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Machen Sie sich das Leben leichter!
Wieso möchten wir an manchen Tagen die ganze Welt umarmen und uns an anderen in ein Mauseloch verkriechen? Wieso können wir einmal wegen derselben Kleinigkeit in die Luft gehen, die wir ein andermal mit Leichtigkeit parieren? Wer traut sich schon, seinem Chef zu sagen, er sei heute wirklich nicht in Stimmung, um diese oder jene Arbeit zu verrichten? Er wird wohl kaum auf Verständnis hoffen dürfen. Wir empfinden sie als Störenfriede, unsere Stimmungen, als Sand im Getriebe, der uns daran hindert, reibungslos zu funktionieren. Und dennoch sind wir ständig irgendwie gestimmt – sei es nun positiv oder negativ, beides zusammen oder eher neutral –, und das bestimmt unseren Tag ganz entscheidend mit.
Anhand von klinischen Studien ebenso wie einfühlsam dargestellten Fallbeispielen, aber auch mit Anleihen aus Literatur und Philosophie analysiert und erklärt der Bestsellerautor das Phänomen unserer Gemütslagen. Darüber hinaus gibt er dem Leser detaillierte und anschauliche Empfehlungen an die Hand, die ihm helfen sollen, mit seinen Stimmungen umzugehen oder vielmehr, auf sie zu hören, anstatt gegen sie anzukämpfen. So lassen sich scheinbare Schwächen in innere Stärke umwandeln.
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Seitenzahl: 634
Machen Sie sich das Leben leichter!
Wieso möchten wir an manchen Tagen die ganze Welt umarmen und uns an anderen in ein Mauseloch verkriechen? Wieso können wir einmal wegen derselben Kleinigkeit in die Luft gehen, die wir ein andermal mit Leichtigkeit parieren? Fundiert, einfühlsam und unterhaltend ergründet der berühmte Therapeut Christophe André das Phänomen unserer Stimmungen und gibt uns Empfehlungen an die Hand, die helfen, mit Hochs und Tiefs souverän, ja, gewinnbringend umzugehen, anstatt gegen sie anzukämpfen.
Wer traut sich schon, seinem Chef zu sagen, er sei heute wirklich nicht in Stimmung, um diese oder jene Arbeit zu verrichten? Er wird wohl kaum auf Verständnis hoffen dürfen. Wir empfinden sie als Störenfriede, unsere Stimmungen, als Sand im Getriebe, der uns daran hindert, reibungslos zu funktionieren. Und dennoch sind wir ständig irgendwie gestimmt – sei es nun positiv oder negativ, beides zusammen oder eher neutral –, und das bestimmt unseren Tag ganz entscheidend mit. Anhand von klinischen Studien ebenso wie einfühlsam dargestellten Fallsbeispielen, aber auch Anleihen aus Literatur und Philosophie analysiert und erklärt der Autor das Phänomen unserer Gemütslagen. Darüber hinaus gibt er dem Leser detaillierte und anschauliche Empfehlungen an die Hand, die ihm helfen sollen, mit seinen Stimmungen umzugehen oder vielmehr, auf sie zu hören, anstatt gegen sie anzukämpfen. Denn so lassen sich scheinbare Schwächen in innere Stärke umwandeln.
Christophe André
Die Launen der Seele
Vom Umgangmit unseren Stimmungen
Aus dem Französischenvon Ralf Pannowitsch
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Ein kleines Mädchen stürzt
Erster Teil – Existenz
Kapitel I – Stimmungen:Schlüssel zum Verständnis
Stimmungen verstehen
Was in uns zurückbleibt, wenn der Zug des Lebens vorübergefahren ist
Subtilität und Komplexität der Stimmungen
Verbindungen quer durch die Zeiten: In den Stimmungen steckt unser ganzes Leben
Stimmungen und Identität
Stimmungen – unsere Verbindung zur Welt
Seelenzustände, Körperzustände
Stimmungen und Denkweisen
Resümee: Stimmungen sind subtile, mit Gedanken verknüpfte Emotionen
Sind Stimmungen etwas ausschließlich Menschliches?
Kapitel II – Freud und Leid der Stimmungen
Positive und negative Stimmungen
Mehr negative als positive Stimmungen?
Mehr negative als positive Stimmungen? Klar, wir müssen schließlich überleben
Mehr negative als positive Stimmungen? Das ist der Zeigarnik-Effekt
Mehr negative als positive Stimmungen? Das Leben ist eben hart
Auskosten oder überwachen, sich öffnen oder sich verschließen?
Wozu dienen eigentlich die positiven Stimmungen?
Welchen Zweck haben unsere negativen Stimmungen?
Stimmungsarithmetik: Positiv und negativ heben einander nicht auf
Kreativität und Stimmungen
Licht und Schatten
Kapitel III – Grübelnd abdriften
Stimmungen erschaffen eine virtuelle Parallelwelt: Bereicherung oder Falle?
Die Dysphorie: ein schmerzliches mentales Klima
Wenn Stimmungen chronisch werden
Grübeleien sind negative Stimmungen, die immer wieder recycelt werden
Grübeleien: ein vages und endloses »Warum«
Herumgrübeln ist nicht gleich Nachdenken
Vom Nebel zum Gewitter: Wenn bei psychischen Krankheiten die Stimmungen durchgehen
Schlecht verstandene Stimmungen machen uns verletzlich
Unsere Stimmungen sind keine harmlosen Kinkerlitzchen
Kapitel IV – Blicke nach innen
Stimmungen und das Nachdenken über uns selbst
Kann man sich selbst beobachten?
Zum Spezialisten für die eigenen Stimmungen werden
Zugangswege zu den Stimmungen: die Introspektion
Zugangswege zu den Stimmungen: die Erfahrungen des Erwachens
Zugangswege zu den Stimmungen und Selbsttherapie: ein Tagebuch führen
Tagebuchschreiben: eine Gebrauchsanleitung
Introspektion als Schlüssel der Öffnung zur Welt
Zweiter Teil – Leid
Kapitel V – Schmerzliche Stimmungen
Schmerz und Leid
Ötzi, Buddha und Jesus
Am vermeidbaren Teil unserer Leiden arbeiten?
Kapitel VI – Spielarten der Unruhe
Sorgen und Beunruhigungen
Beunruhigung und Sorge als Stimmungen
Warum sind wir so unruhig?
Dynamik der Sorge und Beunruhigung
Von den Stimmungen der Beunruhigung bis zur beständigen Angst
Sorge als Krankheit: die generalisierte Angststörung
Die Angst, es nicht mehr zu packen
Was tun gegen krankhafte Ängste?
Wie man seine sorgenvollen Stimmungen reguliert
Kapitel VII – Spielarten des Grolls
Groll als Form des Herumbrütens
Stimmungen, die mit Zorn zusammengehen
Ressentiment und Eheleben
Vom Groll gegen sich selbst
Krankheiten des Zorns und der zornigen Stimmungen
Narrheit des Zorns, Weisheit der Sanftmut: ein paar nützliche Anstrengungen
Die sehr, sehr komplizierte Frage des Verzeihens
Kapitel VIII – Spielarten der Traurigkeit
Die Traurigkeit verstehen
Die Stimmungen der Traurigkeit
Warum unsere Seele zu hinken beginnt
Vorsicht vor der Traurigkeit!
Entgleisungen der Traurigkeit: Gibt es prädepressive Zustände?
Eine Krankheit der Traurigkeit? Die Depression als Hölle
In der Traurigkeit gefangen
Die Depression als Entkoppelung und Rückzug von der Welt
Nach der Depression: die ewige Wiederkehr der Traurigkeit?
Die Arbeit der kognitiven Psychotherapie an den Stimmungen der Traurigkeit
Was tun angesichts trauriger Stimmungen?
Eine Weisheit der Traurigkeit?
Kapitel IX – Spielarten der Verzweiflung
Warum leben? Warum sterben?
Die Stimmungen der Verzweiflung
Selbstmord als Versuchung: Wie man zum Todgeweihten wird
Zwischen zwei Welten
Was macht uns anfällig für Selbstmordgedanken?
Krankheiten im Umfeld des Selbstmords
Ich erinnere mich
Was tun bei Verzweiflung und Todessehnsucht?
Die große Frage der Hoffnung und der Hoffnungslosigkeit
Dritter Teil – Gleichgewicht
Kapitel X – Spielarten der Fragilität
Drei Vorzüge der Fragilität
Die ungleiche Verteilung der Fragilität: Das Beispiel der Hypersensiblen
Sensibel leben
Fluoxetin für jedermann?
Wie Medikamente unsere Stimmungen verändern
Die Biologie der Fragilität und ihrer Behebung
Näher heranrücken an das, was für alle Menschen zählt
Wege aus der Fragilität: Künstler und Handwerker
Kapitel XI – Die Ruhe und die Energie
Die magische Formel des Wohlbefindens: Ruhe und Energie
Die Ruhe und die Energie begreifen
Auf der Suche nach Ruhe und Energie: Häufige Irrtümer
Vom Einfluss der körperlichen Zustände auf die Stimmungen
Was wir tun müssen, um leichter zu Ruhe und Energie zu gelangen
Entspannung: die Beruhigung des Körpers
Der Griff zum Aufputschmittel
Sich wohl fühlen – aber wozu eigentlich?
Kapitel XII – Die Regulierung unserer Stimmungen
Warum sollen wir unsere Stimmungen nicht einfach so hinnehmen, wie sie sind?
Welches vernünftige Ziel können wir uns bei der Stimmungsregulierung setzen?
Wie wir unsere Stimmungen regulieren: kurzer Überblick über die Strategien
Ein paar Wege, um den unangenehmen Stimmungen zu entkommen
Unterdrückung der Stimmungen: ein paar Forschungsergebnisse
Wie man seine negativen Stimmungen akzeptiert und reguliert
Studien über die Wirksamkeit der Akzeptanz
Wie man seine positiven Stimmungen steigert
Überfahrene Katze
Kapitel XIII – Vom Materialismus genesen
Diabetes: eine Gesellschaftskrankheit
Zwanghaftes Kaufen
Die materialistische Gesellschaft
Die Krankheit Materialismus
Die Krankheit Materialismus vermindert unsere positiven Stimmungen
Die Krankheit Materialismus verstärkt unsere negativen Stimmungen
Die Krankheit Materialismus verschmutzt unsere Seelen
Vollgestopft bis zum Rand, nur nicht mit wirklicher Nahrung
Vom Gesellschaftstier zum Kommerztier: die Krankheit Materialismus und die Vergiftung der menschlichen Bindungen
Für einen vernünftigen Materialismus: Soll man das Biest töten oder an die Leine nehmen?
Kämpfen: Selbst-Bewusstheit und self intelligence
Kämpfen: Individuelles Handeln
Kämpfen: Soziales und politisches Handeln
Und trotz allem ein wenig lächeln …
Vierter Teil – Erwachen
Kapitel XIV – Leben in voller Bewusstheit
Neben dem Leben stehen
Wie man an seinem Leben vorbeiläuft
»Das Leben, das du führst, ist nur ein totes Leben …«
Wie finden wir zur Bewusstheit?
Erfahrungen des Erwachens
Die Lektionen des Erwachens
Meditieren lernen?
Vom Nutzen der Meditation
Meditieren, um die Gesundheit zu pflegen
Leben in voller Bewusstheit: einige Ratschläge für die Praxis
Kapitel XV – Mitgefühl, Selbst-Mitgefühl und die Kraft der Milde
Weshalb wir Milde brauchen
Mangelndes Selbst-Mitgefühl und seine Folgen für die Stimmungen
Man muss Mitgefühl mit sich selbst haben
Mitgefühl und Selbst-Mitgefühl
Geschichten vom Mitgefühl
Praktiken des Mitgefühls
Die Ökologie des Mitgefühls
Kapitel XVI – Spielarten des Glücks
Glück – was ist das?
Von den Stimmungen über den Sinn des Lebens bis hin zum Glück
Sind das wirklich nur Kleinigkeiten?
Lächeln und die Zähne zusammenbeißen
Du musst nicht positiv denken!!!
Smiling in the Rain: mehr als eine Pose oder ein hohler Spruch
Das Recht auf Unglücklichsein
Das Glück als tragische Erfahrung akzeptieren
Glück als vergängliche Erfahrung akzeptieren: das subtile und herzzerreißende Glück des »letzten Mals«
Glück und Älterwerden
Kann man seine Glücksbefähigung steigern?
Sich glücklich machen: Gründe und Argumente
Sich glücklich machen: ein paar praktische Empfehlungen
Glücklich schon beim Aufwachen?
Kapitel XVII – Spielarten der Weisheit
Was ist Weisheit?
Woraus setzt sich Weisheit zusammen?
Die Weisheit bei den großen Meistern lernen?
Die kleinen Meister der Weisheit
Weisheit in der Praxis
Empfindsame Menschen, die zu weisen Menschen werden möchten
Dank
Anmerkungen und Quellen
Über Christoph André
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Für meinen Freund Matthieu Ricard – Vorbild, Vertrauter und unermüdlicher Herold der Ertüchtigung des Geistes
Dieses Buch spricht von Stimmungen, von den Launen der Seele, ihrer Definition und ihrer Bedeutung. Es berichtet davon, wie wir sie erleben, wie sie uns bereichern, aber auch, wie sie uns leiden lassen.
Es unterstreicht, wie die Hellsichtigkeit der Dichter die Wissenschaft der Psychologen vorweggenommen und erleuchtet hat.
Vor allem aber zeigt es, wie unsere Stimmungen uns helfen können, besser zu leben und unseren Horizont zu erweitern – wie wir mit ihrer Hilfe klarsichtiger, klüger und sogar glücklicher werden können.
Schon als ganz kleines Kind warst du sensibel. Winzige Einzelheiten berührten dich und lösten in dir Erschütterungen oder Glücksaufwallungen aus: eine Geste, ein Wort, ein trauriges Gesicht, das Vorbeiziehen einer Wolke oder das Geräusch des Windes.
Lange haben sie dich verlegen gemacht, diese Schlitterpartien der Seele. Du hättest gern weniger Sensibilität in dir gehabt und mehr Gelassenheit. Du strebtest danach, erwachsen zu werden, und es war dir peinlich, in deinem Erwachsenenleben diese Reaktionen eines kleinen Mädchens zu zeigen. Du wusstest nicht recht, was du mit ihnen anfangen solltest. Du hast versucht, vor diesen winzigen Rissen im Alltag die Augen zu verschließen und darüber hinwegzugehen. Du fühltest, dass sie dich durcheinanderbringen und verändern könnten, aber auf solche Erschütterungen hattest du keine Lust.
Später hast du allmählich gelernt, diese Augenblicke, die uns berühren und wachrütteln, anzunehmen. Und auch all jene heiteren oder traurigen Stimmungen zu akzeptieren, die sich in ihrem Gefolge einstellen. Unsere Stimmungen sind das, was in uns zurückbleibt, wenn der Zug des Lebens vorübergefahren ist. Schließlich hast du es verstanden und akzeptiert: Stimmungen sind der lebendige Ausdruck unserer Beziehung zur Welt. Inzwischen scheint es dir oft so, als hätte deine Seele begonnen, entschiedener zu existieren, tiefer zu atmen. Was deine »Seele« ist, weißt du noch immer nicht, aber du hast das unklare Gefühl, dass es »so etwas wirklich gibt«. Und du weißt jetzt auch, dass Empfindsamkeit und innere Ruhe gleichermaßen Platz haben in deinem Leben. Du hast dich ganz allmählich verändert dank all dieser Spänchen von Dasein, dieser Flocken von Leben. Eine stille Metamorphose. Hier ist der Bericht über einen jener Momente, die dich berühren und verwandeln.
Du wartest auf einen Freund oder vielleicht auf den Bus. Worauf du gewartet hast, ist dir entfallen, aber du erinnerst dich an das Warten selbst. Du hast noch ganz genau vor Augen, wo du standest, welche Farbe der Himmel hatte, wie das Schaufenster auf der anderen Straßenseite aussah. Du siehst den jungen Mann auf dem Fahrrad näher kommen. Seine kleine Tochter, die fünf oder sechs sein mag – wie niedlich sie unter ihrem Plastikhelm aussieht! –, ist in ihrem Kindersitz über dem Gepäckträger gut angeschnallt und geschützt.
Der Vater steigt vom Rad, und während er das Schloss über den Rahmen und eine Absperrstange streift, hält er sein Gefährt nur mit einer Hand fest. Als er sich bückt, um es anzuschließen, kippt das Rad und fällt um mitsamt dem kleinen Mädchen, das in seinem Kindersitz gefangen ist. Gerade in der Sekunde, als sie sich fallen spürt, schaust du ihr ins Gesicht, und du kannst aus ihren Augen alles herauslesen: Überraschung, Angst, ungläubige Verzweiflung. Mein Vater, dem ich immer felsenfest vertraut habe, vergisst mich, gibt mich auf, lässt mich fallen – er lässt es zu, dass ich falle?
Der Vater hebt sie sofort auf, sie hat sich nicht weiter weh getan, der große Kindersitz, aus dem sie sich nicht befreien konnte, hat sie geschützt. Sie weint auch gar nicht. Ihr Vater, sehr verlegen, sehr verwirrt, sehr freundlich, sagt ihr ein paar tröstende Worte, schnallt sie ab und nimmt sie in die Arme. Dann gehen sie beide davon. Sie weint noch immer nicht über das, was mit ihr geschehen ist, aber froh sieht sie auch nicht aus. Du hast den Eindruck, dass sie völlig perplex ist und ein bisschen traurig. Du blickst ihnen nach. Der Vater hält sie an der Hand. Du starrst auf die beiden Hände, die fest ineinandergreifen. Seltsam, wie diese Bindung dich wieder aufrichtet. Hast auch du Angst gehabt?
Du spürst, dass du dich in einem merkwürdigen Zustand befindest. Angst ist es nicht, jedenfalls nicht mehr. Überhaupt ist alles viel zu schnell gegangen, als dass sich Angst hätte einstellen können. Jetzt ist es eine sanfte, aber intensive Traurigkeit, die sich in dir ausbreitet. Und dazu eine kleine Unendlichkeit von Wahrnehmungen, die dich bestürmen. Was sind das für unangemessen heftige Zeigerausschläge der Seele? Immerhin war das, was du eben erlebt hast, ja nicht der Einsturz der Twin Towers!
Du fängst dich wieder und nimmst dir vor, mit dem Handy Bekannte davon zu benachrichtigen, dass du ein wenig später kommen wirst. Aber dein Arm gehorcht dir nicht. Deinem Körper ist die Benachrichtigung egal. Deinem Gehirn auch. Alles in dir sagt: Lass sein, es ist nicht wichtig, warum willst du schon wieder zu etwas anderem übergehen? Bleib hier mit dem, was du gesehen hast. Aber was hast du eigentlich gesehen? Warum hat der erschreckte und verzweifelte Blick des kleinen Mädchens diesen ganzen Tumult in dir ausgelöst?
Du denkst nach und beginnst zu verstehen, du glaubst es jedenfalls. Auf jeden Fall beruhigt es dich; es tut dir gut, auf die Sache zurückzukommen. Du begreifst, dass es keineswegs ein harmloses Geschehnis war. Du hast das blitzartige Aufzucken von Angst gesehen. Ein Kind glaubte sich in Sicherheit und musste plötzlich erleben, dass es nicht in Sicherheit war. Vielleicht hast du dich mit dem Mädchen identifiziert? Oder mit dem Vater? Als wäre mit dem Mädchen auch ich gestürzt, sagst du dir, als wäre die ganze Menschheit gefallen. Du zuckst in Gedanken die Schultern: Was soll dieser verrückte Mitleidsschwall? Dann kommt dir ein neuer Gedanke: Und wenn sie ihm nun niemals mehr vertraut? Weder ihm noch sonst jemandem? Wenn dieser mikroskopisch kleine Zwischenfall vielleicht nie wieder gutzumachen ist? Diese Vorstellung gefällt dir gar nicht. Du merkst, dass du begonnen hast, falsch zu atmen. Du holst bewusst ein paarmal tiefer und ruhiger Luft. Ja, atme tief durch, es wird dir guttun, du bist zu empfindsam. Jetzt fühlst du dich besser, aber du sagst dir immer noch:
Sie ist wie ich, sie wird diesen Augenblick niemals vergessen. Den Schrecken. Und was wird sie später daraus machen? Niemand kann es wissen.
Oje, diese Gedanken beginnen schwer auf dir zu lasten. Du beschließt, hier nicht länger auf den Bus zu warten – du wirst zu Fuß gehen. Zu Beginn des Weges bist du noch ganz angefüllt von dem, was du gerade erlebt hast. Du gehst und gehst, du holst Luft, du beginnst an das zu denken, was du heute noch vorhast. Du kommst wieder an in der wirklichen Welt. Oder verlässt du sie gerade? Ach ja, telefonieren … Wo ist eigentlich dein Handy? Und plötzlich stolperst du über eine absurde kleine Kante zwischen den Gehwegplatten.
Ganz in Gedanken versunken, wärst du beinahe gestürzt. Du also auch. Darüber musst du lächeln. Und gehst weiter.
Stimmungen sind der lebendige Ausdruckunserer Beziehung zur Welt
Nur weil man etwas nicht greifen kann, heißt das noch längst nicht, dass es nicht existiert.
Nur weil etwas äußerst subtil ist, bedeutet das nicht, dass es nicht weh tun kann.
Nur weil etwas kompliziert ist, heißt das nicht, dass man es nicht verstehen könnte.
Nur weil Stimmungen all dies zugleich sind und sich uns ständig zu entziehen scheinen, bedeutet das noch längst nicht, dass wir darauf verzichten werden, ihnen auf den Grund zu gehen.
»Denn nichts anderes tue ich, als dass ich umhergehe, um euch, Junge und Alte, zu überreden, weder für den Leib noch für das Vermögen so leidenschaftlich zu sorgen wie für eure Seele, auf dass diese bestmöglich gedeihe.«
Platon, Apologie des Sokrates
Meine Stimmungen – das ist all das, was mir bewusst wird, wenn ich mich den Automatismen des Alltags entziehe, wenn ich aus dem Handeln heraustrete und das beobachte, was in meinem Innern vorgeht. Das Problematische am Beobachten solcher Stimmungen ist bloß, dass sie sich immerzu verändern. Im Englischen spricht man vom stream of affects, einem Strom, einer Flut von Affekten.
Stimmungen sind der Widerhall, den das eben Erlebte in mir auslöst – oder das, was ich nicht erlebt habe, aber gern erlebt hätte oder noch zu erleben hoffe. Sie sind auch alles das, was in meinem Kopf weiter herumschwirrt, wenn ich mir sage: Schluss jetzt, denk nicht mehr daran!
Kurz gesagt, Stimmungen sind ein Universum für sich.
Die Vorstellung von Stimmungen oder Seelenzuständen gehört nicht in den Bereich der wissenschaftlichen Psychologie; eher ist sie in der Poesie verwurzelt und im gesunden Menschenverstand. Dennoch sind Stimmungen eine psychische Realität, und jeder versteht, wovon die Rede ist. Als Psychiater glaube ich, dass es sich um einen einsatzfähigen und für meinen Beruf nützlichen Begriff handelt, auch wenn er poetisch und vage ist. Aber ist mein Beruf nicht manchmal ebenso poetisch und vage? Wenn man es richtig bedenkt, verweisen Stimmungen schließlich nicht auf eine verschwommene Wirklichkeit, sondern auf eine höchst komplexe Realität.
Definieren könnte man die Stimmungen folgendermaßen: Es sind bewusste oder unbewusste mentale Inhalte, in denen sich körperliche Zustände, subtile Emotionen und automatische Gedanken miteinander mischen; die meisten unserer Haltungen werden von ihnen beeinflusst. Wir widmen ihnen im Allgemeinen wenig Aufmerksamkeit und Mühe – weder um sie zu verstehen noch um sie in unsere Reflexionen mit einzubeziehen oder sie uns gar nutzbar zu machen. Glücklicherweise tun sie all dies von selbst: Sie haben einen immensen Einfluss auf das, was wir sind und was wir tun.
Denken Sie nur einmal daran, wie Trübsal oder Kummer auf Sie wirken. Denken Sie an Ihre Zornesausbrüche. Egal, ob sie sich nach außen ausdrücken oder nicht, sie verhalten sich oftmals ganz unproportional zu den momentanen Ereignissen. Rühren sie nicht häufig daher, dass man gewisse Stimmungen – Ressentiments, Groll, Demütigung oder auch einfach nur Enttäuschung oder Beunruhigung – zu lange wiedergekäut hat? Aber Stimmungen sind ja nicht nur eine Plage: Denken Sie auch daran, wie viel Kraft Sie aus Ihrer Begeisterung schöpfen können, wie leicht sich der Körper an freudigen Tagen anfühlt, wie viel Schwung Ihnen die gute Laune bringt.
Unsere Stimmungen sind mehr als nur Gedanken oder Emotionen: Sie sind eine Mischung aus beidem. Keine Emotion kommt ohne Gedanken daher, kein Gedanke ist frei von Erinnerungen, keine Erinnerung existiert ohne Emotionen. Stimmungen sind der Ausdruck dieser großen, untrennbaren Mixtur von Emotionen und Gedanken, von Körper und Geist, Außen und Innen, Gegenwärtigem und Vergangenem – einer Mixtur, die so reichhaltig wie komplex ist: unrein, einzigartig, unbeständig, immer neu entstehend und niemals exakt dieselbe. Ein bisschen wie die Wellen des Meeres.
Stimmungen sind nicht allein eine Anhäufung von Ideen, Emotionen oder Sinneseindrücken, sondern auch ein ganz eigenständiges Konstrukt: eine von uns automatisch vorgenommene Synthese von Innerem (Körperzustand, Weltsicht) und Äußerem (Reaktivität auf das, was uns geschieht). So sind Stimmungen ein psychisches Phänomen, in dem sich vielerlei sammelt und ballt: Sie verbinden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Gefühl von Kohärenz und Vorbestimmtheit.
»Ohne es zu wollen, fühle ich, dass ich soeben über mein Leben nachgedacht habe. Ich habe es selbst nicht bemerkt, aber so ist es gewesen. Ich meinte, ich sähe und hörte nur, ich wäre während meines ganzen müßigen Umherschlenderns nur ein Reflektor von vorgegebenen Bildern gewesen, eine weiße spanische Wand, auf welche die Wirklichkeit Farben und Licht anstelle von Schatten projiziert. Aber es war mehr, ohne dass ich es selber gewusst hätte. Es war die sich verleugnende Seele mit im Spiel, und sogar mein abstraktes Beobachten war noch eine Verneinung.«1 In dieser kurzen Passage aus seinem wunderbaren Buch der Unruhe zeigt uns Fernando Pessoa, wie Stimmungen permanent existieren, ohne dass wir bewusst eingreifen müssten. Unserer Selbstbeobachtung sind sie auf jeden Fall zugänglich. Bei jeder unserer Aktivitäten stellen sie sich ein. Wenn Sie ein Behördenformular ausfüllen, denken Sie vielleicht, dass Sie nichts weiter tun, als es eben auszufüllen. Aber nein, gleichzeitig keimen in Ihnen verschiedene Stimmungen: Gereiztheit, weil Sie durch diesen Papierkram Zeit verlieren, Beunruhigung, weil Sie vielleicht Fehler machen könnten, Sehnsucht, anderswo zu sein, vielleicht sogar Kindheitserinnerungen an schreckliche Klassenarbeiten … Stimmungen sind ein mentales Klima, das schönes oder trübes Wetter erzeugen kann, welches sich manchmal über mehrere Tage hält, manchmal aber auch mehrmals täglich wechselt.
Ein weiteres Merkmal von Stimmungen ist ihre Remanenz – der partielle Fortbestand eines Phänomens, nachdem seine Ursache längst verschwunden ist. Für Stimmungen ist es geradezu typisch, dass sie länger währen als die Situationen, durch welche sie ausgelöst worden sind. Man beobachtet auch häufig, dass sie wiedererstehen. Die feinziselierte Analyse ihres erneuten Auftauchens, bisweilen nach jahrelanger Pause, trägt zum Reiz der Romane von Marcel Proust bei: »Nur ein Augenblick der Vergangenheit? Vielleicht weit mehr als das; etwas, was – zugleich der Vergangenheit und der Gegenwart zugehörig – viel wesentlicher als beide ist.«2 Stimmungen sind das Kielwasser unserer Taten und Gesten, all die kleinen Zwischenräume, durch welche sich unsere Vergangenheit oder unsere Erwartungen schleichen, um ungeladen am Tisch des Heutigen Platz zu nehmen.
Um von unseren Stimmungen zu sprechen, verfügen wir über verschiedene Wörter: Seelenlagen, Launen, Gefühle, Gemütszustände … Die Briten sprechen von feeling oder mood. In der Fachliteratur stammt der Begriff, den ich bevorzuge und der dem Phänomen am nächsten kommt, von dem Neurowissenschaftler Antonio Damasio. Er spricht von »Hintergrundgefühlen«3, was das Verdienst hat, auf ihre Diskretheit hinzuweisen.
Es gibt viele Wege, auf denen man sich seinen Stimmungen nähern kann. Oft muss man dazu innehalten. Innehalten in dem, was man gerade tut: arbeiten, sich abhetzen, auf die ganze Welt schimpfen … Unsere Stimmungen sind als Hintergrundgeräusch immer vorhanden. Man hält inne und horcht, wie man es im Wald tut, wenn man stehen bleibt und die Ohren spitzt: Nun erst vernimmt man den Wind, die Bäume, die Vögel, alle Geräusche der Natur. Am Anfang reicht es oft aus, wenn wir innehalten und das beobachten, was in uns murmelt. Dann möchten wir ein bisschen weiter gehen, und dazu werden wir lernen müssen, unseren Stimmungen noch besser zuzuhören, beispielsweise durch Meditation oder »Schreiben des Selbst« (Foucault). Von den vielen Praktiken, mit deren Hilfe wir die Wahrnehmung unserer Stimmungen vertiefen können, wird noch die Rede sein. In der Zen-Meditation gibt es dazu die schöne Metapher vom Wasserfall: Jeder von uns kann seine Stimmungen beobachten und dabei trotzdem ganz nahe an ihnen bleiben, gerade so wie ein Wanderer, der hinter den Wasserfall geschlüpft ist und sich zwischen Fels und herabstürzenden Fluten vorübergehend sicher fühlen kann – ein wenig nassgespritzt, ein wenig zitternd, aber doch geschützt und privilegiert. Eines der Ziele der Meditation in Achtsamkeit ist es denn auch, dass man einen Augenblick zur Seite tritt und seine Stimmungen vorüberrauschen sieht, wodurch man sie zergliedern und verstehen kann. Aber man soll nicht versuchen, ihren Fluss aufzuhalten – wer würde im Ernst daran denken, einen Wasserfall abzuschneiden?
Als ich meine Angehörigen bat, mir Beispiele für ihre Stimmungen zu liefern, kamen ihnen zunächst Dinge in den Sinn, die um die Vorstellung »positiv oder negativ« kreisten. Positive Stimmungen wären es, wenn man gute Laune hat oder sich ruhig, entspannt und gelassen fühlt, negative Stimmungen, wenn man Trübsal bläst, schlechtgelaunt oder von Sorgen geplagt ist.
Aber viel typischer für Stimmungen ist doch die subtile Mischung, in der angenehme Elemente mit schmerzlichen Schattierungen einhergehen. In der Nostalgie beispielsweise ist eine solche Mischung deutlich erkennbar: Dieses melancholische Nachtrauern längst vergangener Dinge verbindet eine gewisse Süße (angenehme Erinnerungen) mit Schmerz (darüber, dass sie Vergangenheit sind). Man erinnert sich, lächelt, aber leidet auch an der Erinnerung. Nostalgie ist angenehm genug, dass wir gern in ihr schwelgen. Der leise Unterton von Traurigkeit hat hierbei die gleiche Funktion wie das Salz in einem gelungenen Gericht.
Auch bei der Enttäuschung läuft es ganz typisch ab für eine Stimmung. Sie beruht auf der angenehmen Erinnerung an einmal geschenktes Vertrauen (es tut uns gut, jemandem zu vertrauen, denn es bedeutet, dass wir zuverlässige Bindungen haben), die aber vergiftet wird durch die Ursache der Enttäuschung (Wortbruch oder Verrat). Nach der Bitternis stellt sich hier eine gewisse Erschütterung ein: Enttäuschung lässt uns nicht nur gefühlsmäßig leiden, sie stellt auch unsere Sicht auf die Welt in Frage. Wir hatten Vertrauen, und ab jetzt ist das nicht mehr möglich. Wer sich mit Stimmungen nicht auskennt, wird es vielleicht bizarr finden, dass die Enttäuschung oft einen bittersüßen Nachgeschmack zurücklässt. Das liegt daran, dass sie gewissermaßen eine schmerzliche Befriedigung darstellt, eine neue Sicherheit (und Sicherheiten befriedigen uns mehr als Zweifel): »Ich hätte es wissen sollen … Ich habe es ja geahnt …« Sie ist eine Stimmung, die uns zunächst einen heftigen inneren Schmerz verschafft, bei dem die Emotionen schwerer wiegen als die Gedanken, und dann einen eher schleppenden Kummer, bei dem sich eine trübselige Sicht auf die Welt in den Vordergrund schiebt.
Eine weitere faszinierende und komplexe Stimmung ist das Schuldgefühl. Ein Verwandter oder Freund bittet uns um Hilfe, und wir sagen nein, weil es uns den Tagesplan verkompliziert und die Sache uns ohnehin nicht so wichtig vorkommt. Unsere Ablehnung wird kommentarlos hingenommen. Wir sehen deutlich, dass wir ihn verärgert haben, aber wir wissen auch, dass es keine Katastrophe ist und dass er auch ohne uns irgendwie zurechtkommen kann. Es sei denn … Unser kurzes Gespräch hat Schuldgefühle in uns wachgerufen. Wir fragen uns, ob es richtig war, nein zu sagen. Ob diese Verweigerung sich nicht mit unseren Wertvorstellungen beißt. Unbehagen. Außerdem sind wir traurig, weil wir das Gefühl haben, ihm Kummer zu bereiten und eine Beziehung, die uns wichtig ist, ein wenig zu beschädigen. Wir sind von uns selbst enttäuscht: Hätten wir nicht eine Spur hilfsbereiter sein können? Dann der Ärger, nicht egoistisch genug sein zu können: Mist, was soll’s! Ärger auf den anderen, der mit solch einer Bitte bei uns angekleckert kam: Ohne ihn hätten wir noch unsere Ruhe! Dann stellt sich wieder ein Gefühl von Reue ein – der Wunsch, noch einmal auf die Sache zurückzukommen und doch ja zu sagen, damit wir uns nicht mehr so schlecht fühlen wie gerade eben. Und plötzlich ein Gefühl von Müdigkeit, weil wir uns mit all diesen Wahlmöglichkeiten herumschlagen, all diese Entscheidungen treffen müssen. Ein kurzes Aufwallen von Beunruhigung: Und wenn nun ich eines Tages um Hilfe bitten müsste und die anderen nein sagen? Wenn ich in der Patsche sitze, und niemand hilft mir? Nach einer Weile haben wir die Nase voll von all diesem Herumgrübeln, wir wollen zu etwas anderem übergehen. Aber von wegen! Unsere Stimmungen lassen sich schließlich nicht auf Befehl ein- und ausschalten!
Schon gar nicht das Schuldgefühl, das in unserer Psyche eine wichtige Rolle spielt: Es zwingt uns, bestimmte Entscheidungen, die anderen schädlich sein könnten, noch einmal zu überprüfen. Das Schuldgefühl appelliert an unser moralisches Gewissen und drängt uns zum Nachdenken: Ist dieser Kummer, den ich vielleicht ausgelöst habe, vermeidbar? Und wenn ja, wie? Zu wenig Schuldgefühl lässt uns zu Egoisten werden. Zu viel davon macht uns krankhaft sensibel. Machen uns Schuldgefühle zu besseren Menschen? Ich neige zu dieser Ansicht, aber es gibt auch andere Meinungen. Theodore Dreiser, der amerikanische Schriftsteller und Kämpfer gegen den Kapitalismus, hat einmal gesagt: »Gewissen? Es hält uns niemals davon ab, eine Sünde zu begehen. Es hindert uns lediglich daran, sie in Frieden zu genießen.«
Und dann erst all jene Stimmungen, denen noch niemand einen Namen gegeben hat! Einem meiner Freunde wurde die Beförderung auf einen prestigeträchtigen, aber auch anstrengenden und heiklen Posten versprochen. Er berichtete mir, dass er sich aufgekratzt, geschmeichelt und zugleich beunruhigt fühlte. Wie soll man so ein Gemisch nennen? Und als er dann erfuhr, dass er den Posten letztendlich doch nicht bekommen würde, empfand er, wie er es nannte, eine neuerliche »barocke Stimmungsmelange«. Enttäuscht und gleichzeitig erleichtert sein – hat das einen Namen? Und dabei kommt es so häufig vor! In einer Welt, in der alles erfasst und etikettiert wird, ist es vielleicht auch besser, dass manche Stimmungen unbenannt bleiben. Genialen Schriftstellern gelingt es bisweilen, die richtigen Worte für Stimmungen zu finden, und dann ist die Lektüre für uns wie eine Offenbarung: Was wir bisher nur vage empfunden hatten, sehen wir jetzt erhellt und freigelegt vor uns. So gibt es eine berühmte Passage von Proust, in der er das Schlafengehen eines unruhigen Kindes beschreibt: »Mein einziger Trost, wenn ich schlafen ging, war, dass Mama heraufkommen und mir einen Kuss geben würde, wenn ich bereits lag. Aber dieses Gutenachtsagen dauerte nur so kurze Zeit, sie ging so bald schon wieder, dass der Augenblick, da ich sie heraufkommen und dann in dem Gang mit der Doppeltür das leichte Rascheln ihres Gartenkleides aus blauem Musselin mit kleinen strohgeflochtenen Quasten hörte, für mich ein schmerzlicher Augenblick war. Er kündigte schon den nächsten an, der auf ihn folgen sollte, wo sie mich verlassen haben und wieder unten sein würde. Das ging so weit, dass ich mir beinahe wünschte, dies von mir so heiß ersehnte Gutenachtsagen möge erst so spät wie irgend möglich stattfinden und die Gnadenfrist, in der Mama noch nicht gekommen wäre, zöge sich recht lange hin.«4 Eine überscharfe Aufmerksamkeit für die Details des gegenwärtigen Augenblicks, eine subtile Bewusstmachung der kleinsten Regungen seines Geistes: Proust ist und bleibt der unübertroffene Erforscher von Stimmungen. Die Schriftsteller haben schon lange vor den Psychiatern alles begriffen und beschrieben. Freud sagte dazu einmal, wohin auch immer er gelangt sei, ein Dichter sei schon vor ihm dort gewesen.
Unsere Stimmungen sind tief geprägt von ihrer Bindung an die Zeit – an die Vergangenheit (Nostalgie, Melancholie, Scham, Schuldgefühle), die Gegenwart (Stolz, Befriedigung, Langeweile) und die Zukunft (Beunruhigung, Sorge, Vertrauen).
Im Stolz beispielsweise findet sich die Freude über das Erreichen eines Zieles wieder, aber auch die Erinnerung an überwundene Hindernisse (also frühere negative Stimmungen, die man jetzt in neuem Lichte aufarbeitet). Ich erinnere mich an einen Freund, der im Garten seines frisch erworbenen Landhauses in der Hängematte schaukelte und sagte: »So glücklich wie jetzt bin ich nie gewesen – in meiner Hängematte, vor meinem Haus!« Entsetzte Reaktion der Gäste: »Waaas? Bist du wirklich so ein schrecklicher Materialist? Fühlst du dich jetzt glücklicher als am Tag deiner Hochzeit oder nach der Geburt deiner Kinder?« Und die verlegene Antwort des Freundes: »Ähm, nein … Ich wollte nur sagen, dass in diesem Augenblick alles zusammengefasst ist. All die vielen Augenblicke, die ich mit meiner Frau, meinen Kindern und mit euch zusammen verbracht habe, und dieses Gefühl von Erfüllung, das nur einen Sinn hat, weil alle, die ich liebe, hier mit mir vereint sind. Und ich denke auch an das Glücksgefühl, das meine Kinder verspüren werden, wenn sie einst als Erwachsene dieses Haus übernehmen werden.« Das Publikum atmet erleichtert auf. Es war nicht nur ein Augenblicksglück, sondern auch ein Glück der Erfüllung und der Vorausschau. Nicht nur ein egoistisches Glück, sondern auch ein altruistisches. Diese Stimmung stolzen Glücks war also reich an Komponenten.
Dann wäre da etwa die Neugier, eine im Gegenwärtigen verankerte Stimmung, die eine Mischung ist aus Energie, Vertrauen und dem Wunsch, hier und jetzt zu begreifen und zu handeln.5 Gelassenheit wiederum ist die Ruhe im Gegenwärtigen, aber auch das Gefühl, mit der Vergangenheit seinen Frieden gemacht zu haben, und das Vertrauen in die Zukunft; daher entströmt dieser Stimmung auch ein starkes Empfinden von Kohärenz, von Akzeptanz und Stärke, es mit künftigen Herausforderungen aufzunehmen.
Auch das geschärfte Bewusstsein für die verstreichende Zeit und das Älterwerden sind eine reiche Quelle für Stimmungen. Unruhe stellt sich ein: »Ich werde langsam alt – wie wird es mir ergehen? Oder vielmehr: In welchem Tempo wird es mir so ergehen? In welchem Zustand werde ich an meinem Lebensende sein?« Dazu kommt Überraschtsein: »Was, jetzt schon? Wie unerfreulich und erstaunlich, dass so etwas mit mir passieren kann! Na ja, eigentlich wusste ich es die ganze Zeit. Aber jetzt spüre ich es am eigenen Leib!« Traurigkeit: »Wie schade, all das zu verlieren: die Kraft, die Frische, die Jugendlichkeit …« Groll gegen sich selbst: »Ich habe mir so viele schöne Augenblicke verdorben, statt sie richtig zu genießen.« Aber auch Milde (»Heute ist für mich alles einfacher, klarer und friedlicher.«), Neugier (»Was wird aus mir werden?«) oder Beruhigung (»Ich brauche mich nicht mehr auf anstrengende Konkurrenzkämpfe einzulassen, um meinen Wert oder meine Überlegenheit zu beweisen; inzwischen pfeife ich darauf.«). Und all das in einem einzigen Augenblick, wenn wir spüren, wie in unserem Leben die Zeit verstreicht.
Die Kindheit ist natürlich ein unerschöpfliches Reservoir für Stimmungen, welche auf die Zukunft gerichtet sind. In jenen Jahren schickt man das, was einem widerfährt, noch nicht so oft durch den Filter der Rationalisierung, und man stellt weniger Diskurse zwischen sich und seine Lebenserfahrungen. Man ist neugierig und offen, lebt intensiv in der Gegenwart. Auf diese Weise schafft man sich einen Vorrat an Erinnerungen von großer Intensität. Über Jahre hinweg sind sich Kinder ihrer Stimmungen nicht klar bewusst. Dann kommt der Moment, an dem sich das ändert: Alle Eltern haben diesen Augenblick beobachtet, in dem bei ihren Sprösslingen die Stimmungen geboren werden. Woran denkt jener kleine Junge, der sein Kuscheltier beschnüffelt und ins Leere starrt? Und dieses Kind, das die anderen fortgescheucht haben und das ihnen jetzt aus der Schulhofecke beim Spielen zuschaut, ohne zu weinen? All dies sind Übergänge, bei denen die Kleinen von schnell wechselnden Emotionen zu dauerhafteren Stimmungen gelangen. Ist das Auftauchen von Stimmungen und das Herauswachsen aus der Kindheit eine Chance oder ein Fluch? Hierüber gehen die Meinungen auseinander. Der Schriftsteller Éric Chevillard hat dazu notiert: »Für manche ist die Kindheit eine Art Krankheitszustand, in dem sie sich sehr geschwächt fühlen und den sie mit der Reife glücklicherweise geheilt verlassen; für andere hingegen beginnt, wenn ihre Kindheit endet, die lange Agonie.«6 Aber man kann es auch so sehen, dass dieser Übergang von Leichtigkeit zu Schwere, vom Schwankenden zum Dauerhaften für uns eine riesige Chance und eine Bereicherung darstellt. Erwachsen werden heißt: »Ich habe Erinnerungen, ich habe eine Geschichte.« So weiten unsere Stimmungen den gegenwärtigen Augenblick beträchtlich in Richtung Vergangenheit und Zukunft aus. Aus Tieren, die ganz im Gegenwärtigen gefangen sind, werden wir zu Tieren der Dauer. Die davon träumen, Tiere der Ewigkeit zu sein.
Durch unsere Stimmungen reagieren wir nicht nur auf das Ereignis, welches sie ausgelöst hat, sondern auch darauf, was dieses Ereignis für die Gesamtheit unseres Lebens bedeutet. Auf diese Weise wird dem Detail eine umfassendere Bedeutung zugewiesen, es schreibt sich in unsere Identität ein, in unsere Biographie. Daher spielt bei den Stimmungen auch die Erinnerung so eine wichtige Rolle: die Erinnerung an alles, was man durchlaufen und erlebt hat, und auch an die Art und Weise, in welcher man es durchlaufen hat. Unsere Vergangenheit hat Prägungen hinterlassen, die wieder vollständig an die Oberfläche treten können: Die persönlichen Erinnerungen (das sogenannte autobiographische Gedächtnis) werden meist von komplexen »mentalen Objekten« gebildet, die in den Netzen unseres Gehirns in Form von Stimmungen gespeichert sind. Die durch Proust so unsterblich gewordenen Flashbacks (man verzeihe mir den Anachronismus) sind dafür typisch: Etwas Vages, Verworrenes steigt in uns auf und erweist sich allmählich als ein Gemisch aus sehr komplexen Inhalten (sensoriell, emotional, psychisch …). Dank unserer Stimmungen erinnern wir uns also an unauffällige Augenblicke, die in unserer Biographie ganz im Schatten der großen Erinnerungen, der denkwürdigen Momente stehen. Aber gerade diese Augenblicke sind wesentlich und aufschlussreich, wenn wir die Spur dessen, was unser Dasein ausgemacht hat, zurückverfolgen wollen. Die großen Erinnerungen sind nur so etwas wie Orden und schmückende Applikationen – der Stoff, das Gewebe selbst wird aus unseren Stimmungen gebildet. Sie sind mit allem verknüpft, was wir gern vergessen und was dennoch zählt, mit dem, was auf uns lastet und uns formt, mit dem, was manchmal mit einem Schlag wieder an der Oberfläche sichtbar wird.
Was ein menschliches Wesen ausmacht, sind vielleicht weniger seine öffentlichen Handlungen als seine heimlichen Gewohnheiten, weniger seine planvollen Absichten als seine verschwommenen Träumereien. Es sind unsere Stimmungen, dieser geheimste, aber vielleicht auch aufschlussreichste Teil von uns selbst. Die Menschen, die uns besonders nahe stehen, kennen ihn oder erahnen ihn zumindest. Die Wahrheit über eine Person liegt oft in ihren Stimmungen – daher auch das Unbehagen bei dem Gedanken, jemand anders könnte unsere geheimen Tagebücher lesen. Ich habe darüber mit einer Freundin gesprochen, die mir erzählte, dass sie ihre Tagebuchaufzeichnungen immer wegwarf, sobald sie sich »erleichtert« fühlte. Sie hatte Angst, ihre Kinder könnten auf diese Seiten stoßen oder andere Personen würden die Hefte vielleicht nach ihrem Tod öffnen; sie hatte das Gefühl, das sei ein Teil ihrer Persönlichkeit, vor dem sie sich schämen musste, ein Teil, in dem es zu viele Schatten gab und zu viele »schlechte«, wenn auch ehrliche Gedanken. »Schlecht« waren sie in dem Sinne, dass sie Leiden auslösen konnten, aber auch weil die Frau fand, dass sie ihr Bild beflecken und der Liebe und Hochachtung, die man ihr entgegenbrachte, vielleicht abträglich sein könnten. Ich erinnere mich noch an das Gespräch, das sich daraus entspann. Ich erklärte ihr, dass diese Tagebücher ganz im Gegenteil womöglich das Beste an ihrer Persönlichkeit waren – das Bewegendste, Aufrichtigste, Zerbrechlichste, Ungewisseste und Fluktuierendste. Dass sie ein Spiegel ihrer sich verfestigenden und wieder auflösenden Stimmungen waren. Und dass es gut wäre, wenn diese Spur von ihr erhalten bliebe. Und dann erinnere ich mich an eine andere Freundin, die entsetzt darüber war, welche Gewalt und welcher Schmerz aus dem Tagebuch ihres Sohnes strömten, auf das sie durch Zufall gestoßen war. Sie wusste ja, dass er sehr sensibel war und zu depressiven Momenten neigte. Jetzt aber war sie versehentlich in den intimen Bereich seiner Stimmungen getreten, und alles war viel greifbarer und beklemmender geworden. Das Schwindelgefühl der Eltern, wenn ihnen das heimliche Leid ihrer Kinder bewusst wird …
Für mich als Psychiater sind die Tagebücher von Schriftstellern von ungeheurem Reiz, fast mehr noch als ihre Romane. Das ist kein Voyeurismus (glaube ich jedenfalls), sondern eher eine Vorliebe für das Rohmaterial, für das noch nicht Ausstaffierte und Zubereitete. Im Übrigen stehe ich damit nicht allein. Virginia Woolf hat einmal geschrieben: »Bisweilen denke ich, dass nur die Autobiographie in den Bereich der Literatur fällt; Romane sind Schalen, die wir entfernen, um endlich zum Kern zu gelangen, der nichts anderes ist als du oder ich.«7
Wenn wir uns für unsere Seelenlagen interessieren, ist das nicht bloß ein Egotrip. Seele ist per definitionem das, »was die sinnbegabten Wesen belebt«. Sie erlaubt es uns, über unsere reine Intelligenz hinauszugehen oder sie zumindest in eine andere Richtung zu lenken. Für den Philosophen André Comte-Sponville haben wir »die Seele als unsere einzigartige Weise, die Welt zu erfüllen (subjektiv), und den Geist als Art und Weise, das uns von uns selbst befreiende Wahre in uns zu erfüllen (objektiv)«8. Der Geist befreit, die Seele vollendet.
Es ist nämlich so, dass unsere Stimmungen unsere Lebensklugheit steigern; sie sind die Resultante aus unserer Welt-Erfassung bis hinein in die mikroskopisch kleinen Begebenheiten. Solche winzigen Lebensereignisse lösen keine starken Emotionen aus, sondern Stimmungen.9 Nachdem Sie auf der Straße kleine Alltagsszenen miterlebt haben – ein weinendes Kind, einen Bettler, der seinen Rausch ausschläft, ein streitendes Paar –, löst all dies in Ihnen vielleicht eine trübselige Stimmung aus, ohne dass die Begebenheiten irgendwelchen Einfluss auf Ihren weiteren Tagesablauf oder Ihr Dasein insgesamt hätten. Zumindest äußerlich haben sie keine spürbare Wirkung. In Ihrem Inneren aber treiben sie noch umher, und wer kann wissen, wohin sie Sie einmal führen werden?
Die Genese von Stimmungen ist sehr komplex. Es handelt sich nicht (nur) um bloße Reaktionen auf die Umgebung: Manchmal werden unsere Stimmungen im Einklang mit dem Umfeld stehen (etwa wenn inmitten fröhlicher Menschen auch wir vergnügt sind), manchmal aber auch nicht – trotz der fröhlichen Ausgelassenheit eines Festes können wir Melancholie in uns verspüren. Dann werden wir uns unserer Stimmungen durch den Kontrasteffekt besonders deutlich bewusst, wir gewinnen einen Blick für unsere Unterschiedlichkeit, unsere Eigenart, für das, was uns in diesem Augenblick (oder vielleicht dauerhaft) von den anderen trennt. So helfen uns Stimmungen zu verstehen, was in uns oder um uns herum nicht funktioniert. Vergessen wir aber auch unsere angenehmen Stimmungen nicht – sie zeigen uns, dass die Dinge gerade erstaunlich gut laufen. Wie die Emotionen signalisieren auch unsere Stimmungen einen Kontinuitätsbruch, einen Einschnitt in die beständigen, ruhigen und vorhersehbaren Interaktionen, die wir mit unserer Umgebung pflegen.10 Ein Detail, eine Winzigkeit, und plötzlich ist alles wie ausgewechselt.
Gewiss sind Stimmungen nicht Wunder was; sie können schon durch Kleinigkeiten aufgehellt werden: Eine vage Missstimmung kann durch den Anruf eines Freundes oder einen Spaziergang in der Natur zerstreut werden. Aber sind dieser Anruf oder dieser Spaziergang wirklich solche Kleinigkeiten? Bringen uns die Stimmungen nicht gerade dazu, dass wir uns die fundamentale Bedeutung der »kleinen Dinge« des Lebens bewusstmachen? Sind sie nicht ein Spiegel unserer Empfänglichkeit für Details, die von unserer Intelligenz, unserem logischen Denkvermögen schnell in den Papierkorb des Erinnerungsspeichers abgeschoben werden – das besondere Timbre einer Stimme, ein Nebensatz, der in einer lebhaften Konversation untergegangen ist, eine ausgebliebene Geste, ein Lächeln, das irgendwie falsch wirkt?
Das unablässige, unbeständige In-Bewegung-Sein unserer Stimmungen ist sicher nicht bequem. Die bloße Existenz von Stimmungen stellt sich jeder Form von »mentaler Klimaregelung«, von psychischer Keimfreiheit entgegen, jeder Art von Konstanz in unseren inneren Gleichgewichtszuständen. Das hat bisweilen positive, bisweilen negative Konsequenzen. Hypersensible und hyperemotionale Menschen würden manchmal gern weniger Stimmungen haben – oder zumindest nicht so überbordende. (Im Englischen sagt man, dass solche Personen moody sind, ein Wort, das mit unserem Begriff »launisch« nur unzureichend übersetzt werden kann.) Andererseits bedürfen wir der Stimmungen unbedingt, damit unser Dasein ein wirkliches Leben ist; wir brauchen sie so sehr, dass wir sie uns häufig »injizieren«, um zu spüren, dass wir lebendig sind. Ein Mittel dafür ist die Begegnung mit Kunst: Musik, Malerei, Literatur, Film … Manchmal erreichen wir es auch, indem wir uns »unnützen«, aber wichtigen Beschäftigungen hingeben (hinter allem, was in unserem Leben unnütz und wichtig zugleich ist, verbergen sich Stimmungen). Einst hatte ich einen Nachbarn, der täglich das Zimmer seiner Tochter betrat, die schon vor Jahren ausgezogen war. Er öffnete die Fenster und klappte die Fensterläden auf. Seiner Frau erzählte er vielleicht, dass er einfach nur lüften wolle, aber ich nehme an, dass hinter diesem alltagspraktischen Ritual das mit leichter Traurigkeit eingefärbte Vergnügen steckte, wieder und wieder die Luft des Zimmers zu atmen, in dem die so geliebte Tochter gelebt hatte, die Freude, all die Gegenstände zu sehen, die sie zurückgelassen hatte, die Genugtuung, in dem Raum zu verweilen, in welchem sie geträumt und gearbeitet hatte.
Es sind ja nicht nur die Handlungen, die ein Leben ausmachen. Auch durch Stimmungen gewinnt ein Dasein an Dichte. Und wenn sich unsere Existenz zu weit entfernt von diesen Stimmungen abspielt, wird das verschwinden, was uns zu sinnbegabten menschlichen Wesen macht. Unser Leben wird dann leer sein, die inneren Quellen der Stimmungen werden versiegen, und wir werden – um den so symbolträchtigen Titel des Romans von Nikolai Gogol aufzugreifen – zu »toten Seelen«.
Dies ist ein Thema, über welches die Philosophen seit jeher debattieren. Nietzsches Zarathustra sagt: »Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe.«11 Der französische Philosoph Alain setzt dagegen: »Seele ist das, was den Körper zurückweist. Das beispielsweise, was die Flucht verweigert, wenn der Körper zittert, was das Zuschlagen verweigert, wenn der Körper zornig wird, was das Trinken verweigert, wenn der Körper Durst hat, was die Selbstaufgabe verweigert, wenn der Körper in Schrecken gerät.«12 Und Gustave Thibon setzt noch eins drauf, wenn er eigene Anstrengung und Vorbestimmtheit zugleich evoziert: »Heute ist dein Körper wahrer als deine Seele; morgen wird deine Seele wahrer sein als dein Körper.«13
Auf jeden Fall lassen sich Stimmungen auch im Körper verspüren: In der Traurigkeit ist man »schweren Herzens«, und wenn man gutgelaunt ist, fühlt man sich so leicht und beschwingt! Mit der Schwermut geht etwas Lastendes, Verlangsamendes einher, und wenn wir ungeduldig sind, fällt es uns nicht leicht, ruhig auf dem Stuhl sitzen zu bleiben.
Stimmungen wirken sich auf den Körper aus, werden umgekehrt aber auch von ihm beeinflusst. Wir werden noch sehen, dass jede Form von körperlicher Aktivität (oder Lichteinwirkung) das Erscheinen positiver Stimmungen tendenziell leicht begünstigt. Auch der Menstruationszyklus hat Folgen für das Auf und Ab der Stimmungen: Beim prämenstruellen Syndrom kommt es an den Tagen, die der Regelblutung vorausgehen, zu psychischen Veränderungen wie Reizbarkeit, Angstgefühlen und Stimmungsschwankungen.14
Daher führt im Alltagsleben das bessere Verständnis unserer Stimmungen auch über das Verständnis des Körpers: Man muss auf ihn hören, seine Bedürfnisse befriedigen und ihn pflegen, aber das alles ohne Übertreibung oder Zwanghaftigkeit.
»Es ist nichts im Geist, das nicht zuvor in den Sinnen war« – diese Maxime der Empiristen erinnert uns daran, dass wir zwar keine reinen Seelen sind, die losgelöst von ihrem Körper existieren, aber genauso wenig reiner Geist: Unser Empfindungsvermögen, das zum ureigenen Wesen der Stimmungen gehört, modelliert unsere Denkweise. Die wiederum kann gewisse Stimmungen hervorrufen.
Auch Stimmungen und Gedanken beeinflussen sich wechselseitig. Es handelt sich nämlich um zwei Aspekte desselben Phänomens – so wie eine Spielkarte zwei Seiten hat. Stimmungen sind eine unauflösliche Mischung aus klar definierbaren Gedanken und subjektiven Gefühlsinhalten, die man viel schwerer in präzise Worte fassen kann. Allerdings wird das, was wir denken, nicht automatisch mit einem bestimmten Gefühlsinhalt verknüpft.15 Wenn Sie für sich persönlich einen Erfolg oder eine Niederlage konstatieren, wird das nicht zwangsläufig angenehme beziehungsweise unerfreuliche Stimmungen nach sich ziehen. Alles wird nämlich sehr schnell neu zusammengesetzt, wobei viele andere Elemente unserer Persönlichkeit, unserer Vergangenheit ins Spiel kommen. Auf diese Weise gibt es bittere Siege und heitere Niederlagen.
Bei einer Stimmung sind die Gedanken zunächst oft vage – wie Wolken, die vom Wind umhergetrieben werden. Sie driften auseinander, zerreißen und finden wieder zusammen; sie entziehen sich unserem Einfluss. Überlassen wir sie sich selbst, so werden diese an Stimmungen gekoppelten Gedanken ihr Eigenleben führen; es ist ein natürliches, wildes, archaisches Denken, wenngleich kein nutzloses. So werden wir oft leistungsfähiger sein, wenn wir eine leichte emotionale Aktivierung aufweisen (dabei geht es nicht um starke Emotionen, sondern eher um Stimmungen). Selbst Labormäuse lernen ihre Aufgaben besser, wenn sie von maßvollen und passenden Emotionen erfüllt sind, und ihre Leistungen brechen ein, wenn man sie daran hindert, diese Emotionen zu verspüren, indem man ihnen den Nervus vagus, der sie über den Zustand ihres Körpers auf dem Laufenden hält, entfernt.16
Man weiß auch, dass wir bei dem, was man landläufig »Intuition« nennt, durch eine unterschwellige Wahrnehmung informiert werden. Sie aktiviert unbewusste Gedanken und subtile Emotionen. Jedes Mal, wenn wir spüren, dass uns jemand belügt oder etwas vor uns verheimlicht, beruht unsere Intuition in Wahrheit darauf, dass wir Asymmetrien im Gesicht unseres Gesprächspartners und verschiedene kleine Unstimmigkeiten unbewusst wahrnehmen.17 Diese Wahrnehmung löst die so typische Stimmung des Zweifelns aus: Man verspürt körperliches Unbehagen, ist ein wenig bedrückt und gedanklich blockiert. Bei alledem hat man kein stichhaltiges Argument gegen den anderen in der Hand – nichts als die innere Überzeugung, dass etwas nicht stimmt. Diese Art von Zweifel ist keine intellektuelle Erfahrung: Wir zweifeln auch und zuallererst im Unbehagen unseres Fleisches.
Emotionen sind stets ein zentraler Baustein von Stimmungen, aber häufig fehlt bei Letzteren die Tendenz zum Handeln, die für heftiges emotionales Erleben so typisch ist. Geraten wir beispielsweise in Zorn (starke Emotion), brüllen wir los und nähern uns dem anderen (ohne dass es uns immer bewusst wäre). Sind wir hingegen nur gereizt (Stimmung), möchten wir uns eher von dem entfernen, was unsere Gereiztheit ausgelöst hat (wir spüren nämlich, dass wir sonst den Konflikt noch schüren könnten). Im Zorn gerät man »außer sich«, während man sich in gereizter Stimmung noch unter Kontrolle hat und die Verärgerung vielleicht gar überdecken kann.
Stimmungen werden von Emotionen erfüllt, die »im Inneren steckengeblieben« sind und im Unterschied zu den starken Emotionen auf körperlicher und verhaltensmäßiger Ebene nicht sichtbar werden. Tiefe Trauer drückt uns nieder und lässt uns erstarren, während uns eine trübselige Stimmung nicht unbedingt daran hindert, weiter unseren Geschäften nachzugehen. Vielleicht wird sogar niemand bemerken, was in uns abläuft.
Stimmungen sind demnach so etwas wie die kultivierteren Verwandten unserer altertümlicheren und gröberen Emotionen. Von den sogenannten primären oder elementaren Emotionen unterscheidet sie, dass sie dauerhafter und weniger intensiv sind, andererseits aber auch einflussreicher, weil man das, was schwach und unauffällig ist, leicht vergisst und in seiner Wirkung unterschätzt (ein winziger Stachel von Schuldgefühl kann uns den ganzen Tag verderben). Vor allem haben sie umfassendere Auswirkungen, denn sie existieren nicht nur als Antwort auf eine bestimmte Auslöse-Situation, sondern schlagen sich auf unser gesamtes Verhältnis zur Welt nieder. Stimmungen kreisen anders als Emotionen nicht unbedingt um einen präzisen Gegenstand; dennoch haben auch sie ihre Quellen, selbst wenn uns diese meist verborgen bleiben. Emotionen sind gemeinhin eine »Antwort« auf etwas, das uns »widerfährt«; Stimmungen können auch in unserem Inneren entstehen, selbsterzeugt sein.18
Während Emotionen unsere Sicht auf die Ereignisse radikalisieren und vereinfachen, machen Stimmungen alles komplizierter, verhelfen uns andererseits aber auch zu subtileren Sichtweisen.
Emotionen sind »soziale Agitatoren«19, die unsere Beziehung zu den Mitmenschen und zur Welt verändern. Stimmungen sind eher »innere Agitatoren«, die unser Verhältnis zu uns selbst und unsere Sicht auf die Dinge verwandeln. Emotionen drängen uns eher zu äußerlich sichtbarem Handeln, Stimmungen eher zu innerlicher Reflexion.
Stimmungen können im Kielwasser heftiger Emotionen fortdauern (denken Sie an den Zustand, in welchem Sie nach dem Abklingen einer großen Freude oder starken Enttäuschung sind). Sie können aber auch der Nährboden sein, welcher das Heranwachsen einer stärkeren Emotion begünstigt: Eine leichte Miesepetrigkeit bereitet Schübe von Trübsinn und Traurigkeit vor. Unterschwelliger Groll kann zum Aufflammen von Zorn führen. Auf einem Nährboden von Ängstlichkeit treibt plötzlich ein Panikausbruch Blüten.
Alle Untersuchungen belegen, dass sich unser emotionales Leben oft auf einem unauffälligen Niveau abspielt – eher auf der Ebene von Stimmungen als in Form von starken Emotionen. Die gute Nachricht dabei ist, dass positive Stimmungen häufiger auftreten als negative. Für eine Studie wurden 17 000 »Augenblicksstimmungen« erhoben, und 75 % davon waren eher positiv.20 Allerdings gibt es bei den negativen Stimmungen eine breitere Palette.
Relative Seltenheit starker Emotionen und Häufigkeit von Stimmungen (10 169 zufällige Augenblicksbeobachtungen von 226 Testpersonen)21
Verspürte IntensitätSehr gering oder überhaupt nichtGeringStarkNegative emotionale ZuständeAngst73,8%22,6%3,6%Traurigkeit66,5%28,7%4,9%Zorn74,8%20,0%5,2%Abscheu67,1%27,5%5,4%Schuldgefühle77,2%19,0%3,8%Verachtung74,7%21,0%4,3%Mittelwert72,4%23,1%4,5%Positive emotionale ZuständeFreude33,4%47,9%18,7%Interesse30,5%54,5%15,0%Freudige Erregtheit38,4%43,3%18,3%Mittelwert34,1%49,5%17,3%In jener Untersuchung sollten freiwillige Versuchspersonen ihrem gewöhnlichen Tagewerk nachgehen und einfach nur ihre augenblicklichen Stimmungen notieren, wenn ein kleiner Wecker in ihrer Tasche klingelte. Sie lässt darauf schließen, dass unsere Tage in einem ziemlich gemäßigten, komplexen und gemischten emotionalen Klima verlaufen.
Mensch zu sein heißt, sich über sich selbst, die eigene Kohärenz und das eigene Handeln befragen zu können: Wer bin ich? Warum bin ich hier? Weshalb stehe ich morgens auf? Man nennt so etwas ein reflexives Bewusstsein. Es besteht in der außergewöhnlichen Befähigung, sich selbst zum Gegenstand der Reflexion zu nehmen und eine Selbstanalyse durchzuführen. Lange dachte man, der den übrigen Fingern gegenüberstellbare Daumen wäre ein entscheidendes Charakteristikum des Menschen und hätte ihm im Vergleich zu den Affen zum Glück verholfen. Wichtiger noch sind aber vielleicht die Stimmungen, die uns von unserer Animalität und unseren Reflexen distanzieren!
Tiere haben Emotionen, Menschen verfügen noch dazu über Stimmungen und können sich ihre Emotionen bewusst machen. Obwohl …
Es sieht ganz so aus, als könnten sich auch bestimmte Tiere bis zu Stimmungen aufschwingen – Elefanten beispielsweise. Man hat von einer Elefantenkuh berichtet, die über mehrere Tage hinweg die Leiche ihres Kleinen mit dem Rüssel und den Füßen immer wieder hin und her drehte. Gewiss kann man in diesem Fall auch von simplen Anhänglichkeitsreflexen und Konditionierung sprechen. Es gibt aber noch verwirrendere Belege: Man hat bei Elefanten auch beobachtet, wie eine Familiengruppe die ganze Nacht neben der Leiche eines ihrer Angehörigen, der von Wilderern getötet worden war, gewacht hat oder wie ein Elefantenjunges aufmerksam die Gebeine seiner Mutter abtastete und beschnüffelte.22 Schwer vorzustellen, dass diese tierischen Verwandten keine Stimmungen haben sollten!
Drücken wir es vielleicht vorsichtiger aus: Unter allen Tieren, die mit einem Bewusstsein ihrer selbst begabt sind, haben die Menschen bei weitem die komplexesten Stimmungen. Sie sind imstande, über diese Stimmungen nachzudenken und sich über sie zu erklären. Stimmungen können sie dazu treiben, den ganzen Verlauf ihres Daseins zu ändern.
Überhaupt keine Stimmungen zu haben ist deshalb gleichbedeutend damit, das eigene Menschsein zu suspendieren. Hüten wir uns vor jenen, die behaupten, sie wären gegen Stimmungen gefeit! Überhaupt ist es ganz unmöglich, keine zu haben. Wir können sie vielleicht unterdrücken, verschleiern, uns ihnen verweigern. Aber damit verweigern wir uns unserer Menschlichkeit und berauben uns dessen, was vielleicht das Beste ist am Menschsein: unserer Innerlichkeit. Diese Dialektik des »Verspürens« und des »Begreifens« sollte uns deshalb dazu führen, die eigenen Stimmungen zu akzeptieren, zu beobachten und zu mögen. Wir sollten wirklich keine Chance ausschlagen, diese so schwierige Welt zu erkennen und einen Zugang zu ihr zu finden!
»Alles in allem würde ich Ihnen gern eine positive Botschaft mit auf den Weg geben. Ich habe aber keine. Tun es zwei negative vielleicht auch?«
Woody Allen
»Wie geht’s, Faustine, bist du heute gut drauf?«
»Ich hasse diese Frage – davon kriege ich gleich schlechte Laune!«
Sie sagt es mit einem Lachen, aber der Vater begreift, dass er bei seinem Versuch, die Stimmungen seiner Tochter im Teenageralter zu ergründen, nicht weiter bohren darf: Die so harmlose Frage wird schon als Eindringen in die Privatsphäre gedeutet. In diesem Alter verbirgt man sein Innenleben oft schamhaft vor den anderen und hat Mühe, es in Worte zu fassen. Aber die kleine Anekdote zeigt uns auch, wie nahe beieinander die beiden großen Kategorien von Stimmungen liegen.
Der Aufbau unseres Gehirns und unseres Nervensystems führt ganz zwangsläufig dazu, dass wir alles, was wir verspüren, und alles, was uns widerfährt, in gerade mal zwei Kategorien einordnen: Ist diese Erfahrung eine angenehme (positiv) oder eine unerfreuliche (negativ)?
Diese Funktionsweise unserer elementaren Empfindungen hat ihre Wurzeln in der Evolution: Auf der niedrigsten Ebene dessen, was belebt ist (Pantoffeltierchen, Insekten), werden die Sinneseindrücke in dieser Weise aufgeteilt, damit sich die Lebewesen dem zuwenden, was ihr Überleben begünstigt, und dem entfliehen, was sie bedrohen kann. Unsere Stimmungen haben hier ihren Ursprung!
Neurowissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass unser Gehirn die Welt auf eben diese vereinfachende Art erfasst1 – nach den Kriterien »gut – nicht gut« oder »angenehm – unangenehm«. Später, wenn unsere geistigen Fähigkeiten ausreifen, treten allmählich detailliertere Analysen hinzu: »wünschenswert – unerwünscht« (wenn sich die Befähigung zur Vorwegnahme einstellt), »in guter Erinnerung – in schlechter Erinnerung« (wenn sich das Gedächtnis einschaltet) etc.
Als Tiere sind wir so programmiert, dass wir positive oder negative Stimmungen verspüren. Aber als Menschen bringen wir in die ganze Geschichte noch ein wenig Subtilität und Komplexität ein.
»Sicher, ein Ende des Lebens erwartet uns Sterbliche alle, / Flucht vor dem Tod ist nicht möglich, es rettet uns nichts vor dem Sterben. / Außerdem drehn wir uns stets und verharren im selbigen Kreise, / und kein neues Vergnügen ersprießt aus der Lebensverlängrung.«2 In seinem langen Lehrgedicht De rerum natura liefert uns der altrömische Dichter Lukrez (von dem es übrigens heißt, er habe sich umgebracht) eine finstere und gequälte Version seiner epikureischen Weltsicht. Lukrez ist ein Philosoph, dessen Werk uns daran erinnert, dass Epikureismus nicht der versimpelte Hedonismus ist, als den wir ihn heute oft missverstehen. Auch er besitzt nämlich eine dunkle und tiefe Seite. Aber Lukrez steht keineswegs allein; viele andere haben ebenso gedacht wie er. Pessoa beispielsweise: »Das Leben ist für die meisten Menschen eine Plackerei, die man übersteht, ohne sie zu bemerken, etwas Trauriges, was aus heiteren Interludien besteht, ähnlich den Anekdoten, die man sich während der Totenwache erzählt, um die Stille der Nacht und die Verpflichtung zum Wachen zu überbrücken.«3
Sind die Menschen dazu verdammt, ihr ganzes Leben lang gegen ihre Neigung zur Nervenschwäche und gegen die Traurigkeit und Leere des Daseins anzukämpfen? Oder sind die im Trübsinn Schwelgenden nicht einfach Opfer ihrer eigenen depressiven Tendenzen – Menschen, denen es nicht gelungen ist, ihr Glück zu schmieden, und die dann, wie jeder von uns, dazu neigen, ihre persönlichen Stimmungen auf den allgemeinen Weltzustand zu übertragen?
Immerhin haben sie ein paar gute Argumente auf ihrer Seite. In allen Sprachen gibt es beispielsweise für negative Stimmungen viel mehr Wörter als für positive.4 Ist das nur eine Vorherrschaft im Reich der Sprache oder vielleicht auch in unserem Gehirn, und was spiegelt sie wider? Eine Notwendigkeit (das ist die evolutionistische Ansicht)? Falsche Wahrnehmungen und Schieflagen in unserem Verhältnis zur Welt (hier kommt etwa der berühmte »Zeigarnik-Effekt« ins Spiel)? Oder ist es nur der Widerschein der Realität (das Leben ist eben hart)? Versuchen wir doch einmal, in dieser Angelegenheit klarer zu sehen.
Die sogenannten evolutionistischen Theorien unterstreichen, dass alles, was den Menschen körperlich oder geistig auszeichnet, für das Überleben seiner Art (und nebenbei sein persönliches Überleben) von Nutzen ist oder zumindest einmal von Nutzen war.
Versuchsteilnehmer wurden vor einem Computerbildschirm platziert, auf dem verschiedene Wörter erschienen, aber immer für so kurze Zeit, dass sie nur unterschwellig wahrgenommen werden konnten. Fragte man die Testpersonen, ob sie glaubten, ein Wort gesehen zu haben, so bejahten sie das viel häufiger, wenn es sich um negative Wörter handelte. Stellte man ihnen dann die Frage, ob es ein positives oder negatives Wort gewesen war, gab es mehr richtige Antworten bei den negativen Wörtern. Fragte man hingegen nach dem Sinn des negativen Wortes, das sie wahrgenommen zu haben glaubten, so konnten sie darauf nicht antworten. Das ist auch kein Wunder, denn alles lief wirklich sehr schnell ab, und die ganz primitiven Teile unseres Gehirns, die für Gefahrenerfassung zuständig sind, sperren sich gegen das Lesenlernen.5 Mit anderen Worten: Es ist ein bisschen so, als wäre unser Gehirn so beschaffen, dass es zunächst einmal eine Gefahr aufspürt und dann erst beginnt, sie zu begreifen und zu analysieren.
Zahlreiche Studien haben ähnliche Resultate erbracht und beispielsweise gezeigt, dass wir in einer Menge von Gesichtern die feindselig dreinblickenden schneller ausmachen als die wohlwollenden.6
Nicht allein, dass das Negative schneller aufgespürt wird, es löst auch eine heftigere Reaktion aus. Stimuliert man das Hirn freiwilliger Versuchspersonen, indem man ihnen sogenannte emotionale Bilder präsentiert (etwa lächelnde oder finstere Gesichter, nackte Menschen oder Gewaltszenen) und im Vergleich dazu »neutrale« Bilder (ausdruckslose Gesichter oder simple Küchengeräte), so erhält man automatische Reaktionen des Gehirns in Form von Änderungen der elektrischen Spannung, die sich per Elektroenzephalogramm nachweisen lassen. Nach der Ausstrahlung emotionaler Bilder fallen diese Reaktionen heftiger aus, was vielleicht nicht überrascht, aber außerdem stellte man fest, dass sie nach negativen Stimuli länger andauern als nach positiven Gefühlen. Kein Zweifel, unser Gehirn ist so eingerichtet, dass es unseren Fokus auf die Quellen möglicher Scherereien scharf stellt.7
Es sieht also ganz danach aus, als wären wir zerebral so »verkabelt«, dass unsere Aufmerksamkeit sich schneller, stärker und länger auf Situationen richtet, die negative Emotionen auslösen: Willkommen im Überlebenskampf! Sind wir also allein durch die Bauart unserer Gehirnmaschinerie zu Depressionen und Ängsten verurteilt? Womöglich schon, und in gefährlichen oder zweideutigen Situationen ist genau das unser Glück.
Ist die Gefahr aber erst einmal vorüber und die Situation einigermaßen verstanden oder geregelt, müssen wir daran arbeiten, zu angenehmeren Stimmungen zurückzufinden und unser Wohlbefinden neu aufzubauen! Da kommt uns gelegen, was verschiedene Untersuchungen erwiesen haben: Unser Gehirn verfügt über die Fähigkeit, positive Informationen schneller zu analysieren als negative (nicht wahrzunehmen, sondern zu analysieren, um zu verstehen). Weil sie weniger bedrohlich sind, erfordern sie wahrscheinlich auch nicht so große Wachsamkeit, und weil sie uns nicht zu unverzüglichem Handeln zwingen, bleibt uns mehr Muße für die Reflexion. Außerdem besagen manche Studien, dass die »positiven Konzepte« einfacher und ursprünglicher sind: Bei den Stimmungen sprechen wir beispielsweise von glücklich und un-glücklich, von ruhig und un-ruhig, aber nicht von traurig und un-traurig oder wütend und un-wütend. Die positive Stimmung ist also oft zuerst da, und die negative wird später als Gegensatz zu ihr konstruiert.
Positive Ideen und Bilder wären somit leichter zu memorisieren. Daher scheint unser Gedächtnis auch vor allem Erinnerungen mit positiver Färbung zu speichern.8