Die langen Tage von Castellamare - Catherine Banner - E-Book
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Die langen Tage von Castellamare E-Book

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Beschreibung

Eine sizilianische Insel, drei Generationen, ein großes Familienepos Castellamare ist eine winzige Insel vor der Küste Siziliens. Als der Arzt Amedeo seine Stelle antritt, wird er zunächst misstrauisch beäugt. Er jedoch liebt seine neue Heimat und beginnt, ihre alten Legenden zu sammeln und aufzuschreiben. Eines Nachts hilft er bei zwei Geburten: Das Kind seiner Frau und das Kind seiner Geliebten kommen auf die Welt. Der Skandal kostet Amedeo Ansehen und Position. Um auf Castellamare bleiben zu können, übernimmt er mit seiner Frau ein kleines Café. Es wird der Mittelpunkt der Familie und der Insel – über mehrere Generationen hinweg, durch alle Kriege und Krisen, allen Veränderungen zum Trotz. Amedeo Esposito wächst als Waisenkind in Florenz auf. Schon immer hat er Geschichten geliebt und in seiner roten Kladde gesammelt. Als er ganz im Süden Italiens eine Stellung als Arzt antritt, fühlt er sich zum ersten Mal in seinem Leben zu Hause. Die Insel Castellamare mit ihrer verschworenen Gemeinschaft kann einem Arzt nicht viel bieten, einem Geschichtenliebhaber jedoch eine Fülle an Erzählungen und Geheimnissen. Zusammen mit seiner Frau, der schönen, klugen Pina, restauriert Amedeo ein altes Café. Direkt über dem Meer gelegen wird es ein beliebter Treffpunkt. Und für mehrere Generationen das Zuhause der Familie, die ein Jahrhundert der Veränderungen durchlebt: Freundschaften und Fehden, Kriege, Hochzeiten, Geburten und immer wieder die Liebe. Ein großer Familienroman über eine kleine Insel, berührend und äußerst unterhaltsam erzählt.

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Das Buch

Amedeo Esposito wächst als Waisenkind in Florenz auf. Schon immer hat er Geschichten geliebt und in seiner roten Kladde gesammelt. Als er ganz im Süden Italiens eine Stellung als Arzt antritt, fühlt er sich zum ersten Mal in seinem Leben zu Hause. Die Insel Castellamare mit ihrer verschworenen Gemeinschaft kann einem Arzt nicht viel bieten, einem Geschichtenliebhaber jedoch eine Fülle an Erzählungen und Geheimnissen.

Zusammen mit seiner Frau, der schönen, klugen Pina, restauriert Amedeo ein altes Café. Direkt über dem Meer gelegen wird es ein beliebter Treffpunkt. Und für mehrere Generationen das Zuhause der Familie, die ein Jahrhundert der Veränderungen durchlebt: Freundschaften und Fehden, Kriege, Hochzeiten, Geburten und immer wieder die Liebe.

Die Autorin

CATHERINE BANNER, geboren 1989, hat in Cambridge Literatur studiert. Bereits mit vierzehn begann sie zu schreiben, ihre Jugend- und Fantasyromane sind international veröffentlicht worden. Die Geschichte der Familie Esposito ist ihr erster Roman für Erwachsene, auch er wird in zahlreiche Sprachen übersetzt. Catherine Banner lebt mit ihrem Mann in Turin, Italien.

Catherine Banner

Die langen Tage von Castellamare

Ein Familienroman

Aus dem Englischen

von Marion Balkenhol

Ullstein

Die Originalausgabe erschien 2016unter dem Titel The House at the Edge of Nightbei Hutchinson, London

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ISBN 978-3-8437-1376-4

© 2016 by Catherine Banner© der deutschsprachigen Ausgabe2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: © Getty Images/Sarah Kriner; Getty Images/Leren Lu

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für Daniele

»Aber Inseln können nur dann existieren,wenn wir auf ihnen geliebt haben.«

Derek Walcott

I

Der Geschichtensammler1914 – 21

EINST WURDE DIE GANZE INSEL Castellamare vom Fluch der Klagen heimgesucht. Er kam aus den Höhlen am Meer, und da die Insulaner ihre Häuser aus dem Felsen gebaut hatten, der das flüssige Feuer des Vulkans gewesen war, erklangen diese Klagelaute schon bald in allen Wänden, sie hallten durch die Straßen, und selbst der Torbogen über dem Eingang zum Ort jammerte nachts wie eine verlassene Braut.

Die Insulaner litten unter diesem Fluch und lebten in Unfrieden. Väter vertrugen sich nicht mit Söhnen, Mütter wandten sich gegen Töchter, Nachbarn weigerten sich, miteinander zu sprechen. Kurzum, niemand fand seinen Frieden.

Das ging viele Jahre so, bis irgendwann im Herbst ein schweres Erdbeben kam. Die Insulaner wurden durch eine Erschütterung im Herzen der Insel geweckt, ein schreckliches Zittern. Das Erdbeben ließ das Kopfsteinpflaster auf den Straßen und das Geschirr in den Schränken klappern. Gebäude begannen zu wackeln wie Ricotta. Gegen Morgen hatte das Beben jedes Haus dem Erdboden gleichgemacht.

Während die gefallenen Steine klagten und jammerten, kamen die Insulaner zusammen, um zu entscheiden, was zu tun war.

Eine junge Bauerstochter namens Agata, der die Madonna erschienen war, sagte: »Die Steine der Insel sind voller Traurigkeit. Wir müssen aus den Ruinen ein neues Dorf erbauen. Wenn wir diese schwere Aufgabe bewältigt haben, wird der Fluch der Klagen vorbei sein.«

Also setzten die Insulaner Stein auf Stein und bauten den Ort neu auf.

Aus einer alten Erzählung über die Insel, in der Version, die mir zuerst von Pina Vella erzählt wurde, aufgezeichnet beim Fest der heiligen Agata 1914.

I

Ein kratzendes Geräusch an den Fensterläden weckte ihn auf. Also musste er geschlafen haben. »Das Baby kommt«, rief jemand. »Signor il Dottore.«

In seiner Verwirrung glaubte er, Pinas Baby sei gemeint, das Kind seiner Frau. Er war schon aufgesprungen und, mit Bettlaken umwickelt, am Fenster, bevor ihm einfiel, dass Pina neben ihm schlief. Das Gesicht am Fenster gehörte dem Bauern Rizzu und schwebte wie ein Mond im Dunkeln. »Wessen Kind kommt?«, fragte der Arzt.

»Das von Signor il Conte. Wessen sonst?«

Also ging er, um Pina nicht zu wecken, an die Tür. Das Mondlicht im Hof ließ alles in eigenartiger Klarheit erscheinen. Selbst Rizzu war verändert. Der Bauer, der sein sonntägliches Wams und eine Krawatte angelegt hatte, wirkte so steif, als wäre er darin festgenagelt. »Das ist ein Missverständnis«, sagte der Arzt. »Ich habe keine Anweisungen, das Kind des Conte auf die Welt zu holen.«

»Aber Signor il Conte höchstpersönlich hat mir befohlen, Sie zu ihm zu bringen.«

»Mir wurde nicht aufgetragen, die Contessa während ihrer Wehen zu begleiten. Die Hebamme hat sie in der Schwangerschaft betreut. D’Isantu hat bestimmt gemeint, dass Sie stattdessen sie holen sollten.«

»Nein, nein, die Hebamme ist schon dort. Der Conte will Sie auch dabeihaben. Dringend, hat er gesagt.« Rizzu plusterte sich unter der Wichtigkeit seiner Botschaft auf. »Kommen Sie jetzt? Sofort?«

»Meine Frau kommt auch sehr bald nieder. Ich möchte mich nicht weit vom Haus entfernen.«

Aber Rizzu beharrte: »Das Kind der Contessa kommt in diesem Augenblick, gerade jetzt. Ich glaube, da führt kein Weg dran vorbei, Dottore.«

»Und die Hebamme schafft es nicht alleine?«

»Nein, Dottore. Die Geburt ist … kompliziert. Die brauchen Sie, weil das Baby nicht ohne Ihr Silberzangenzeug rauskommen will.« Rizzu spitzte die Lippen, als er solche Sachen direkt ansprechen musste. Er war bei der Geburt seiner Kinder nicht zugegen gewesen und hatte sich lieber vorgestellt, sie wären der Erde entsprungen wie Adam und Eva. »Kommen Sie jetzt?«, fragte er.

Der Arzt fluchte im Stillen, aber ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als hinzugehen. »Ich hole Hut und Mantel«, sagte er. »Wir treffen uns in fünf Minuten auf der Straße. Haben Sie Ihren Eselskarren dabei, oder müssen wir zu Fuß gehen?«

»Nein, Dottore, ich habe den Karren mitgebracht.«

Er zog sich im Dunkeln an. Seine Uhr zeigte Viertel vor zwei. Er packte seine Instrumente ein: Zange, Stahlschere, ein Satz Spritzen – das alles hatte er für die bevorstehende Niederkunft seiner eigenen Frau vorbereitet – sowie Morphium und Magnesiumsulfat für den Notfall. Anschließend weckte er Pina. »Wie oft wecken dich die Schmerzen, ­amore?«, fragte er. »Bei der Frau des Conte haben frühzeitig die Wehen eingesetzt, verflucht soll sie sein, und man hat mich gerufen, um ihr beizustehen.«

Pina war ungehalten über die Störung. »Sie kommen noch nicht oft … nur alle halbe Stunde … lass mich schlafen …«

So Gott wollte, würde er es schaffen, das Kind der Contessa auf die Welt zu holen und rechtzeitig zur Niederkunft seiner Frau zurück zu sein. Bevor er ging, lief er über die Piazza und weckte die alte Gesusina, die auf der Insel Hebamme gewesen war, bis sie allmählich ihr Augenlicht verlor. »Signora Gesusina, mi dispiace«, sagte er. »Würden Sie bei Pina bleiben? Ich bin zu einer anderen Patientin gerufen worden, und bei Pina haben die Wehen eingesetzt.«

»Wer ist die andere Patientin?«, wollte Gesusina wissen. »Bei der heiligen Agata, liegt denn eine andere arme Seele auf dieser gottverdammten Insel im Sterben, dass Sie Pina gerade jetzt allein lassen müssen?«

»Bei der Frau des Conte haben frühzeitig die Wehen eingesetzt, und es gibt Komplikationen; ich soll die Zange mitbringen.«

»Die Frau des Conte, wie? Und man hat Sie hinzugerufen?«

»Ja, Signora.«

»Nach allem, was mir zu Ohren gekommen ist, haben Sie allen Grund, das Kind der Signora la Contessa nicht auf die Welt zu holen.« Die alte Frau versank in tiefgründiges Schweigen.

»Was haben Sie gehört, Signora Gesusina?« Der Arzt konnte seinen Ärger kaum unterdrücken.

»Gerüchte«, erwiderte Gesusina.

»Wie dem auch sei, würden Sie sich zu Pina setzen?«

Gesusina fasste sich wieder. »Ja, bei der heiligen Agata, natürlich. Wo sind Sie, mein Junge? Geben Sie mir Halt, damit ich auf diesen beschwerlichen Steinen nicht stolpere.«

Die Frau war wirklich fast blind. Gesusina folgte ihm über den Platz, wobei sie sich am Saum seines Mantels festhielt, und ließ sich auf einem Stuhl in der Ecke von Pinas Schlafzimmer nieder. Er hoffte nur, dass der Anblick der alten Gestalt Pina nicht erschrecken würde, wenn sie aufwachte.

Es war schon nach zwei. Er küsste Pina auf die Stirn und ging.

Noch immer fluchend, machte er sich auf die Suche nach Rizzu und dessen Eselskarren. Der verdammte d’Isantu und seine Frau. Sie hatten während der Schwangerschaft die Dienste der Hebamme bevorzugt und seine Hilfe verschmäht. Warum jetzt die Hast und Eile, ihn in die Villa zu rufen, um zwei Uhr nachts? Wahrscheinlich bestand die Komplikation lediglich darin, dass sich die Nabelschnur verdreht hatte oder die Wehen besonders schmerzhaft waren, und eine Geburtszange war überhaupt nicht vonnöten. Dennoch musste seine Frau allein bleiben, während er auf den Befehl des Conte hin über die Insel fuhr.

Rizzu wartete, den Hut in den Händen, als wäre er in der Kirche. Sie stiegen auf seinen Eselskarren, ein phantasievolles, grün-gelbes Gefährt. Die Seitenwände erzählten die Geschichten von berühmten Schlachten, Schiffswracks und Wundern, die auf der Insel geschehen waren. Der Wagen war nicht für schnelle Fahrten angelegt. Schweigend, nur von der Brandung des dunklen Meeres begleitet, fuhren sie durch die schlafenden Straßen. Der Mondschein glänzte auf den Palmenblättern und erleuchtete den staubigen Rücken des Esels. »Auf der ganzen Insel zwei Kinder kurz vor der Geburt«, grummelte der Arzt. »Das meiner Frau und das der Contessa, und beide zur gleichen Zeit. Wer will da schon medico condotto sein?«

»Ah«, sagte Rizzu, der seine Meinung über die Nöte von Landärzten nicht unbedingt zum Ausdruck bringen wollte. »Es ist immerhin ein doppelter Segen, Dottore, oder nicht? Zwei Neugeborene in derselben Nacht, das hat es auf dieser Insel noch nie gegeben.«

»Eine doppelte Unannehmlichkeit.«

Um zwanzig nach zwei erreichten sie das Tor des Conte. Der Arzt nahm seinen Mantel, seinen Hut, seine Tasche und das Stethoskop und machte sich im Laufschritt auf den Weg über die Auffahrt, um seine Aufgabe so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

Der Conte stand vor dem Schlafzimmer seiner Gattin im modernen Teil des Hauses Wache. Der angespannte Glanz in seinem Gesicht verlieh ihm ein verschwitztes, reptilienhaftes Aussehen. »Sie sind spät dran«, sagte er. »Ich habe vor fast einer Stunde nach Ihnen geschickt.«

»Ich hatte überhaupt keine Anweisung, diese Geburt zu begleiten.« Verärgert, wie er war, nahm der Arzt kein Blatt vor den Mund. »Meine Frau liegt in den ersten Wehen, sie hat schon seit Tagen immer wieder Schmerzen. Es kommt mir verdammt ungelegen, sie jetzt allein lassen zu müssen. Und ich dachte, die Contessa habe nur die Hebamme bei sich haben wollen.«

»Das ist richtig. Ich habe nach Ihnen geschickt. Carmela ist hier drinnen, sehen Sie am besten selbst nach ihr.«

Der Conte trat beiseite, um den Arzt an seinem massigen Körper vorbei in das Zimmer der Contessa zu lassen. Im Schein der neu installierten elektrischen Lampen sah alles bleich aus. Die Hebamme ging nach althergebrachter Methode vor – atmen, pressen, atmen, pressen. Doch Carmela atmete nicht, presste nicht, und ihm wurde klar, dass es nicht nur um eine verdrehte Nabelschnur oder um besonders schwere Schmerzen ging. Wenn eine Patientin in diesem Stadium nicht presste, war das ein schlechtes Zeichen. Er hatte nur selten Angst bei seiner Arbeit, doch nun spürte er sie wie einen kalten Strom über seine Schulterblätter rinnen.

»Da sind Sie ja endlich!«, schnaubte die Hebamme verächtlich.

Am Fußende des Bettes zitterte eine kleine Magd – wie hieß sie noch? Pierangela –, die er einmal wegen entzündeter Fußballen behandelt hatte. »Hol mir etwas, worin ich mir die Hände waschen kann«, sagte er. »Wie lange dauert dieser Zustand der Patientin schon an?«

»O mein Gott, Stunden, Signor il Dottore!«, weinte Pier­angela und brachte ihm Seife und warmes Wasser.

»Seit einer Stunde hat sie Krämpfe«, stellte die Hebamme richtig, »und dann diese Erschöpfungsanfälle, bei denen sie anscheinend nichts und niemanden sieht.«

»Wann haben die Wehen eingesetzt?«, fragte der Arzt.

»Gestern Morgen in der Früh wurde ich gerufen. Um sieben Uhr.«

Sieben Uhr. Seit neunzehn Stunden bemühten sie sich also nun schon. »Und die Schwangerschaft verlief problemlos?«

»Überhaupt nicht.« Die Hebamme drückte ihm einen Stapel Papiere in die Hand. Als wäre es in diesem Augenblick eine Hilfe, ihre Patientenakte zu lesen! »Die Contessa war den ganzen letzten Monat bettlägerig, da sie geschwollene Hände und starke Kopfschmerzen hatte. Ich dachte, das wüssten Sie.«

»Geschwollene Hände!«, sagte der Arzt. »Kopfschmerzen! Warum hat man mich nicht hinzugezogen?«

»Die Contessa wollte nicht«, erwiderte die Hebamme.

»Aber Sie – Sie hätten mich doch rufen können.«

»Signor il Contes Arzt vom Festland hat sie letzte Woche gesehen. Er sagte, es sei nichts. Was sollte ich machen?«

»Sie sollte im Krankenhaus in Syrakus entbinden, nicht hier!«, fuhr der Arzt die Hebamme und die verschreckte Pierangela an. »Für einen Kaiserschnitt habe ich nicht die nötigen Instrumente! Ich habe nicht einmal genügend Morphium!«

»Sie wollte Sie nicht sehen«, sagte die Hebamme. »Ich habe Schwangerschaftstoxikose vermutet, Dottore, aber auf mich hört ja keiner.«

Diese Fügsamkeit ins Unvermeidliche machte ihn rasend. »Sie hätten darum kämpfen müssen, sie ins Krankenhaus zu schaffen«, sagte er. »Sie hätten darauf bestehen müssen!«

Pierangela begann zu beten. »Heiliger Jesus und Maria, Mutter Gottes, Sant’Agata, Heilige für alle Unglücklichen und all die Heiligen …«

Da er wusste, was zu tun war, wurden seine Hände ruhig. Das war immer so, früher oder später. »Schafft alle hier raus«, sagte er. »Holt kochendes Wasser und saubere Laken. Alles muss sauber sein.«

Das Wasser wurde gebracht, die Laken unter Carmelas schlaffem Körper entfernt. Der Arzt sterilisierte eine Spritze, zog sie mit Magnesiumsulfat auf und injizierte es ihr in einen Arm. Die Arbeit führte ihn von einer Aufgabe zur nächsten, als wäre es ein Ritual, das Angelusgebet zum Mittag oder der Rosenkranz. Er legte Morphium, Stahlschere, Zange bereit. »Suchen Sie Nadel und Faden«, trug er der Hebamme auf. »Bereiten Sie Tupfer und Jod vor. Das finden Sie alles in meiner Tasche.«

In einem klaren Augenblick meldete sich Carmela zu Wort. »Ich wollte nur die Hebamme. Dich nicht.«

Ohne sie direkt anzusprechen, sagte der Arzt: »Das geht jetzt nicht mehr. Wir müssen das Kind so schnell wie möglich holen.«

Er bereitete eine Morphiumspritze vor und stach noch einmal in den schlanken Arm. Während Carmela unter der Wirkung des Morphiums schlaff wurde, nahm er die Schere zur Hand und plante seinen Schnitt, den er zunächst in der Luft ausführte. Ein sauberer Schnitt von einem Zoll Länge. Die Laken – wo waren die Laken? »Holt mehr Laken«, befahl er. »Auf der Stelle.«

Pierangela stolperte verwirrt herum. »Alles muss sauber sein!«, tobte der Arzt, der sein Handwerk in Schmutz und Eis der Schützengräben in Trient erlernt hatte. »Alles. Wenn die Anfälle sie nicht umbringen, dann erledigt es die Sepsis.«

Carmela, die erneut bei Sinnen war, begegnete seinem Blick. Ihre Augen waren gezeichnet von Angst, so wie er es bei Hunderten betäubter Soldaten im Krieg gesehen hatte, wenn sie aufwachten. Er legte seine Hand auf ihre Schulter. Unter seiner Berührung änderte sich etwas in ihr, wie er es vorausgesehen hatte. Sie hob den Kopf. »Das ist dein Werk«, sagte sie, als wollte sie eine Verwünschung ausstoßen.

»Verabreichen Sie ihr noch mehr Morphium«, forderte er die Hebamme auf.

»Das ist dein Werk«, wiederholte Carmela. »Das Kind ist von dir. Alle außer dir glauben es. Warum siehst du mich nicht an, Amedeo?«

Er setzte die Spritze, ohne Carmela anzuschauen, doch er spürte, wie der Raum unter der Macht der Anschuldigung enger wurde. Sobald Carmela wieder in Bewusstlosigkeit versank, kniete er nieder und setzte einen Schnitt, griff hinein nach dem Kind und drehte es um neunzig Grad. Dann zog er es mit Hilfe der Zange in einer geschmeidigen Bewegung heraus.

Ein Junge – er atmete bereits. Amedeo durchtrennte die Nabelschnur und legte ihn der Hebamme in den Arm. »Sie ist erst über den Berg, wenn die Plazenta da ist«, sagte er. Dann kam die ganze Fruchtblase in einem Rutsch heraus, und alles war in einer wilden Mischung aus Blut und Weinen vorüber.

Carmela erholte sich innerhalb weniger Minuten, was er gewusst hatte. Sie richtete sich auf den feuchten Laken auf und verlangte nach ihrem Kind. Erleichterung und die Last, sie zu verbergen, verursachten ihm Übelkeit. Er trat ans Fenster und schaute die Allee entlang, die von der Haustür des Conte zur Straße führte. Er sah die grünen Lichtkreise, die sich von den Lampen zwischen den Bäumen auf dem Boden abzeichneten. Der Ausblick dahinter war melancholisch, nur die leeren Hügel und das schwarze, endlose Meer. Alles hatte sich verändert, seitdem er es zuletzt betrachtet hatte. Das Zimmer war anders. Carmela war anders, er hätte sie nicht wiedererkannt.

Als er sich gefasst hatte, wandte er sich wieder seinen Patienten zu. Er untersuchte Carmelas Herzschlag und den des Säuglings. Er nähte den Schnitt und betupfte alles mit Jod. Er beaufsichtigte das Verbrennen der Plazenta, der blutigen Laken, der Tupfer und Verbände. Erst dann gestattete er sich, Carmela richtig anzusehen. In die Betrachtung des Kindes vertieft, nahm sie ihn gar nicht wahr. Eigenartig, dass der Körper, den die Wehen derart heimgesucht hatten, den er gespritzt und geschnitten und auf dem Bett gerade noch unsanft behandelt hatte, so unversehrt und jung gewesen war, als er ihr das letzte Mal begegnet war. Das ist dein Werk waren ihre Worte gewesen. Das Kind ist von dir. Er erlaubte sich einen kurzen Blick auf das Kind. Ein kräftiger Junge mit schwarzem Haarschopf. Nun, so ein Säugling konnte jedem gehören. Während er ihn betrachtete, schien er die Züge des Conte anzunehmen, seinen feisten Hals und die hervortretenden Augen.

Wie auch immer, sie hatte ihn beschuldigt, und das war entscheidend.

Tiefe Erschöpfung überkam ihn, nachdem er seine Arbeit erledigt hatte. D’Isantu kam an die Tür, und Carmela wurde hastig abgewischt und zugedeckt. Dem Arzt fiel es zu, die Geburt zu verkünden. Er machte es prahlerischer, als ihm zumute war, spielte seine Rolle und trug die erwarteten Phrasen vor: »Ein schönes Kind … ein strammer Junge … ein Fall von Schwangerschaftsvergiftung … Hoffnung auf rasche Erholung.«

D’Isantu nahm den Säugling in Augenschein, inspizierte seine Frau und gab dann dem Arzt mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er entlassen war.

Da er nun unerwünscht war, säuberte Amedeo seine Instrumente, packte sie ein und machte sich auf den Weg durch die düsteren Gänge der Villa hinaus ins Licht. Die Sonne ging mit stiller, typisch mediterraner Helligkeit auf. Es war kurz nach sechs.

Eine Gestalt rannte zwischen den Palmenstämmen hervor. Rizzu. »Signor il Dottore«, jubelte der alte Mann lauthals, »Sie haben einen Jungen!«

Er war so erschöpft, dass er zunächst gar nichts begriff. »Ein kleiner Junge!«, rief Rizzu erneut. »Ihre Frau, Signora Pina, hat einen Jungen zur Welt gebracht!«

Cazzo! Er hatte Pina vergessen. Er lief auf Rizzu zu. »Es ging sehr schnell«, sagte Rizzu, seine sittsame Zurückhaltung vergessend. »Eine Stunde, und Gesusina sagte, sie hätte das Kind mit geschlossenen Augen auf die Welt holen können!« Der alte Mann überlegte. »Was ja wohl auf dasselbe hinausläuft. Ha! Gelobt sei Gott der Herr und Sant’Agata, gelobt seien alle Heiligen …«

Statt auf den langsamen Eselskarren zu steigen, rannte der Arzt durch die zum Leben erwachenden Straßen. Die Zikaden hatten angefangen zu singen. Licht drang in die Gassen und auf die Plätze. Die Weiden vor den Häusern schwankten im Wind und raschelten ungeduldig. Im Laufen spürte er Licht, das von überall her zusammenströmte, die ganze Welt schien damit aufgeladen.

Pinas Schlafzimmer roch nach Blut und Anstrengung. Gesusina döste, aufrecht auf einem Stuhl am Fußende des Bettes. Auch der Säugling schlief, an die Brust seiner Mutter geschmiegt. »Verzeih, amore«, sagte er.

»Es war einfacher, als ich dachte«, erwiderte Pina mit ihrem üblichen Sinn fürs Praktische. »Die ganze Angst, und dann war es in einer Stunde vorüber! Gesusina und ich haben es ganz gut ohne dich geschafft.«

Er wischte den Rest der Nachgeburt ab. Das Kind war ein kleines, sich streckendes, quengelndes Geschöpf, fremd wie ein neugeborenes Kätzchen. Er hob den federleichten Jungen auf seine Arme, untersuchte Beine und Arme, drückte auf die Fußsohlen, spreizte die Finger und hörte – mit einem Anflug von Stolz – durch sein Stethoskop die flatternden Herzschläge. In seiner überwältigenden Freude verfiel er in einen zärtlichen, beinahe poetischen Tonfall. Oh, es war anders, ein Vater zu sein als nur ein Liebhaber, das wurde ihm in diesem Augenblick klar! Warum hatte er so lange gezögert, ein Kind zu zeugen? Nun begriff er, dass kein anderer Teil seines Lebens von Bedeutung war; alles war nur der Anlauf zu dieser Stunde gewesen.

Doch es gab das Problem mit dem anderen Kind. Bis zum Nachmittag würden jede Menge Gerüchte ihren Weg bis in den letzten Winkel der Insel finden, dank der Hexe Carmela: Ein Wunder, Zwillinge, von verschiedenen Müttern geboren, kamen auf die Welt, als hätten sie sich abgesprochen. Er wusste, wie man sich das Maul zerreißen würde.

Pina lag matt da. Er untersuchte sie gründlich, bedeckte sie mit Küssen, mehr, als er wahrscheinlich ausgeteilt hätte, wäre er nicht von Schuldgefühlen getrieben. Er wusste, dass ein Sturm bevorstand: Die Hebamme und Pierangela hatten Carmelas Anschuldigungen mitbekommen. Dieses Gerücht würde ausreichen, um sich Pina zur Feindin zu machen, seine Nachbarn, um ihn vielleicht sogar von der Insel zu vertreiben. Doch in diesem Augenblick ließ er einzig und allein das strahlende Leuchten in sich zu.

II

Seine eigene Geburt lag im Dunkeln, war weder gefeiert noch dokumentiert worden.

In Florenz oberhalb des Arno gibt es eine schwach beleuchtete Piazza mit marineblauen Schatten. Auf einer Seite dieses Platzes steht ein Gebäude mit einem Säulengang, und in die Mauer dieses Gebäudes ist ein Fenster mit sechs Eisenstäben eingelassen, drei waagerechten und drei senkrechten. Die Stäbe sind dunkel vor Rost; in Winternächten nehmen sie die Kälte der Luft an, ihre Feuchtigkeit, ihren Nebel. Hinter diesem Fenster stand damals eine Steinsäule, oben auf der Säule lag ein Polster.

Hier begann das dokumentierte Leben des Arztes, in einer Nacht im Januar, als er ohne Umstände durch die Eisenstäbe geschoben wurde. Eine Klingel läutete. Ungeschützt und allein, wie er war, begann er zu weinen.

Aus dem Hausinnern näherten sich Schritte. Hände hoben ihn hoch. Er wurde an eine gestärkte Brust gedrückt und ins Licht getragen.

Als die Schwestern des Findelhauses ihn auswickelten, stellten sie fest, dass sein Körper noch zart war: ein Neugeborener, trotz seiner Größe. Um seinen Hals hing an einem roten Band das halb durchgebrochene Medaillon eines Heiligen. »Das könnte der heilige Christophorus sein«, sagte eine Schwester. »Seht doch nur, zwei Beine und drei wellenförmige Linien, wie Wasser. Oder irgendein Heiliger aus dem Süden.«

Der Säugling schien gesund zu sein. Sie gaben ihn die Nacht über zu einer Amme.

Zunächst schaffte er es nicht zu saugen, aber die Amme, Rita Fiducci, eine unerschrockene Frau, drückte ihm immer wieder ihre Brustwarze in den Mund, bis er in großen, schmatzenden Zügen trank. Gesättigt schlief er ein. Rita wiegte ihn und sang ihm etwas vor, ein wenig vorwurfsvoll: »Ambara-bà, cic-cì, coc-cò!« Ein Lied für ein älteres Kind, aber dieser Kleine erschien Rita viel zu kräftig für normale Wiegenlieder. Dieses Lied sollte Amedeo sein Leben lang immer wieder einfallen.

Bevor der Direktor Feierabend machte, schaute er sich den Neuankömmling an. Fünf Säuglinge an einem Abend! Es wuchs sich zu einer Epidemie aus. Ein Drittel aller Kinder, die gerade in Florenz das Licht der Welt erblickten, wurden zum Fenster des Findelhauses hineingeschoben, um verschnürt, mit einem Namen versehen, gefüttert und von ihren Krankheiten geheilt in die Welt hinaus entlassen zu werden, die sie im Stich gelassen hatte. Der Direktor schlug eine neue Seite in dem großen gelben Buch mit dem Titel Baglie e Bambini auf und notierte den Zeitpunkt der Abgabe des Kindes; die Amme, die ihm zugeteilt worden war; eine Beschreibung der Decke, in der er gefunden worden war (»blau, ein wenig blutig«) und des Medaillons (»vermutlich der heilige Christophorus«). Auch die ungewöhnliche Größe des Kindes, fünf Kilo schwer, das größte, das je im Krankenhaus gesehen wurde.

Der Direktor nahm das Zinnmedaillon und wickelte es in ein quadratisches Stück Papier. Er legte es in der Schachtel mit der Beschriftung »Januar 1875« ab. Sie war bereits vollgestopft mit anderen Gegenständen in Umschlägen: eine Parfümflasche an einer Silberkette; die Papiersilhouette einer Dame, in der Mitte durchgeschnitten; halbierte und geviertelte Zinnanhänger, wie Zettel in der Gepäckaufbewahrung. Mindestens jedes zweite Kind hatte etwas bei sich.

Er überlegte einen Augenblick und gab dem Säugling dann den Namen Buonarolo. Bei der Flut von Kindern, zweitausend waren allein im letzten Jahr abgegeben worden, waren der Direktor, die Oberschwester und das Personal dazu übergegangen, jeweils nur einen oder zwei Buchstaben zu verändern, um jedem Kind einen Familiennamen zu geben. So waren die fünf an diesem Abend zu Buonareale, Buonarealo, Buonarala, Buonarola, Buonarolo geworden. Und Amedeo als Vorname würde gut zu diesem großen Kind passen, ein solider, gottesfürchtiger Name. Der Direktor fügte ihn hinzu und schloss das Buch.

Der Kleine wurde wieder wach und nuckelte an Ritas Brustwarze, diesmal zielstrebig. In ihm wuchs bereits der große Ehrgeiz seines Lebens: zu überleben, aufzuwachsen und ein Zuhause und eine Familie zu finden.

Er war nicht nur der größte Säugling, den das Findelhaus je aufgenommen hatte, sondern wuchs auch doppelt so schnell wie die Kinder Buonareale, Buonarealo, Buonarala und Buonarola. Zwei Ammen waren nötig, um ihn zu füttern, und eigens für ihn musste ein Kinderbett angefertigt und zwischen die Betten der anderen gestellt werden, nicht die übliche weiße Wiege, denn Amedeo quengelte, wenn man ihn in die Wiege legte, da er bereits an die Seiten stieß. Er wuchs in großen Schüben heran: »Ein unansehnliches Ding« nannte ihn seine zweite Amme Franca (»ein gesegneter Engel«, sagte Rita). Rita setzte ihn auf ihre Knie und sang »Ambara-bà cic-cì, coc-cò«, weshalb er manchmal vergaß, dass sie nicht seine leibliche Mutter war.

Als er ein wenig älter war, sagte ihm Rita aus einem abgenutzten Satz Tarotkarten die Zukunft voraus. Der Direktor erwischte sie dabei und untersagte es ihr. Amedeo wusste später nichts mehr von der Wahrsagung, aber er erinnerte sich an die Karten und mochte die dazugehörigen Geschichten: der Eremit, die Liebenden, der Gehängte, der Teufel, der Turm. Er bat um andere. Statt der Kartengeschichten erzählte Rita ihm eine Geschichte von einem Mädchen, das sich in einen Baum, einen Apfel, einen Vogel verwandelte. Sie erzählte ihm von einem schlauen Fuchs. Danach sehnte er sich nach einem kleinen Fuchs, der neben ihm auf dem Steinboden des Schlafsaals schlafen sollte. Sein Hunger nach Geschichten wurde überwältigend. Franca erzählte ihm zwei: Die erste handelte von einem Teufel namens Silbernase, die zweite von einem Zauberer namens Leib-ohne-Seele. Nach diesen Geschichten musste sich Amedeo unbequem in Ritas Nachttisch verstecken, falls der Teufel und der Zauberer ihn holen wollten, aber dennoch gefielen ihm die Geschichten.

Einige Jahre später ging Rita fort, und niemand verlor mehr ein Wort über sie. Eine Zeitlang wurde er aufs Land geschickt in ein kleines Haus mit Lehmboden, in dem er eine neue Pflegemutter und einen neuen Pflegevater hatte. Wenn man auf dem Latrinensitz stand und durch das Fenster spähte, sah man den nebligen Talkessel, in dem seine Geburtsstadt Florenz lag, und die glänzende Schlange, den Arno.

Es sei zu teuer, ihn zu ernähren, behauptete seine Pflegemutter, und der Junge wachse zu schnell aus seinen Sachen heraus. Man schickte ihn zurück.

Als er sechs war, gab es außer Amedeo nur noch Mädchen im Findelhaus. Das Fenster, durch das man ihn geschoben hatte, war inzwischen geschlossen. Säuglinge mussten in einem Korb in ein Büro gebracht werden, denn das verstand seine Amme Franca unter »zivilisiert«. Sonst, sagte sie, ließen schlechte Menschen ihre kleinen Kinder aus Bequemlichkeit im Stich. Amedeo fragte sich, als er größer wurde, ob man ihn wohl auch aus Bequemlichkeit abgegeben hatte (er verstand darunter »durch Zufall«). Sein Lieblingsplatz wurden die Stufen unterhalb des geschlossenen Fensters, für den Fall, dass seine Mutter jemals zurückkommen sollte, um ihn zu suchen.

An einem Nachmittag im Mai traf der Arzt, der auf dem Weg war, die Säuglinge zu untersuchen, Amedeo dort an. Er hatte immer ein besonderes Augenmerk auf Amedeo gehabt. Aufgrund seiner ungewöhnlichen Größe hatte der Junge Schmerzen in den Beinen, war anfällig für alle möglichen Unfälle und daher häufiger Patient des Arztes, als es diesem recht war.

»Nun, mein kleiner Mann«, sagte der Arzt (der Schwierigkeiten hatte, die Kinder vernünftig anzusprechen, sobald sie älter als neun Monate waren), »keine Verletzungen in den letzten Wochen, wie? Das nenne ich Fortschritt. Aber was soll aus dir werden?«

Amedeo war an diesem besonderen Nachmittag von einer unbestimmten Melancholie befallen, die sich nun auf etwas konzentrieren konnte. Er nahm die Frage ernster, als der Arzt sie gemeint hatte, und begann zu weinen.

Der behandelnde Arzt war betroffen, ob er wollte oder nicht. Er kramte in seinen Taschen und bot dem Jungen in rascher Folge eine Veilchenpastille, eine Lire-Münze, eine benutzte Theaterkarte und ein Taschentuch mit den Buchstaben A. E. an (Letzteres nahm Amedeo unter Tränen an). »Na, na«, sagte der Arzt. »Das sind zwar nicht genau deine Initialen, aber es muss reichen. Der erste Buchstabe stimmt – ein A für Amedeo, siehst du, weil mein Vorname Alfredo ist –, aber der zweite nicht. Kannst du schon lesen? Ich glaube nicht. Mein Familienname ist Esposito. Ein guter Name für ein Findelkind wie dich, denn es bedeutet aufgegeben. Natürlich dürfte man diesen Namen heutzutage keinem Findelkind geben aus Angst vor Vorurteilen.«

»Warst du auch ein Findelkind?«, fragte Amedeo und hörte einen Augenblick auf zu weinen.

»Nein«, erwiderte der Arzt. »Aber es kann sein, dass mein Urgroßvater ein Findelkind war, wir haben nämlich keine Unterlagen über ihn.«

Wieder weinte der Junge, als wäre er persönlich beleidigt, weil der Arzt kein Findelkind war. »Nimm eine Veilchenpastille«, drängte der Arzt ihn.

»Die mag ich nicht«, sagte Amedeo, der sie noch nie probiert hatte.

»Was magst du denn?«, fragte der Arzt.

»Geschichten«, antwortete der Junge schluchzend.

Der Arzt kramte in seinem Gedächtnis und brachte eine Geschichte zum Vorschein, an die er sich vage erinnerte. Seine Kinderfrau hatte sie ihm erzählt. Sie handelte von einem Papagei. Dieser Vogel wollte eine junge Frau davon abhalten, ihren Mann zu betrügen, und das gelang ihm mit Hilfe einer phantasievollen, immer weiter in die Länge gezogenen Erzählung. Der Papagei flog zum Fenster der jungen Frau herein und gab seine Geschichte zum Besten, die sie derart fesselte, dass Tage und Nächte dabei vergingen. Ihr Mann kam zurück, und alles war gut. Oder so ähnlich.

Amedeo richtete sich auf, wischte sich über die Augen und sagte: »Erzähl mir die Geschichte richtig.«

Der Arzt konnte sich nicht mehr daran erinnern. Aber in der darauffolgenden Woche brachte er Amedeo eine Abschrift mit, festgehalten in einer Kladde aus rotem Leder von seiner Haushälterin Serena, die sie besser im Gedächtnis hatte als er, zumindest in der besonderen Version, wie sie in der Familie ihrer Großmutter wiedergegeben wurde. Warum er sich die Mühe gemacht hatte, die Geschichte für den Jungen zu bekommen, konnte er nicht einmal genau sagen. Die Kladde hatte eine goldene Lilie auf dem Einband. Es war der einzige wirklich schöne Gegenstand, den Amedeo je in Händen gehalten hatte. Als der Arzt sah, wie sehr der Junge sich freute, schenkte er sie ihm, einer spontanen Eingebung folgend. »Hier«, sagte er zufrieden. »Du kannst weitere Geschichten hinzufügen oder Lesen und Schreiben üben.«

Danach gewöhnte sich Amedeo an, allen eine Geschichte zu entlocken – Kinderfrauen, Nonnen, den Priestern der Santissima Annunziata, die am Findelhaus vorbeikamen, Wohltätern, die einen Besuch abstatteten –, und wenn sie ihm gefiel, trug er sie in sein Buch ein.

Als man ihn mit dreizehn Jahren fragte, welches Handwerk er erlernen wolle, äußerte er den Wunsch, Arzt zu werden. Man gab ihn zu einem Uhrmacher. Dieser brachte ihn nach drei Tagen zurück: Die großen Finger des Jungen waren zu ungeschickt für die kleinen Mechanismen. Amedeo wurde zu einem Bäcker geschickt, der jedoch ständig über den riesigen Lehrling stolperte, und nachdem er den Jungen ein paar Monate ertragen hatte, verstauchte er sich das Fußgelenk und wollte den Jungen nicht mehr bei sich haben. Amedeo verbrachte weitere Monate bei einem Drucker. Das gefiel ihm, doch er kam wieder ins Findelhaus zurück, weil er die unselige Angewohnheit hatte, seine Arbeit zehnmal am Tag zu unterbrechen, um die Geschichten zu lesen, was den Drucker um Kunden und Einnahmen brachte.

Der Junge hatte weder Beruf noch Berufung. Man schickte ihn wieder in die Schule, obwohl er eigentlich zu alt war. Dort zeichnete er sich schließlich aus, schloss jedes Jahr als Klassenbester unter den kleinen Söhnen von Beamten und Ladenbesitzern ab, um Ansehen bemüht. Noch immer bestand er auf seinem Wunsch, Arzt zu werden. Nie zuvor hatte ein Kind aus dem Findelhaus Medizin studiert, und der Direktor bat den zuständigen Arzt, Doktor Esposito, um Rat. »Wäre das möglich?«, fragte er.

»Ja, durchaus«, erwiderte Esposito, »wenn jemand dafür aufkommt und ein anderer Verantwortung für seine Anleitung und Ausbildung übernimmt. Und wenn er seine Unbeholfenheit überwindet. Ich wage zu behaupten, dass es möglich ist, wenn der Junge sich darauf konzentriert.«

Auf Druck des Direktors hin bot ein Wohltäter an, einen Teil von Amedeos Medizinstudium zu finanzieren, ein anderer besorgte ihm Bücher und Kleidung. Zwei weitere Jahre wurden mit Militärdienst vertan, doch als Amedeo zurückkehrte, fügte sich Doktor Esposito in das Unvermeidliche (er hatte den unbeholfenen Jungen, seinen besten Patienten, im Lauf der Jahre wirklich ins Herz geschlossen) und war damit einverstanden, dass Amedeo zu ihm zog. Der Junge würde in der kleinen Abstellkammer auf der Rückseite des Hauses wohnen und seine Mahlzeiten mit der Haushälterin in der Küche einnehmen, und der Arzt würde seine medizinische Ausbildung beaufsichtigen. Der Junge war fast einundzwanzig, und man konnte davon ausgehen, dass er ansonsten auf sich selbst aufpasste. Der Arzt sorgte dafür, dass Amedeo an Kursen in der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses Santa Maria Nuova teilnahm, und abends konnte er seinen Unterhalt als Glasspüler in einer Bar ­zwischen der Via dell’Oriuolo und Borgo degli Albizi verdienen.

Diese Regelung war ein Erfolg. Der Junge war entgegenkommend, beeilte sich, den Kamin anzuzünden oder den Stuhl für den Arzt zurechtzurücken, wenn er hereinkam, auf eine Weise, die der Arzt, ein ältlicher Junggeselle, anrührend kindlich fand. Amedeo war auch ein interessanter Gesprächspartner, da er täglich Zeitung las und sich systematisch durch die Bibliothek des Arztes arbeitete. Alles in allem war Esposito froh, den Jungen zu sich genommen zu haben. Manchmal lud er Amedeo ein, mit ihm in seinem dunklen Arbeitszimmer zu essen, in dem er seine Mahlzeiten am Schreibtisch einzunehmen pflegte, inmitten eines Durcheinanders aus wissenschaftlichen Zeitschriften. Der Arzt war Sammler, sein Arbeitszimmer vollgestopft mit Musterstücken: Schmetterlinge, aufgedunsene weiße Würmer in Gläsern, Korallenskulpturen, ausgestopfte Pazifikratten und andere Raritäten der Natur, die er in seinem langen, einsamen Leben als Letzter einer Dynastie von Wissenschaftlern angehäuft hatte. Besonders hatte es dem Jungen das medizinische Wachsmodell eines menschlichen Auges angetan, dessen Oberfläche abgeschält war, um das Netzwerk aus Adern darunter freizulegen. Es stand in der Diele auf dem Tisch neben den Schirmen. Über der Treppe baumelten an zwei Drähten die Barten aus einem Walmaul. Amedeo ließ sich von diesen Reliquien nicht beunruhigen, im Gegenteil, er schloss die Sammlungen ebenso ins Herz wie den alten Arzt. Im Stillen beschloss er, dass er eines Tages eine eigene Sammlung haben würde, einen Salon voller Seltenheiten, eine Bibliothek voller Bücher. Seine rote Kladde füllte sich bereits mit neuen Geschichten und sein Kopf mit den Sehnsüchten eines halb ausgebildeten Mannes.

Als er schließlich seinen Abschluss hatte (Amedeo machte die Erfahrung, dass alles doppelt so lange dauerte, wenn man ein Findelkind war), wurde er kein Chirurg im Krankenhaus wie sein Pflegevater, sondern ein medico condotto. Aus Respekt vor seinem Pflegevater nahm Amedeo den Namen Esposito an. Er fand keine feste Anstellung, übte seinen Beruf jedoch in Dörfern aus, in denen ältere Ärzte gestorben oder überlastete Ärzte krank geworden waren. Er hatte weder Pferd noch Fahrrad. Stattdessen legte er in den verregneten Morgenstunden und kühlen Nächten seinen Weg zwischen den Steinhäusern zu Fuß zurück. Am Hügel unterhalb von ­Fiesole und Bagno a Ripoli verband er die gebrochenen Fußgelenke und durchbohrten Schultern von Kleinbauern, half ihren Frauen bei der Geburt der Kinder. Er schickte Bewerbungen an jeden Ort in der Provinz, aber ohne Erfolg.

Unterdessen sammelte er Jahr für Jahr weitere Geschichten. Sein Beruf und sein Verhalten brachten die Menschen dazu, ihm Dinge anzuvertrauen. Die Bauern erzählten ihm von Töchtern, die auf See vermisst wurden, von getrennten Brüdern, die, als sie sich endlich wiederbegegneten, einander fälschlicherweise für Fremde hielten und sich gegenseitig erschlugen, von Schäfern, die auf beiden Augen blind waren und sich am Gesang der Vögel orientierten. Die traurigen Geschichten gefielen den Armen offenbar am besten. Und Geschichten faszinierten ihn.

Wenn er in der grauen Abenddämmerung in seine vorübergehende Unterkunft zurückkehrte, wo immer sie auch sein mochte, wusch er sich die Hände, schenkte sich Kaffee ein, öffnete die Fenster, um die beruhigenden Geräusche der Lebenden hereinzulassen, und trug die Geschichten stets feierlich in seine rote Kladde ein, ungeachtet dessen, ob seinem Patienten Leben oder Tod beschieden war. Auf diese Weise füllte sich sein Buch mit Tausenden anderen Leben.

Trotzdem blieb sein Leben leer und unausgefüllt, als hätte es nie richtig begonnen. Er war ein falkenartiger Mann mit Augenbrauen, die sich in einer geraden Linie über die Stirn zogen. Er war groß gewachsen, entschuldigte sich aber nie für seine Größe, wie es die meisten Männer von hohem Wuchs tun. Aufgrund seiner hohen Statur und seiner unklaren Abstammung war er überall fehl am Platz, ein Fremder. Wenn er zusah, wie die jungen Leute auf der Piazza del Duomo Fotos machten oder an kleinen krummbeinigen Tischen vor den Bars Schokolade tranken, hatte er das Gefühl, nie zu ihrer Welt gehört zu haben. Seine Jugend war vorüber, und er glaubte, bald die Lebensmitte erreicht zu haben. Er war ein einsamer Mann, trug düstere Kleidung, verhielt sich zurückhaltend und vertiefte sich abends in medizinische Zeitschriften. An Sonntagen saß er im Salon seines alten Pflegevaters und sprach mit ihm über die Zeitung, betrachtete das neueste Exemplar in seiner Sammlung oder spielte Karten. Während sich seine Hände bewegten, fielen ihm die Tarotgeschichten seiner Kindheit ein: der Gehängte, die Liebenden, der Turm.

Der alte Arzt war inzwischen im Ruhestand. Er besuchte noch immer das Findelhaus, das in den letzten Jahren modernisiert worden war. Die Kinder schliefen nun in besonders belüfteten Schlafsälen und spielten auf großen, eigens zu diesem Zweck angelegten Terrassen unter Leinentüchern, die zum Trocknen aufgehängt wurden.

Amedeo bewarb sich auch weiterhin um eine feste Stelle. Inzwischen schickte er Briefe überallhin, in Orte im Süden, deren Namen er noch nie gehört hatte, in comunes hoch in den Alpen, an unbedeutende Inseln, deren Bewohner ihre Antworten mit dem Boot über benachbarte comunes schickten, weil bei ihnen noch kein Postdienst eingerichtet war.

Schließlich sandte im Jahr 1914 ein Bürgermeister auf diesem Umweg einen Brief zurück. Er heiße Arcangelo, so schrieb er, sein Ort Castellamare. Falls Amedeo bereit sei, in den Süden zu reisen, dort gebe es eine Insel völlig ohne medizinische Versorgung, die womöglich eine Stelle für ihn hätte.

Die Insel war ein Krümel zwischen den Seiten im Atlas seines Pflegevaters, südöstlich von Sizilien gelegen; weiter hätte Amedeo sich kaum von Florenz entfernen können, ohne Afrika zu erreichen. Amedeo schrieb noch am selben Nachmittag zurück und nahm an.

Wenigstens eine feste Stelle. Sein Pflegevater brachte ihn zum Bahnhof, vergoss beim Abschied ungewollte Tränen und versprach, sie würden im Sommer ein Glas Limoncello auf einer von Bougainvillea überwucherten Terrasse trinken (die Ansichten des Arztes über den Süden waren vage und romantisch). »Vielleicht ziehe ich auf meine alten Tage dorthin«, sagte der Arzt. Er betrachtete Amedeo inzwischen nicht mehr als Pflegesohn, sondern als leiblichen Sohn, brachte es aber nicht über sich, es laut auszusprechen. Unterdessen suchte Amedeo nach Worten des Danks, konnte jedoch nur stumm die Hand des Arztes schütteln. So trennten sich ihre Wege. Sie sollten sich nie lebend wiedersehen.

III

Amedeo reiste auf dem Zwischendeck eines Dampfers von Neapel aus. Zum ersten Mal war er auf See, und er war wie benommen vom Rauschen des Wassers, von der Weite des Meeres. Er hatte eine Truhe mit seinen in Stroh eingewickelten medizinischen Instrumenten dabei sowie einen kleinen Lederkoffer, in den er seine wenigen Kleidungsstücke, sein Rasierzeug, seine Pfeife und sein Geschichtenbuch gepackt hatte. Außerdem eine neue Kodak-Klappkamera, ein unerwartetes Geschenk seines Pflegevaters. Amedeo hatte beschlossen, in Castellamare ein anderer Mann zu sein, ein Mann, der Dinge erlebte, die man auf Fotos festhalten konnte, ein Mann, der auf den Terrassen eleganter Bars Schokolade trank. Kein Findelkind, kein mittelloser Aushilfsarzt. Denn nach wie vor bewohnte er die Welt so nackt, wie er hineingeboren war, ohne Frau, ohne Freund außer seinem Pflegevater, ohne Nachkommen. Aber konnte sich das Leben nicht ändern? Hatte es nicht bereits mit Antritt dieser Reise eine andere Wendung genommen? Er war fast vierzig. Höchste Zeit, das Leben in Angriff zu nehmen, das seiner festen Überzeugung nach schon immer auf ihn gewartet hatte.

Seit seiner Kindheit hatte er das Gefühl gehabt, gegen den Strom zu schwimmen, und so war es auch jetzt: Wenn er nach hinten schaute, fiel ihm auf, dass alle Dampfer, die den Hafen von Neapel verließen, wie von einem unsichtbaren Kompass angezogen nach Norden abdrehten, während sein Schiff die Wellen Richtung Süden durchpflügte und weiße Gischt unter dem Bug aufwühlte. Der Dampfer legte in Salerno und Catania an, dann in Syrakus. Von dort aus erblickte Amedeo zum ersten Mal Castellamare. Die kleine Insel lag am Horizont, nichts weiter als ein Fels auf dem Wasser. Um dorthin zu gelangen, fand er weder Fähre noch Dampfer, nur ein Fischerboot, das den ominösen Namen Gnade uns Gott trug. Ja, sagte der Fischer, er könne Amedeo zur Insel bringen, aber nicht unter fünfundzwanzig Lire, denn bei dem Wind würde es den ganzen Abend dauern.

Ein alter Mann, der an einem Stapel Netze arbeitete, wurde auf ihre Unterhaltung aufmerksam. Er murmelte, die Insel sei ein unglückseliger Ort, gequält von einem Fluch der Klagen, und er setzte zu einer verzwickten Geschichte an über eine Höhle voll weißer Totenköpfe, doch der erste Fischer, der sich kurz vor dem Abschluss eines guten Geschäfts wähnte, brachte ihn zum Schweigen und schickte ihn fort.

Er sollte sein Geschäft machen, denn Amedeo war nicht abergläubisch, und da er den Süden nicht kannte, neigte er auch nicht zum Feilschen. Er zahlte die fünfundzwanzig Lire und hievte seine Truhe voll medizinischer Instrumente mit Hilfe des Fischers unter die Ruderbank des Bootes.

Der Fischer ruderte und redete, ruderte und redete. Die Menschen von Castellamare, so erzählte er Amedeo, fristeten ihr Leben mit dem Hüten von Ziegen und dem Pflücken von Oliven. Außerdem fingen sie Thunfisch, den sie mit Stöcken zu Tode prügelten. Und noch andere Fische, alle möglichen Sorten, die man erschlagen, an Haken fangen oder mit einem unter den Kiemen angesetzten Gaff an Bord ziehen konnte. Amedeo, der seit Neapel seekrank gewesen war, hielt den Mund fest geschlossen, während der Fischer sich über diese Einzelheiten ausließ. Schließlich näherten sie sich der Kaimauer von Castellamare.

Der Fischer setzte ihn kurz nach neun ab. Während Amedeo zusah, wie die Mastleuchte der Gnade uns Gott über den Wellen wippte, legte sich eine weite Leere und Stille um ihn, als wäre die Insel unbewohnt. Die wenigen an der Küste sichtbaren Häuser waren jedenfalls nicht beleuchtet. Auf dem Kai, der noch immer Wärme ausstrahlte, lagen Blüten von Bougainvilleen und Oleander verstreut; ein leichter Duft nach Weihrauch hing in der Luft. Amedeo ließ seine Truhe stehen und machte sich auf die Suche nach einem Landarbeiter oder Fischer, der womöglich eine Schubkarre besaß. Doch er stieß nur auf eine tonnara mit Steinbögen, eine alte arabische Thunfischfabrik, in der ein paar Spielkarten und Zigarettenstummel verstreut lagen, und eine weiße, unverschlossene Kapelle, die jedoch auch leer war. Den Altar zierte das Bild einer starr geradeaus blickenden Heiligen, die Amedeo nicht erkannte; auf beiden Seiten standen Vasen mit Lilien, deren Stängel in der Hitze schlaff geworden waren.

Amedeo zog den Brief des Bürgermeisters Arcangelo aus der Tasche und las die Wegbeschreibung durch. Er solle den Berg hinaufsteigen, dort werde er den Ort vorfinden, »vorbei an Feigenkakteen und durch einen Steinbogen oben auf dem Fels«. Nachdem seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er die Umrisse einer Ansiedlung am Rand der Klippen erkennen: schmale, verschlossene Häuser, die abblätternde Barockfassade einer Kirche, ein viereckiger Turm mit einer Kuppel aus blauem Email, in der sich die hellen Sterne spiegelten.

Amedeo konnte seine Truhe nicht den Berg hinauftragen. Daher schleppte er sie in den Schutz der Kapelle, in der sie wohl unbehelligt bleiben würde, und machte sich nur mit seinem Koffer auf den Weg. Die Straße war steinig und uneben, zu beiden Seiten raschelten Eidechsen im Gestrüpp. Das Rauschen der Brandung drang klar und deutlich durch die Dunkelheit, und als er hinunterschaute, sah er, dass sich die Wellen schäumend vor Hunderten kleiner Höhlen brachen. Weiter oben bog die Straße von der Küste ab, und ein anderer Teil der Insel kam in Sicht, flacher und aufgeteilt in kleine langgestreckte Felder mit kastenförmigen Bauernhäusern aus Stein. Er durchquerte einen Olivenhain und ging zwischen den düsteren Umrissen von Kakteen hindurch. Und tatsächlich kam er an einen Steinbogen, verblasst und abblätternd. Nachdem er auf dem Gipfel der Insel angelangt und der Kraft des Windes vollkommen ausgesetzt war, sah er, dass Castellamare aus der Nähe betrachtet nicht anders war als aus weiter Ferne, noch immer ein Fels in einem weiten schwarzen Meer. Im Norden schimmerten vage die Lichter von Italien und Sizilien. Nach Süden hin war nichts als undurchdringliche Finsternis.

Im Ort selbst herrschte die blinde Stille, die davon zeugte, dass nicht oft Besucher kamen. Die Hauptstraße war in großen Abständen von geschwärzten Glühlampen erleuchtet, die Nebenstraßen von allerlei Gaslaternen, die an Balkonen hingen. Thymian und Basilikum verströmten ihren Duft in die Dunkelheit. Amedeo sah sich gezwungen, den ganzen Ort zu durchqueren und nach Lebenszeichen Ausschau zu halten. Er folgte einer Straße mit Läden, deren Namen in schwarzen Großbuchstaben auf das Pflaster gemalt waren, vorbei an einem frisch riechenden Brunnen und einem Aussichtspunkt mit Blick auf das Meer. Keine Menschenseele. Gerade als er anfing, sich zu ärgern, hörte er Gesang. Nachdem er ein paar Ecken umrundet, mit einer niedrig hängenden Wäscheleine gekämpft und eine unglückliche Begegnung mit einem streunenden Hund gehabt hatte, gelangte er an eine lange Treppenflucht zum Rand einer Piazza und fand schließlich die Einwohner von Castellamare.

Der ganze Platz war ein einziges lärmendes Chaos. ­Frauen trugen Fisch auf großen Platten über den Köpfen, Wein schwappte in Gläsern, die Misstöne von Gitarren und Akkordeons, organetti, erhoben sich in die Dunkelheit. Ein Junge und ein Mädchen steuerten barfuß eine Schubkarre zwischen den Beinen der Menge hindurch. In einer Ecke wurde gerade ein Esel versteigert; um das Tier herum drängten und schoben sich Männer, Frauen und Kinder und wedelten eifrig mit rosa Karten. Auf einem Podest thronte die große Gipsstatue einer Heiligen, einer Frau mit geflochtenem schwarzem Haar und einem beunruhigenden, starren Blick, befächert von hundert roten Flammen. Amedeo sollte bald erfahren, dass er genau während des Fests der heiligen Agata eingetroffen war. Vorerst erschien es ihm wie ein wundersames, zauberhaftes Chaos, wie er es noch nie erlebt hatte.

In diese Unordnung tauchte Amedeo wie in ein warmes Meer. Er roch die Düfte von Jasmin, Anchovis und alkoholischen Getränken, fing Gesprächsfetzen in Dialekt und gehobenem Italienisch auf sowie Klagelieder, die beides hätten sein können, erblickte das Licht von Feuerstellen und Fackeln und den hundert roten Kerzen, von dem die gespenstische Heilige erleuchtet wurde. Am Ende, als er, seinen Koffer fest an sich gedrückt, aus der Menge auftauchte, stand er vor einem außergewöhnlichen Haus.

Das viereckige Gebäude in verblasstem Bernsteingelb schien auf der Bergseite zu balancieren, auf der Grenze zwischen dem Licht der Piazza und der Dunkelheit des Berghangs und des Meeres. Die Terrasse war von einer üppigen Bougainvillea überwuchert. An kleinen Tischen tranken die Insulaner zwischen den Blumen Limoncello und Arancello, kämpften und fluchten bei Kartenspielen, wiegten sich zu den wirbelnden Klängen eines Akkordeons. Auf einem Schild stand in phantasievoller Schrift »Casa al Bordo della Notte« – Haus am Rande der Nacht.

Ein kleiner alter Mann kam auf Amedeo zu. Leicht torkelnd schaute er zu ihm auf und fragte: »Wer sind Sie?«

»Amedeo Esposito«, erwiderte Amedeo, »der neue Arzt.«

Der Alte richtete sich entzückt auf. »Der neue Arzt!«, sagte er. »Der neue Arzt!«

Amedeo wurde nervös, als die Insulaner sich zu ihm umdrehten, in die Hände klatschten, ihm auf die Schulter klopften und ihn kräftig an den Armen packten. Er brauchte eine Weile, um zu erkennen, was es sein sollte: ein herzlicher Empfang. Der kleine Alte krächzte vor Vergnügen. »Ich bin Rizzu«, sagte er. »Diese Bar hier gehört meinem Bruder. Die Rizzus sind eine bedeutende Familie auf der Insel, wie Sie feststellen werden, Signor il Dottore. Ich hole Ihnen was zu trinken. Ich hole Ihnen gegrillte Anchovis und ein Reisbällchen und einen Teller Mozzarella.«

Der Arzt hatte seit Syrakus nichts gegessen und hatte auf einmal Hunger. Er setzte sich. Man schenkte ihm ein, ein Tisch wurde abgeräumt. Kurz darauf tauchte der Bürgermeister Arcangelo auf, ein stämmiger Krämer, der sich mit öligem Charme durch die Menge schob, breit lächelnd. Er schüttelte Amedeo die Hand, klopfte ihm auf die Schulter und hieß ihn auf der Insel willkommen. Er stellte ihn auch dem Pfarrer vor, Padre Ignazio, einem schmalen Mann, der, wie Arcangelo sagte, auch dem Gemeinderat angehörte.

Nach dieser hastigen Begrüßung verschwand der Bürgermeister, aber der Pfarrer setzte sich mit bedeutungsvollem Hüsteln neben Amedeo. »Man hat Sie gewiss noch nicht dem Conte vorgestellt, wage ich zu behaupten. Dem stellvertretenden Bürgermeister. Zum ersten Mal ist jetzt ein anderer als er Bürgermeister dieser Insel, Sie treffen uns also in einer Zeit großer Modernisierungen an.«

Amedeo, der geglaubt hatte, im zwanzigsten Jahrhundert gebe es in Italien keinen Conte mehr, war um eine Antwort verlegen. »Sie werden den Conte früh genug kennenlernen«, sagte der Pfarrer. »Keine Sorge. Am besten, Sie bringen es schnell hinter sich.«

Rizzu kam mit Tellern und einem ähnlich kleinen alten Mann zurück, den er als seinen jüngsten Bruder und Besitzer der Bar vorstellte. Mühsam zwängte sich Rizzu auf den Stuhl auf der anderen Seite von Amedeo, schenkte ihm nach und begann, die Geschichte der Insel und die der heiligen Agata zu erklären, deren Fest gerade auf dem Platz stattfand.

»Ich sage Padre Ignazio immer wieder, dass er mit dem Papst darüber sprechen muss, Sant’Agata heiligsprechen zu lassen«, sagte er zu Amedeo. »Sie hat alle möglichen Krankheiten geheilt. Zuerst den Fluch der Klagen, später eine Typhusepidemie. Sie hat die Insel vor den Eindringlingen bewahrt, als sie einen Sturm Fliegender Fische auf die Schiffe losließ, und sie hat ihre Gnade erwiesen, als sie, der Heiligen sei Dank, die Beine eines jungen Mädchens geheilt hat, das in einen Brunnen gefallen war. Oh, da ist das Mädchen, dort, Signora Gesusina …«

Amedeo schaute auf – »Nein, Signore, da!« – und begriff schließlich, dass Rizzu auf eine alte Frau zeigte, die sich blind zu den Klagelauten des organetto wiegte. »Wann geschah das Wunder?«, fragte der Arzt.

»Oh, das ist schon ein paar Jahre her«, erwiderte Rizzu. »Aber wir rechnen Jahr für Jahr damit, dass Sant’Agata wieder ein Wunder vollbringt. Zu ihrem Fest tragen wir die Statue einmal um die ganze Insel. Um uns zu belohnen, segnet sie dann die Fischerboote, die Saat des Ackerbodens und alle Kinder, die auf der Insel das Licht der Welt erblickt haben. Sieben waren es in diesem Jahr. Sie werden zu tun haben, Dottore, wage ich zu behaupten!«

»Und sie werden alle auf den Namen Agata getauft«, fügte der Pfarrer hinzu. »Ich bin mir sicher, auf der ganzen Welt gibt es nicht mehr Agatas als auf dieser Insel. In den letzten Jahren hat es geradezu eine Agata-Epidemie gegeben. Inzwischen muss man ihnen besondere Merkmale beifügen: Agata-mit-den-grünen-Augen, Agata-aus-dem-Haus-mit-der-Bougainvillea, Agata-die-Tochter-der-Schwester-des-Bäckers …«

»Agata ist der beste Name überhaupt!«, protestierte Rizzu, trunken von allem. Er stand auf und machte sich auf den Weg, um Wein für den Arzt zu holen, der den Schnaps der Insel anscheinend nicht mochte, denn er trank wirklich ziemlich langsam und hustete und prustete dabei ziemlich viel, dachte Rizzu.

Unterdessen erfreute Amedeo die Menge, als er sein Geschichtenbuch hervorholte und Rizzus Erzählung über Sant’Agata festhielt, die ihn zutiefst beeindruckt hatte. Wie alles an diesem Abend schien sie verzaubert und nicht ganz real, und er wollte sie auf keinen Fall vergessen.

Als die anderen sich ein wenig verstreut hatten, beugte sich Padre Ignazio zu Amedeo. »Sie werden nicht zur Ruhe kommen, fürchte ich«, sagte er. »Seit die ersten griechischen Seeleute hier vor zweitausend Jahren an Land gingen, hatten wir keinen Arzt auf der Insel. Die Insulaner werden mit ihren entzündeten Fußballen und Hämorrhoiden zu Ihnen kommen, mit ihren kranken Katzen und hysterischen Töchtern, der gesamten Liste an medizinischen Beschwerden. Und ihren Geschichten. Viel mehr Geschichten. Ich will Sie nur warnen.«

»Sie hatten noch nie einen Arzt auf der Insel?«

»Nein.«

»Wie läuft es denn normalerweise, wenn jemand krank ist?«

Padre Ignazio breitete die Arme aus. »Wenn es etwas Ernstes ist, schicken wir den Kranken mit einem Fischerboot aufs Festland.«

»Und wenn es stürmisch ist oder kein Boot zur Verfügung steht? Ich hatte Probleme hierherzukommen. Nur ein Mann war bereit, mich mitzunehmen.«

»Ich habe ein paar Medikamente, die ich verteilen kann«, erwiderte der Pfarrer. »Die gute Witwe, Gesusina, nimmt sich der werdenden Mütter an. Wir tun, was wir können, um es alleine zu schaffen. Aber es ist ein trauriger Zustand. Wir sind froh, dass Sie jetzt hier sind. Mir bricht das Herz, wenn ich die Jungen zu Grabe trage und wir keinen Arzt haben, der uns sagt, ob man es hätte verhindern können.«

»Aber warum wurde erst jetzt ein Arzt gesucht?«, fragte Amedeo.

Padre Ignazio schnaubte dramatisch. »Das hat etwas mit Politik zu tun. Der vorige Bürgermeister wollte nicht. Er hielt einen Arzt auf der Insel für unnötig. Jetzt hat sich der Gemeinderat verändert – ich sitze drin und der Schulmeister Vella. Arcangelo ist jetzt Bürgermeister, und wir erledigen etwas.«

»Wer war vorher Bürgermeister?«

»Der Conte d’Isantu«, erwiderte der Pfarrer.

»Dieser Conte, auf den alle warten.«

»Ja, Dottore. Natürlich ist er offiziell kein Conte mehr. Aber seit der Vereinigung Italiens haben die Insulaner – verdammte Idioten – bei jeder Wahl einen d’Isantu nach dem anderen zum Bürgermeister gewählt. Bis auf dieses Mal. Warum, das wissen nur Gott und Sant’Agata!«

»Dieser Conte ist jahrelang Bürgermeister gewesen und hat einen Arzt nicht für nötig gehalten? Wie viele Einwohner gibt es denn?«

Padre Ignazio antwortete, er schätze, etwa eintausend, aber eine Volkszählung habe nie stattgefunden. An dieser Stelle wechselte der Pfarrer abrupt das Thema. »Sie sollen im Haus des Schulmeisters Professor Vella und seiner Frau Pina wohnen«, sagte er. »Die müssen hier irgendwo sein – ich hole sie.«

Er stand vom Tisch auf und kam kurz darauf mit dem Schulmeister und seiner Frau wieder. Der Professore war ein Mann in mittleren Jahren, der die eingeölten Haare zur Seite gekämmt trug. Er klopfte Amedeo auf die Schulter. »Ah, gut, gut, endlich ein gebildeter Mann.« Woraufhin der Pfarrer schnaubte. Der Professore nahm Amedeo in Beschlag und begann, ihm von der Geschichte der Insel zu erzählen – »von acht verschiedenen Mächten besetzt, das muss man sich mal vorstellen!« und »bis 1500 keine Kirche«. Gegen drei Uhr kippte er volltrunken von seinem Stuhl.

Der Schulmeister wurde nach Hause begleitet. Pina, seine Frau, trat nun aus dem Schatten. Der Professore hatte Amedeo erzählt, die Insulaner seien teils normannischen, teils arabischen, teils byzantinischen, teils griechischen, teils spanischen, teils romanischen Ursprungs, was in Pina zum Ausdruck kam, die schwarzes, dichtes Haar und überraschend opalfarbene Augen hatte. Sie wurde in den Kreis einbezogen und sollte erzählen, was die Insulaner die »wahre Geschichte von Castellamare« nannten. Das machte sie mit zögernder, aber kräftiger Stimme: eine Geschichte von Eindringlingen und Vertriebenen, von Vulkanausbrüchen, von gespenstischen Klagelauten und Höhlen, von deren Wänden das Klicken weißer Knochen widerhallte, eine derart verblüffende Geschichte, dass Amedeo größte Mühe hatte, sich an die Einzelheiten zu erinnern, als er am nächsten Tag aufwachte. Er glaubte danach immer, den wichtigsten Teil vergessen zu haben, und dass niemand so gut erzählen konnte wie sie.

Nachdem sie fertig war, entschuldigte sich Pina, sie müsse nachsehen, ob ihr Mann sicher nach Hause gekommen sei. Vielleicht werde sie am Ende des Fests zum Blütenregen wieder zurückkommen.

»Pina ist eine kluge Frau«, sagte der Pfarrer und sah ihr nach. »Ich habe sie getauft und ihr den Katechismus beigebracht. Zu gebildet für diese Insel und für ihren Mann verdammt schade, aber ich kann den Professore nicht überreden, seine Stelle aufzugeben und sie seiner Frau abzutreten. Sie wäre viel besser als er, denn der Mann ist ein entsetzlicher Langweiler.«

Der alte Rizzu, der für Pinas Geschichte zurückgekehrt war, krähte wieder vor Vergnügen. »Padre Ignazio liebt Skandale«, sagte er. »Und verursacht gern welche. Er ist der unkonventionellste Pfarrer, den wir je hatten.«

Der Pfarrer schien zufrieden mit dieser Feststellung und leerte sein Glas Arancello in einem Zug.

In diesem Augenblick breitete sich wellenförmig Unruhe in der Menge aus. »Der Conte«, sagte Rizzu. »Da ist er endlich.«

»Ah«, sagte Padre Ignazio. »Noch ein Mann, für den ich nur sehr wenig Geduld aufbringe. Verzeihen Sie, Dottore, ich muss das Weite suchen.«

Ein beleibter Mann in Samtjacke kam unter der Heiligenstatue in Sicht. Amedeo war verdutzt, wie er die Menge behandelte und Aufmerksamkeit und Wohlwollen einforderte. Manche Insulaner verbeugten sich und schüttelten ihm die Hand, andere überreichten ihm Geschenke – einen Teller Auberginen, eine Flasche Wein, ein lebendiges Huhn in einem Holzkäfig –, alles nahm d’Isantu entgegen, bevor er es seinem Gefolge übergab. Die Szene schien niemanden zu verblüffen, obwohl Amedeo auffiel, dass nicht alle sich dem Conte näherten oder ihm zur Begrüßung die Hand reichten.

Schließlich blieb d’Isantu vor ihnen stehen. Der Pfarrer war geflohen, Rizzu wippte und verbeugte sich an einer Tischseite. In der Annahme, dass es erwartet wurde, erhob sich auch Amedeo.

»Sie sind vermutlich der neue Arzt. Ich bin Andrea d’Isantu, der Conte.«

Amedeo stellte sich hastig vor. »Piacere«, erwiderte der Conte freudlos. »Das hier ist meine Frau Carmela.«

Eine junge Frau mit gelangweilter Miene trat aus der Menge. Ihr schwarzes Haar war lockig, und sie trug einen Hut mit einer aufrecht stehenden Feder, so wie er in Paris oder London wohl modern war, dem jahrzehntealten Sonntagsstaat der anderen Insulaner jedoch widersprach. »Carmela«, sagte der Conte und wedelte mit einer Hand in die Richtung der Frau. »Hol Kaffee und Schnaps. Bring Wein her. Eine Kleinigkeit zu essen, eine Pastete oder Arancini.«

Nach diesen Worten zog der Conte einen Stuhl heran, ließ sich darauf nieder und versank in brütendem Schweigen. »Also«, sagte er schließlich. »Wann sind Sie angekommen? Wer hat Sie am Kai abgeholt?«

»So gegen neun Uhr«, erwiderte Amedeo. »Und niemand hat mich abgeholt, ich habe den Weg auch allein gefunden. Aber man hat mir Signor Arcangelo vorgestellt und einen oder zwei aus dem Gemeinderat, Professor Vella und Padre Ignazio.«

»Sie kommen aus der Stadt, nicht wahr? Aus dem Norden? Und was machen Sie hier auf dem Fels am Rande der Zivilisation? Wahrscheinlich sind Sie auf der Flucht vor etwas.« Der Conte brach in schallendes Gelächter aus.

Amedeo wusste nicht, wie er darauf antworten sollte, nur dass er landauf, landab eine Stelle als medico condotto gesucht und hier eine gefunden habe.

»Nun, ich hoffe, Sie verdienen genug für Ihren Lebensunterhalt. Woher stammt Ihre Familie? Esposito, das ist ein komischer Name.«

»Ich habe keine Familie, nur einen Pflegevater«, erwiderte der Arzt. Er sprach deutlich, denn für gewöhnlich schämte er sich dessen nicht, obwohl er unter der Befragung des Conte und der drückenden Hitze auf der Piazza ein wenig ins Schwitzen geraten war. Er fuhr sich mit dem Finger unter den steifen Hemdkragen.

»Ein Mann ohne Familie?«, sagte der Conte. »Ein Mann aus dem Nichts, ein Waisenkind?«

»Ein Findelkind. Ich bin in der Obhut des Ospedale degli Innocenti in Florenz aufgewachsen, einem Haus für Findelkinder. Eins der besten«, fügte er stolz hinzu.

»Ah – dachte ich mir doch aufgrund des Namens. Esposito. Aufgegeben.«

Carmela tauchte wieder auf, Rizzu und seinen Bruder im Schlepptau, die Tabletts vor sich hertrugen, auf denen Tassen mit Goldrändern, eine Untertasse mit sorgfältig arrangierten Pasteten und eine ungeöffnete Flasche Arancello standen. »Der Beste«, murmelte Rizzu und scharwenzelte um den Stuhl des Conte.

»Carmela, gieß die Gläser voll.« Wieder schaute der Conte seine Frau nicht an. Sie nickte nur, schenkte ihrem Mann ein, setzte sich dann in einigem Abstand hin und faltete respektvoll die Hände.

»Wir haben Eiscreme und richtigen Likör in der Villa, aus Palermo angeliefert.« Der Conte stieß einen dramatischen Seufzer aus. »Ansonsten werden Sie feststellen, dass wir ein primitives Volk sind, fürchte ich, Dottore. Kein richtiges elektrisches Licht, keine Bibliotheken. Die Meeresluft lässt die Bücher vermodern. Ha! Noch dazu ein Volk von Analphabeten, nur ich kann lesen, und der Pfarrer und der Schulmeister und der Krämer Arcangelo auf seine Weise. Und Carmela, vermute ich, obwohl man sie nie als belesen