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Camelot – die unvergleichliche Welt von Merlin, Lancelot, Sir Gawein, Morded und der schönen und nicht immer treuen Guinevere. Die Abenteuer König Arthurs und der Ritter seiner Tafelrunde sind eine der reichsten und farbigsten Quellen phantastischer Literatur überhaupt. Sie erzählen von dem Jungen, der zum König wurde, weil er ohne Mühe ein verzaubertes Schwert aus dem Stein ziehen konnte, und so fasziniert sie Leserinnen und Leser seit Jahrhunderten immer wieder aufs Neue. Kein anderes Werk der Fantasyliteratur hat so einzigartig gezeigt, was ein Ritter ist und was ein Zauberer, wie die Erzählungen über König Arthur, den Zauberer Merlin, Lancelot und seine Gefährten. Zahllose Abenteuer müssen sie bestehen und Britannien gegen Angreifer behaupten. Das Unglück beginnt, als Arthur zu einem Duell mit einem König Frankreichs aufbricht und seinem Sohn Mordred den Auftrag gibt, das Land zu verwalten… Wird des Königs eigener Sohn zum schlimmsten Verräter? Bis heute ist es ein Rätsel, ob Arthur den Wunden aus einem Kampf erlegen ist oder ob er nur auf die sagenumwobene Insel Avalon gebracht wurde, von der er eines Tages wiederkehren wird. John Matthews, einer der weltweit führenden Kenner altenglischer Sagen, erzählt aus bislang unbekannten Quellen gänzlich neue Geschichten um König Arthur und die Ritter der Tafelrunde und flicht sie in den Horizont der klassische Sagen: ein beispielloses Leseerlebnis und ein großes literarisches Ereignis! Die berühmteste Heldensage der Welt neu erzählt Mit zahlreichen bisher unveröffentlichten Geschichten Mit Illustrationen des berühmten Tolkien-Künstlers John Howe Mit einem Vorwort von Neil Gaiman
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1090
Die Legende von König Arthur und den Rittern der Tafelrunde
Das Schwert im Stein
Das große Buch von König Arthur und den Rittern der Tafelrunde
Ein neuer Morte D’Arthur
Zusammengestellt und verfasst von JOHN MATTHEWS
Vorwort von NEIL GAIMAN
Mit Illustrationen von JOHN HOWE
Übersetzt von SUSANNE HELD
KLETT-COTTA
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Hobbit Presse
www.hobbitpresse.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Great Book of King Arthur and the Knights of the Round Table« im Verlag HarperCollinsPublishers London/Dublin 2022
© 2022 by John Matthews
Illustrationen © John Howe
Vorwort © Neil Gaiman
Für die deutsche Ausgabe
© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Birgit Gitschier, Augsburg
unter Verwendung der Daten des Originalverlags; Coverillustration: © John Howe 2022
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-608-98637-2
E-Book ISBN 978-3-608-12158-2
Widmung
Verzeichnis der Bildtafeln
Dank
Vorwort
Einführung
Buch Eins
–
Das Buch Merlin
1
Die Herkunft Merlins
2
Die Geschichte von Avenable
3
Merlin und die Drachen
Buch Zwei
–
Das Buch von der Tafelrunde
4
Die Gelübde von König Arthur und seinen Rittern
5
Der Papageien-Ritter
6
Wie Sir Lancelot seinen Namen erfuhr
7
Die Geschichte von Palomides und dem Queste-Tier
8
Das Abenteuer des schönen Unbekannten
9
Die Geschichte von Sir Lanval
10
Die Abenteuer von Meriadoc, König von Cambria
11
Die Geschichte von Guingamor und Guerrehes
I
II
12
Die Abenteuer von Adler-Junge
13
Die Geschichte von Caradoc Stark-Arm
14
Die Abenteuer von Melora und Orlando
15
Der Besuch der Dame mit der grauen Schwarte
16
Die Geschichte von Tyolet
17
Die Geschichte von Jaufre und dem großen Wehklagen
18
Die Geschichte von Sir Marrok und dem Wolf
19
Die Erzählung von Sir Torec und dem goldenen Reif
Buch Drei
–
Das Buch von Sir Gawain
20
Die Anfänge von Sir Gawain
21
Sir Gawain und der ohrlose Hund
22
Die Abenteuer am Tarn Wathelyn
I
II
23
Die Geschichte von Gorlagros und Gawain
24
Sir Gawain und der Carle von Carlisle
25
Der Ritter und das Zauberschwert
26
Das Maultier ohne Zaumzeug
27
Die Hochzeit von Sir Gawain und Lady Ragnall
Buch Vier
–
Das Buch vom Gral
28
Die Erläuterung des Grals und die Geschichte von Sir Perceval
29
Die Geschichte von Morien
30
Die Abenteuer des Sone de Nansay
Buch Fünf
–
Das Ende der Tafelrunde
31
Der Tod König Arthurs
32
Die Reise nach Avalon
Anmerkungen und Quellen
Weiterführende Literatur
Wappen von Sir Thomas Malory
* * *
Zur Erinnerung an Sir Thomas Malory, Ritter, geboren 1415 in Warwickshire; gestorben 1471 in London.
&
Für John Ronald Reuel Tolkien (1892–1973) den bedeutendsten Chronisten der Alten Tage.
Tafel I
Er selbst ritt an der Spitze dieser seltsamen Kolonne auf einem großen Hirsch.
Tafel II
… dann begann sich die Dunkelheit zu bewegen und zu winden, und aus ihrem Inneren erhoben sich die beiden Drachen, wie Merlin es vorausgesagt hatte.
Tafel III
Von dort sah er, wie das Queste-Biest an die Quelle kam, um zu trinken, genau wie König Arthur es viele Jahre zuvor gesehen hatte.
Tafel IV
Guingamor wendete sein Pferd, und das Wildschwein sauste an ihm vorbei und stürzte in den Wald.
Tafel V
Kaum war der Hofstaat … aus dem Blickfeld verschwunden, erblickte der Jagdritter einen wunderschönen Hirsch, der in überirdischem Licht zu leuchten schien.
Tafel VI
Es hatte die Gestalt eines Menschen, doch es war knochig und abgemagert, Kleidungsfetzen und Erdklumpen und womöglich vermoderndes Fleisch klebten an ihm.
Tafel VII
An beiden Abhängen des Tals krochen und wanden sich Skorpione und Schlangen, größere, als er je gesehen hatte.
Tafel VIII
Perceval kam nun in einen Teil des Landes, der verödet zu sein schien.
Tafel IX
Nun folgte ein fürchterlicher Kampf. Der Riese Aligos war tatsächlich elf Fuß groß …
Tafel X
So bewegten wir, das Tier und ich, uns zusammen über das wilde Meer, vorbei an den Küsten vieler Landstriche, die ich gerne erkundet hätte.
Mein erster Dank gilt meiner Frau Caitlín Matthews, die meinen langen Weg bis zum Schreiben dieses Buches mit mir gegangen ist und deren ständige Unterstützung und wundervolle Weisheit jede Seite heller erstrahlen ließ, als es ohne sie der Fall gewesen wäre. Außerdem danke ich Dwina Gibb und David Elkington, deren Kommentare ebenfalls dazu beigetragen haben, den Inhalt der einzelnen Geschichten zu gestalten. Des Weiteren möchte ich zweier anderer großer Artuskenner gedenken, die mich vieles über die Gestaltung dieser phantastischen Erzählungen gelehrt haben: John James (1923–1993) und Peter Vansittart (1920–2008), die, so stelle ich es mir gerne vor, beide ihre Freude an diesem Buch gehabt hätten. Neil, einem weiteren der wahrhaft großen Geschichtenerzähler unserer Zeit, danke ich für sein fabelhaftes Vorwort. Ich danke meinem Agenten, Peter Buckman, für einige pointierte Kommentare zu Beginn des Buches. Und schließlich, aber keineswegs zuletzt danke ich John Howe, dessen außergewöhnliche Kunst diesen Band verschönt. Ich bewundere seine Arbeit seit Langem, und dass er bereit war, sich auf diesen Text einzulassen, obwohl er schon mit vielen anderen Projekten beschäftigt war, werde ich ihm nie vergessen.
John Matthews,
Oxford 2021
Zum ersten Mal begegnete ich König Arthur in einem dicken gebundenen Buch mit bunten Bildern. Das Bild im ersten Kapitel, auf dem der rote Drache am Fuße von Vortigerns Turm gegen den weißen kämpft, hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich war sechs Jahre alt. Das Buch gehörte der Familie Harris, die ich daheim zu besuchen und deren Bücher ich zu lesen pflegte. Dort las ich zum ersten Mal die Narnia-Bücher, und in Mr. Harris’ Regalen begegnete ich zum ersten Mal Dracula. Kurz: Das war der Ort, wo die guten Bücher standen. Ich las die Geschichten in diesem Buch mit Ehrfurcht und Beklemmung, staunte über die Erzählungen und erfreute mich an der üppigen Erzählkunst.
Roger Lancelyn Greens Tales of King Arthur war die zweite Begegnung, und die dritte fand im Kino statt: die für mich in diesem Alter äußerst enttäuschende Verfilmung von Camelot. Die Leute auf der Leinwand standen offenbar unter dem Eindruck, dass es sich bei der Geschichte von König Arthur und seinen Rittern um eine Art Liebesgeschichte handelte, was mir im Alter von sieben Jahren völlig abwegig vorkam. Ich wollte weiße und rote Drachen, die miteinander kämpften; blitzende Schwerter, besiegte Riesen und geheimnisvolle wortkarge Ritter in bunten Rüstungen, keine Lieder und Küsse und ein trauriges Ende.
Ungefähr im Alter von dreizehn Jahren abonnierte ich den auf der Rückseite des Sonntagsmagazins einer Tageszeitung beworbenen Book Club, um kostenlos das zweibändige Oxford English Dictionary (inklusive Lupe) zu erhalten, das ich, wie ich feststellte, brauchte, um William Morris’ Fantasy-Roman The Well at the World’s End (dt. Die Quelle am Ende der Welt) zu lesen, in dem viele archaische Wörter verwendet wurden, die ich in keinem normalen Wörterbuch finden konnte. Ich musste auch ein richtiges Buch beim Buchklub bestellen, um das kostenlose Wörterbuch behalten zu dürfen, und also bestellte ich eine wunderschöne Ausgabe des Morte D’Arthur mit mittelalterlichen Illustrationen. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als das Buch ankam, ich es aufschlug und in die Welt von Malory eintauchte. Malory zu lesen, war einfacher, als William Morris zu lesen. Ich verliebte mich sofort in Merlin, den Sohn eines Dämons. Ich wurde, nun ja, ein bisschen besessen von Artus-Fantasy. Ich hatte bereits die Bücher von T. H. White gelesen (in verschiedenen, verwirrend unterschiedlichen Ausgaben – damals verstand ich noch nicht, dass widersprüchliche Geschichten und unterschiedliche Nacherzählungen von Geschichten, die man bereits einmal gelesen hat, den Kern des Phänomens »König Arthur« ausmachen), und ich genoss die Geschichten – während ich mir immer wünschte, dass die Dinge für den armen Arthur, den ich als jungen Wart so sehr gemocht und dem ich nur Gutes gewünscht hatte, anders verlaufen wären.
Mich beschäftigte die Frage nach der Zeit und nach den Gründen für all das. Die herrlichen Anachronismen – wie Shakespeares Julius Cäsar mit seinen Uhren, Büchern und Wämsern – verstärkten die Freude. Die Geschichten über König Arthur wurden zu einer Zeit niedergeschrieben und gesammelt, als alles in einer glorreichen Gegenwart existierte, ein mythisches Zeitalter der großen Abenteuer und des Rittertums fand also in Malorys eigenem Zeitalter des Rittertums statt. Einige der Geschichten, so schien es mir, waren alte Geschichten, an die man sich erinnerte, die man erzählte und wieder erzählte, und einige wurden an Ort und Stelle neu verfasst, inspiriert von den alten Geschichten. Beide Varianten waren wundervoll.
Alles Artushafte begeisterte mich, auch wenn es immer Mangelware war, und in meinen Teenager- und frühen Zwanzigerjahren freute ich mich über jede noch so seltene Begegnung mit Arthur. Das, was ich liebte, war präsent in Monty Python and the Holy Grail (dt. Die Ritter der Kokosnuss), und obwohl es sich dabei um eine Komödie handelte, war es eine Komödie, die die Artus-Phantasie verstand und sie als Spiegel nutzte, um ihre Witze zu reflektieren; das Geliebte war präsent in John Boormans Film Excalibur, obwohl dieser sich nicht für die Charaktere als Menschen zu interessieren schien und hauptsächlich – so kam es mir vor, als ich ihn sah – auf das Spektakel abzielte.
Ich weiß nicht mehr, welches das erste Buch war, das ich von John und Caitlín Matthews gekauft habe, aber ich weiß noch, dass ich es in einer auf Magie spezialisierten Buchhandlung in der Nähe des British Museum gekauft habe und dass das Thema (wenig überraschend für John oder Caitlín) keltische magische Traditionen waren. (Wikipedia und Google waren keine Hilfe, als ich herausfinden wollte, um welches Buch es sich handeln könnte: Das Paar hat, zusammen und jeder für sich, so viele Bücher geschrieben.) Ich erinnere mich vor allem daran, wie nützlich es war. Wir schrieben das Jahr 1988; ich recherchierte über magische Traditionen für The Books of Magic (dt. Die Bücher der Magie), einen vierteiligen Comic, den ich für DC Comics schreiben würde, und war etwas entmutigt. Ich hatte mir zu Recherchezwecken ein ganzes Regal mit Büchern zum Thema Magie gekauft und fand sie langweilig, nicht überzeugend und oft leicht peinlich, so als könnten die Autoren das Gefühl nicht loswerden, dass das, was sie schrieben, im Grunde genommen etwas Törichtes war. Ich hatte den starken Verdacht, dass ich mir bessere und überzeugendere magische Systeme ausdenken könnte als die, die mir angeboten wurden. Das Buch von John und Caitlín war das Gegenteil davon. Es fühlte sich geerdet und überzeugend an, war gut recherchiert und gut geschrieben und niemals uninteressant. Es war eine der Inspirationen für den dritten Teil von Books of Magic, der von dem erstaunlichen Charles Vess illustriert wurde.
John, Caitlín und ich hatten gemeinsame Interessen – an keltischen Sagen und an Sagen um König Arthur, an den Traditionen der Britischen Inseln in Sachen Magie (die nie so alt sind, wie man sich das vorstellt, es sei denn, sie sind es tatsächlich), an den Werken des brillanten britischen Schriftstellers John James. (Seine Romane Votan, über einen griechischen Händler namens Photinus, dessen Taten die Odin-Sagen inspirieren, und Not For All The Gold In Ireland, in dem Photinus ganz unbeabsichtigt viele der schönsten Geschichten der keltischen Mythologie erschafft, gehören zu den besten Romanen, die ich je gelesen habe.) Als ich 2013 das erste Mal persönlich mit John und Caitlín sprach, ging es um ihre Arbeit an der Restaurierung von James’ unveröffentlichtem letzten Roman, The Fourth Gwenevere, und ihren Plan, ihn zu veröffentlichen.
John Matthews ist ein Experte in Sachen Arthur. Der Mann kennt sich aus. Er hat über Fakten geschrieben, und er hat Fiktion geschrieben, er hat für Kinder und für Erwachsene geschrieben. In diesem Buch hat er für uns einen neuen Morte D’Arthur zusammengestellt. Er hat einige der Geschichten genommen, die Malory nicht nacherzählt hat, und hat sie zusammengetragen, um uns eine ganz neue Reihe von Geschichten über Merlin, über Arthur und über seine Ritter zu zeigen. Damit schafft er etwas Neues und Besonderes, so als ob wir durch einen Spiegel in eine andere Welt treten dürften, in der dies die berühmten Geschichten über König Arthur sind, diejenigen, die schon immer nacherzählt und heraufbeschworen wurden.
Wie die besten Geschichten über König Arthur enthalten sie höfisches Verhalten und Ritterlichkeit, Ritter zu Pferde, Schwertkämpfe, Magie, edle Helden und schöne Frauen. Aber sie strahlen auch eine Frische aus, die ich hinreißend finde.
Was mir am besten gefällt: Sie fühlen sich in keiner Weise wie Überbleibsel an, wie Geschichten, die nicht gut genug waren, um in die Endauswahl zu kommen – also wie eine Art B-Liste. Es sind Geschichten, die mir größtenteils unbekannt waren, die aber die Frische und Lebendigkeit der besten Nacherzählungen Malorys haben. Hier können wir einem jungen König Arthur begegnen, der als Ritter des Papageis getarnt ist; oder einem jungen Lancelot, der sich auf die Suche nach seiner Herkunft und seinem Namen begibt und dabei so viel Magie, Abenteuer, mörderische Turniere und enthusiastische sexuelle Spielereien erlebt, dass Game of Thrones daneben geradezu blutleer wirkt. (Und diese Geschichten machen uns auch bewusst, wie viel George R. R. Martins berühmteste Buchreihe dem Morte D’Arthur zu verdanken hat. Die Geschichten über Arthur sind in der DNA von Westeros ebenso enthalten wie die Rosenkriege.)
Die Autorenstimme von John Matthews ist fein austariert. Sie verleiht den Geschichten die Atmosphäre eines gewissen Alters, was ja angemessen ist, aber sie ist gleichzeitig erfreulich zeitgemäß, ohne dass die Klarheit des Textes zugunsten von entweder Archaismen oder Hyperaktualisierungen aufgegeben würde. Das zweibändige Oxford English Dictionary werden Sie nicht brauchen, um dieses Buch zu lesen. Es ist von heute und von damals, genau wie die Geschichten selbst.
Sie sind alt, aber sie haben uns immer noch etwas zu sagen.
Denn fast sechshundert Jahre nach der Zeit Malorys fühlen sich diese Geschichten so an, als ob sie nach wie vor in einer glorreichen Gegenwart existieren, als ob man zu König Arthurs Hof aufbrechen könnte, indem man einfach einen Spaziergang macht und sich in Camelot wiederfindet, an einem schönen Frühlingsmorgen, wenn am Waldrand die Blumen blühen – an der Schwelle zu einem erbaulichen Abenteuer.
Neil Gaiman
Januar 2022
Die vergessenen Geschichten von Arthur und seinen Rittern
Gegen Ende des 15. Jahrhunderts schloss ein Mann namens Sir Thomas Malory in seiner Gefängniszelle die Arbeit an einem Buch ab. Dieses große Werk ist heute als Le Morte D’Arthur (Der Tod Arthurs) bekannt. Der Titel geht nicht auf Malory zurück, sondern auf William Caxton, den Drucker, der das Buch nicht nur herausbrachte, sondern ihm auch den Titel gab, unter dem man es noch heute kennt. Es wurde über Nacht zum Erfolg und ist nach wie vor die wichtigste Quelle für alles, was mit König Arthur zu tun hat.
Im Jahr 2000, zur Feier des Jahrtausendbeginns, habe ich den Text für eine neue Ausgabe mit atemberaubenden Illustrationen der Künstlerin Anna-Marie Ferguson bearbeitet. In jüngerer Zeit, fast zwanzig Jahre später, habe ich eine weitere Ausgabe vorbereitet, die 2022 von Chaosium Inc. herausgegeben wird – die erste Ausgabe, die einen fortlaufenden Kommentar mit Randglossen enthält, um Lesern, die mit Malorys Werk oder der Welt, in der er lebte, nicht vertraut sind, den Weg durch die inhaltsprallen Seiten seines großen Buches zu erleichtern.
Malorys Hauptquelle war eine umfangreiche Zusammenstellung, die im 13. Jahrhundert in altfranzösischer Sprache verfasst wurde und als Vulgata-Zyklus (oder, in ihrer jüngsten Ausgabe, als Lancelot-Grail) bekannt ist. Dieses Werk, das seinerseits von einer Gruppe von Zisterziensermönchen komponiert wurde, bestand aus Geschichten, die aus vielen verschiedenen Quellen zusammengetragen wurden. Es war sehr umfangreich und lang und umfasst in seiner modernen Ausgabe acht Bände. Malory selbst reduzierte dieses mehrbändige Werk durch seine Bearbeitung auf weniger als die Hälfte seiner ursprünglichen Länge, indem er große Teile der theologischen Erklärungen herausschnitt und sich auf jene Geschichten konzentrierte, die er wahrscheinlich selbst am liebsten las. Caxton bearbeitete Malorys Werk weiter und verwandelte das, was als Sammlung von Rittergeschichten angelegt war, in ein Gebilde, das viele als den ersten englischen Roman bezeichnen.
Doch selbst bei einem Umfang von über 500 Seiten konnte Malory nicht alles aufnehmen, und er hatte auch keinen Zugang zu Erzählungen, die in anderen Sprachen abgefasst waren: Spanisch, Italienisch, Deutsch – sogar Hebräisch –, und die das Spektrum der Arthuriana um ein Vielfaches erweiterten. Bei der Arbeit an der Ausgabe aus dem Jahr 2000 und in jüngster Zeit an der überarbeiteten und aktualisierten Fassung wurde mir klar, wie viel Malory nicht aufgenommen hatte. Hier gab es keine »Geschichte von Caradoc Stark-Arm«, keinen »Jaufre«, keinen »Papageien-Ritter«.
Nachdem ich vor Kurzem einige neue, vollständige oder teilweise Übersetzungen mehrerer Texte für meine eigenen Forschungszwecke angefertigt hatte, begann ich mich zu fragen, ob es nicht einen »neuen« Morte D’Arthur geben könnte. Darin könnten viele der Geschichten, die in Malorys Buch nicht enthalten sind, wie etwa die oben erwähnten Texte, für einen zeitgenössischen Leser geschrieben werden, mit Querverbindungen zwischen den Geschichten, um dem Ganzen einen Anfang, eine Mitte und ein Ende zu geben – genau wie Thomas Malory es in seinem Buch getan hat.
Als diese Idee mich dann einmal gepackt hatte, ließ sie mich nicht mehr los, und das Ergebnis ist das Buch, das Sie in Händen halten. Schon früh wurde mir klar, dass ich eine »Stimme« für diese Geschichten brauchte, und so entstand vor meinem inneren Auge der anonym bleibende Kleriker und Geschichtenerzähler, der die Geschichten als seine Hommage an den großen Schriftsteller präsentiert, den er so sehr bewundert.
Dabei dachte ich an Caxtons eigene Vorrede zu dem von ihm gedruckten Buch, in der er sagte, dass »viele vornehme und ganz unterschiedliche Herren dieses Reichs von England zu mir kamen und mich oft fragten, warum ich die edle Geschichte des Sangreal [des Grals] und des berühmtesten und würdigsten Christen, König Arthur, die unter uns Engländern vor allen anderen christlichen Königen am meisten in Erinnerung bleiben sollte, nicht zusammengestellt und gedruckt habe«.
Auf diese Weise angeregt, verfasste Caxton das Buch, das mehr als jedes andere den Ruhm von König Arthur begründen sollte. Malory ist nicht nur einer der besten Prosaisten der englischen Sprache, sondern er erzählt auch eine grandiose Geschichte mit Tempo und Finesse. Sein perfektes Gespür für Dialoge und seine untrügliche Fähigkeit, das Langatmige und Eintönige aus seinen Quellen zu streichen, machen sein Buch heute zu einer ebenso spannenden Lektüre wie vor 600 Jahren.
Die Auswahl der Geschichten in diesem neuen Band umfasst das gesamte Spektrum des Sagenkreises um König Arthur, von den Kelten bis zum Spätmittelalter. Dazu gehören Geschichten wie Lanzalet, die hier unter dem Titel »Wie Sir Lancelot seinen Namen erfuhr« zusammengefasst sind und ein ganz anderes Bild des großen Ritters zeichnen; oder »Die Erläuterung des Grals und die Geschichte von Sir Perceval«, in der die Gralssuche im Mittelpunkt steht und die völlig andere Bedeutungen enthält als die Geschichte, wie wir sie bei Malory finden. Ich habe auch mehrere Geschichten aus dem lose zusammenhängenden Zyklus von Gedichten und Romanen aufgenommen, die sich auf die Figur des Sir Gawain beziehen. Früher galt Gawain als eine der Schlüsselfiguren der Tafelrunde, doch dann wurde er immer weiter heruntergeschrieben, bis er in Malorys Darstellung nur noch ein Mörder und Frauenheld ist. Die frühen Versionen seiner Geschichte, die hier in »Gorlagros und Gawain«, »Sir Gawain und der Carle von Carlisle« und »Die Anfänge von Sir Gawain« wiedergegeben sind, erzählen eine ganz andere Geschichte, in der Gawain der Held par excellence ist und in einige ganz und gar erstaunliche Abenteuer gerät.
Dann gibt es noch die keltischen Erzählungen, die eine völlig andere Atmosphäre haben. Dieser früheste Zweig der Artusliteratur ist hier vertreten durch so epische Geschichten wie »Die Geschichte von Sir Lanval« sowie die wohl ungewöhnlichste – und sicherlich seltsamste – Geschichte in diesem Buch, »Sir Gawain und der ohrlose Hund«, ein mittelalterlicher irischer Text, der einen größeren Bekanntheitsgrad verdient. Sie ist voller außergewöhnlicher Einbildungskraft und beweist, dass die keltische Phantasie zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht tot war. Am faszinierendsten ist aber vielleicht die mittelalterliche irische Erzählung »Der Besuch der Dame mit der grauen Schwarte«, die bisher nicht auf Englisch vorlag und die den Zauber und die Farben der keltischen Mythologie mit der stolzen ritterlichen Tradition der Artusepik verbindet. Darüber, dass ich sie hier aufnehmen kann, freue ich mich besonders.
Die in diesem Buch versammelten Fassungen sind keine Übersetzungen im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr Nacherzählungen der ursprünglichen Geschichten in moderner Prosa. So wie Malory den Vulgata-Zyklus und andere Werke zu Le Morte D’Arthur »verarbeitet« hat, das seinerseits dann von seinem Herausgeber William Caxton weiter bearbeitet wurde, so habe auch ich mich bemüht, eine ähnliche Sammlung der Geschichten zu erstellen, die Malory entweder nicht kannte oder lieber weggelassen hat.
Bei der Arbeit an diesen Geschichten habe ich festgestellt, dass es mehrere gemeinsame Themen gibt: Ritterlichkeit natürlich, höfische Liebe, die Tapferkeit der Queste-Ritter auf ihrer Suche nach Abenteuern, die sich gegen alle möglichen Widrigkeiten behaupten. Aber das bei Weitem stärkste und mächtigste Thema sind die ständigen Begegnungen Arthurs und seiner Ritter mit Wesen aus der Anderswelt. Es wird eine Art Krieg angedeutet, ein Riss zwischen den Welten, der die Anderswelt zum Eindringen veranlasst. Immer wieder finden wir Szenarien, die das widerspiegeln. Es scheint, dass, fast jedes Mal wenn der König oder einer der Ritter die Sicherheit der Mauern von Camelot, Caerleon oder Carlisle verlässt, die Anderswelt auf ihn wartet – oft gleich um die Ecke. Wenn die Angehörigen des Hofes sich hingegen nicht hinauswagen, dann können die jenseitigen Wesen sich auch durchaus selbst den Zutritt erzwingen, indem sie Kampfspiele, Questen oder Herausforderungen anbieten, die keiner der sagenumwobenen Gefährten ablehnen kann, weil er fürchten muss, seinen Ruf als tapferer und furchtloser Mann zu beschädigen. Die hier erzählte Geschichte von der »Erläuterung des Grals« (S. 497) nennt einen sehr verständlichen Grund dafür, und ich habe meine eigenen internen Bezüge zu den verschiedenen Geschichten hinzugefügt, um dieses Thema im Gedächtnis des Lesers wachzuhalten.
Durch solche Geschichten erfahren wir nicht nur die reichen und vielfältigen Details des mittelalterlichen Lebens und der mittelalterlichen Spiritualität, sondern auch die Träume, die in den Köpfen ihrer Schöpfer herumspukten – von Männern und Frauen, die der feinstofflichen Welt sicherlich sehr viel näher waren als die meisten von uns heute. Dieses Innenleben bewohnt nach wie vor die Artustradition und ist der Grund dafür, dass sie auch heute noch eine so starke Faszination auf uns ausübt.
J. R. R. Tolkien, der vielleicht größte Mythen-Schöpfer unserer Zeit, wandte gegen die Artuslegenden und die Artusliteratur ein, dass sie »inkohärent« und »inkonsistent« seien, da sie eine Vielzahl von Geschichten enthielten, die voneinander entliehen seien, sowie einen riesigen Fundus an älterem Material. In gewisser Weise trifft dies auf Malory sicherlich zu. Ihm stand so viel Material zur Verfügung, dass es ihm schwerfiel, seinem Buch eine kohärente Form zu geben. Doch trotz einiger Ungereimtheiten, zum Beispiel wenn Figuren, die in einem Buch getötet wurden, später in einem anderen wieder auftauchen, ist es Malory insgesamt gelungen, mit seinem Werk eine Geschichte zu erzählen, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat. Es ist nach wie vor umstritten, ob er ein ganzes Buch schreiben wollte (was der Originaltitel vermuten lässt: »The Whole Book of King Arthur and His Knights of the Round Table«, also: Das ganze umfassende Buch über König Arthur und seine Ritter der Tafelrunde), oder eine Sammlung von Einzelgeschichten. Vielleicht ist, um jedem Argument gerecht zu werden, etwas von beidem im Morte enthalten. Bei der Zusammenstellung des vorliegenden Bandes war ich mir von Anfang an bewusst, dass es in einigen der hier nacherzählten Geschichten Unstimmigkeiten in Bezug auf Charaktere und Ereignisse gibt; ich habe jedoch versucht, diese zu umgehen, indem ich bestimmte Teile der Originalwerke ausließ, genau wie Malory es tat, um zu einer annähernd kohärenten Erzählung zu gelangen. Das hat unweigerlich zu einigen Verlusten geführt, die ich in den Anmerkungen am Ende des Buches angegeben habe, wo die ausgelassenen Abschnitte kurz zusammengefasst sind, zum Nutzen derjenigen Leser, die wissen wollen, was ihnen vorenthalten wird. In den meisten Fällen sind diese Auslassungen zum Teil durch den Umfang bedingt. Einige der Werke, wie »Sone de Nansay« und »Sir Torec«, sind sehr lang, so dass die Aufnahme aller Werke das vorliegende Buch auf mehrere Bände ausdehnen würde – daher habe ich sie gekürzt, indem ich Teile ausschloss, die vom Hauptfaden der Geschichten abwichen.
Dabei habe ich auch immer wieder an Tolkiens unausgesprochene Frage gedacht, die Leonard Neidorf in seinem ausgezeichneten Aufsatz über Tolkiens eigene Artusdichtung, The Fall of Arthur, stellt: »Wenn ein Autor eine Reihe von korrekten Auswahlentscheidungen aus dem verfügbaren Material trifft und sie alle, wo nötig, abändert, wäre es dann möglich, die Traditionen zu harmonisieren und eine kohärente Erzählung zu schaffen?«1 Ich glaube, man kann diese Frage ganz klar mit Ja beantworten, und ich habe mein Bestes getan, um hier eine solche Erzählung zu schaffen. Unweigerlich wird es Stellen geben, an denen Ideen und Überzeugungen aufeinanderzuprallen scheinen, aber ich habe das Gefühl, dass wir, wenn wir die Welt König Arthurs betreten, einen anderen Ort betreten, an dem die gewohnten Bezugsrahmen nicht immer gelten. Arthurs Welt ist eine Feenwelt, in der fast alles passieren kann und häufig auch tatsächlich passiert. In diesem Sinne glaube ich, dass das folgende Epos einem Werk, das Malory selbst hätte schaffen können, wenn ihm mehr Zeit und Zugang zu einem größeren Bestand an Artusliteratur gewährt worden wäre, so nahekommt, wie es in unserer Zeit möglich ist. Ich erhebe nicht den Anspruch, ein so großer Meister der Prosa zu sein, wie er es zweifellos war; ich habe versucht, zu einer nüchternen, direkten Sprache zu gelangen, wie sie Malory selbst in seinem unvergleichlichen Werk verwendet hat.
Die Einheit der Sammlung ergibt sich aus der Präsenz des fiktiven Sammlers und Erzählers der Geschichten, der die Erzählung hie und da mit eigenen Kommentaren unterbricht. Malory selbst tut dies von Zeit zu Zeit und bezieht sich dabei oft auf »das französische Buch«, wahrscheinlich den Lancelot-Grail, der eigentlich die Geschichte von Arthur, Merlin, Lancelot und den anderen in einer einzigen riesigen, ausufernden Sammlung erzählt. Wie die meisten Kompilatoren dieser Geschichten verwenden auch die Sammler eine Technik, die als »Verflechtung« bezeichnet wird: Eine Geschichte beginnt, wird von einer anderen unterbrochen, die ihrerseits wieder unterbrochen wird, und das oft drei- oder viermal, bevor zur ursprünglichen Geschichte zurückgekehrt wird. Ich habe das größtenteils vermieden, da für einen modernen Leser der Durchstieg durch solche Labyrinthe schwierig sein kann. Stattdessen habe ich unserem Sammler dieser Geschichten erlaubt, Kommentare hinzuzufügen und gelegentlich auf andere Geschichten zu verweisen – einige wurden von Malory selbst eingefügt, andere haben Verbindungen zueinander, die sich aus der Kenntnis des Autors über andere Geschichten ergeben. Ein weiteres Mittel von Caxtons Redaktion war es, jedem Buch etwas hinzuzufügen, das wir als »Ende und Anfang« bezeichnen können: Explicit Liber Primus (Ende des ersten Buches), Incipit Liber Secundus (Anfang des zweiten Buches). Ich habe dies hier übernommen, um die Beziehungen zwischen dem Buch von Malory und meinem eigenen Buch zu unterstreichen.
Bei meinen Wiedergaben dieser Geschichten habe ich versucht, einen Stil zu finden, der das Original widerspiegelt, aber nicht zu antiquiert wirkt. Die sprachlichen Rhythmen der – häufig in Reimform abgefassten – Werke selbst sind oft hypnotisch. Ich habe versucht, das Beste davon einzufangen und gleichzeitig den Erzählfluss nicht ins Stocken geraten zu lassen.
Viele der Originalgeschichten haben namenlose Figuren: »eine Dame«, »ein Burgfräulein«, »ein Ritter« oder »ein Edelmann« sind die am häufigsten verwendeten. Da sich die Figuren in Stil und Verhalten oft ähneln, habe ich ihnen Namen aus anderen Artusquellen gegeben, um sie kenntlich zu machen.
Um die Vision dieses »neuen« Morte D’Arthur zu vervollständigen, hatte ich das unglaubliche Glück, meinen Freund John Howe, der für seine Illustrationen und das Graphikdesign für das Buch und die Filme zu Der Herr der Ringe berühmt ist, als Illustrator dieser epischen Sammlung zu gewinnen. Das Ergebnis ist so atemberaubend, wie ich es mir nur hätte wünschen können. Die Zeichnungen werden meinen Worten mehr als gerecht, und ich bin John für immer zu Dank verpflichtet, dass er diese Aufgabe übernommen hat.
Gegen Ende meiner Arbeit an diesem Buch stieß ich auf ein Zitat des englischen Dichters John Masefield (1878–1967), dessen Artusdichtung ich vor vielen Jahren entdeckt und immer geliebt habe. In einer Sammlung von Masefields Artusdichtung (Arthurian Poets: John Masefield, herausgegeben von David Llewellyn Dodds [Boydell & Brewer, 1995]) fand ich die folgende Passage:
Ist die Zeit nicht reif für eine Neuauflage des [arthurischen] Epos …? Ist die Zeit nicht reif für eine anerkannte Version, die sich alter Gedichte und Fabeln bedient, die von Malory nur spärlich verwendet wurden oder ihm unbekannt waren …? Es ist unser englisches Epos; wir sollten mehr von ihm Gebrauch machen, als wir es bisher tun. (S. 8)
Genau das habe ich versucht. Ich hoffe, dass die vielen tausend Menschen, die Malorys Originalwerk lieben, meine Ergänzungen nicht allzu weit von der Qualität seines Werks entfernt finden werden – auch wenn ich nicht behaupten kann, der stilistische Meister zu sein, der er zweifellos war.
John Matthews
Oxford, 2022
Buch Eins –
Der mächtige Baum
Die Geschichte von Merlin soll am Anfang dieses Buches stehen, in welchem ich meine Geschichte von König Arthur erzähle und jene Episoden wiedergebe, die Meister Malory aus verschiedenen Gründen nicht in sein großes Werk aufnehmen konnte, das die ganze Welt als Le Morte D’Arthur kennt. Damit entsteht ein neues Buch über König Arthur und seine Ritter, das im Gedächtnis von Männern und Frauen von edlem und freundlichem Geist weiterleben möge, bis die Weltzeitkarte wieder eingerollt wird.
* * *
In jenen Tagen herrschte König Arthur von der Stadt Camelot der Goldenen aus über ganz Britannien. Er feierte viele große Feste an der Runden Tafel, an der einhundertfünfzig der größten Ritter saßen, wie ihr sicher gehört habt. Sir Lancelot, Sir Palomides und der Neffe des Königs, Sir Gawain, und dessen Brüder Gareth, Guerrehes und Agravain waren dort, und noch viele andere, darunter die Ritter der Königin und die Gralshelden.
Im Anfang aber war Merlin: Lange vor Arthurs Kommen war er da. Manche sagen, er sei der Sohn eines Dämons, andere, er sei ohne menschliches Zutun im Großen Wald geboren, der sich von Camelot im Süden bis zur römischen Mauer im Norden erstreckte. Es wurde gemunkelt, dass selbst die alten Götter ihn fürchteten. Doch ob dies nun stimmt oder nicht – jedenfalls war diese unsere Insel Britannien, um die er eine Mauer aus Messing errichtete, einst als Merlins Insel bekannt, und er war es, der die hängenden Steine in der Ebene von Salisbury als Grabstätte für einen König aufrichtete. Er machte den Knaben Arthur in jenen fernen Zeiten zum König von ganz Britannien, und er war es, der das Schwert Excalibur schmiedete und dafür sorgte, dass es zu dem jungen König gelangte. Und Merlin war es, der den Stein, in dem das Schwert steckte, an einen Ort der Wahl brachte, wo der König und das Land vereint wurden. Und danach baute er die goldene Stadt Camelot – in einer einzigen Nacht, so heißt es.
Beginnen wir also mit der Geschichte von der Geburt Merlins, der zum großen Ratgeber von König Arthur wurde und in jener fernen Zeit viele sonderbare und wundersame Dinge vollbrachte. Die Geschichte seines Werdegangs und jener Ereignisse, die zum Erscheinen von Arthur selbst führten, wird weniger oft erzählt. Deshalb möchte ich damit beginnen.
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Niemand vermag Sicheres über den Ursprung von Merlin zu sagen. Aber es gibt eine Geschichte, die man sich erzählt, und die Meister Thomas offenbar nicht in sein großes Buch aufgenommen hat. Darin heißt es, dass eine gewisse Prinzessin aus Dyfed schwanger war, obwohl es von ihr hieß, sie habe nie mit einem Mann geschlafen. Als man sie befragte, erzählte sie, wie ihr in vielen Nächten ein wunderschönes männliches Wesen in ihrem Gemach erschien und sie liebte, so sanft wie Sommerregen auf der Erde. Jeden Morgen war er verschwunden, sie wusste nicht, wohin. Sie konnte auch nicht sagen, woher er kam, nur dass er freundlich war und wie eine Kerzenflamme in der Dunkelheit zu leuchten schien.
Die meisten, die ihre Geschichte hörten, nannten sie gleich eine Hure, während die weniger Hartherzigen glaubten, derjenige, der zu ihr kam, sei ein Dämon gewesen – denn man wusste ja, dass Dämonen immer schön aussehen, obwohl sie in Wahrheit hässlich sind. Doch schon bald drängte das Kind in ihr auf die Welt, und als es geboren wurde, erbleichte die Hebamme, als sie sah, dass der Säugling – ein Junge – mit einem dichten grauen Fell bedeckt war. Der Vater und die Mutter der Prinzessin verlangten nun sofort, dass das Kind zu einem Priester gebracht und getauft werden solle – sicher waren sie überzeugt, dass es sich in einer Wolke aus Schwefelqualm auflösen würde. Doch als der Priester dem Kind Weihwasser auf den Kopf goss, fiel die Fellschicht von ihm ab, und man hörte es vor Freude krähen. Im selben Augenblick flog über dem Kind ein Vogel hinweg, ein Falke aus der Familie der Merline, und die Prinzessin nahm dies als Zeichen und gab ihm den Namen des Vogels.
Diejenigen, die diese Geschichte erzählen, sagen auch, dass der Junge, als er zehn Jahre alt war, beschuldigt wurde, widernatürlich zu sein, und dass er und seine Mutter (die sich inzwischen in ein Kloster zurückgezogen hatte) aufgefordert wurden, vor einem Richter zu erscheinen. Als sie dies taten, verblüffte Merlin alle, indem er mehr über das skurrile Privatleben des Richters wusste, als jeder Mensch mit gewöhnlichen Mitteln wissen konnte; und als er verneinte, dass sein Vater von übermenschlicher Natur gewesen sei, sprach er so eindringlich und klar, dass er am Ende ebenso wie seine Mutter freigelassen wurde. Danach mieden die Menschen das Kind, weil sie glaubten, es sei entweder ein Teufel oder ein Feenwesen – Letzteres ist meiner Meinung nach das Wahrscheinlichere. Aber eine Sache, die man sich erzählt, straft diese Geschichte Lügen (es sei denn, die Prinzessin brachte zwei Kinder zur Welt und nicht nur eines) – denn Merlin hatte eine Schwester, wie es scheint, eine Zwillingsschwester, bei der sich zunächst keine von seinen übernatürlichen Fähigkeiten zeigte, die später aber selbst prophetische Gaben entwickelte. Ihr Name war Ganeida, und obwohl ich wenig über diese Dinge weiß, sagt mir mein Herz, dass weder Merlin noch seine Schwester von Sterblichen abstammten, sondern aus der Luft selbst geboren wurden.
Wie dem auch sei – als Merlin zum Mann heranwuchs, war sein Wesen so gut und großzügig und seine Weisheit so groß, dass die meisten Menschen im Lauf der Jahre seine Herkunft vergaßen, und als der Vater seiner Mutter, ein König in Dyfed, ohne Nachkommen verstarb, wurde er als Erbe des Königreichs und als Herrscher anerkannt, und obwohl viele bemerkten, dass seine Weisheit etwas Unheimliches an sich hatte, wollte doch niemand sein Recht auf die Herrschaft in Frage stellen. In jener Zeit heiratete er Guendolena, die Schwester von Rodarch, dem Herrscher von Cumbria. Heute erzählen nur wenige von diesem Bündnis; ich habe lediglich einen Bericht gefunden, jenen von Meister Geoffrey von Monmouth, der ebenfalls – in seiner berühmten Historia Regum Britanniae – die Taten von Arthur aufgezeichnet hat. Darin ist Merlin als Weiser, Dichter und Gesetzgeber beschrieben, zu dem weniger bedeutende Menschen auf der Suche nach Wissen kamen. Als König war er jedoch auch ein Krieger, der ein Heer von Männern in die Schlacht führen konnte.
Dann geschah es, dass Prinz Peredur, der Anführer der Waliser im Norden, und Gwenddoleu, der König von Schottland, gegeneinander Krieg führten. Merlin schloss sich der Seite der Waliser an, ebenso wie sein Freund Rodarch von Cumbria, der Ganeida geheiratet hatte, als Merlin die Schwester des Königs heiratete. Mit ihnen kämpften die drei jüngeren Brüder Peredurs, die Merlin sehr gernhatte, und diese fünf kämpften Seite an Seite, bis die drei jungen Prinzen an einem Tag, an dem die Schlacht zwischen den Schotten und den Walisern mit besonders großer Heftigkeit wütete, durch die Schwerter ihrer Feinde fielen.
Als er dies sah, stimmte Merlin einen lauten Klagegesang an, der sich über den Lärm der Schlacht erhob:
Wie kann das schlimme Schicksal mir
Meine liebsten Gefährten
Nur so grausam rauben!
Ihr tapfersten der Jünglinge,
Euer Mut hat euch
Eure Lebensjahre genommen.
Vor einem Augenblick noch
Habt ihr an meiner Seite gekämpft;
Nun liegt ihr da auf der Erde,
Überströmt von frischem Blut!
Wer wird nun in der Schlacht
Neben mir stehen?
Überall um ihn herum wurde weitergekämpft. Jede Seite verlor Männer. Die Waliser drängten jedoch vorwärts und beherrschten am Ende des Tages das Feld. Merlin befahl, die Prinzen zu begraben, aber nichts konnte ihn über ihren Verlust hinwegtrösten. Tagelang weinte er, streute sich Asche aufs Haupt und zerriss seine Kleider. Nichts vermochte ihn mit dem Schicksal der jungen Männer zu versöhnen.
Schließlich gab sein Verstand vor seinem Kummer nach, Merlin wurde wahnsinnig und floh in den großen Wald von Calydon, der nördlich des Schlachtfeldes lag. Jeden Tag ruhte er sich unter einem bestimmten Baum in einem Hain von Apfelbäumen aus, pflückte dessen Früchte und verzehrte sie gierig. Dort freundete er sich auch mit einem einsamen Wolf an, mit dem er oft sprach, weil er dachte, dieser würde ihn verstehen. Als dann jedoch der Winter kam und keine Früchte mehr am Baum hingen und in der Wildnis wenig oder gar keine Nahrung mehr zu finden war, stimmte Merlin einen lauten Klagegesang an:
Götter der Erde,
Wo ist die Frucht, die ich immer esse?
Wer hat sie weggenommen?
Hier in der Wildnis
Hat der Wald kein Laub;
Es gibt keinen Schutz für mich,
Denn der Wind hat die Blätter hinweggetragen.
Wenn ich nach Wurzeln grabe,
Stürzen sich hungrige Schweine
Und gierige Eber darauf
Und rauben sie mir.
Und du, Wolf, mein alter Gefährte,
Du bist ganz schwach geworden,
Kaum kannst du das Feld überqueren.
Das Einzige, was dir bleibt,
Ist dein Geheul!
Merlins laute Klagen drangen zufällig an die Ohren eines fahrenden Sängers, der, als er die seltsame Stimme und die wilden Worte hörte, an einen hohen Ort gelenkt wurde, wo die Wälder sich dunkel bis zum Horizont erstreckten. Dort traf er auf Merlin, der im Gras lag, nackt und erschöpft, und mit lauter Stimme einer nicht sichtbaren Person seine Klage vortrug:
Warum nur unterscheiden sich
Die Jahreszeiten voneinander?
Warum muss der Frühling
Blätter und Blüten bringen,
Der Sommer Ernten
Und der Herbst reife Früchte?
Dann aber kommt der Winter
Und zerstört alles.
Ich wünschte, es gäbe keinen Winter,
Der Frühling käme zurück,
Die Vögel sängen wieder
Und die Quellen flössen frei!
Der Sänger, der Zeuge dieser Szene war, entschied sich für eine kühne Geste. Er band seine Harfe los, die er auf seinem Rücken trug, und spielte einige leise Töne. Einen Moment lang wurden Merlins Augen klar, als er jedoch seinen Kopf hob und den Sänger in seiner Nähe erblickte, packte ihn wieder der Wahnsinn, und er floh tiefer in den Wald hinein.
Der Sänger versuchte erst, ihm zu folgen, doch dann gab er auf und kehrte auf die Straße zurück. Bald danach erreichte er den Hof des Königs Rodarch, der neben Merlin gekämpft hatte und Zeuge seines tiefen Sturzes in den Wahnsinn gewesen war. Er war mit Merlins Schwester verheiratet. Ganeida, die von der Krankheit ihres Bruders erfahren hatte, schickte zusammen mit Merlins Frau Guendolena Männer aus, die ihn suchen sollten, doch sie kehrten alle zurück, ohne auch nur eine Spur von ihm gesehen zu haben.
Als der Sänger seine Begegnung mit dem nackten Wahnsinnigen beschrieb, leuchtete das Licht der Hoffnung in den Augen jener, die ihn schmerzlich vermissten, wieder auf, und Rodarch befahl seinen Soldaten, den Sänger zu begleiten und den Wahnsinnigen nach Hause zu bringen. Der kluge Sänger, der wusste, dass die Anwesenheit bewaffneter Männer deren Beute nur noch tiefer in den Wald treiben würde, bat darum, allein gehen zu dürfen. Denn, wie er sagte: »Vielleicht wird ihn die Musik beruhigen, und meine Worte werden ihn an seine Familie erinnern.«
Rodarch beriet sich mit Guendolena und Ganeida, die bereitwillig ihre Zustimmung gaben. Der Sänger kehrte zu jenem Teil des Waldes zurück, wo er zum ersten Mal Merlins wilde Stimme gehört hatte. Dort nahm er erneut seine Harfe zur Hand und sang ein Lied, das er gedichtet hatte.
Trauer erfüllt Guendolena.
Einst war keine Frau in Britannien
So schön wie sie.
Keine Göttin so weiß wie sie,
Nicht Schlehdorn, Rose oder Lilie.
Einst stieg Frühlingsfreude in ihr auf,
In ihren Augen leuchteten Sterne.
Jetzt liegt sie krank vor Kummer
Und klagt um ihren verlorenen Gemahl,
Verblasst wie ein gefallener Stern.
Weh auch Ganeida,
Die an ihrer Seite weint
Und den Verlust eines Bruders beklagt.
Gemahlin und Schwester weinen zusammen,
Ihre Tränen ein Strom des Verlusts.
Zuerst herrschte nur Stille, dann erschien Merlin, eine traurige und ausgezehrte Gestalt, und hörte zu. Dabei wurde sein Blick wieder klar, und der Wahnsinn wich aus seinem Geist. Er begrüßte den Sänger auf die übliche Weise und bat ihn, sein trauriges Lied noch einmal zu singen. Als er es gehört hatte, bat Merlin mit Tränen in den Augen, an Rodarchs Hof gebracht zu werden, damit er seine Frau und seine Schwester sehen könne.
Doch Merlins Glück war nur von kurzer Dauer, denn als er die vielen Menschen sah, die sich in den Straßen der Stadt drängten, kehrte sein Wahnsinn zurück, und er versuchte, zurück in den Wald zu fliehen. König Rodarch hatte für die Rückkehr des Sängers Wachen aufgestellt, und als er von der Not des wilden Mannes hörte, befahl er, ihn gefangen zu nehmen, an den Hof zu bringen und Musik zu spielen, um ihn ruhig zu halten. Doch als Rodarch befahl, den Verrückten zu seinem eigenen Besten in Ketten zu legen, und als ihm Fußfesseln angelegt wurden, da schwand das Licht aus Merlins Augen, und er sprach nicht mehr.
In diesem Moment trat Königin Ganeida ein und sah den Wilden mitleidig an. Rodarch umarmte und küsste sie, und er bemerkte ein Blatt, das sich in ihrem Haar verfangen hatte. Lächelnd entfernte er es. Daraufhin begann Merlin zu lachen und wiegte sich in seinen Ketten hin und her.
Überrascht forderte Rodarch ihn auf, den Grund für seine Heiterkeit zu nennen. Doch Merlin schwieg, und der König, dessen Neugierde geweckt war, bot ihm Belohnungen an, wenn er sich erklären würde. Davon irritiert, antwortete Merlin schließlich, dass er nur dann eine Antwort geben würde, wenn man ihn freiließe und ihm erlaubte, in den Wald zurückzukehren. »Geschenke verderben die Beschenkten«, sagte er. »Mir ist der Friede des Waldes von Calydon mehr wert.«
Rodarch zögerte, doch in diesem Moment trat Merlins Frau Guendolena hinzu und bat ihn, ihren Mann zu befreien. Als die Fesseln entfernt wurden, lächelte Merlin und sagte: »Ich habe gelacht, als Ihr das Blatt aus dem Haar der Königin genommen habt, mein König, weil ich weiß, wie es dorthin gekommen ist. Es ist erst eine Weile her, dass sie mit ihrem Liebhaber auf einer grünen Lichtung lag!«
Rodarchs Gesicht verfinsterte sich, und ärgerlich wandte er sich zu seiner Gemahlin um. Sie jedoch verbarg ihre Schuld hinter einem Lächeln und bezeichnete Merlins Worte als Ausgeburt eines kranken Gehirns. »Wie kannst du einem Mann Glauben schenken, der die Wahrheit nicht von Lügen unterscheiden kann?«, fragte sie. »Mit Leichtigkeit kann ich beweisen, dass seine Worte nicht zutreffen.«
Nun rief die Königin einen Jungen herbei und bat Merlin vorauszusagen, wie er sterben würde.
Merlin sagte: »Er wird sterben, indem er von einem hohen Ort herunterstürzt.«
Ganeida schickte den Jungen weg und befahl ihm, sich umzuziehen und die Haare zu schneiden. Als er dann wieder vor ihnen stand, bat sie Merlin, die Art seines Todes vorauszusagen. Wieder lachte der Verrückte und sagte: »Er wird an einem Baum hängend sterben.«
Die ganze Zeit über beobachtete Ganeida Merlin genau, denn sie wusste, wie seine Weisheit in ihm wirkte.
»Ihr seht«, sagte sie, »wenn mein armer Bruder zwei verschiedene Todesarten für ein und dieselbe Person vorhersagen kann, wie könnt Ihr dann eine solche Anschuldigung gegen mich glauben? Schaut noch ein wenig länger zu, und Ihr werdet sehen, was ich meine.«
Dann schickte sie den Knaben erneut fort und befahl ihm, Mädchenkleider anzuziehen. Als er zurückkam, bat sie Merlin ein drittes Mal, die Todesart des »Mädchens« vorherzusagen.
»Mädchen oder Junge«, sagte Merlin, »diese Person wird in einem Fluss sterben.«
Jetzt war es an Rodarch zu lachen, denn er merkte, dass Merlin drei verschiedene Todesursachen für ein und dieselbe Person vorausgesagt hatte, was bewies, dass er wirklich verrückt war. »Lasst ihn frei, damit er in den Wald zurückkehren kann«, sagte er. »Vielleicht kommt er dort wieder zu Verstand.«
Sofort verließ Merlin, froh über seine Befreiung, eilends den Hof. Guendolena trat an den Toren des Palastes an ihn heran und bat ihn inständig, nicht zu gehen. Aber er wollte nichts hören und befahl ihr streng, ihm aus dem Weg zu gehen. Daraufhin fiel Guendolena vor ihm auf die Knie und flehte ihn an, nicht wieder wegzugehen. Ganeida, die ihm vom Hof gefolgt war, sagte: »Sieh doch, wie deine Frau vor dir kniet, Bruder. Willst du ihr das antun, dass sie ewig auf deine Rückkehr warten muss? Soll sie mit dir in den Wald gehen oder hierbleiben?« Dann fragte sie – denn sie wusste genau, dass eine lange Abwesenheit und Merlins Wahnsinn in den Augen der Welt als Bruch des Ehegelübdes gelten würden: »Soll deine Frau wieder heiraten, wenn du nicht zurückkehrst?«
Merlin starrte die Frauen mit einem wilden Blick an. »Wenn sie will, soll sie wieder heiraten!«, rief er laut. »Aber sag dem Mann, der sie erwählt, er soll sich von mir fernhalten. Er soll mir nicht unter die Augen kommen.« Dann zögerte er, und einen Moment lang war es, als würden sich die Wolken in seinen Augen auflösen. Er starrte in den Himmel und sagte: »Wenn der Tag kommt, an dem sie sich vermählt, werde ich da sein. Reiche Geschenke werde ich ihr bringen.«
Dann brach er wieder in die Wälder auf, die er so sehr liebte.
Guendolena weinte, als sie Merlin fortgehen sah, und auch Ganeida trauerte um ihn, denn obwohl sie vor seinem Wissen um ihr Techtelmechtel Angst hatte, liebte sie ihn noch immer und beklagte den Verlust seiner Weisheit.
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Die Monate wurden zu Jahren, und der Jüngling, dem Merlin drei unterschiedliche Todesarten prophezeit hatte, wuchs zum Mann heran. Als dieser junge Mann eines Tages auf die Jagd ritt, scheuchte er einen Hirsch auf, der vor ihm über die Kuppe eines Hügels galoppierte. Der Weg war ungewöhnlich steil, in der Nähe des Gipfels stolperte sein Pferd, und der junge Mann wurde aus dem Sattel geschleudert. Er stürzte die steile Böschung hinunter und verfing sich mit dem Fuß im Ast eines Baumes, der aus dem Abhang wuchs. Mit dem Kopf blieb er im Wasser des Flusses hängen, der am Rande des Hügels vorbeifloss. Somit starb er stürzend, ertrinkend und an einem Baum hängend – womit sich Merlins Prophezeiung in jeder Hinsicht bestätigte.
Derweil lebte der Prophet weiter in der Wildnis, und das Leben im Wald war ihm lieber als sein voriges Leben in den Städten und an den Höfen. Eines Nachts, als er unter den Bäumen saß, die Mondsichel betrachtete und im Glanz der funkelnden Sterne schwelgte, dachte er an Guendolena und fragte sich, ob sie sich noch an ihn erinnerte oder ihren Frieden in den Armen eines anderen gefunden hatte. Bei seinem Blick in die Sterne sah er Zeichen, die darauf hindeuteten, dass sie wieder heiraten würde. Er erinnerte sich an seine Worte beim Abschied und daran, dass er versprochen hatte, ihr Geschenke zu bringen, und nun beschloss er, dieses Versprechen wahr zu machen.
Am nächsten Tag stand er auf, ging durch den Wald und trieb eine große Herde aus Hirschen und Böcken, Rehen und Ziegen zusammen, die er in einer langen Reihe aufstellte. Er selbst ritt an der Spitze dieser seltsamen Kolonne auf einem großen Hirsch. Er machte sich auf den Weg zu dem Palast, in dem Guendolena heiraten sollte, so wie es die Sterne vorausgesagt hatten. An den Toren angekommen, rief er ihren Namen.
Als sie herauskam, war sie erstaunt über den Anblick von Merlin und der großen Herde, die er mitgebracht hatte. Ihr Bräutigam, dessen Name in der Geschichte nicht genannt wird, stand an einem hohen Fenster. Als er den zerlumpten, haarigen Wilden auf dem Rücken des Hirsches sah, brach er in Gelächter aus. Merlin blickte auf und sah ihn, und plötzlicher wilder Zorn packte sein Herz. Mit entsetzlicher Kraft ergriff er das Geweih des großen Hirsches, auf dessen Rücken er saß, und riss es ab. Dann schleuderte er es gegen das Fenster, so dass es den Kopf des Bräutigams traf, das Leben in ihm zertrümmerte und seinen Geist in die Lüfte entweichen ließ.
Daraufhin erhob sich großes Geschrei. Merlin stieß seine Fersen in die Flanken des Hirsches und galoppierte in vollem Tempo davon, verfolgt von den Soldaten. Der Hirsch war so schnell, dass Merlin sicher im Wald Zuflucht gefunden hätte, wenn sie nicht einen Fluss hätten überqueren müssen. Doch dort stolperte der Hirsch, und Merlin fiel ins Wasser und schlug sich den Kopf an, so dass er eine Zeit lang bewusstlos war. So konnten ihn seine Verfolger einfangen und an den Hof zurückbringen, um ihn in die Obhut seiner Schwester zu geben – denn seine Frau wollte ihn nach dem Tod des Mannes, den sie hatte heiraten wollen, nicht mehr sehen. Tatsächlich sprachen und sahen sie sich nicht mehr, und wenig später starb Guendolena.
TAFEL I: »Er selbst ritt an der Spitze dieser seltsamen Kolonne auf einem großen Hirsch.«
Und wieder begann Merlin unter der Last der Gefangenschaft dahinzusiechen. Er wurde griesgrämig und schwermütig und weigerte sich, zu essen oder mit jemandem zu sprechen. Als Rodarch dies sah, hatte er Mitleid mit ihm und befahl, ihn unter Bewachung auf die Straße zu führen und ihm zu erlauben, die Menschen auf dem Marktplatz zu sehen. Der König hoffte, dass Merlin dadurch an seinen früheren Platz in der Welt erinnert und wenigstens ansatzweise wieder zur Vernunft kommen würde.
Auf dem Markt stießen sich die Leute gegenseitig an und zeigten auf den Verrückten mit seinem wilden Haar und Bart und seiner zerlumpten Kleidung, aber er ignorierte sie und schaute immer nur nach Westen, wo der Große Wald lag. Bei den Stadttoren fiel sein Blick auf einen bettelnden Mann, und er lachte laut über diesen Anblick. Wenige Augenblicke später sah er einen Jungen, der ein neues Paar Schuhe trug. Wieder lachte Merlin wild auf, und daraufhin beschlossen die Wachen, ihn zurück zum Hof zu bringen, da er doch offensichtlich immer noch verrückt war. Auf dem ganzen Weg dorthin wehrte er sich gegen die Wachen und brüllte, dass man ihn in seine Heimat im Wald zurückkehren lassen solle.
Als Rodarch von Merlins Gelächter hörte und sich zweifellos an das letzte Mal erinnerte, als Merlin auf diese Weise gelacht hatte, wollte er den Grund dafür wissen. Er versprach ihm, dass er ihn wieder gehen lassen würde, wenn der Prophet es ihm sagte, woraufhin Merlin lächelte. »Ich sah einen Mann, der am Straßenrand bettelte, während er die ganze Zeit auf einem verborgenen Schatz saß. Dann sah ich einen Mann, der Flicken für seine Schuhe kaufte, aber tatsächlich wird er sie nie brauchen. Er ist bereits ertrunken, seine Leiche schwimmt im Fluss.«
Rodarch schickte Männer aus, um den Wahrheitsgehalt dieser Visionen zu erkunden, und tatsächlich fanden sie einen Beutel mit Gold, der unter der Stelle vergraben war, an der der Bettler gesessen hatte; und der Leichnam des Jungen wurde aus dem Fluss gefischt.
Als diese Bestätigung dem König überbracht wurde, verlangte Merlin, in den Wald zurückkehren zu dürfen. Ganeida flehte ihn an zu warten, bis die Winterfröste vorbei waren, denn es wurde bereits kalt, und sie fürchtete um das Leben ihres Bruders in den eisigen Wäldern. Doch Merlin schüttelte den Kopf. Seine Augen wirkten klar, als er sagte: »Ich fürchte die Kälte nicht, Schwester. Die Härten des Winters machen mir nichts aus.« Dann zögerte er, und Ganeida kam es so vor, als würde er wie früher sprechen.
»Nahrung könnte in den dunklen Monaten schwer zu finden sein. Wenn du also möchtest, dass ich in Sicherheit bin, bitte ich dich, im Großen Wald ein Haus für mich bauen zu lassen. Es soll siebzig Türen und siebzig Fenster haben, damit ich die Sterne in ihrem Lauf beobachten und die Geheimnisse von Wind und Regen lesen kann. Dort werde ich die Zeichen der Zukunft lesen können, und wenn es dir beliebt, Schreiber dorthin zu schicken, werde ich ihnen sagen, was ich sehe, damit diese Dinge aufgezeichnet werden können. Komm, sooft du willst, liebe Schwester, und wir werden über diese Dinge sprechen.«
Mit diesen Worten kehrte er in den Wald zurück.
Ganeida beschloss, seinen Wunsch zu erfüllen, und gab den Befehl zum Bau des Hauses. Es war ein großes Gebäude, hoch genug, um allseits rundherum den Horizont zu sehen, und versehen mit einem Dach, das geöffnet werden konnte, um einen freien Blick auf das Himmelsgewölbe zu ermöglichen. Fortan trug es in aller Welt den Namen »Merlins Observatorium«, denn von hier aus konnte er alles sehen, was in der Welt geschah, und die Geheimnisse der Sterne lesen. Dort verbrachte Ganeida oft Zeit mit ihrem Bruder, und sie sprachen ausführlich über zukünftige Ereignisse. Damals sagte Merlin den Tod Rodarchs und einen anschließend ausbrechenden weiteren Krieg zwischen Schottland und Cumbria voraus. Damals sprach er auch von der Ankunft eines großen Königs, der die Länder weise, würdevoll und mit Stärke regieren sollte. In den alten Büchern heißt es sogar, dass er ein Lied schrieb, das von den letzten Tagen Arthurs erzählte und von anderen Dingen, die noch bevorstanden. Nicht alle Worte dieses Liedes sind erhalten geblieben; diejenigen, die erhalten geblieben sind, habe ich jedoch herausgesucht und gebe sie hier wieder.
Die Briten sind von Sinnen!
Wohlstand wird sie zur Maßlosigkeit verführen.
Sie werden sich gegenseitig bekämpfen
Und in Fehden verwickeln.
Der dunkle Sohn des Königs
Wird überall Zwietracht säen.
Er kann es nicht erwarten, nach der Krone zu greifen.
All das geschah dann auch im Lauf der Zeit, denn Mordred, der dunkle Sohn des Königs, versuchte tatsächlich, seinen Vater zu stürzen, wie Meister Thomas es uns erzählt hat.
* * *
Eines Tages, als Ganeida sich anschickte, aus dem Wald an den Hof zurückzukehren, bat Merlin sie, den Barden Taliesin aufzusuchen und zu fragen, ob er die Sternwarte besuchen würde. »Denn wir haben viel zu besprechen, und wie ich höre, ist er erst vor Kurzem aus der Bretagne zurückgekehrt, wo er die Lehren von Gildas dem Weisen gelernt hat.«
Als Ganeida an den Hof zurückkehrte, stellte sie fest, dass Rodarch bereits tot war, wie Merlin es vorausgesagt hatte, und sie trauerte im Gedenken an seine Größe und Güte sehr um ihn. Doch wie sie es versprochen hatte, sandte sie eine Nachricht an Taliesin, dessen Geburtsgeschichte voller Seltsamkeiten war und der, obwohl er noch jung war, als der größte Barde in ganz Britannien galt. Und sie bat ihn, ihren Bruder aufzusuchen.
Taliesin
Als der Barde, der um die große Weisheit Merlins wusste, dies hörte, ging er in den Wald und fand den Weg zum Observatorium. Dort verbrachten die beiden Seher viele Wochen zusammen und sprachen über verschiedene Dinge, etwa darüber, was das Wetter ist und wie sich die Wolken bilden. Und Taliesin beschrieb die Form des Landes Britannien und gab seinen Inseln und Flüssen, seinen Bergen und Tälern Namen, die Merlin alle aufzeichnete. Taliesin hatte viel von Gildas dem Weisen gelernt, von dem einige sagen, er sei ein christlicher Mönch gewesen, während andere meinen, er habe einem älteren Glauben angehört – ich kann nicht sagen, was zutrifft, nur dass Taliesin mit großer Zuneigung von ihm sprach und ihn Meister nannte, obwohl es kaum jemanden gab, den er auf diese Weise wertschätzte, außer vielleicht Merlin selbst.
Merlin wiederum erzählte von der Erschaffung der Welt und wie sie aus Kreisen innerhalb von Kreisen gebildet war und von den Sternen und Planeten, deren Einflüsse sich auf alle Handlungen der Menschheit erstreckten. Er sprach von den vier Elementen, die harmonisch miteinander verbunden waren, und wie die Luft dazu geschaffen war, Töne einzufangen, und von der Erschaffung des Meeres. Auch erzählte er einiges von dem, was er von den Tagen des großen Königs gesehen hatte, der bald auf die Welt kommen würde. Taliesin zeichnete diese Dinge auf, wusste er doch, dass Merlin nur die Wahrheit sprach.
Während sie zusammen waren, kam ein Mann vorbei, der ihnen von einer Quelle erzählte, die auf wundersame Weise in der Nähe plötzlich aus der Erde herausgesprudelt war und nun einen See bildete, und mehrere Bäche flossen seitdem aus dem See durch den Wald. Als sie das hörten, beschlossen Merlin und Taliesin, den Ort aufzusuchen. Dort angekommen, schaute Merlin auf das Wasser, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er formte seine Hände zu einer Schale und trank, und mit einem Mal wich der Wahnsinn, der ihn so viele Jahre lang besessen hatte, von ihm, und seine Augen wurden endlich wieder ganz klar. Er war gesund und munter und wirkte um viele Jahre verjüngt.
Merlin wandte seinen Blick gen Himmel und rief aus: »Ich bin wieder bei Sinnen! Ich wurde aus mir selbst herausgenommen und war wie ein Geist. Ich verstand den Flug der Vögel und die Sprache der Tiere – all das gefiel mir besser als jedes Menschenwort und jede menschliche Tat. Jetzt bin ich frei, das mir aufgetragene Werk zu vollbringen.«
Taliesin stand staunend da, dankbar für die Genesung seines Freundes. Bald sprach sich die Kunde von der wundersamen Quelle herum, und viele Menschen kamen, um mit Merlin zu sprechen und seine Heilung zu bezeugen. Viele meinten, er solle das Königtum übernehmen und sie zum Sieg über ihre Feinde führen, aber Merlin lehnte das ab und sagte, die Zeit für dergleichen Dinge sei vorüber. Er erklärte, dass er andere Aufgaben zu erfüllen habe. »Denn es kommt ein großer König, der meine ganze Weisheit brauchen wird. Er wird das Land vereinen, und es werden sich in seiner Zeit viele Wunder ereignen.«
So geschah es dann auch, wie alle wissen, die die Worte von Meister Thomas gelesen haben. Denn obwohl Merlin bereits ein langes Leben hinter sich hatte, wirkte er ab dem Moment, als er von der Quelle trank, jünger. Bald schon sollte er wieder in die Welt hinausgehen. In der Sternwarte ließ er Ganeida zurück, die dort ihr Leben als Prophetin begann. Denn es heißt, dass sie als sein Zwilling aus demselben Schatz an Weisheit schöpfte wie er. Doch davon wollen wir an dieser Stelle nicht weiter sprechen, sondern uns stattdessen einer Geschichte zuwenden, die sich ereignete, nachdem Merlin den Wald verlassen hatte, aber vor der Zeit seiner ersten großen Prophezeiungen der Ereignisse, die sich in der Welt zutragen sollten.
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EXPLICIT DIE HERKUNFT MERLINS.
INCIPIT DIE GESCHICHTE VON AVENABLE.
Nur wenige sprechen heute noch von den Jahren, in denen Merlin vor Arthurs Zeit durch die Welt zog. Aber es gibt eine Geschichte, an die man sich nach wie vor erinnert und in der auch wieder Merlins Lachen zu hören war, als ein wilder Mann durch die Tiefen des baumbeschatteten Waldes pirschte.
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In den Jahren, bevor Arthur als König herrschte, war der Kaiser von Rom ein Mann namens Konstantin. Es heißt, dass er von dieser unserer Insel stammte, aber ich kann in den alten Büchern keine Aufzeichnungen darüber finden. Der Kaiser hatte damals in seinen Diensten einen Fürsten namens Cador, Herzog von Almayne. Dieser edle Herr wurde von einem mächtigen benachbarten Herrn namens Frolle, einem Günstling des Kaisers, entrechtet und von seinem Land vertrieben. Cador hatte jedoch eine Tochter, Avenable, die ebenso temperamentvoll wie schön war, und als sie sah, dass ihr Vater so schlecht behandelt wurde, schmiedete sie einen Plan, um ihm zu helfen. Sie verkleidete sich als Knappe und machte sich auf den Weg nach Rom. Sie nannte sich Grisandole und bewies immer wieder ihren Mut, so dass der Kaiser auf sie aufmerksam wurde. Er machte sie zu seinem persönlichen Knappen, und nachdem sie ihm ein Jahr lang gedient hatte, schlug er sie am Johannistag zusammen mit anderen jungen Knappen zum Ritter.