem in den Klöstern gewesen. Diese Ausbildungsstätten standen Laien und Klerikern nur begrenzt offen. Gelehrt wurde Grammatik, Komputistik (Berechnung des Jahreskalenders), liturgischer Gesang, Bibelstudium, Lesen, Schreiben. Die Schulen standen unter kirchlichem Einfluss; ihre Aufgabe bestand unter anderem in der Heranbildung von Klerikern und qualifizierten Beamten für den Hofdienst. Ab Beginn des 11. Jahrhunderts wurden auch praxisorientierte Themen wie Recht (Pavia) und Medizin (Salerno) unterrichtet. Auf dem Gebiet der Artes liberales und der Theologie erfuhr die Kathedralschule von Paris große Bedeutung. Im 12. Jahrhundert entstanden zahlreiche private Bildungsanstalten, in denen u. a. praktizierende Juristen und Ärzte tätig waren. Diese Institution entzog sich fast vollständig der kirchlichen und weltlichen Kontrolle.
In Bologna, Paris, Oxford, Cambridge usw. entstand dann um 1200 ein weiterer neuer Typ einer Bildungsinstitution – die Universität. Diese unterschied sich von den (herkömmlichen) Schulen durch die Qualität des Unterrichts, die universelle Geltung der verliehenen Grade und durch den Erwerb kaiserlicher (bzw. königlicher) und päpstlicher Privilegien.
Wohl waren die einzelnen Universitäten unterschiedlich strukturiert. Es lassen sich aber dennoch grundlegende Gemeinsamkeiten feststellen: Es gab vier Fakultäten: die sieben Artes liberales (sieben freie Künste) als Grundlagenstudium und dann Medizin, Recht und Theologie. Zu den septem artes liberales zählten Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Den Artes liberales standen die praktischen Künste, Artes mechanicae, also handwerkliche Fertigkeiten, gegenüber.Die einzelnen Disziplinen bildeten jeweils eine geschlossene Fakultät, an deren Spitze der Dekan stand. An Universitäten mit weitem Einzugsbereich, besonders in Bologna und Paris, waren die Studenten nach ihrer Herkunft in nationes zusammengeschlossen.
Das Universitätsstudium konnten im Prinzip Studenten jeder sozialen oder regionalen Herkunft aufnehmen; mehrheitlich waren es aber Angehörige oder Beauftragte der Oberschicht. Die Päpste, die Könige von Frankreich, England und Kastilien unterstützten die Institutionalisierung der Universitäten, um die Entwicklung von qualitätsvollen Studien und die Ausbildung von hochgebildeten Theologen und Juristen, aber auch Medizinern zu fördern – nicht zuletzt, um selbst von deren Wissen zu profitieren. Grundlage der Lehrinhalte waren zum einen die christliche Lehre, zum anderen antike Wissenschaftstraditionen (wie Donatus, Priscianus, Aristoteles, Galen und Avicenna, das Corpus iuris civilis und das Corpus iuris canonici), ergänzt durch die Schriften der Kirchenväter, arabischer Gelehrsamkeit und der Kommentatoren der frühen Scholastik.
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Die skizzierten umwelthistorischen, gesellschafts- und kirchenpolitischen Veränderungen hatten Auswirkungen auf Vorstellungen und Handlungsprozesse der damaligen Menschen, aber auch auf Herstellungspraxis der Gebäude, Kunstwerke und Gegenstände und führten zu neuen Bild- und Raumkonzepten. So benötigte man im Zuge der Entwicklung der städtischen Lebensräume neue Versammlungsorte für die Organisation des Gemeinschaftslebens. Es entstanden damit neue Bauaufgaben, wie die Errichtung von Rathäusern, Zunfthäusern oder Hospitälern. Großbaustellen in den Städten waren wichtige Wirtschaftsfaktoren. Die Bauhütte war der zentrale Ort, an dem sich die Handwerker (Baumeister, Steinmetz, Maler, Schmied, Maurer usw.) zusammenfanden, um an dem Bau und seiner Ausstattung zu arbeiten. Damit verlagerte sich die Kunstproduktion seit der Mitte des 13. Jahrhunderts von den Klöstern zu den (berufsmäßigen) Künstlern in die Stadt.
Auch die Buchproduktion fand nicht mehr in klösterlichen Skriptorien (Schreibstuben) statt, sondern verlagerte sich in die Städte, besonders in jene Zentren, in denen es auch Universitäten gab und wo ein wachsender Bedarf an juridischen, philosophisch-didaktischen sowie medizinischen Schriften gedeckt werden musste. Neben wissenschaftlichen Texten für den Lehrbetrieb und religiösen Büchern für die private Andacht (Psalter, Stundenbuch, Brevier) verbreiteten sich vermehrt auch illustrierte höfische bzw. allegorische Romane.
Es trat im Laufe des 14. Jahrhunderts eine immer größere Spezialisierung ein. Sowohl das Ansehen als auch die Arbeitsbedingungen der Künstler verbesserten sich. Der Künstler, sei es der Baumeister, Architekt oder der Maler, gewann an Prestige. Die Künstler wurden an die Höfe der Könige und Fürsten gerufen, sie fungierten als wichtige Berater und als Spezialisten und wurden großzügig entlohnt. Zugleich avancierten die in den Städten lebenden Bürger neben dem Landesfürsten, den Stadtherren und dem hohen Klerus zu wichtigen Auftraggebern von Kunstwerken. Das zeigt sich in der Finanzierung der Kirchenbauten (Kathedralen, Pfarrkirchen, Hospitäler, Rathäuser und Klosterbauten) und den Stiftungen von Bildwerken, aber auch in den durch Schriftquellen überlieferten Berufungskommissionen und Künstlerverträgen für auswärtige Künstler (Baumeister).
Mit dem Aufkommen der Bettelorden entwickelte sich ein neuer Typ von Klosterbauten, da diese aufgrund ihres Armutsideals auf Wirtschaftsgebäude verzichten konnten. Diese neuen städtischen Ordenshäuser – meist in den Erweiterungsgebieten an den Stadtmauern gelegen – wurden durch Schenkungen oder Spenden von der Bevölkerung für die Ordensbrüder und -schwestern errichtet. Ihre Kirchen waren im Gegensatz zu denen der alten Orden auf eine hohe Besucherfrequenz ausgelegt; dementsprechend orientierte sich ihr Baukonzept auf eine Zweiteilung des Kirchenraumes, um getrennte Bereiche für Laien und Mönche bzw. Nonnen zu schaffen.
Bautechnische Innovationen, neue Formen und Designs, wissenschaftliche Erkenntnisse sowie gesellschafts- und kirchenpolitische Ereignisse bzw. Konzepte verbreiteten sich nicht nur im Kernland der Gotik, in Frankreich, sondern über dessen Grenzen hinweg. Die Netzwerke funktionierten nicht nur über die herrschaftliche Ebene – die adelige und geistliche Elite (König, Bischof usw.) –, sondern auch über verschiedene andere soziale Gruppen (Kaufleute, Händler, Künstler, Gelehrte und Studenten) sowie über Klostergemeinschaften, wie etwa die Zisterzienser und Bettelorden (Dominikaner und Franziskaner, auch Minoriten genannt).
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Seit dem 13. Jahrhundert entwickelte sich, wie erwähnt, auch ein berechenbarer Zeitbegriff, der sich in der präzisen und der breiten Bevölkerung zunehmend gegenwärtigen Zeitmessung durch die mechanischen Uhren widerspiegelte. Die deutliche Wahrnehmung der Begrenztheit des menschlichen Daseins, also der irdischen Zeit, förderte aber auch eine starke Betonung der nachirdischen Zeit. Die Beschäftigung mit der eigenen Zukunft bedeutete eine Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Tag des Jüngsten Gerichts. Der starke Jenseitsbezug der damaligen Gesellschaft drückt sich in der Praxis des Totengedächtnisses, in der Stiftungstätigkeit und der Schaffung von neuen Darstellungstypen (Weltgericht) sowie in Bau- und Ausstattungskonzepten (z.B. Memorialchor Elisabethkirche in Marburg, Andachtsbilder) aus. Die Pestpandemien, die sich im 14. Jahrhundert feststellen lassen, hatten nicht nur demografische, wirtschaftliche und kulturgeschichtliche (Judenverfolgung, Flagellanten- und Geißlerzüge) Auswirkungen; die Folgen waren wesentlich komplexer und führten zu einer veränderten Einstellung zum Tod, was sich ebenfalls in der Konstruktion von neuen Darstellungsformen in den Bildkünsten und Grabmonumenten widerspiegelt, wie in Darstellungen von halbverwesten Personen oder tanzenden Skeletten (z.B. am Grabmal des Kardinal de la Grange).
Die Vermittlung von Glaubensinhalten war ein zentrales Thema der Kirche und ganz besonders der Bettelorden. Im Laufe des 13. Jahrhunderts bekamen auch einfache Laien immer mehr Zugang zu religiösen Darstellungen und Erlebnissen. Es setzte eine zunehmende Begeisterung für Bilder ein, und es entstanden je nach Andachtszweck oder gesellschaftlicher Gruppe unterschiedliche Bildtypen. Ganz besonders die Franziskaner gebrauchten für ihre Predigtarbeit gerne Bilder und entwickelten auch neue visuelle Ausdrucksmittel. Franz von Assisi ließ z.B. zu Weihnachten 1223 in einem Wald bei Greccio eine Christuskrippe aufstellen, um den Menschen eine lebendige Darstellung von Christi Geburt vorzuführen. Die Wahrnehmung des Göttlichen wird den Menschen damit bildlich vor Augen geführt. Unsichtbares sollte begreiflich und fassbar gemacht werden.
Die bei der Messe zelebrierte Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi wurde im Vierten Laterankonzil 1215 kodifiziert. Dieses Dogma war von zentraler Bedeutung für die christlichen Gläubigen und wurde fortan in der Liturgie immer stärker theatralisch inszeniert sowie in zahlreichen Bilddarstellungen sichtbar gemacht. Die Messe gestaltete sich dank der Rituale, der aus kostbarem Material hergestellten Altargeräte und kirchlichen Gewänder, des Gesangs und Glockenschlages, der kostspieligen Lichtinszenierung durch Kerzen und Glasfenster, des Weihrauch- und Blumenduftes sowie durch Berühren und Verspeisen der Hostie zu einem außergewöhnlichen Ereignis, das alle menschlichen Sinne ansprechen sollte. Zu diesen sinnlichen Inszenierungen der Eucharistiefeier gehörten auch die bildreichen Portalprogramme an den Kathedralen, das Zurschaustellen der Reliquien in kostbaren Behältnissen auf Altären und Bühnen und das Zeigen und Verbergen der großen Bildtafeln gotischer Flügelaltäre.
Besonderes Interesse an den Universitäten erfuhren die nun in lateinischer Sprache vorliegenden naturwissenschaftlichen Schriften des griechischen Philosophen und Gelehrten Aristoteles (384–322 v. Chr.), vor allem dessen Ausführungen zur Sinneswahrnehmung. Für Aristoteles war der Sehsinn der wichtigste der fünf menschlichen Sinne, denn seiner Auffassung nach konnte Wissen nur durch Wahrnehmung der sichtbaren Welt erworben werden. Die optische Wahrnehmung durch das Auge funktioniert nach Aristoteles, indem der Betrachtungsgegenstand Lichtstrahlen in Form von geraden Linien auf das (menschliche) Auge aussendet
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(Intromissionstheorie). Fragen nach der optischen Wahrnehmung des Auges und der Geometrie der Optik wurden in wissenschaftlichen Abhandlungen des 13. und 14. Jahrhunderts von bedeutenden Gelehrten der Zeit komplex erörtert, z.B. von Robert Bacon (ca. 1214–1292) oder John Peckham