Die Kunst des Miteinander-Redens - Bernhard Pörksen - E-Book

Die Kunst des Miteinander-Redens E-Book

Bernhard Pörksen

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Beschreibung

Pörksen und Schulz von Thun, Deutschlands wichtigste Medien- und Kommunikationsexperten, zeigen, wie wir uns der kollektiven Erregung widersetzten können.

Hass und Hetze, Gerüchte und Falschmeldungen verbreiten sich rasend schnell. Öffentliche Debatten eskalieren zum giftigen Streit. Und in der Breite der Gesellschaft regiert die Angst vor dem Schwinden des gesellschaftlichen Zusammenhalts und dem Ende von Respekt und Vernunft.
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun, zwei prominente Vertreter ihres Fachs, analysieren den kommunikativen Klimawandel. Sie zeigen Auswege aus der Polarisierungsfalle in Zeiten der großen Gereiztheit und der populistischen Vereinfachungen und entwerfen eine Ethik des Miteinander-Redens, die Empathie und Wertschätzung mit der Bereitschaft zum Streit und zur klärenden Konfrontation verbindet.
Anschaulich und mit vielen Beispielen führen sie vor, wie sich Diskussionen und Debatten verbessern lassen und wie die Kunst des Miteinander-Redens zu einer Schule der Demokratie und des guten Miteinander-Lebens werden könnte.

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Über das Buch

Pörksen und Schulz von Thun, Deutschlands wichtigste Medien- und Kommunikationsexperten, zeigen, wie wir uns der kollektiven Erregung widersetzten können.Unsere Debatten sind vergiftet, Gerüchte und Falschmeldungen verbreiten sich rasend schnell, Menschen werden diffamiert. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun analysieren die Krise der Kommunikation und zeigen Auswege aus der Polarisierungsfalle. Dafür erklären sie die Voraussetzungen für gelingende Gespräche und entwerfen eine Ethik des Miteinander-Redens, die Empathie und Wertschätzung mit der Bereitschaft zur klärenden Konfrontation verbindet. Mit anschaulichen Beispielen leiten sie dazu an, den Ablauf von Debatten und Diskussionen zu verbessern. Ein Buch, wie wir es in Zeiten der großen Gereiztheit dringend brauchen.

Bernhard PörksenFriedemann Schulz von Thun

Die Kunst des Miteinander-Redens

Über den Dialog in Gesellschaft und Politik

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Gesellschaft der Gleichzeitigkeiten

Person und Situation

Wandel der Öffentlichkeit

Die Grammatik der Digitalisierung

Verstörungseffekte der Vernetzung

Sehnsucht nach Stille

Triggerwarnungen, Safe Spaces und politische Korrektheit

Wertschätzung und Respekt

Zwischenreich der Kommunikation

I.  Dynamik der Polarisierung

Wie man sein Gegenüber garantiert kränkt

Die Technik der rückwirkenden Generalisierung

Wirklichkeit erster und zweiter Ordnung

Die Stuhlkreisgefahr oder vom Nutzen der Zuspitzung

Die Mechanik der Abwertung und das Diffamierungsquadrat

Das Gesetz der vertikalen Gegenläufigkeit

Die Wärme des Witzes

II.  Möglichkeiten und Grenzen des Dialogs

Primat der Stimmigkeit

Dialektik von Abgrenzung und Annäherung

Stufen der Selbstklärung

Talk als Show

Dilemma versus Problem

Ausgang aus der selbst verschuldeten Ruhelosigkeit

III.  Transparenz und Skandal

Sichtbarkeit heißt Verwundbarkeit

Das Smartphone als indiskrete Technologie

Eubulides und das Problem der Zeitdiagnostik

Souveränität höherer Ordnung

Vom Umgang mit Fehlern

Das Kommunikationsquadrat in der Krisenkommunikation

Die Entschuldigungs-Paradoxie

Abschied vom Rezeptdenken

IV.  Desinformation und Manipulation

Kult der Pseudo-Skepsis

Die Lüge als Programm

Kritik des Konstruktivismus

Das Prinzip der Negativ-Würdigung

Deregulierung des Wahrheitsmarktes

Sinnenkreis und Handlungskreis

Axiome für Demokraten

Navigationskunst im Dilemma

Ausgewählte Literaturhinweise

Anmerkungen

Anmerkungen zum Vorwort

Anmerkungen zu Kapitel I—IV

Für Ingrid und Julia

Gesellschaft der Gleichzeitigkeiten

Über den kommunikativen Klimawandel — ein Vorwort von Bernhard Pörksen

Person und Situation

Wo liegen die Ursachen für die große Gereiztheit, für die Sofort-Eskalation öffentlicher Debatten, für den Hass und die Wut, die das Kommunikationsklima der Gegenwart zu ruinieren drohen? Es gibt, um die Gefährdung von Gespräch und Diskurs zu erklären, prinzipiell zwei Möglichkeiten. Man kann auf der Suche nach den Ursachen zum Monokausalisten werden oder aber über Situationen, Konstellationen und systemische Bedingungen reden, also das Zusammenspiel unterschiedlichster Faktoren analysieren.1 Welche Perspektive wird in diesem Buch gewählt? Als der Sozialpsychologe Philip Zimbardo, ein international anerkannter Experte für die Entstehungsbedingungen von Folter, einmal gebeten wurde, die Grausamkeiten im irakischen Gefängnis von Abu Ghraib zu ergründen und bei einem Prozess gegen einen der Haupttäter als Gutachter aufzutreten, geriet er in Rage. Er reagierte voller Zorn auf die Behauptung von George W. Bush, man habe es hier einfach mit ein paar »faulen Äpfeln« (»some bad apples«) zu tun. Man müsse, so Bush, nur ein paar schreckliche Charaktere loswerden und die folternden Soldaten bestrafen, dann werde alles besser. Nein, sagte Zimbardo, nicht die Äpfel seien faul, sondern das ganze Feld. Es sei eine toxische Situation entstanden, die die Enthemmung begünstigt und befördert und damit den Schrecken erst ermöglicht habe. Es ginge nicht um die einzelne Person, sondern um das System selbst.

Heute, in einer Zeit der spürbaren Diskursverwilderung, stehen sich die Vertreter der Theorie der faulen Äpfel und die Vertreter der Theorie des faulen Feldes wieder gegenüber und erklären einander, wen man aus welchen Gründen schuldig sprechen muss, wen man haftbar machen kann und was sich gerade in der Tiefenstruktur ganzer Gesellschaften vollzieht. Die Anwälte der großformatigen, oft dystopischen Situations- und Systemanalyse verkünden in ihren Zeitdiagnosen das Ende der liberalen Demokratie. Sie analysieren die Effekte der Globalisierung, der Digitalisierung und der populistischen Politisierung. Das Verlöschen von Respekt und Rationalität in öffentlichen Debatten stünde unmittelbar bevor, so schreiben sie, und der Tod der Wahrheit sei nah, weil die Lügner so offensichtlich ungeschoren mit ihren Tricks und frei erfundenen Propaganda-Stories durchkämen. Die Vertreter der isolierten Betrachtung bieten stets monokausal angelegte Antworten an. Sie wollen die Schuldfrage durch die Fokussierung auf die eine Ursache und den einen Akteur lösen. Mal unterstellt man einer einzelnen skrupellosen Person (z.B. Donald Trump), mal einem einzelnen polarisierungsanfälligen Medium (z.B. dem Netz), mal einem einzelnen spektakelaffinen Genre oder Format (z.B. der Talkshow) die Kraft der Diskurszerstörung und kritisiert und attackiert entsprechend heftig.

Vermutlich muss man, so die in diesem Buch entfaltete Annahme, im Bemühen um ein gerechtes Bild die Perspektiven kombinieren, die Sichtweisen verbinden, sich vom Entweder-oder der Herangehensweisen verabschieden, also von Äpfeln und Feldern sprechen, Personen und Situationen analysieren und studieren, ohne dabei in eine apokalyptische Eskalationsrhetorik zu verfallen und in einem düsteren Hegelianismus den Niedergang zu beschwören, der zwangsläufig und mit unbedingter Gewalt über die Menschheit kommt. Nötig ist auf dem Weg zu einer komplexeren, nuancenreichen Betrachtung der Abschied von der einen Ursache, die scheinbar linear und unvermeidlich die eine Wirkung erzeugt. Nötig ist, zumal wenn es um die Realität und die Ethik des öffentlichen Miteinander-Redens geht, der doppelte Blick, der auf den Einzelnen und das Gefüge der Bedingungen schaut, seine Autonomie und seine Abhängigkeit, seine Freiheit und seine Geprägtheit zu verstehen sucht. Denn ohne eine Idee von Freiheit ist ein Plädoyer für eine andere Ethik sinnlos. Ohne die Unterstellung der Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen und einer gewissen Autonomie braucht man das Ideal des Miteinander-Redens und des doch einigermaßen respektvollen Miteinander-Streitens, um das es uns hier geht, gar nicht erst zu beschwören. Ethik setzt Freiheit voraus, muss sie voraussetzen. Wie könnte man sonst, ohne Alternative und ohne Wahlmöglichkeit, anders, vielleicht freundlicher, gelassener oder großzügiger reden oder handeln? Und gleichzeitig darf man in der Beschreibung einer anderen Form des Miteinander-Redens und -Streitens auch nicht in eine kontextblinde Glorifizierung des Einzelnen verfallen, der in geradliniger Konsequenz umsetzt, was er gerade will. Denn dann würde man übersehen, in welchem Maße einzelne Menschen nicht einfach nur unbeschränkt Täter, Akteure und damit individuell verantwortlich sind, sondern stets beides: autonom und abhängig, entscheidungsmächtig und von äußeren Umständen geprägt.

Was sieht man, wenn man im Prozess der Kommunikationsanalyse die persönliche Verantwortung mit der systemischen Betrachtung kombiniert? Was vermag man zu erkennen, wenn man, wie dies in diesem Buch vorgeschlagen wird, Autonomie und Abhängigkeit, ein fraglos idealistisches Plädoyer für das Miteinander-Reden und eine möglichst realistische Betrachtung der Bedingungen öffentlicher Debatten in dialektischer Weise aufeinander bezieht? Die Antwort: Man erkennt das Wechselspiel von Individuum und System, von Person und Situation, vermag das Ineinandergreifen der Effekte zu verstehen, die das Kommunikationsklima verändern, ohne die persönliche Verantwortung des Einzelnen zu leugnen, der sich mal freundlich, mal boshaft artikuliert.

Natürlich, ein Donald Trump, der Behinderte verspottet, Frauen, die er nicht mag oder die ihn kritisieren, als Schlampen und fette Schweine und Mexikaner als Vergewaltiger tituliert, der auf Twitter mit der Größe »seiner« Atomsprengköpfe prahlt und der durchschnittlich gut achtmal pro Tag die Unwahrheit sagt, ist in seiner Skrupellosigkeit ungewöhnlich, ja einzigartig. Aber wie ist der Aufstieg des Immobilienmilliardärs, der noch vor ein paar Jahren als Exzentriker durch sein Urhabitat — amerikanische Wrestlingshows und Reality-TV-Sendungen — marodierte, zum mächtigsten Mann der Welt zu erklären? Wie gelingt es ihm, öffentliche Aufmerksamkeit zu kannibalisieren, mit seinen vulgär-pöbelnden Tweets die Nachrichtenagenda rund um die Welt zu bestimmen, sich auf der Bewusstseinsbühne der Menschheit derart ungehindert breitzumachen? Und warum hält er sich — allen Enthüllungen zum Trotz — im Amt, kann ihm kein Skandal, kein rassistischer Ausfall und keine sexistische Attacke etwas anhaben? Wer so fragt, der muss die situativen und systemischen Bedingungen seines Erfolges studieren, die Veränderungen des Mediensystems und die Grammatik der digitalen Kommunikation sichtbar machen, die Donald Trump für sich zu nutzen versteht. Und deutlich wird dann: Nicht einmal er, die Verkörperung des pöbelnden Populisten, verändert das Kommunikationsklima im Alleingang. Er profitiert vielmehr von einer radikal veränderten Medienwelt und ist der Gewinner eines Dramas, das lange vor seiner Präsidentschaft begonnen hat und das sich in unterschiedlichen, eng miteinander verwobenen Entwicklungen entfaltet.

Wandel der Öffentlichkeit

Ganz konkret und im Sinne einer exemplarischen Illustration: Von 1970 bis 2016 (dann endet die Statistik) sind in den USA500 Zeitungen eingestellt worden, viele andere haben ihre Berichterstattung zurückgefahren, Redaktionen fusioniert, Mitarbeiter entlassen, sich von der gedruckten Ausgabe verabschiedet.2 Ihr Kernproblem besteht darin, dass sich publizistische Qualität immer schwieriger finanzieren lässt, weil die Anzeigenmärkte ins Internet abwandern. Das Publikum hat sich an die Gratis-Verfügbarkeit von Informationen gewöhnt und akzeptiert Paid-Content-Modelle nach wie vor nur sehr zögerlich. Von dieser Dynamik werden längst auch journalistische Medien in Deutschland und Europa erfasst, auch wenn sich die Situation in den USA (hier fehlt ein starker öffentlich-rechtlicher Rundfunk) noch extremer und düsterer darstellt. Hier haben sich längst sogenannte news deserts gebildet, Sphären im öffentlichen Raum, in denen es keine unabhängige journalistische Berichterstattung mehr gibt. »Wir sind«, so bilanziert der einstige Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger die Entwicklung, »das erste Mal in der jüngeren Geschichte mit der Möglichkeit konfrontiert, dass Gesellschaften ohne verlässliche Nachrichten auskommen müssen.«3 Insbesondere die Lokalzeitungen haben — gezwungen durch die veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen — ihr Angebot zurückgefahren. Es hat in den letzten Jahren auf lokaler Ebene zahllose Spar- und Entlassungswellen gegeben, die die Macht- und Einflussverhältnisse im öffentlichen Raum zu Lasten eines qualifizierten, rechercheintensiven Journalismus verändert haben. Inzwischen kommen auf einen einzelnen Journalisten in den USA durchschnittlich vier PR-Leute, die etwa 40 Prozent mehr verdienen — ein Faktum, das die Anfälligkeit des Mediensystems für Spektakelnachrichten aus der Welt des einstigen Reality-TV-Stars Donald Trump mit seinem Gespür für quotengängige Inszenierungen zweifelsohne erhöht.4 Er ist seit Jahrzehnten ein zuverlässiger Lieferant von Skandalen und Skandälchen im Verbund mit dröhnend formulierten Soundbites, die für Resonanz sorgen. Schon in der Wahlkampfphase des Jahres 2016 stiegen die Einschaltquoten der Talkshows um bis zu 170 Prozent, wenn er auf Sendung ging. Dies veranlasste den einstigen CBS-CEO Leslie Moonves in einem Moment der Offenheit zu der Bemerkung, der Mann sei womöglich schlecht für Amerika, aber gewiss »verdammt gut für CBS«. Hier werden — in reiner, nackter Form — das Geschäft auf Gegenseitigkeit von Populisten und Talkshowmachern bzw. den Vertretern des Spektakelfernsehens und die systemischen Bedingungen des Diskursruins offenbar. Der eine will öffentliche Aufmerksamkeit, will möglichst kostenfrei Sendezeit zur Verbreitung eigener Botschaften akquirieren, der andere, der Fernsehmacher, braucht die Figur des schillernden Provokateurs und des Anti-Korrekten als Quotenbringer und Aufmerksamkeitsgarant. Und beide glorifizieren das Extrem. Sie wollen das Konfliktspektakel und agieren in verstörender Symbiose mit unterschiedlichen Interessen, aber doch gemeinsamer Wirkung. Aggressivität gegen Publizität, Pöbelei gegen Plattform, Schmutz gegen Sendezeit — das sind die Tauschformeln, die hier wirksam werden und das Miteinander-Reden zu einem Aufeinander-Einbrüllen eskalieren lassen, längst nicht nur in den USA, längst nicht nur im Format der Talkshows.

Überdies wächst in vielen westlichen Ländern Misstrauen gegenüber den Medien, auch dies ist Ursache und Treiber des kommunikativen Klimawandels. Wenn Journalisten und etablierte Medienmacher an Akzeptanz verlieren und die Lügenpresse-Schreie lauter werden, dann wird die Grundlage ihrer Arbeit angegriffen, und es beginnt die Zeit des großen Verdachts und der informationellen Verunsicherung. Mehr als die Hälfte der Deutschen glaubt, so belegen es aktuelle Befragungen, dass sie verfälschten Nachrichten ausgesetzt werde, ein Drittel findet, man könne die unwahren Informationen nur sehr schwer erkennen. In Frankreich sind sich 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sicher, dass man sie mit Falschmeldungen konfrontiert, in Großbritannien 75 Prozent.5 In den USA, aber beispielsweise auch in Ungarn, Polen, in Österreich, ansatzweise auch in Deutschland, bilden sich seit etlichen Jahren neue Bündnisse und Koalitionen von politischem Führungspersonal und medienverdrossener Gegenöffentlichkeit. Eine auf Demontage zielende Medienkritik wird dann von oben und von den Rändern, von der Regierungsbank und von der Straße her artikuliert. Man denke nur — erneut — an Donald Trump, der amerikanische Journalisten regelhaft als Volksverräter angreift. Man denke an den zurückgetretenen österreichischen Vizekanzler Heinz-Christian Strache, der in seiner Amtszeit die Angriffe auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk intensivierte und in einem verdeckt aufgenommenen Video die Fantasie äußerte, die Krone, die größte Boulevardzeitung des Landes, über Strohmänner zu kaufen und missliebige Journalisten zu feuern. Man denke an AfD-Politiker, die in Dresden und anderswo vor Demonstranten Lügenpresse brüllen und vor Systemmedien warnen. Die Kritik der Pauschalkritik sollte, nebenbei gesagt, nicht als eine Art Freispruch für den real existierenden Journalismus verstanden werden. Der Negativismus der Nachrichten, der die populistischen Narrative des Niedergangs stützt, das Interesse an substanzfreien Inszenierungen und einem sinnlosen, den Zynismus befördernden Konfliktspektakel (Politik als bloßer Machtkampf ohne Inhalt und ohne Ethos) — all dies sind Denk- und Darstellungsformen, die Kritik verdienen.6 Aber es ist eben doch ein Unterschied, ob man kritisiert, um zu verbessern oder aber um zu vernichten und um eine unabhängige Instanz der Gesellschaftsbeobachtung zu zerstören, wie dies Populisten in vielen westlichen Ländern versuchen.

Die Grammatik der Digitalisierung

Das Bemühen, die Veränderung von Debatten und Diskursen aus dem Zusammenspiel von Person und Situation zu erklären, wäre unvollständig, wenn man nicht auch noch berücksichtigt, wie gegenwärtig die Grammatik der Kommunikation umgeschrieben wird. Dies in einer Geschwindigkeit, die sich längst von den Zyklen eines menschlichen Lebens löst. Das Neue ist heute sofort da und unmittelbar im eigenen Alltag präsent. 75 Jahre benötigte das klassische Telefon nach seiner Erfindung, um von 100 Millionen Menschen genutzt zu werden. Das Mobiltelefon brauchte dafür nur 16 Jahre, Facebook 4,4 Jahre, WhatsApp und Instagram gerade einmal 2,2 Jahre.7 Das Innovationstempo ist also selbst ein Treiber des kommunikativen Klimawandels, weil sich die disruptiven Veränderungen so rasch vollziehen und die neue Medienwelt mit großer Wucht und Geschwindigkeit auf den Menschen prallt, der im Gehäuse von Tradition und Evolution unvermeidlich behäbig reagiert. Mit Twitter, Facebook und YouTube, mit Instagram, Snapchat und WhatsApp ändern sich die Symbole, mit denen wir uns austauschen, die Inhalte, über die wir sprechen; und auch das Wesen von Gemeinschaften, also die Arena, in denen sich Gedanken und Debatten überhaupt entfalten könnten, wird eine andere.8 An die Stelle der Mediendemokratie alten Typs, die sich um klar identifizierbare publizistische Machtzentren gruppierte, tritt allmählich die Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters. Heute ist jeder — potenziell — ein Sender, kann sich mit seinem Smartphone zuschalten, seine Ideen und Empörungsangebote barrierefrei einem Publikum unterbreiten, das dann womöglich selbst aktiv wird. Die Folge ist, dass die klassischen Gatekeeper in Gestalt von Journalistinnen und Journalisten, die gerade noch am Tor zur öffentlichen Welt darüber befinden konnten, was als interessant und relevant zu gelten hatte, an Autorität und Deutungsmacht verlieren. Sie lassen sich umgehen, mal mit guten und mal mit schlechten Gründen kritisieren und attackieren. Kommunikation verstreut sich. Sie wird schneller, offener, unberechenbarer. Eher statische Kollektive (Gruppen und Organisationen mit klaren Innen-außen-Grenzen) verwandeln sich in vergleichsweise flüchtige Konnektive. Es sind leicht zugängliche, prinzipiell offene Ad-hoc-Gemeinschaften mit stark individualistischer Note, die sich um ein Hashtag gruppieren und digital und vernetzt kommunizieren.

Aber was heißt das überhaupt? Wie verändern Digitalisierung und Vernetzung die Architektur der Kommunikation? Zum einen werden Daten und Dokumente aller Art im Vergleich zu dem behäbigen, statischeren Medium des Gedruckten offensichtlich in einen anderen Aggregatzustand der Leichtigkeit und Beweglichkeit hineinkatapultiert. Man kann sie ohne größeren Aufwand teilen, kombinieren, immer wieder aktualisieren, blitzschnell versenden, in immer neue Kontexte transferieren. Die Folge ist, dass die Unterscheidungen der klassischen Medienwelt und der analogen Sphäre (z.B. nah und fern, privat und öffentlich, Emotion und Information, Peripherie und Zentrum, aber auch wahr und falsch) schwächer und unschärfer werden, sich Sprach- und Kommunikationsstile leichter mischen und in neuen Formen und Varianten zeigen. Zum anderen wird es unter digitalen Bedingungen möglich, in Echtzeit zu beobachten, was Menschen tatsächlich interessiert und fasziniert. Das gesamte Netz ist, so der Publizist John Battelle, eine gigantische Datenbank der Intentionen und Faszinationen — ein einziger, riesenhafter Pool feinkörnig auslesbarer Interessen.9 Man kann sehr genau sehen, wie gut emotionalisierende Geschichten funktionieren, wie gut die Story von den Jugendlichen ankommt, die nach einem Höhlen-Tauchgang in Thailand verzweifelt auf ihre Retter warten, und wie häufig der Bericht über eine seltsame Tierfreundschaft (sibirischer Tiger kuschelt mit Ziege!) geklickt, gelikt und geteilt wird. Damit entsteht in der digitalen Öffentlichkeit ein neuartiger Quotendruck und ein Anreizsystem zur Verbreitung des bloß Populären, des Emotionalen und des Extremen. Jetzt kann man in Echtzeit nachvollziehen, ob eine Geschichte funktioniert oder, wie man dann sagt, performt. Es gibt längst eine eigene, weltweit vernetzte Emotions- und Erregungsindustrie, die präzise registriert und dann systematisch verstärkt, was gerade ankommt; man tut hier nichts anderes, als spektakuläre Stories, kuriose Videos und mitunter auch frei erfundene Geschichten zu recyclen, frei nach dem Motto: Relevant ist, was interessiert. Der Hype und das Spektakel werden so immer dominanter.

Und schließlich gilt: Das Netzmedium kommt der allgemeinen Bestätigungssehnsucht des Menschen sehr weit entgegen und erlaubt die Stabilisierung obskurer, eben noch marginalisierter Positionen. Schon die Möglichkeit der Entbündelung und »Vereinzelung« von Information begünstigt im Gegensatz zum fest geschnürten Materialpaket des Gedruckten, das die Überraschung und die Irritation in stärkerer Weise programmiert, die Konstruktion von Wunschwirklichkeiten durch den Empfänger. Mit nur ein paar Klicks kann man sich in sein eigenes Selbstbestätigungsmilieu hineingoogeln, ohne größeren Aufwand und ohne die Reibung mit der Agenda der Allgemeinheit eigene Experten, eigene Medien und Plattformen ausfindig machen und Gleichgesinnte und ideologisch verwandte Stämme entdecken — vom politischen Extremisten bis hin zum Impfgegner. Weitgehend intransparente Prozesse der Informationsfilterung, dies zeigen aktuelle Studien zu den Wirkungen von Empfehlungsalgorithmen der Plattformen, verschärfen die Segmentierung und Polarisierung. Sie locken den Einzelnen in einen Tunnel der Selbstradikalisierung, lassen eine extreme, vielleicht vollkommen randständige Position als eine von vielen geteilte Auffassung erscheinen. In solchen Informations- und Kommunikationsumgebungen entstehen Mehrheitsillusionen. Hier schwindet die regulative Macht sozialer Tabus. Die natürliche Isolationsfurcht des Menschen nimmt ab, und der Einzelne, der sich durch den Beifall und die Zustimmung aufputschen lässt, äußert sich im Kommunikationskosmos eines gefühlten Mainstreams immer drängender und aggressiver, befeuert von den Likes und den Kommentaren derjenigen, die ähnlich denken und fühlen. Gerade noch verfemte und stigmatisierte Redeweisen erscheinen im Zerrspiegel der unendlichen, so leichthändig möglichen Vervielfältigung und in den Katakomben und Echokammern des Netzes mit einem Mal als gewöhnliche und weithin akzeptabel wirkende Äußerungen. Die Grenzen des Sagbaren verschieben sich, das ist die Folge, in Richtung einer Normalisierung des Extrems, einfach weil man im eigenen Selbstbestätigungsmilieu so viel Zuspruch und Sympathie erfährt und dann zu dem Irrglauben gelangt: Es ist schon in Ordnung, was da so gepostet und publiziert wird.

Bedeutet dies nun, wie es in populären Medienanalysen heißt, dass die Gesellschaft in Filterblasen zerfällt, mithin als eine Ansammlung von abgeschlossenen Mini-Welten und einsam und unverbunden vor sich hin blubbernden Realitätsinseln gedacht werden muss? Funktioniert Kommunikation heute also primär im Modus der Abschottung und der Isolation? Sehen wir im Netz — eben aufgrund der Empfehlungsalgorithmen, die uns fesseln und zur immer perfekteren Auswertung unserer Datenspuren auf der Plattform halten wollen — nur noch das, was unsere eigene Meinung und Weltsicht bestätigt? Müssen wir also, um das Miteinander-Reden unter digitalen Kommunikationsbedingungen zu verbessern, endlich raus aus unserer Filterblase? Gilt es, mit Trump-Anhängern, Brexit-Befürwortern und Pegida-Freunden zu reden, sich mit FPÖ-Politikern und Orban-Verteidigern zu streiten, die Abgeordneten der AfD und die alten und neuen Rechten in Gespräche zu verwickeln? Die Antwort lautet: Es ist in einer liberalen Demokratie unbedingt geboten, mit Andersdenkenden zu sprechen, allerdings nicht immer und unter allen Umständen. Es gilt, auch das wird deutlich, ihre Ideen und Vorstellungen erst einmal zu verstehen und je nach Situation und eigener Rolle das Wagnis des kommunikativen Brückenbaus einzugehen. Selbst wenn man entschieden anderer Auffassung ist und vielleicht und gerade dann. An die Stelle des Wahrheitsdisputs tritt also die Anstrengung des Verstehens. Nicht die Widerlegung ist das erste Ziel des Miteinander-Redens, sondern das Erkennen des Anderen in seiner Andersartigkeit, vielleicht auch Fremdheit.

Verstörungseffekte der Vernetzung

Nur: Das Denkbild der Filterblase, das inzwischen den Smalltalk der Gesellschaftsanalyse regiert und so viele Debatten über den Zustand der Debatte bestimmt, ist falsch und irreführend — und zwar gleich aus drei Gründen.10 Die Idee der extremen Isolation widerspricht, erstens, unserer alltäglichen Informationserfahrung. Wer surft, in Blogs und Foren unterwegs ist, Newsletter und Push-Nachrichten zugeschickt bekommt, der bemerkt: Das Wesen des Netzes ist die Verlinkung. Und jeder Link ist — potenziell — ein Ticket in ein anderes Wirklichkeitsuniversum. Man muss nur draufklicken, und schon ist man da. Zweitens widerspricht die Filterblasen-Idee den seit den 70er-Jahren bekannten Einsichten der Netzwerktheorie, die besagen: Je besser man sich kennt, desto erwartbarer ist das, was man vom anderen erfährt. Schwache Verbindungen und lockere Beziehungen (sogenannte weak ties im Sinne der Netzwerk-Soziologie) sind deshalb so nützlich, weil sie einen mit unterschiedlichen, unbekannten und gänzlich unerwarteten Informationen konfrontieren. Und das Netz ist definitiv das Beziehungsuniversum der schwachen Verbindungen. Offline haben Menschen in der Regel wenige Freunde, online jedoch womöglich sehr viele. Natürlich ist damit die algorithmische Filterung nicht ausgeschaltet, aber die Wahrscheinlichkeit, mit unterschiedlichen Informationen konfrontiert zu werden, steigt in solchen Netzwerken mit schwachen Verbindungen rasant an. Zahlreiche schwache Verbindungen (man denke nur an die mehr als 400 Facebook-Freunde, mit denen ein jugendlicher User im Durchschnitt in Verbindung steht) programmieren den Informationspluralismus, den man dann selbsttätig (auf dem Weg zu einer Echokammer der Marke Eigenbau) wieder reduzieren kann. Und drittens widerspricht die Filterblasen-Theorie den inzwischen publizierten empirischen Studien, die belegen, dass unser Informationsuniversum sehr viel vielfältiger ist als gedacht. Diese Studien zeigen auch, dass die sogenannte Filterblase immer auch ein Symptom unseres Informationsverhaltens darstellt, Indiz unserer eigenen Intentionen und Faszinationen. Menschen suchen, lesen und verbreiten, wovon sie ohnehin überzeugt sind und woran sie unbedingt glauben wollen.

Ganz konkret und am Beispiel der Debatte über die neue Macht der Desinformation, der hier ein eigenes Kapitel gewidmet ist: Eine wahre beziehungsweise faktisch korrekte Nachricht braucht beispielsweise auf Twitter, dem Nachrichtenkanal für jedermann, sechsmal so lang wie eine Falschbehauptung, um 1500 Nutzer zu erreichen: Das belegt eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT).11 Falsche Informationen werden demnach zu 70 Prozent häufiger geteilt als sachlich korrekte Nachrichten. Woran liegt das? Ist der Algorithmus schuld, sind es Social Bots, also Software-Programme, die als Desinformationsschleudern taugen? Nicht unbedingt. Es sind Menschen, die Fake-News verbreiten, weil diese ihnen — als scheinbar plausible, hoch infektiöse — Aufreger dienen und weil sie bestätigen, was sie ohnehin glauben wollen. Das heißt: Die Filterblasen-Idee übersieht den menschlichen Faktor. Sie verwandelt soziale Phänomene der Selbstabschottung und das Problem der allgemein menschlichen Bestätigungssehnsucht (»confirmation bias«) in technische Manipulationsfantasien, suggeriert damit falsche Lösungswege, die eher in der Restrukturierung von Software, nicht in der diskursiven Auseinandersetzung mit anderen Menschen zu suchen sind. Die Filterblasen-Idee macht den Algorithmus zum Angstgegner — und lässt den anderen Menschen als selbstständiges Gegenüber aus dem Blick geraten. Er erscheint im Denkbild einer solchen Theorie lediglich als das Opfer von algorithmischen Sortierspielen, die er aber leider nicht begreift.

Wenn man das Informations- und Kommunikationsgeschehen aus dieser Perspektive betrachtet, rückt die Idee der Autonomie in den Hintergrund und die arrogante Ad-hoc-Abwertung des Anderen wird wahrscheinlicher, weil dieser Andere ja gar nicht kapiert, wie sehr man ihn manipuliert hat. Das ist die Prämisse der Annäherung, der heilige Ton der Überheblichkeit. Es ist aber, so lautet eine zentrale These dieses Buches, unbedingt geboten, wenn man mit dem anderen sprechen will, von einem Minimum an Wertschätzung auszugehen. Das ist die Basis, das ist Fundament einer Kommunikation, die diesen Namen überhaupt verdient. Anders kann das Miteinander-Reden nicht funktionieren. Die Abwertung des Anderen — je umfassender, desto effektiver — ist ein absolut sicheres Rezept, um eine echte Debatte gar nicht erst entstehen zu lassen. Denn die pauschale Attacke kränkt. Sie erzeugt Ressentiments. Sie produziert Verhärtungen und ruiniert die Möglichkeiten empathischer Anteilnahme. Ebendeshalb lautet eine zentrale Empfehlung, die in den unterschiedlichen Kapiteln dieses Buches variiert wird, stets möglichst genau hinzuschauen und die diffamierende Verallgemeinerung nach Möglichkeit zu vermeiden. Wer den anderen Menschen als ein Individuum sieht und ihn nicht in einer Klischee-Schublade wegsperrt (weißer alter Mann, krimineller Flüchtling, hysterische Feministin, frustrierter Ostdeutscher et cetera), wer seine eigenen Erzählungen von der Welt mit möglichst verschiedenen Farben und einer Fülle von Nuancen gestaltet, sie komplexer und vielfältiger anlegt, der kann sein Gegenüber nicht hassen.12 Das Gebot der Stunde lautet daher: »Du sollst nicht vorschnell generalisieren!«13 Erst einmal abwarten. Luft holen. Das Gespräch suchen. Und die Welt in ihrem großen grummelnden Durcheinander, in ihrer Farbigkeit und in ihrer Fülle und in ihren diffus schillernden Kontrasten kommen lassen. Sie erst einmal wahrnehmen, bevor man gleich wieder selbst fabrizierte Schwarz-Weiß-Zeichnungen liefert. Bevor man Fertiginterpretationen und Großbegriffe nutzt. Bevor man zukleistert und vermeintlich erklärt (und damit kognitiv stillstellt und womöglich auf kränkende Weise etikettiert), was doch erst einmal betrachtet und begriffen werden will. Verstehen, vielleicht Verständnis entwickeln, sich fragen, ob man einverstanden ist, dann im Zweifel die Position des anderen hart kritisieren (bei gleichzeitiger Wertschätzung der Person) — das ist die Schrittfolge der Annäherung und Auseinandersetzung auf dem Weg zu einem produktiven Dialog, die Friedemann Schulz von Thun in diesem Buch vorschlägt.

Aber zurück zur Neuorganisation der Informationswelt unter vernetzten Bedingungen. Wer die hier entstehende Dynamik begreifen und die Tiefenursachen der allgemeinen Gereiztheit verstehen will, der muss die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen denken, die pulsierende Simultaneität von Schließung und Öffnung, Abschottung und Konfrontation. Es gibt ohne Frage jede Menge Milieus für spezielle Gruppen und exklusiven Irrsinn, für algorithmisch verstärkte Ideen und Ideologien. Und doch sind die verschiedenen Gemeinschaften eben keineswegs komplett isoliert, sie existieren vielmehr in direkter Reibung miteinander, oft nur einen einzigen Klick voneinander entfernt. Wie aber kann man Öffnung und Schließung zusammendenken? Eine Antwort liefert der Netztheoretiker Michael Seemann.14 Er unterscheidet positive und negative Filtersouveränität. Positive Filtersouveränität bedeutet, dass man sich sein Weltbild frei zusammenbasteln kann, sich die Scheinbeweise zusammengoogelt, die stützen, was man ohnehin meint und eben unbedingt glauben will. Negative Filtersouveränität hieße hingegen, dass man sich auch gegen unerwünschte Irritationen abzuschotten vermag, sich völlig in den Privat-Kosmos der erwünschten Weltwahrnehmung zurückziehen kann. Und genau dies ist nicht möglich. Man kann, um Paul Watzlawick zu paraphrasieren, einmal vernetzt nicht nicht registrieren, was so geschieht, wer sich in den Kommentarspalten über wen aufregt, wer die eigene Position auf Twitter oder Facebook attackiert, die eigene These mit der Antithese durch einen Link verbindet. Die Möglichkeiten der informationellen und der emotionalen Isolation schwinden. Sie schwinden in Zeiten der allgegenwärtigen Smartphones, der Push-Nachrichten und der geschickt forcierten, global orchestrierten Hypes. Man kann sich zwar einigeln, aber eben gerade nicht abschotten. Die selbst konstruierte Filterblase wird immer wieder gewaltsam geöffnet, der Behaglichkeitskosmos geschleift, je mehr sich der Schwerpunkt der Bewusstseinsbildung (14—29-Jährige nutzen das Netz bereits heute knapp sechs Stunden täglich) von der analogen in die digitale Sphäre verlagert. Kurzum: Die Vernetzung der Welt begünstigt die Bewusstseinslage eines fragilen Fundamentalismus. Sie macht den Filterclash unvermeidlich, das Aufeinanderprallen von Parallelöffentlichkeiten und Selbstbestätigungsmilieus. Das ist nach jedem Anschlag oder Attentat erlebbar, wenn Gerüchte und Gegengerüchte eine giftig brodelnde Ursuppe der Desinformation erzeugen und die unterschiedlichsten Gruppen und Parteien das Geschehen blitzschnell zu eigenen Zwecken interpretieren, korrigiert und attackiert von der jeweiligen Gegenseite, verärgert und verstört durch die Reaktion auf die Reaktion, die die eigenen Gewissheiten angreift. Dies zeigt sich, wenn in sozialen Netzwerken in einem einzigen Gesprächsfaden die unterschiedlichsten Positionen sichtbar werden. Und das wird im Falle von Extremereignissen erlebbar, die auf der Weltbühne des Netzes zum großen Drama explodieren.

Wie damit umgehen, so fragen wir uns in diesem Buch. Was müssen wir wissen? Und was sollten wir tun? Welche Haltung erscheint — mit dem Anspruch einer engagierten Zeitgenossenschaft, aber doch im Bemühen, die eigene Anteilnahme auf eine verkraftbare Weise zu dosieren — angemessen? Was ist wirklich wichtig? Diese Frage ist entscheidend, weil unabweisbar ist: Vernetzung verstört. Sie pulverisiert gerade noch einigermaßen eindeutige Relevanzhierarchien eines zu Ende gehenden Medienzeitalters. Und wir sehen unter den aktuellen Kommunikationsbedingungen nicht zu wenig, sondern zu viel: Schreckliches und Schönes, Relevantes und Irrelevantes, Bilder bitterster Armut und Bilder des obszönen Reichtums, Banales und Bestialisches. Es ist ein unendlicher Strom beweglicher, leicht zu verbreitender Daten und Dokumente, vom Spaß- und Challengevideo und der Instagram-Story der Reichen und Schönen bis hin zum Augenzeugenvideo, das zeigt, wie ein Mann einen anderen in einem Stuttgarter Wohngebiet mit einem Schwert zerstückelt. Wir sehen kleine lustige GIFs mit Hundewelpen, dann das Livestreaming einer Mordserie, der in Neuseeland Dutzende von Menschen zum Opfer fallen, dann ins Obszöne spielende Nahaufnahmen einer zitternden Kanzlerin. Es sind die Gegensätze, die unabweisbar sichtbar werden. Es ist die unerträgliche Gleichzeitigkeit des Seins, die heute auf einem einzigen Kommunikationskanal erlebbar ist, der Schock des Unvereinbaren, der den Dissonanzkoller produziert, ein Bewusstsein für Ungleichheit und Ungerechtigkeit erzeugt und durch die Sofort-Konfrontation mit radikaler Unterschiedlichkeit die große Gereiztheit forciert. »Wir leben heute«, so bekommt man bei Marshall McLuhan, dem Propheten der Vernetzung, zu lesen, »im Zeitalter der Information und Kommunikation, weil elektrische Medien sofort und ständig ein totales Feld von gegenseitig sich beeinflussenden Ereignissen erzeugen, an welchen alle Menschen teilnehmen. Nun hat die Welt der öffentlichen gegenseitigen Beeinflussung die gleiche umfassende Weite des integrierenden Wechselspiels, das bisher nur für unser persönliches Nervensystem charakteristisch war.«15

Sehnsucht nach Stille

Also noch einmal: Wie auf die Verstörungseffekte der Vernetzung reagieren? Wie mit der Transparenz der Differenz umgehen? Manche erschrecken, bekommen Angst, fürchten sich vor der Radikalisierung der Kommunikation. Tatsächlich zeigen Befragungen: Das Bewusstsein für Hass und Häme im Netz nimmt zu, besonders stark bei jungen und daher besonders internetaffinen Menschen.16 Und eine diffuse Polarisierungsfurcht ist nicht nur in den USA verbreitet, sondern auch hierzulande und in Europa. Mehr als jeder dritte Deutsche meint, der soziale Zusammenhalt sei gefährdet. In 27 europäischen Staaten, so eine repräsentative Studie, herrscht das Empfinden, die eigene Gesellschaft sei gespalten. Ein solches Zeit- und Lebensgefühl könnte, neben sehr viel erlebbarer Ungerechtigkeit, auch eine Reaktion auf die neue Medienerfahrung sein, auf die Transparenz der Differenz.17 Denn permanent werden auf der Weltbühne des Netzes Polaritäten sichtbar und Kaskaden von Unterschieden in neuer Unmittelbarkeit transparent — zwischen Reichen und Armen, Religionen und Nationen, Stadt und Land, zwischen Peripherie und Zentrum, zwischen Anywheres und Somewheres, also zwischen kosmopolitischen Globalisierungsgewinnern und milieuverhafteten Globalisierungsverlierern. Die einen sind überall zu Hause (Anywheres), besonders in den glitzernden Metropolen der Welt. Die anderen sind an einen Ort gefesselt (Somewheres), besonders in Regionen mit sterbenden Industrien und einer zerfallenden Infrastruktur.18 Und doch sind sie alle in der digitalen Öffentlichkeit nur einen Klick voneinander entfernt, erkennen in unmittelbarer Evidenz, was andere besitzen und was sie selbst vielleicht nicht haben. Kurzum: Das Netz ist das Medium der radikalen Differenzerfahrung. Es befeuert einen Zorn, den man information rage nennen könnte, eine elementare Gereiztheit als Resultat der Sofort-Vergleichbarkeit von Lebensumständen.

Allerdings sind die Reaktionen auf diese direkte Konfrontation mit immer neuen Unterschieden äußerst vielfältig. Es gibt nicht nur Wütende und Gereizte, nicht nur Ängstliche und Apokalyptiker, sondern auch Aussteiger und Nostalgiker, die den Rückzug erproben. Sie wollen dem äußeren Lärm entkommen, aus den Informationsströmen der digitalen Sphäre heraustreten, sich in eine Anderswelt zurückziehen, die schöner ist und ruhiger. Bloß weg! Bloß raus! So ruft der Schriftsteller Botho Strauß in einem Manifest den »Unverbundenen« zum Zukunftsmenschen aus und wirbt für eine »Aristokratie des Beisichseins«, die es erlauben soll, geistig und mental auszusteigen, sich in »neue unzugängliche Gärten« zu flüchten und »ohne eine Regung von Zukunftsunruhe« zu leben.19 Manche suchen die Erdung der eigenen Existenz durch die Naturbegegnung. Ihr Ziel ist die Entschleunigung, die Wiederentdeckung einer unverstellten, medienfreien Unmittelbarkeit. »Die Digitalisierung erhöht den Kommunikationslärm. Sie beseitigt nicht nur Stille, sondern auch das Haptische, das Materielle, Düfte, duftende Farben, vor allem die Schwere der Erde«, so liest man in einem der neueren Bücher des Philosophen Byung-Chul Han. »Human geht auf humus,