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Art Director Tina Roth ist frustriert. Beim Shooting für ihre neuste Kampagne läuft alles schief. Das absolute Highlight ist, dass das gebuchte Model nicht mehr in die vorgesehene Kleidergrösse passt. Das Geschäft mit der Auftraggeberin scheint zu platzen und der Agenturleiter und Chef von Tina tobt vor Wut. Gemeinsam mit ihrem Assistenten Lukas Fischer versucht sie die Wogen zu glätten. In einem Gespräch kommen sie plötzlich auf Lukas Vater Paul zu sprechen, einem hoch angesehenen Ethnologen, der bis zu seinem Tod wie besessen zwei antike Tontafeln zu entschlüsseln versuchte, die vom Schreiber der Königin von Qatna verfasst wurden. Paul konnte den Tafeln immerhin abringen, dass sie das Rezept einer Crème enthalten, der Crème der ewigen Schönheit. Die Tafeln verschwanden nach seinem Tod spurlos, doch Tina träumt in der folgenden Nacht von der schönen Königin. Es ist wie eine Botschaft aus der Vergangenheit. Sie entschliesst sich, mit Lukas zusammen das Geheimnis zu ergründen und merkt schon bald, dass weitere Personen hinter den Tafeln her sind. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, und Tina ist nicht nur Teil der Jagd nach den Tafeln von Qatna, sondern erlebt im Traum das Schicksal der Königin, des Schreibers und dessen Familie und den Weg der mystischen Tafeln bis in die Gegenwart. Wird es Tina und Lukas gelingen, die Tafeln zu finden und ihnen das Geheimnis der ewigen Schönheit zu entreissen? Oder scheitern sie und werden von ihnen für ihre Gier grausam bestraft?
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Seitenzahl: 260
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LARA GRAY
BAND 1
DIE TAFELN DER EWIGEN SCHÖNHEIT
Alle Rechte vorbehalten
© 2019 Rancoon Verlag, Basel
EBOOK ISBN 978-3-03884-017-6
Lektorat: Andrea Elmiger
Cover: Dora Borostyan und Magnus Zophoniasson
www.rancoonbooks.com
Es gibt ungeheuer viele Geheimnisse, die mit sachlichem, logischem Verstand nicht zu erklären sind. Mysterien, die eines Tages zur Wirklichkeit werden. Wenn die Zeit dazu reif ist. Wie, auf welche Art und wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, entscheidet das Schicksal.
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
«Seid ihr jetzt vollkommen durchgeknallt?» Lothar Leuthart, Chef der Modelagentur MALO, schletzte die Türe hinter sich zu. Tina Roth und ihr Assistent Lukas Fischer sahen von ihren Schreibtischen auf. «Wie könnt ihr unserem besten, was sage ich, bald unserem einzigen Kunden, eine fette Sau vermitteln!»
«Lena ist alles andere als fett, LL.»
«Die mussten sie richtiggehend in ihre Klamotten reinstopfen. Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen, Tina?»
«Vor einem Monat. Zusammen mit Anja. Ich habe ihr Lena vorgestellt. Sie war total begeistert von ihr. Genau das, was sie suchte.»
«Und wer von euch beiden Idioten hat sie zum Shooting begleitet?»
«Das war absolut unnötig. Lena ist die Beste. Ein Profi.»
«Die Fetteste, wolltest du wohl sagen, Lukas. Ihr hockt hier auf dem faulen Hintern im Büro anstatt euch die Models anzuschauen, die wir vermitteln. Anja schäumt vor Wut. Sie hat uns sämtliche Aufträge entzogen. Hier, schaut euch die Fotos an. Von wegen Grösse 34!»
Tina Roth, Creative Director in der Agentur, beugte sich über die Fotos, die ihr Chef auf den Tisch knallte. «Was gibts da zu lachen?»
«Sie hat etwas zugelegt. Wie ist das in einem Monat nur möglich?»
«Etwas zugelegt?», schrie LL. «Sie sieht aus wie eine in Designer-Klamotten gesteckte Wurst. Ist keiner von euch Hirnis auf die Idee gekommen, das Shooting zu begleiten?»
«Also fett ist sie überhaupt nicht. Kein Mann würde Lena von der Bettkante werfen. O.k., in die 34er-Klamotten kommt sie nicht mehr rein. Aber 38 würde ihr locker stehen», sagte Lukas.
«Dann vermittelt sie von mir aus in Zukunft für Werbung 40plus. Und nicht für die Kundschaft von Anja. Übrigens nicht mein Fall: Teenie-Werbung für Magersüchtige.»
«Darüber musst du dir keine Sorgen mehr machen.»
«Weil wir weg vom Fenster sind. Ein für allemal. Ich konnte Anja nicht beruhigen.»
«Soll ich mit ihr reden?», fragte Tina.
«Du bist genau die Richtige. Dir verdanke ich den ganzen Schlamassel. Am liebsten würde ich euch beide hochkant rauswerfen. Aber das bringt auch nichts mehr.»
Der Agenturboss liess sich im modern eingerichteten Büro auf einen Stuhl fallen.
«Es ist sowieso aus.»
Tina sah ihn verständnislos an.
«Anja war unsere letzte grosse Kundin. Der Rest ist zum Vergessen. Schlimmer noch. Ich schulde ihr eine halbe Kiste.»
«Du hast bei ihr ein Darlehen aufgenommen?»
«So blöd könnt selbst ihr zwei nicht sein. Schaut euch um. Vor einem Jahr arbeiteten hier noch achtzehn Leute. Jetzt sind wir zu sechst. Glaubt ihr, dass ich aus Spass alle anderen entlassen habe?»
«Dass es der Agentur nicht besonders gut geht, ist uns klar. Aber, dass es so kritisch ist, wusste ich nicht.»
«Ich wollte keine Panik verbreiten. Anja lieh mir die halbe Million, damit ich eine neue Struktur aufbauen kann. Nicht ganz ohne Eigennutz. Sie will diversifizieren. Nebst den Klamotten eine Parfum- und eine Pflegelinie aufbauen. Da steckt sie zehn Millionen rein. Wir sollten die Kampagne begleiten. Jetzt steigt sie bei uns aus.»
«Ich spreche mit ihr. Sie kann uns doch nicht wegen dieses blöden Fehlers fallen lassen.»
«Das wird sie … und wir sind erledigt. Ende Monat kann ich euch nochmals die Löhne bezahlen. Dann geht hier der Laden runter.»
«So schlimm?»
«Schlimmer. Ich habe meinen letzten Franken ins Geschäft gesteckt. Dreissig Jahre für nichts. Am Ende bleibt der Konkurs.»
Tina setzte sich neben ihren Chef und legte ihm eine Hand auf den Arm.
«Ich mache es wieder gut, LL. Sie wird sich beruhigen. Wir holen den Auftrag zurück.»
«Ihr seid meine kreativsten und besten Leute. Aber das kannst du vergessen, Tina. Selbst du bringst die Sache nicht mehr in Ordnung. Dieses Mal nicht.»
«Du verschweigst uns doch etwas?»
«Es ist während des Shoots zum Eklat gekommen.»
«Zwischen Lena und Anja?»
«Zwischen Anja und Stefan.»
«Oh nein. Stefan hält nicht allzu viel von seiner Übermutter.»
«Sie ist wegen Lena ausgerastet. ‹LL serviert mir eine Speckschwarte, ein Fass. Das hier ist ein Shooting für Designerkleidung für Teenies. Kein Nilpferdballett.› Lena sass weinend in ihren Klamotten. Die Krönung war, als sie sich hinsetzte, riss die Naht am Rock. Hört auf zu lachen!» Aber allein die Vorstellung genügte, dass LL ins Gelächter einstimmte. «Stefan tröstete Lena. Anja explodierte und setzte nach. ‹Es wundert mich nicht, dass du auf sie stehst. Die passt in deine Monstersammlung. Eine fetter als die andere.›»
«Die hat doch nicht mehr alle Blätter am Baum!»
«Stefan wollte Lena aus der Schusslinie ziehen. Das gefiel seiner Mutter überhaupt nicht. ‹Schiebt die dicke Bertha in andere Klamotten. Jetzt könnt ihr mal zeigen, was ihr drauf habt. Wir organisieren kein weiteres Shooting. Ich brauche die Fotos. Und zwar jetzt. Ihr nehmt die Wurst auf und dann retouchiert ihr sie›, schrie Anja.»
«Daraufhin ist Stefan ausgerastet?»
«Und wie. Wenn nur die Hälfte stimmt, was unser Fotograf Toni mir erzählte, ging’s danach heftig zur Sache. Anscheinend fielen Worte wie ‹Skelett, du kannst nicht alt werden, läufst mit 70 noch immer wie eine 20-Jährige herum.›»
«Vor dem gesamten Staff?»
«Ja, sie standen alle mit zerknirschter Miene da und genossen die Show. Toni versuchte, die Wogen zu glätten. Das sei alles halb so wild. Das würde er mit einigen kleinen Retouchen längst hinkriegen. Als sich Anja etwas beruhigt hatte, weigerte sich Lena, weiterzumachen.»
«So eine blöde Gans.»
«Irgendwann ist auch bei einem Model Schluss, Lukas. Die stecken schon genug ein. Kein einfacher Job.»
«Hätte sie die Schnauze gehalten, wären wir noch im Geschäft, Tina. Nein, die dumme Kuh musste sich im Schatten von Stefan aufspielen. Und der Vollidiot unterstützte sie noch. Er ist mit ihr abgehauen. Anja rief ihm nach: ‹Wenn du jetzt hier mit dem Luder rausgehst, brauchst du nicht mehr heimzukommen.› Das war’s. Stefan ist mit Lena abgerauscht. Anja ebenfalls. Toni blieb nichts anderes übrig, als das Shooting abzubrechen. Und ich musste mir eine halbe Stunde die Hasstiraden von Anja anhören. Wir sind erledigt. Ihr Finanzchef rief mich bereits an. Er muss den Kredit auf Ende Monat kündigen. Die lässt sich garantiert nicht mehr umstimmen. Wir sind erledigt. Ende Monat fliegen wir alle hier raus.»
«Ich rede trotzdem mit Anja.»
«Keine Chance. Vermutlich kommst du nicht einmal zu ihr durch.»
«Dann sprechen wir mit Stefan.»
«Naja, das ist zumindest einen Versuch wert. Aber schieb es nicht lange vor dich her.»
«Wir fahren gleich zu ihm. Ruf ihn an, Lukas», sagte Tina und verliess mit ihrem Assistenten den Raum.
Lothar Leuthart liess sich stöhnend in seinem Büro auf einen Polstersessel fallen, angelte sich eine Flasche Cognac und füllte sich einen Drink in ein bauchiges Glas. Er schaute sich den Inhalt des Glases an und leerte den Rest des Cognacs aus der Flasche dazu. Dreissig Jahre! Aufgebaut mit meiner Frau, einer kreativen, genialen Werberin. Sie war bis vor ihrem Tod vor zehn Jahren der Motor der Agentur. Tina erinnert mich in vielen Dingen an sie. Ehrgeizig, kreativ, sehr intelligent und loyal. Und eine sehr schöne Frau, schob er in Gedanken nach. Die meisten unserer Models sehen neben ihr alt aus. Wie Lena! Und bei Tina würde niemand auf den Gedanken kommen, sie eine fette Sau zu nennen. Mitte dreissig. Läuft etwas zwischen ihr und Lukas? Wohl kaum. Ich weiss eigentlich nicht viel über sie, besser gesagt, gar nichts. Muss ich auch nicht. Manchmal stört es mich schon, wie sie um ihr Privatleben ein Geheimnis macht. Wenn es ihr nicht gelingt, Anja zu beruhigen, ist es vorbei. Jetzt ist der Super-GAU eingetreten, den ich niemals für möglich hielt. Nach Marias Tod, sie beschwor mich praktisch mit dem letzten Atemzug, Tina zu ihrer Nachfolgerin zu küren, ging es genauso weiter wie vorher. Sogar weit besser. Damals hätte ich nicht ausbauen, keinen Grössenwahn kriegen sollen. Bei den vier Mitarbeitern bleiben. Stattdessen musste ich unbedingt die grösste Agentur in Basel werden. Obwohl der Markt langsam in sich zusammenbrach. Die Zeit der teuren Shootings war vorbei. Auch bedeutende Firmen leisteten sich keine Ausflüge mehr in die Tropen. Und wenn, dann wurde das Shooting durch eine Agentur vor Ort organisiert. Das waren noch Zeiten, als wir vollgepackt mit einer 20-köpfigen Crew bestehend aus Creative Director, Produzent, Fotograf, Kameramann, Fashion-Stylisten, Models, Make-up-Artisten, Hairstylisten, Assistenten etc. und dem gesamten Equipment an irgendeinen exotischen, abgelegenen Ort pilgerten und zwei Wochen Kampagnen auf die Beine stellten. Alles vorbei. Längst sind wir von Agenturen in Südafrika überholt worden. Kapstadt ist heute eines der beliebtesten Ziele für Shootings. Zum halben Preis, wenn überhaupt. Und wenn wir noch einen gut zahlenden Kunden haben, versauen wir den Auftrag fahrlässig. Ich begreife nicht, weshalb Tina das Shooting schlitteln liess. Sie hätte zu Beginn vor Ort sein müssen. Ein unverzeihlicher Fehler. Das wäre Maria nie passiert. Sie fehlt mir. Nicht, um die Agentur zu retten. Die geht den Bach runter. Sie fehlt mir als Frau an meiner Seite. Seit zehn Jahren. Eine lange Zeit. In der mich keine andere faszinierte. Einige Affären, mehr nicht. Und jetzt? Was fange ich mit meinem Leben an? Oder besser gefragt, wo soll ich hin? Mein ganzes Geld steckt in der Agentur. Mein Haus ist bis zum letzten Dachziegel mit Hypotheken belastet. Ich hätte auch in diesem Punkt auf dich hören sollen, Maria. Spiel von mir aus mit der Agentur, aber rühr unser Haus nicht an. Es ist deine Altersvorsorge. Das war einmal. Jetzt bin ich nur noch eine verkrachte Existenz. Die grosse Modelagentur, der gigantische Werber Lothar Leuthart. LL, der absolute Versager. Er leerte das Glas, sass wie erstarrt auf seinem Polstersessel und schleuderte dann die leere Flasche gegen die Türe.
Lukas Fischer fuhr mit seinem BMW langsam den Hügel zum Bruderholz hinauf.
«Ich wusste nicht, dass wir kurz vor dem Aus stehen.»
«Ich auch nicht. LL gehts voll an die Nieren. Wir müssen Stefan dazu kriegen, dass Anja wieder mit uns zusammenarbeitet.»
«Es konnte doch niemand wissen, dass Lena in einem Monat zehn Kilo zunimmt.»
«Vielleicht fünf. Aber an den falschen Stellen. LL hat recht. Es war ein unverzeihlicher Fehler. Wir predigen doch den Leuten immer, kein Shooting ohne den Creative Director. Wir selbst halten uns nicht an die Regel.»
«Dann wäre unser Konzept für Faber nicht fertig geworden.»
«Wegen einer Stunde? Du musst es nicht schönreden, Lukas. Wir hätten vor Ort nur schauen müssen, ob alles funktioniert.»
«Weshalb rief uns Toni nicht an? Der sah doch, dass sie fett ist.»
«Wahrscheinlich wurde er von den Ereignissen überrumpelt. Wenn Anja tatsächlich aussteigt, brauchen wir Faber.»
«Das wäre sowieso irgendwie schiefgelaufen. Wusstest du, dass Anja eine eigene Kosmetiklinie plant?»
«Kein Wort. Sonst hätte ich Lothar informiert, dass der Kosmetikkönig eine Kampagne bei uns in Auftrag geben will. Stell dir vor, wir arbeiten für Faber und gleichzeitig für Anja. Da wäre es zum grossen Knall gekommen … Die nächste rechts. Es ist das zweite Haus auf der linken Seite.»
«Nicht schlecht!»
«Das Haus seiner Grosseltern.»
Stefan und Lena sassen im Garten der Villa. Tina musterte das Model.
«Wie hast du das geschafft?»
«Was meinst du?»
«Zehn Kilo innerhalb eines Monats.»
«Fängst du jetzt auch noch damit an?»
«Wenn du schon zulegst, wäre es anständig von dir gewesen, uns zu informieren. Wir besorgen Kleidergrösse 34 und du schälst dich vielleicht gerade noch knapp ins 38 rein.»
«Ich war sicher, dass ich es packe.»
«Jetzt begreife ich Anjas Ausraster. Als wir sie trafen, war sie ohne zu Zögern mit dir einverstanden. Und wer läuft bei ihr ein?»
«Es ist genug, Tina. Setz dich hin und trink etwas. Lena ist fix und fertig. Da braucht sie keinen Papagei, der meine Mutter nachäfft.»
«Ich äffe niemanden nach. Aber ich rege mich grausam auf. Sie wusste doch ganz genau, dass sie niemals in die Klamotten reinpasst. Wir hätten einen Ersatz besorgen können.»
«Ich brauche das Geld … dringend.»
«Wir sind alle knapp bei Kasse.»
«Jake hat mich in den Wind geschossen», seufzte Lena. «Du bist nicht mehr mit Jake zusammen?»
«Er hängt jetzt mit Eva ab.»
Lukas sah Tina verständnislos an.
«Das ist die, die wir für Faber vorgesehen haben.»
«Die Schwarzhaarige, die nur aus Kusslippen besteht?»
«Wie das Rolling-Stones-Label. Wann ist das passiert?»
«Kurz, nachdem wir den Deal mit Anja abgemacht haben.»
«Und seither bläst du Trübsal und stopfst dich mit Schokolade voll.»
«Ich komme nicht über Jake hinweg. Er war doch mein Manager.»
«Schöne Bezeichnung. Ein Schmarotzer, der dir die Kohle abgenommen hat. In einem anderen Beruf würde ich das als Zuhälter bezeichnen. Weshalb hast du uns nicht angerufen?»
«Weil ich den Job dringend brauche, Tina. Ich bin mit der Miete und der Krankenkasse im Rückstand. Und der Rückzahlung eines Kleinkredits. Die wollen mich aus der Wohnung werfen. Und die Bank hat mich betrieben.»
«Das regle ich für dich.»
«Danke, Stefan, aber du hast schon genug Ärger.»
«Mutter klinkt sich schon wieder ein.»
«Womit wir beim Thema unseres Besuchs sind. LL beichtete uns, dass die Agentur kurz vor dem Aus steht. Und dass er deiner Mutter eine halbe Million schuldet.»
«Davon weiss ich nichts. Typisch Mam. Sie kauft sich halb Basel zusammen. Auch eine der besten Model- und Werbeagenturen.»
«Du musst für uns ein gutes Wort bei ihr einlegen.»
«Dafür bin ich im Augenblick sicher der Falsche, Tina. Sie muss sich zuerst beruhigen.»
«Man nennt die eigene Mutter auch nicht Skelett.»
«Ich kann diesem Schönheits- und Magersuchtskult nichts abgewinnen. Du glaubst gar nicht, wie mir das auf den Wecker geht. Sie sitzt am Morgen am Frühstückstisch, isst ein kleines Stück einer Semmel, schlürft einen Löffel vom dreiminutenei, etwas Früchte und ein Magerjoghurt. Alles fein dosiert, versteht sich. Ich könnte jedes Mal kotzen. Unser Hausarzt warnt sie seit Jahren. Das habe nichts mehr mit gesunder Ernährung zu tun. Sie sei magersüchtig. Er geht sogar weiter. Wenn sie ernsthaft erkranke, garantiere er für nichts. Sie würde einfach weggeblasen. Aber ihr kennt sie. Sie hört auf niemanden. Ende Woche kommt ein alter Freund zu Besuch. Ich glaube, die hatten mal etwas miteinander. Der ist so ziemlich der Einzige, der sie beeinflussen kann. Ich werde ihn bitten, für euch ein gutes Wort einzulegen. Ich treffe ihn am Freitag zum Mittagessen im ‹Drei Könige›. Kommt doch einfach dazu. Wenn sie jemand überzeugen kann, dann er.»
«Wer ist das?»
«Hannes Trenk.»
«Der Superdesigner?»
«Er hat vor einigen Jahren aufgehört.»
«Wir kommen gerne. Kümmerst du dich um Lena?»
«Sie kann, solange sie will, bei mir wohnen.»
«Na also. Das ist ein Wort. Du solltest die Chance nutzen.» Tina schaute Lena auffordernd an.
«Du kannst mich aus der Kartei entfernen, Tina. Ich will nicht mehr.»
«Bist du sicher?»
«Ich bring es nicht. Ich weiss es schon seit einem Jahr. Aber Jake wollte, dass ich weitermache. Ich hungere mich vor jedem Shooting beinahe kaputt. Ich stecke mir nach dem Essen den Finger in den Rachen, damit ich nicht zunehme.»
«Du solltest einen Arzt aufsuchen.»
«Das brauche ich nicht. Ich habe keine Bulimie.»
«Das sagen alle.»
«Ich bin garantiert nicht krank. Ich esse gerne, trinke auch gerne Wein, aber ich büsse es jedes Mal. Was bleibt mir anderes übrig, als nach dem Essen zu kotzen. Jetzt will ich nicht mehr. Es ist Schluss. Ich suche mir einen normalen Job. Ich hasse Leute wie dich und LL, die mich nur als Stück Fleisch betrachten. Schönes Gesicht, Topfigur. Was für Qualen ich durchmache, um das zu erhalten, ist euch doch vollkommen egal. Ich getraue mich am Morgen schon nicht mehr, in den Spiegel zu schauen. Ich könnte ja in der Nacht einen Pickel bekommen haben. Und das vor einem Shooting. Da lachen mich alle aus. Fettes Pickelface! Ich stehe das nicht mehr durch. Und ich will auch nicht mehr.»
«Du bleibst vorerst bei mir. Solange, wie es dir gefällt. Inzwischen suchst du dir einen neuen Job», beruhigte sie Stefan.
«Du vergisst, dass dich deine Mutter rausgeworfen hat.»
«Ach das, Tina. Dann sollte sie einmal die Verhältnisse in unserer Firma genauer unter die Lupe nehmen. Mir gehören 45 Prozent des Konzerns. Zwar nicht die Mehrheit, aber immerhin eine Sperrminorität, geerbt von meinen Grosseltern. Sie kann mich durch die Vordertür rauswerfen, und schon stehe ich durch die Hintertür wieder im Haus. Wenn ich meine Anteile an Faber verkaufe, wird es für Mam ziemlich eng.»
«Planst du so etwas?»
«Keine Sekunde. Aber als Druckmittel wird es genügen, damit sie wieder vernünftig wird. Ausserdem sitze ich im Verwaltungsrat. Da müsste man mich abwählen. Du musst dir um meine Zukunft keine Sorgen machen. Es renkt sich alles wieder ein.»
«Dann kommen wir am Freitag nach deinem Essen dazu. Ich wollte Hannes Trenk schon immer einmal kennenlernen.»
«Ihr könnt auch zum Essen kommen.»
«Lieber nicht. Das ‹Drei Könige› ist mir eine Nummer zu gross. Aber vielleicht will Lukas.»
«Danke. Die Brasserie geht gerade noch.»
«Sorry, dass ich dich angegriffen habe, Lena. Ich hoffe, dass du mich ein wenig verstehst. Es geht uns ans Eingemachte. Wenn Anja nicht einlenkt, sind wir in einem Monat weg vom Fenster», entschuldigte sich Tina.
«Glaubst du, dass sie Stefan verzeiht?», fragte Tina, als sie wieder im Auto sassen.
«Ja, sie wird ihren Frust an uns auslassen. Wir sind es, die sie vor allen blossgestellt haben. Stefan ist ihr Sohn, dem vergibt sie.»
«Meinst du wirklich, dass sie so denkt?»
«Die ist verrückt. Sie wird uns eiskalt abservieren … Zurück ins Büro?»
«Oder wir gehen etwas zusammen essen.»
«Wenn wir schon hier sind, möchte ich noch kurz im Gundeli bei meiner Mutter die Steuererklärung abholen. Sie kommt damit nicht zurecht. Ich soll sie für sie ausfüllen.»
«Wohnt sie noch immer an der Gundeldingerstrasse?»
«Mein Elternhaus. Nicht so gross wie Stefans Villa, aber ganz schick. Paps kaufte es vor dreissig Jahren einem Ethnologen ab.»
«War er nicht selbst Ethnologe?»
«Archäologe. Seit acht Jahren tot.»
«Das ist bereits acht Jahre her? Ich kann mich noch gut an die Beerdigung erinnern. Eine wunderschöne, stilvolle. Wenn man beim traurigen Anlass überhaupt von schön sprechen darf. Ich bekam erst an der Abdankung mit, dass er eine grosse Nummer auf seinem Gebiet gewesen ist.»
«Es gibt viele Analysen und noch mehr Thesen von ihm, die auf der ganzen Welt zitiert werden.»
«Weshalb bist du nicht auch Archäologe geworden?»
«Da stand mir meine Kreativität im Wege. Paps vergrub sich zu sehr in seiner Arbeit. Mam liebte es, einfach bei ihm zu sitzen, wenn er vor sich hin grübelte. Sie strickte wie wild Socken, Pullover. Ich dachte immer, Paps würde sich vom Klimpern der Nadeln ablenken lassen. Aber irgendwie gehörte es zum Spiel. Ich glaube, es motivierte ihn sogar, wenn sie mit ihrer Wolle und den Nadeln bei ihm sass. Sein Tod war ein schwerer Schock für Mam.»
«Leidet sie noch immer darunter?»
«Sie hat es überwunden. Sie reist mit Freundinnen durch die Welt. An die Schauplätze von Paps Wirken. Eine Art Vergangenheitsbewältigung. Aber ich bin mir sicher, dass sie dabei glücklich ist … Aussteigen. Der Kaffee steht sicher bereits auf dem Tisch.»
Die alte Dame hatte, wie vermutet, nach der Ankündigung von Lukas drei Tassen auf den Tisch gestellt.
«Bei mir gibts noch den gemahlenen Kaffee. Wie in der Fernsehwerbung mit Roger Federer. Dem möchte ich einmal persönlich begegnen. Ich schaue mir alle seine Matches an. Manchmal ist es nicht zum Aushalten. Bei den Australian Open bin ich im Final beinahe gestorben. Ich musste zeitweise sogar umschalten, weil ich es nicht mehr mit ansehen konnte. Kaffee oder Tee, Tina?»
«Einen Kaffee, bitte.»
«Wir sind immer in der Joggeli-Halle, wenn er bei den Swiss Indoors spielt.»
«Wer ist wir?»
«Drei meiner Freundinnen und ich. Wir verreisen auch immer zusammen. Uns verbindet das gleiche Schicksal. Unsere Männer sind viel zu früh verstorben. Ich habe die Steuererklärung in einen Umschlag gelegt. Das ist mir zu hoch. Das erledigte immer Paul. Hattet ihr einen Termin im Gundeli?»
«Auf dem Bruderholz. Bei Stefan Stettler.»
«Der Modefirma? In meinem Kleiderschrank hängt ein kleines Vermögen von STETTLER.
«Ja, wir arbeiten für ihn und seine Mutter.»
«Er sieht gut aus. Aber sie ist ein dürres Klappergestell. Die Frau kann nicht alt werden.»
«Mam!»
«Das gefällt mir. Ihr eigener Sohn nennt sie Skelett und deine Mutter dürres Klappergestell. Sabine, woher kennst du eigentlich Anja?»
«Nur aus dem Fernsehen. Ich finde es schlimm, wenn Menschen nicht alt werden können. In Würde. Ich hoffe, dass ich noch lange lebe. Aber, wenn meine Zeit gekommen ist, will ich nicht leiden. Dann soll Lukas für mich entscheiden.»
«Du wirst mindestens hundert.»
«Aber nur, wenn ich mich so wie jetzt fühle. Oder aber, wenn es so wäre, wie Paul glaubte.»
«Glaubte dein Mann an das ewige Leben?»
«Das schon nicht. Aber an die ewige Schönheit. Er war überzeugt davon, dass man auch im hohen Alter schön sein kann. Er sagte immer zu mir, du wirst auch mit hundert Jahren noch wie vierzig aussehen. Da hat er sich geirrt.»
«Wie ist er darauf gekommen?»
«Eine seiner Spinnereien. Nebst all den vielen Erkenntnissen, den grossen Geheimnissen, die er der Erde in seinen vierzig Arbeitsjahren entlockte, träumte er immer davon, dem ewigen Leben und der Bundeslade auf die Spur zu kommen. Und der ewigen Schönheit. Davon war er total besessen.»
«Darüber hast du noch nie mit mir gesprochen.»
«Weil es Hirngespinste sind, Sohn. Unser Leben auf der Erde ist endlich. Die Bundeslade wird niemals gefunden, genauso wenig wie die Menschen in der Bibel tausend Jahre lebten. Und die ewige Schönheit gibt es auch nicht.»
«Aber Paps glaubte daran.»
«Mehr noch. Er war dem grossen Geheimnis auf der Spur. In seinen letzten Jahren forschte er nur noch nach der ewigen Schönheit. Die soll aus einer geheimnisvollen Mischung von Pflanzen und Granulaten bestehen. Sie bewirken, dass der natürliche Alterungsprozess gehemmt wird. Du wirst zwar älter, aber deine Haut, dein Körper altern nicht in dem Masse, dass du unansehnlich, runzlig wirst. Wenn es dieses geheime Rezept gibt, ist es heute sowieso überholt.»
«Das verstehe ich nicht.»
«Ganz einfach, Tina. Die Alchemisten von früher sind die Schönheitschirurgen von heute. Ich habe mir vor Kurzem einen Bericht im Fernsehen angeschaut. Eine Miss-Wahl in Brasilien. Alle um die 50, alle inzwischen Omas. Und sie sehen wie 20-Jährige aus. Das Geheimrezept von Paul hat ausgedient. Es wurde durch Skalpell und Botox ersetzt. Wann werde ich eigentlich Oma?»
«Da musst du dich noch ein wenig gedulden. Zuerst muss mir die richtige Frau zulaufen.»
«Was ist mit Tina? Du schwärmst in den höchsten Tönen von ihr. Ihr versteht euch doch prächtig.»
«Mam!»
«Was, Mam! Die wäre die Richtige für dich. Etwas älter als du, intelligent, schön und geschäftlich versteht ihr euch auch. Du musst dir dann halt eine andere Stelle suchen, Sohn.»
«Wieso denn das?»
«Weil ihr sonst 24 Stunden aufeinanderhockt. Das geht nicht gut.»
«Was soll diese Diskussion? Wir sind gute Freunde, mehr nicht.»
«Er kommt nach meinem Mann, Tina. Wenn ich damals nicht die Initiative ergriffen hätte, wäre ich eine alte Jungfer geworden. Kein Mumm in den Knochen! Aber nur, was die Frauen anbelangt. Sonst liess Paul nichts aus. Er grub seine Knochen in Ländern aus, in denen sich neben ihm die gegnerischen Parteien Gefechte lieferten, sich massakrierten. Wenn du ihn liebst, musst du einfach zupacken. Sonst wird nichts aus euch.»
«Danke für den Tipp. Mich würde das mit der ewigen Schönheit schon etwas näher interessieren.»
«Das brauchst du nicht, Mädchen. Ich kenne keine schönere Frau als dich.»
«Nein, ich meine, wie ist er darauf gekommen?»
«Durch seinen Aufenthalt in Syrien. Anscheinend sind ihm dabei auf einer Tafel eine Formel und ein Text in die Hände geraten. Von einem Arzt aus dem Altertum. Das war irgendwo in Syrien. Dort, wo Krieg herrscht. In Qatna.»
«Das sagt mir gar nichts.»
«Ein altes Königreich. Im 2. Jahrtausend vor Christus eine wichtige Handelsmetropole. Die Qatnaer kontrollierten wichtige Handelswege, vor allem zwischen Ägypten und Mesopotamien. Bei Ausgrabungen wurden sehr viele Tontafeln entdeckt. Aber wie bei allen Gräbern waren vor den Archäologen Grabräuber am Werk. Ausser bei einer alten Grabkammer. Die muss mindestens 3500 Jahre alt sein. Ein Archäologenteam aus Tübingen fand eine unversehrte Grabkammer im Jahr 2009. Sie war vollkommen instand. Seit der IS die Macht in der Gegend übernahm, wurden die Grabungen eingestellt.»
«Woher weisst du das alles, Mam?»
«Ich verfolge noch immer die Spuren deines Vaters.»
«War dein Mann Teilnehmer an der Expedition?»
«Nein, das war kurz vor seinem Tod. Paul leitete eine im Jahr 1999. Aber nicht besonders erfolgreich. Sie fanden nur ausgeraubte Grabkammern.»
«Aber in einer lag die Tafel mit den Aufzeichnungen?»
«Falsch. Die kaufte er bei einem der Grabräuber und schmuggelte sie nach Basel. Er versuchte sie mit seinem Assistenten zu entziffern. Er schloss sich Wochen lang mit ihm ein, bis er mit dem Ergebnis kam. ‹Es fehlt nur noch ein kleines Teil vom Puzzle und dann weiss ich, wie wir eine Substanz herstellen können, die das Altern verhindert. Ich bin einem der grossen Geheimnisse der Menschheit, der ewigen Schönheit, auf der Spur›, freute er sich. Ich musste lachen. ‹Wenn du der ewigen Liebe auf der Spur wärst, das würde mehr Sinn machen.› Da müssten die Leute nur auf uns schauen, war seine Antwort. Paul war ein Romantiker.»
«Und was ist aus der Tafel geworden? Und den Aufzeichnungen?»
«Das weiss ich nicht. Da müsst ihr Peter Stoll fragen. Der war damals sein Assistent.»
«Professor Stoll?»
«Ist er inzwischen Professor? Das hat er mir die ganzen Jahre über verschwiegen. Ich mag ihn. Nach dem Tod von Paul ist unsere Beziehung zuerst etwas abgebrochen. Aber seit drei Jahren treffen wir uns wieder regelmässig. Ein intelligenter Mann. Etwas schräg. Er arbeitet nur noch sporadisch an der Universität. Er lebt ziemlich zurückgezogen in seinem Elternhaus in Allschwil.»
«Bist du sicher, dass sich die Tafel nicht mehr im Haus befindet?»
«Ganz sicher. Die hätte ich längst gefunden. Weshalb interessiert ihr euch dafür?»
«Weil wir das Rezept der ewigen Schönheit finden wollen.»
«Tina, Tina! Ich hielt dich bisher für eine intelligente, aufgeschlossene Frau. Glaubst du tatsächlich, dass es ein solches Rezept gibt? Von jemandem vor 4000 Jahren entdeckt. Schau mich an. Ich bin eine eitle Frau. Wenn ein solches Rezept tatsächlich existiert, hätte ich es längst ausprobiert.»
«Du bist für dein Alter eine äusserst attraktive Frau.»
«Immer mit der Einschränkung für mein Alter. Paul liess sich vom Verkäufer einen Bären aufbinden. Die angebliche Tafel war eine Fälschung. Glaubt mir, Paul war ein genialer Kopf. Aber auch ein extremer Spinner. Er konnte den heiligen Gral nicht finden, den Stein der Weisen ebenfalls nicht, das ultimative Elixier für das ewige Leben gab es auch nicht, es blieb also die ewige Schönheit. Und die glaubte er auf der Tafel zu entdecken. Es sind übrigens noch mehr Spinner wie dein Vater unterwegs.»
«Was meinst du damit?»
«Vor einem Monat ist einer aufgetaucht. Angeblich ein Journalist. Man kann mir viel vormachen, aber das war kein Reporter. Er wollte ein Interview mit mir über Pauls Verdienste durchführen. Nach einer halben Stunde lenkte er das Thema auf die Schönheit. Zuerst im Allgemeinen, dann aber versuchte er mich auszuhorchen. Ich weiss nicht, woher er wusste, dass Paul in seinen letzten Jahren nur noch zu dem Thema forschte. Ich hielt mich bedeckt. Stellte mich dumm. Da brach er das Interview ab, bedankte sich artig und verschwand.»
«Davon hast du mir nichts erzählt, Mam.»
«Ich hielt es nicht für notwendig. Es ist mir nur gerade eingefallen, weil Tina genauso gierig nach dem Rezept und der Tafel fragt.»
«Wie sah der Mann aus?»
«Um die sechzig. Graues Haar. Ziemlich elegant gekleidet. Deshalb dachte ich auch, dass das kein Journalist sein kann. Die kommen doch immer eher leger oder sogar schmuddelig daher.»
«Die Beschreibung passt auf die ganze Welt.»
«Ich achtete mich nicht so sehr darauf. Der Mann amüsierte mich, wollte mich für dumm verkaufen. So, wie er kam, verschwand er wieder.»
«Bist du sicher, dass sich keine Kopie der Abschrift der Tafel im Haus befindet?»
«Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, Tina. Wenn ihr wollt, suche ich danach. Oder ihr könnt es selbst machen. Pauls Aufzeichnungen füllen mehr als fünfhundert Ordner. Sie sind zwar detailliert angeschrieben, aber allein seine Forschungstätigkeit in Syrien füllt mehr als hundert von ihnen. Ich zeige sie euch, dann könnt ihr euch durch seine Aufzeichnungen wühlen.»
«Wir unterhalten uns zuerst mit Peter Stoll. Wenn er damals Pauls Assistent gewesen ist, kennt er die Ergebnisse der Forschung.»
«Der war genauso verrückt wie mein Mann. Noch eine Tasse Kaffee? Und denk an meine Worte, Tina. Wenn du meinen Sohn willst, musst du ihn an dich reissen. Er ist wie sein Vater.»
«Stell dir vor, es gibt ein Rezept, das das Altern verhindert. Keine Schönheitsoperationen, kein Botox. Du nimmst nur das Rezept ein und bleibst ewig schön.»
«Davon war nicht die Rede, Lukas. Du bleibst schön, aber deinem Alter entsprechend.»
«Trotzdem. Du bist sechzig und siehst aus wie vierzig. Ob Creme, Tablette oder Lotion, damit verdienst du Milliarden.»
«Ich tippe auf eine Salbe, wenn das Rezept 4000 Jahre alt ist.»
«Jeder Mensch auf der Welt, ob Frau oder Mann, streicht sich das Zeug ein, weil er einigermassen ansehnlich bleiben will.»
«Unter der Voraussetzung, dass er oder sie es sich leisten kann.»
«Du wischst damit sämtliche Kosmetikprodukte vom Markt. Es braucht nur noch die eine Salbe.»
«Wer war der ominöse Typ bei Sabine?»
«Keine Ahnung.»
«Und woher wusste er, dass Paul und Peter Stoll sich mit der ewigen Schönheit auseinandergesetzt haben?»
«Das kann uns nur der geheimnisvolle Fremde erzählen.»
«Weisst du, wo wir Peter Stoll auftreiben können?»
«Vielleicht an der Uni. Oder zu Hause.»
«Ruf an der Uni an. Ich schau inzwischen, ob ich seine private Adresse in Allschwil rausbekomme.»
«Bist du sicher, dass wir das tun sollten, Tina?»
«Wenn wir schon hops gehen, können wir auch versuchen, eines der grossen Geheimnisse der Menschheit zu lüften.»
Professor Stoll war an der Universität kein Unbekannter. Er war zwar nur Privatdozent, aber bei seinen Vorlesungen immer für eine Überraschung gut. Bei seinen Studenten war er für seine Wutanfälle berühmt. Wenn er etwas hasste, dann war es jedwedes Getuschel. Es kam schon ab und zu vor, dass er einen Studenten oder gleich mehrere aus dem Saal warf. Und, wenn die sich weigerten, sie selbst entfernte. Höhepunkt und bisher grösster Affront war eine Auseinandersetzung auf dem Petersplatz mit dem Rektor der Uni gewesen, der es wagte, seine abstrusen Theorien über einen Teil der altägyptischen Geschichte zu kritisieren. Stoll stauchte ihn vor einer sich köstlich amüsierenden Schar von Studenten zusammen, nannte ihn einen Ignoranten, einen grössenwahnsinnigen Gartenzwerg. Der Rektor wusste nicht, wie ihm geschah. Zum Schluss nannte Stoll ihn Ramses, aber nicht Ramses I., sondern Ramses XI., weil Letzterer 1076 vor Christus für den Untergang der 20. Dynastie verantwortlich war. «Es brach eine Wirtschaftskrise in Ägypten aus. Die Folge davon war ein Bürgerkrieg. Und genauso wird es dieser Uni ergehen. Das Proletariat wird sich erheben, merken, dass die Riege der Führenden uns ins Verderben führt. Eine Ansammlung von Ignoranten, die nicht erkennen, dass es mehr auf der Welt als das herkömmliche Wissen gibt», schrie Stoll. Die Studenten applaudierten und grölten dem Rektor nach, der sich blitzartig verzog. Daraufhin erhielt der verrückte Professor Haus- und Dozierverbot.