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Während Amyéna zusammen mit dem ›roten Tarkar‹ versucht, dem Geheimnis ihrer Vision auf den Grund zu gehen, erfährt Maryo bei den Amazonen etwas, das alles, was er bisher geglaubt hatte zu wissen, infrage stellt. Wird es ihm überhaupt gelingen, seinen Auftrag zu beenden, wenn die Götter ihm immer wieder Steine in den Weg legen? Und wie kann er verhindern, dass die ›Legenden von Karinth‹ sich erfüllen?
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Seitenzahl: 453
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Landkarte Karinth
Landkarte Nordkarinth
Kapitel 1 - Maryo
Kapitel 2 - Thesalis
Kapitel 3 - Maryo
Kapitel 4 - Maryo
Kapitel 5 - Edana
Kapitel 6 - Thesalis
Kapitel 7 - Maryo
Kapitel 8 - Edana
Kapitel 9 - Maryo
Kapitel 10 - Amyéna
Kapitel 11 - Amyéna
Kapitel 12 - Roter Tarkar
Kapitel 13 - Amyéna
Kapitel 14 - Maryo
Kapitel 15 - Thesalis
Kapitel 16 - Roter Tarkar
Kapitel 17 - Darien
Kapitel 18 - Darien
Kapitel 19 - Darien
Kapitel 20 - Maryo
Kapitel 21 - Darien
Kapitel 22 - Maryo
Kapitel 23 - Amyéna
Kapitel 24 - Edana
Kapitel 25 - Roter Tarkar
Kapitel 26 - Thesalis
Kapitel 27 - Roter Tarkar
Kapitel 28 - Roter Tarkar
Kapitel 29 - Thesalis
Kapitel 30 - Darien
Kapitel 31 - Maryo
Kapitel 32 - Maryo
Kapitel 33 - Amyéna
Kapitel 34 - Maryo
Kapitel 35 - Maryo
Kapitel 36 - Maryo
Kapitel 37 - Roter Tarkar
Kapitel 38 - Maryo
Kapitel 39 - Darien
Kapitel 40 - Amyéna
Kapitel 41 - Maryo
Kapitel 42 - Darien
Kapitel 43 - Roter Tarkar
Kapitel 44 - Darien
Kapitel 45 - Maryo
Epilog
Schlusswort
Glossar
Exklusive Leseprobe - Der rote Tarkar
Der rote Tarkar - Kapitel 1
C. M. Spoerri
Die Legenden von Karinth
Band 3
Fantasy
Die Legenden von Karinth (Band 3)
Während Amyéna zusammen mit dem ›roten Tarkar‹ versucht, dem Geheimnis ihrer Vision auf den Grund zu gehen, erfährt Maryo bei den Amazonen etwas, das alles, was er bisher geglaubt hatte zu wissen, infrage stellt. Wird es ihm überhaupt gelingen, seinen Auftrag zu beenden, wenn die Götter ihm immer wieder Steine in den Weg legen? Und wie kann er verhindern, dass die ›Legenden von Karinth‹ sich erfüllen?
Die Autorin
C. M. Spoerri wurde 1983 geboren und lebt in der Schweiz. Ursprünglich aus der Klinischen Psychologie kommend, schreibt sie seit Frühling 2014 erfolgreich Fantasy-Jugendromane (Alia-Saga, Greifen-Saga) und hat im Herbst 2015 mit ihrem Mann zusammen den Sternensand-Verlag gegründet. Weitere Fantasy- und New Adult-Projekte sind dabei, Gestalt anzunehmen. Über ihre Homepage www.cmspoerri.ch werdet Ihr über alle Neuigkeiten informiert.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, September 2018
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2018
Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski | alexanderkopainski.de
Landkarten: C. M. Spoerri 2018
Illustrationen: Shutterstock.com | fotolia.de
Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-017-1
ISBN (epub): 978-3-03896-018-8
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für meine anonymen Altraholiker.
Ohne euch gäbe es meine Geschichten nicht.
Danke für eure Lesertreue.
Landkarte Karinth
Landkarte Nordkarinth
Noch während Maryo versuchte, zu begreifen, was geschah, spürte er, wie er in eine unendliche Dunkelheit gezogen wurde. Seine Augen waren dennoch auf den Quell dieser Schwärze gerichtet: Die Amazonenkönigin – das Mädchen, das ihm soeben seine ganze Kindheit in Erinnerung gerufen hatte.
Er vergaß, dass er sich in der Amazonenstadt mitten im Hochwald von Nordkarinth befand.
Vergaß, dass Edana, die Kapitänin mit den unwirklich blauen Augen, irgendwo hinter ihm am Boden kniete.
Vergaß, dass Thesalis, die alles verloren hatte, was ein Mensch – eine Amazone – verlieren konnte, sich zusammen mit einigen Kriegerinnen ebenfalls im Thronsaal befand.
Für ihn gab es nur noch den Blick des schwarzhaarigen Mädchens, das ihn weiterhin intensiv musterte und dessen Worte er zu begreifen versuchte.
›Willkommen zu Hause. Bruder.‹
Er wollte den Mund öffnen, der soeben vom Knebel befreit worden war, und sie fragen, was sie damit meinte, doch es kam keine einzige Silbe über seine Lippen. Seine Hände verweilten am Hals, da er befürchtete, keine Luft mehr zu bekommen.
Wann genau war er in die Knie gegangen? Was rief die Frauenstimme hinter ihm, die so besorgt klang?
Ehe er es verhindern konnte, siegte die Dunkelheit, die über ihn hinwegrollte wie eine turmhohe Welle, welche in sich zusammenstürzte.
»Maryo.«
Das Wort war so sanft gesprochen, dass er augenblicklich von einer tiefen Wärme erfüllt wurde. Er spürte Lippen, die zaghaft seine Wange berührten, Atem, der über seine Haut hinweg strich, sog den Duft nach Meer ein, der sie immer umgab. Nur eine Frau auf dieser Welt schaffte es, ihm das Gefühl der Geborgenheit zu geben.
»Edana«, murmelte er, ohne die Augen zu öffnen.
»Wie geht es dir?«
Nun strichen die Lippen über seinen Mund und er wollte die Hand heben, um ihren Kopf noch näher zu sich zu ziehen und den Kuss zu intensivieren, doch sein Arm ließ sich nicht bewegen, da er eine Tonne zu wiegen schien.
Die Lippen entfernten sich und Maryo schlug die Augen auf. Wie erwartet, blickte er in die hellblaue Iris von Edana, deren Gesicht über ihm schwebte.
»Bescheiden«, beantwortete er leise ihre Frage.
Ihr Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln, sie senkte ihren Kopf wieder zu ihm herunter und dieses Mal küsste sie ihn richtig – aber viel zu kurz. Dann legte sie ihre Wange an seine. »Ich hatte Angst um dich«, flüsterte sie nahe an seinem Ohr.
Maryo lachte, was er augenblicklich bereute, denn seine Brust fühlte sich an, als sei eine Horde Gorkas darüber getrampelt. »So rasch gehe ich nicht kaputt«, brummte er dennoch. »Da braucht es schon mehr als ein kleines Mädchen, das mich mit irgendwelcher Magie zu beeindrucken versucht.«
Auch wenn er es leichthin sagte, so jagte ihm die Erinnerung an die schwarzen Augen der Amazonenkönigin trotzdem einen Schauer über den Rücken. Doch er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als das zuzugeben.
»Du hättest dich sehen sollen«, murmelte Edana, die ihm nun eine Hand an die Wange legte und ihn eindringlich musterte. »Dein ganzer Körper hat gezuckt, als hättest du Krämpfe und aus deinem Mund ist Schaum getreten. Ich weiß nicht, was die Königin mit dir gemacht hat – aber sollte sie es noch einmal wagen, dich derart … zuzurichten, werde ich nicht zögern, und ihr einen Feuerball an den Kopf schießen.«
Sie hatte sich immer mehr in Rage geredet und in ihren Augen begann wieder dieses Feuer zu lodern, das Maryo so sehr anzog.
Er konnte nicht anders, als ihren Kopf zu sich herunterzuziehen – zum Glück gehorchten ihm nun seine Arme wieder – und sie zu küssen. Er küsste sie mit seiner ganzen Leidenschaft, die von der Angst, die immer noch in seinem Herzen verweilte, genährt wurde.
»Du bist ein dummes Mädchen«, murmelte er an ihren Lippen.
»Frau«, korrigierte sie ihn lächelnd.
»Du bist eine dumme Frau.« Sein Mund verzog sich ebenfalls zu einem Schmunzeln. »Und jetzt sag mir, wo wir hier sind.«
Edana stützte ihn, als er versuchte, sich aufzusetzen.
Der Raum, in dem er sich befand, war lichtdurchflutet. Sie waren mit dem ersten Sonnenstrahl in die Amazonenstadt gekommen. Nun aber musste es Mittag, wenn nicht Nachmittag sein.
Die Einrichtung wirkte zweckmäßig. Ein Bett, auf dem Maryo lag, daneben ein Nachttisch sowie eine Kommode mit einer Waschschüssel und ein Schrank. Jedoch entging dem Elf nicht, dass jedes Möbelstück aufwendige Schnitzereien besaß, die irgendwelche Jagdszenen darstellten. Dem Bett gegenüber befand sich hinter hellen Vorhängen ein Balkon, den Maryo nur erahnen konnte, wenn der feine Stoff sich durch einen Windhauch etwas aufblähte.
»Die Königin hat uns dieses Zimmer zugewiesen und neue Kleidung gegeben«, erklärte Edana, die sich nun erhob, um zu dem Tisch neben dem Bett zu gehen, wo Maryo ein Becken mit Wasser und saubere Tücher erblickte.
Während er sie beobachtete, bemerkte der Elf, dass auch die Kapitänin neue Kleidung trug. Leider nicht in Amazonen-Manier, bei welcher die linke Brust freigeblieben wäre, sondern einfach Jagdkleidung, die sich immerhin eng an ihren schlanken Körper schmiegte.
»Zieh dich aus«, sagte die dunkelhaarige Magierin, ohne sich zu ihm umzuwenden, und tauchte die Tücher ins Wasser.
»Wie bitte?«, fragte Maryo, der sich auf den Ellbogen abstützte.
»Ausziehen.« Jetzt wandte sie sich doch zu ihm um. »Dir würde zwar ein Bad besser stehen, aber zur Not tut es auch Katzenwäsche.«
Der Elf hob eine Augenbraue. »Willst du damit sagen, dass ich stinke?«
Die Magierin lachte auf und trat wieder zu ihm. »Das würde ich nie wagen zu behaupten. Dennoch … deine Wunden müssen gereinigt werden. Also?« Sie sah ihn auffordernd an.
Maryo seufzte und setzte sich an den Bettrand. Dann zog er das verschlissene Oberteil über den Kopf, wohl wissend, dass Edana ihn ganz genau beobachtete. Schließlich folgten Stiefel und Hosen.
»Gib her«, brummte er, als die Magierin sich daran machen wollte, ihm den Schmutz vom Körper zu waschen. »Ich kann mich selbst waschen, ich bin doch kein Kleinkind.«
»Aye, aber du benimmst dich gerade wie eins«, lächelte Edana, die sich neben ihn setzte und die Beine übereinander schlug. »Auch wenn du ein sehr muskulöses Kleinkind wärst.« Sie grinste ihn an, was dem Elf ein leises Knurren entlockte.
Als er sich notdürftig gewaschen hatte, reichte ihm Edana neue Kleidung. Bequeme Hosen aus dunkelbraunem Stoff, der an einigen Stellen mit Leder verstärkt worden war, dazu dunkelgrüne weiche Jagdstiefel und ein hellgraues Hemd.
»Die Farben passen hinten und vorne nicht zusammen«, murrte Maryo, als er mit zusammengeschobenen Augenbrauen an sich herab sah.
»Du bist auch so eine Augenweide, mein Lieber«, neckte ihn Edana, dann wurde sie wieder ernst. »Die Sachen sind praktisch, sauber und wir mussten nichts dafür bezahlen. Also stelle sie nicht in Frage.« Sie griff zu einem Krug, in welchem rötliche Flüssigkeit zu erkennen war und zwei Kelchen, die jemand neben die Waschschale gestellt hatte. »Hier«, sie reichte ihm einen der Kelche, »trink, das wird dir gut tun.«
Maryo nahm das Gefäß wortlos entgegen und schnupperte daran. »Was ist das?«, fragte er misstrauisch.
Edana, die bereits einige Schlucke probiert hatte, zuckte mit den Schultern. »Irgendein Fruchtsaft.« Dann traf ihr Blick den seinen und sie verdrehte die Augen. »Maryo, wenn sie uns töten wollten, dann sicherlich nicht durch Gift. Man mag von Amazonen halten, was man will, aber hinterlistig sind sie nicht.«
»Es gibt weitaus schlimmeres, als Gift«, murmelte der Elf, trank aber dennoch von der rötlichen Flüssigkeit, die seltsam süß und nach Erdbeeren schmeckte.
Augenblicklich begann sein Magen zu knurren. Er hatte viel zu lange nichts mehr zwischen den Zähnen gehabt – abgesehen vom Knebel.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte er, während er sich von Edana den Kelch ein weiteres Mal auffüllen ließ.
Sie zuckte erneut mit den Schultern. »Nun … wir können hier nicht weg. Vor der Tür stehen zwei Wachen und …«
Maryo sah sie mit schmalen Augen an. »Du weißt aber schon, dass uns zwei dahergelaufene Amazonen nicht aufhalten können? Ich bin ein Elf, du eine Magierin. Wenn es hart auf hart kommt, dann …«
»Maryo!«
Diesen Klang ihrer Stimme kannte er von Edanas Schiff – es war derselbe, mit dem sie ihre Matrosen herumkommandierte. Und Maryo mochte ihn nicht, auch wenn er wieder das Feuer in ihren Augen zum Vorschein brachte.
»Wir sind hier, um in diesen Sternentempel zu gelangen«, stellte er klar, um sie von einer Moralpredigt abzuhalten.
»Und um nach deiner Prinzessin zu suchen – die ganz offensichtlich nicht hier ist«, ergänzte Edana, während sie sich erhob und zur Balkonöffnung trat. »Aber wenn es stimmt und diese Kriegerin Thesalis und Prinzessin Amyéna eine Verbindung zueinander haben, dann liegt hier vielleicht irgendwo der Schlüssel dazu. Und diesen werden wir nicht finden, wenn wir eine ganze Amazonenstadt gegen uns aufbringen. Zudem«, sie wandte sich um und ihr Blick wurde wieder eindringlicher, »wie stellst du dir das bitte vor, dass wir von hier fliehen? Wir befinden uns viele Schritt über dem Boden. Ein Sturz könnte tödlich sein – oder uns zumindest einige Knochenbrüche einbringen. Weißt du, wie schwer es ist, zu rennen, wenn einem der Fuß schief vom Körper absteht?« Ihre Augenbrauen hüpften in die Höhe, um den Unsinn seiner Gedanken zu unterstreichen.
Maryo erhob sich ebenfalls. Es fiel ihm im ersten Moment schwer, das Gleichgewicht zu halten und seine Muskeln fühlten sich an, als hätte er wochenlang gelegen, aber dennoch gelang es ihm, aufzustehen. Jetzt überragte er die zierliche Magierin wieder um einiges, sodass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihn weiterhin anzufunkeln.
»Hör zu«, sagte er leise. »Geduld war noch nie meine Stärke und ich werde ganz sicher nicht brav wie ein Schoßhündchen darauf warten, bis dieser ›Königin‹ der Sinn danach steht, mit uns zu plaudern.«
Edana trat zu ihm und legte ihm beide Hände auf die Schultern, um ihn im nächsten Moment mit erstaunlicher Kraft zurück aufs Bett zu drücken. »Aye. Aber es bringt uns nichts, wenn du jetzt deinem Temperament nachgibst. Zudem«, sie deutete auf seine Hände und dann auf den Oberkörper, »bist du verletzt. Du hast die Wunden zwar gereinigt, aber du solltest nun deine Energie besser nutzen und sie zumindest ein wenig heilen.«
Maryo blickte auf seine Handgelenke, die von den Fesseln wundgescheuert waren und als Edana mit dem Finger auf seine Brust drückte, durchzuckte ihn ein Schmerz, der ihn leise keuchen ließ. Er hatte die Wunden, die ihm diese Amazonen–Thesalis zugefügt hatte, um den Schein zu wahren, dass er ihr Gefangener sei, zwar mit Magie etwas geheilt und vorhin gereinigt, dennoch musste er Edana recht geben: In einem Kampf wären sie ein lästiges Hindernis.
Dieses hinterlistige Biest einer Amazone! Sie hatte ihn beinahe umgebracht!
Edana beobachtete ihn, während er nach der heilenden Magie in sich griff und begann, die Wunden an seinem Oberkörper so gut es ging zu behandeln. Ohne Hilfsmittel wie Salben oder Umschläge war es nur wenig, das er tun konnte, aber dennoch ließ der Schmerz nach und in ein paar Tagen wären kaum noch Narben zu erkennen, die er zudem mit seinen magischen Kräften verschwinden lassen konnte.
Wenigstens hatte die Heilung dazu geführt, dass er sich etwas beruhigte, was auch Edana zu bemerken schien. Sie ließ sich wieder neben ihm auf dem Bett nieder und sah ihn von der Seite an. »Wenn meine Familie wüsste, dass ich gerade neben einem Elf mitten in einer Amazonenstadt sitze, würden ihnen wohl die Augen aus dem Kopf fallen«, meinte sie mit einem schiefen Lächeln.
Ihre Bemerkung rief in Maryo wieder die Worte der Amazonenkönigin wach. Ohne auf Edanas Kommentar einzugehen, fuhr er sich mit dem Handrücken über die Stirn, als wollte er die Falten, in die sie sich gelegt hatte, wegstreichen.
›Bruder‹ …
Was hatte sie damit gemeint? Dass er wirklich ihr leiblicher Bruder war? Oder war es angelehnt an die Tatsache, dass die Amazonen sich untereinander als ›Schwestern‹ bezeichneten? Aber bedeutete das dann, dass er ebenfalls Amazonenblut in sich trug?
Nein … Er schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein … oder?
»Was ist? Worüber denkst du nach?« Edanas Stimme war wieder sanft wie eine Meeresbrise.
Maryo warf ihr einen flüchtigen Blick zu und starrte dann auf seine Hände. »Dieses Mädchen … Königin … hat mich ›Bruder‹ genannt«, murmelte er.
Edana sog leise die Luft ein und stieß sie dann wieder aus.
Maryo hob den Blick und sah sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Was bedeutet das?«, wollte er wissen.
»Ich hatte gehofft, du hättest es vergessen«, gab Edana zu.
Nun schnaubte Maryo. »Du hast es also auch gehört? Warum sollte ich es vergessen?«
»Weil …« Sie legte ihm eine Hand auf seinen Oberarm und Maryo war versucht, sie abzuschütteln, da er jetzt keine Ausreden oder Beruhigungen hören wollte. Dennoch tat er es nicht, sondern sah fest in ihre blauen Augen, die beschwörend auf ihm ruhten. »Weil es im Moment keine Rolle spielt. Wir sind hier in einem Raum gefangen und können nicht fliehen. Du solltest die Zeit nutzen, um dich von den Strapazen zu erholen und …« Sie seufzte, da sie Maryo inzwischen gut genug kannte, um zu wissen, dass er nicht eher Ruhe geben würde, bis er erfuhr, was es mit dem Satz der Amazone auf sich hatte. »Also gut. Ich denke, wenn dich eine Amazone als ihren ›Bruder‹ bezeichnet, dann bedeutet das, dass da noch viel mehr ist, als …« Sie unterbrach sich und schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Amazonen mögen Männer nicht«, begann sie erneut. »Nun … gut, sie mögen sie schon, aber sie verachten im Grunde das männliche Geschlecht, da ihre Göttin allein dem weiblichen die Kräfte schenkt, welche eine Amazone ausmachen. Dennoch brauchen sie Männer, um sich fortpflanzen zu können.«
»Ich brauche sicherlich keine Unterrichtsstunde in Amazonen-Fortpflanzung«, unterbrach Maryo sie unwirsch. »Sag mir einfach, was es bedeutet, dass diese Königin mich so genannt hat.«
Edana sah ihn mit einem undurchsichtigen Blick an. »Ich glaube, dass sie dich respektiert. Und dass es einen Grund hat, warum sie das tut – aber wie genau der aussieht, das werden wir wohl erst erfahren, wenn wir wieder mit ihr sprechen können.«
Jetzt sprang Maryo vom Bett auf und ignorierte dabei seine Muskeln, die schmerzerfüllt protestierten. Er griff sich mit beiden Händen in das lange, dunkelbraune Haar, das auf der einen Seite wegen Thesalis etwas kürzer war, und starrte an die Decke des Raumes, ehe er tief ein und ausatmete. Dann wandte er sich wieder zu Edana um, die weiterhin auf dem Bett saß und ihn beobachtete.
»Ganz gleichgültig, was du einwenden magst«, sagte er in festem Tonfall. »Ich werde jetzt da raus gehen und diese Königin suchen. Und wenn ich sie gefunden habe, werde ich sie so lange schütteln, bis sie mir erklärt, was diese ganze Farce hier soll! Und vor allem, wie ich in den verdammten Sternentempel gelange!«
Mit zwei langen Schritten war er bei der Tür und riss sie auf.
Die blonde Amazone stand mit einem Kristallkelch am Fenster und schwenkte gedankenverloren den honigfarbenen Wein, dessen Aroma ihr in die Nase stieg. Unter ihren Augen breitete sich die Amazonenhauptstadt aus. Thesalis war nach der Audienz bei der Königin hierher gebracht worden. Wein, etwas zu Essen, ein warmes Bad … es fehlte ihr an nichts und sogar die Unterstützung im Kampf gegen die Elfen war ihr zugesichert worden. Dennoch wollte sich kein Glücksgefühl einstellen und auch von den Strapazen der Reise konnte sie sich nur bedingt erholen.
Sie hatte es versucht. Hatte sich auf das viel zu weiche Bett – das die Amazonenkönigin anscheinend bei den Menschen abgeschaut hatte – gelegt und die Augen geschlossen. Doch da waren sie wieder. Diese Bilder, die sie während der Reise hierher mit aller Macht verdrängt hatte. Bilder von Tod und Zerstörung. Jetzt, da sie alleine war, schienen sie sich zu befreien und zogen Thesalis regelrecht in einen Strudel des Grauens.
Das Blut, das den Boden im Amazonendorf rot gefärbt hatte. Die vielen Tiere, die auf dem Tisch in der Versammlungshalle wie Abfall gestapelt geworden waren.
Csilla …
Ihr Panther. Ihr Ein und Alles.
Thesalis strich über die lange Narbe auf ihrem Arm, die von ihrer Vereinigung mit dem Pantherweibchen stammte. Von damals, als sie als junge Amazone auf der Hatz gewesen war und sich schließlich einen heftigen Kampf mit der Raubkatze lieferte, ehe sie das Tier unterwarf und sich mit ihm verband.
So lange hatten ihre Herzen im selben Takt geschlagen … so lange waren sie vereint gewesen … es fühlte sich immer noch an, als hätte man ihr ein Bein amputiert, ohne welches sie nur noch hinkend durchs Leben kam. Hinkend und blutend …
Sie versuchte, den Anblick ihrer toten Gefährtin aus dem Kopf zu bekommen, jedoch wurde es nur noch schlimmer. Sie hatte wieder den Eisengeschmack in der Nase, sah das mit Blut verklebte schwarze Fell. Die Pfote.
Und sie spürte diesen unbändigen Hass in sich. Hass auf diese Elfenbrut, die ihr alles genommen hatte. Ihre Schwestern, ihr Dorf, ihre Heimat. Csilla.
»Ihr werdet Eure Rache bekommen, Schwester«, erklang eine Mädchenstimme hinter ihr.
Thesalis zuckte unwillkürlich zusammen und fuhr herum.
Vor ihr stand die Amazonenkönigin – das Mädchen, das ein ganzes Volk anführte. Ihre unwirklich schwarzen Augen waren auf Thesalis gerichtet, musterten sie. Wie bei ihrer Ankunft, trug die Königin ein einfaches, weißes Gewand, das – entgegen der Kleidung der anderen Amazonen – nicht die linke Brust frei ließ. Sie wirkte dadurch unschuldiger und reiner als jedes Wesen, das Thesalis in ihrem Leben gesehen hatte.
Die Königin legte den Kopf schief. »Euer Herz weint und euer Verstand ist von Trauer getränkt. Aber das ist gut so. Trauer kann sich in Hass umwandeln. Und Hass bedeutet Kraft und den Willen, nach vorne zu schauen – etwas zu verändern.«
Thesalis fröstelte, als sie den unwirklichen Unterton in der Mädchenstimme wahrnahm. Sie wusste zwar, dass man über die Königin der Amazonen sagte, dass sie direkt von Göttin Artaami abstammte, aber bisher hatte sie noch nie persönlich mit ihr zu tun gehabt. Und diese … Übernatürlichkeit, die ganz eindeutig an dem Mädchen haftete, jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken.
»Ihr werdet viel Kraft brauchen für Eure Mission«, fuhr die Königin fort.
Die blonde Amazone senkte den Blick und nickte. »Wann darf ich aufbrechen?«
Als die Königin keine Antwort gab, sah sie wieder auf und bemerkte ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht des Mädchens.
»Ihr werdet zunächst dem Elf helfen, sein Schicksal zu meistern.«
Es war kein Befehlston, mit dem die Königin sprach und dennoch fühlte es sich für Thesalis genau danach an. Sie wusste, wen das Mädchen meinte. Diesen überheblichen dunkelhaarigen Dreckskerl, den sie hierher geführt hatte. Sie hatte geglaubt, dass es damit zu Ende sei und sie ihn nie wieder sehen müsste, da die Amazonen ihn augenblicklich hinrichten würden, doch anscheinend war das nicht der Fall.
Jetzt verlangte ihre Königin allen Ernstes, dass sie ihm half.
Ihm. Diesem Bastard!
Hätte sie ihn doch nur getötet, als sie Gelegenheit dazu hatte! Damals am Fluss, als er ihr ausgeliefert gewesen war. Sie hätte ihm die Kehle durchschneiden und ihn elendiglich verbluten lassen sollen!
Ihre Nackenhaare stellten sich auf und sie musste all ihre Beherrschung aufbringen, damit ihr Tonfall angemessen blieb. »Wie meint Ihr das?«, fragte sie und mahlte mit den Kiefern.
Sie würde eher vom höchsten Baum des Waldes springen, als diesem arroganten, sturen Elf auch nur einen einzigen Gefallen zu tun.
»Ihr würdet dabei sterben«, schmunzelte die Königin. Als Thesalis fragend eine Augenbraue hob, wurde ihr Lächeln breiter. »Wenn Ihr vom höchsten Baum springt«, erklärte sie. »Ihr würdet sterben.«
Erneut zog ein Schauer durch Thesalis’ Körper, als sie merkte, dass die Königin ihre Gedanken gelesen hatte.
»Ihr mögt den Elf nicht«, fuhr diese unbeirrt fort. »Das ist verständlich bei allem, was Ihr durchmachen musstet. Aber … er ist nicht irgendein Elf. Vielleicht hilft Euch dieses Wissen dabei, ihn zu unterstützen.«
Thesalis sah das Mädchen entgeistert an. »Wie … meint Ihr das?«, fragte sie schließlich.
»Kommt mit, ich zeige es Euch.« Die Königin machte mit dem Kopf eine Bewegung zur Tür.
Die Amazone stellte ihren Weinkelch, den sie – wie sie soeben bemerkte – die ganze Zeit umklammert hatte, auf eine Kommode und folgte dem Mädchen aus dem Zimmer. Ihr blieb keine Wahl, wenn die Königin etwas befahl, musste sie gehorchen. So schrieb es das Gesetz vor. Zudem … war sie insgeheim neugierig darauf, was es mit diesem Maryo auf sich hatte.
Warum sollte er so wichtig sein?
Während sie der Königin durch die Gänge des Palastes folgte, sah Thesalis sich unauffällig um. Sie fühlte sich hier alles andere als wohl und wusste, dass sie so schnell nicht wieder in die Amazonenhauptstadt zurückkehren würde, wenn das alles vorbei wäre. Zu viel Prunk, zu wenig Natur … wie konnte sich eine Amazone hier zu Hause fühlen? Ohne den Boden des Waldes unter ihren Füssen? Den Duft des Unterholzes? Das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln?
Das Mädchen führte sie zu einer Tür, vor der zwei Kriegerinnen standen, die respektvoll die Köpfe neigten, als die Königin vor ihnen anhielt.
Gerade als sie zur Seite traten und ihrer Herrscherin die Tür öffnen wollten, wurde diese von innen her aufgerissen und im nächsten Moment stand ein dunkelhaariger Elf im Türrahmen, auf seiner Brust die Speerspitzen der beiden Kriegerinnen, die rasend schnell reagiert hatten.
Thesalis starrte ihn hasserfüllt an, er erwiderte ihren Blick jedoch nur beiläufig und richtete seine goldenen Augen dann auf das Mädchen, das direkt vor ihm stand und zu ihm aufsah.
»Ich sehe, du bist wieder auf den Beinen«, sprach die Königin in sanftem Tonfall. »Wie erfreulich.«
Maryo schnaubte und ließ seine Augen schmal werden. »Warum sperrt Ihr uns hier ein? Was soll das Ganze? Ich will zu dem Sternentempel und weder Ihr noch Eure Speerpüppchen werden das verhindern!«
Die Königin hob beschwichtigend die Hände, legte die Fingerspitzen an die Speere und schob sie beiseite. »Die Kriegerinnen sind zu deinem eigenen Schutz hier postiert«, erklärte sie immer noch in seelenruhigem Tonfall, als hätte sie Maryos Wut gar nicht bemerkt. »Was denkst du, wie viele deinen Kopf auf einem Pfahl sehen wollen, wenn sich herumspricht, dass sich ein Elf im Palast aufhält?« Sie legte ihm eine Hand auf den Unterarm und Maryo ließ es zu, knurrte aber warnend. »Ihr hattet Glück, dass ihr so früh am Morgen hier eingetroffen seid und sich noch nicht viele Amazonen auf den Straßen herumgetrieben haben. Wäre es anders gewesen, hättest du meinen Palast wohl kaum lebend erreicht.« Ihr Blick wurde von einem Schatten überlagert. »Viele meiner Töchter und Töchtertöchter haben diejenigen, die sie liebten, wegen euch Elfen verloren.«
»Ich bin keiner von ›denen‹!«, zischte der Elf und warf den Kopf zurück, sodass sein dunkles Haar nach hinten flog. »Ich stamme aus …«
»Aus Altra, ich weiß«, unterbrach ihn die Königin. »Aber dein Geburtsort ist ein anderer.«
Die Augen des Elfen wurden nun zu dunklen Schlitzen. »Wie meint Ihr das? Warum habt Ihr mir diese … Erinnerungen gezeigt? Und warum habt Ihr mich ›Bruder‹ genannt?« Seine tiefe Stimme wurde zu einem drohenden Grollen, während er sprach.
»Weil das deine Bezeichnung ist, wenn ich mit dir rede«, antwortete die Königin, ohne sich von Maryos Ärger beeindrucken zu lassen. »Aber folge mir. Ich werde dir alles in Ruhe erklären – oder besser: zeigen.«
Für einen Moment schien der Elf zu zögern, dann nickte er und wandte den Kopf leicht zur Seite. Ohne dass er etwas sagen musste, erschien nun auch die Magierin in der Tür, die wohl die ganze Zeit hinter ihm gestanden hatte.
Thesalis musterte die Menschenfrau. Sie sah mitgenommen aus. Das dunkle lange Haar war matt und fiel ihr zerzaust über die Schultern, die Wangen waren eingefallen und dunkle Ringe zogen sich um ihre hellen Augen. Dennoch hatte sie den Kopf in ungebrochenem Stolz erhoben und strahlte eine Stärke aus, für die Thesalis sie beinahe bewunderte. Ja, diese Frau war eine Anführerin – und eine Kämpferin. Auch wenn die Amazone es nicht verstand, gar abartig fand, aber Edana und den Elf verband etwas ganz Besonderes, das konnte man auf den ersten Blick erkennen. Maryo war wild wie die See – Edana der ruhende Fels, der die Brandung bezwang.
Für einen Moment musste Thesalis die Augen schließen, da ihr mit einem Mal schwindlig wurde.
Zwei Seelen … in Unendlichkeit verbunden … durch Tod geschieden … durch Hoffnung vereint …
Die Worte hallten in ihrem Kopf, obwohl niemand gesprochen hatte und sie spürte, wie sich ihr Herz mit einem Mal verkrampfte, als würde ein Strick darum festgezogen.
Unwillkürlich griff sie sich an die Brust und schnappte nach Luft, während sie die Augen wieder aufriss.
Der Elf, seine Gefährtin und die Königin hatten sich ihr stirnrunzelnd zugewandt. Sie schienen keine Stimme gehört, jedoch Thesalis’ Reaktion gesehen zu haben.
»Alles in Ordnung?«, fragte Edana und trat an Maryo vorbei auf Thesalis zu.
Diese nickte eilig.
Was war das bloß gewesen? Eine weitere Vision? Oder Einbildung? Seit wann hörte sie Stimmen, die nur in ihrem Kopf waren?
»Vielleicht solltest du dich etwas hinlegen?«, schlug Edana vor, die nun vor ihr stand und ihr eine Hand auf die Schulter legte.
Thesalis mochte den Elf zwar nicht, aber gegen die Magierin hatte sie nichts einzuwenden. Sie war eine Frau. Sie besaß Stolz und wäre sie eine Amazone gewesen, hätten sie womöglich sogar Freundinnen werden können. Sie waren sich in vielem ähnlich.
Dennoch schüttelte sie ihre Hand nun ab. »Mir geht es gut«, zischte sie und atmete noch einmal tief durch. »Alles gut.«
Als sie jedoch einen Blick zur Königin warf, die sie bisher nur stumm gemustert hatte, wusste sie, dass diese etwas ahnte.
Verdammt, sie sollte beginnen, ihre Gedanken zu schützen …
Ein wissendes Lächeln spielte um den Mund des schwarzhaarigen Mädchens, ehe es sich abwandte und mit einem »Folgt mir« davonging.
Maryo und Edana wechselten einen kurzen Blick, dann zuckte der Elf mit den Schultern und ging der Königin hinterher. Edana und Thesalis folgten mit etwas Abstand.
»Wohin gehen wir?«, fragte der Elf, während er zur Königin aufschloss.
»Ihr wolltet doch den Sternentempel sehen, richtig?«, fragte sie und warf ihm einen Blick zu, in welchem Maryo glaubte, Schalk zu erkennen.
Er zögerte, nickte dann aber. »Ich dachte, nur Amazonen dürfen ihn betreten? Woher der plötzliche Sinneswandel?«
Nun huschte ein Lächeln über das Gesicht der Königin. »Oh, glaub mir, du erfüllst alle Ansprüche, die es braucht, um dort hinein zu dürfen.«
Maryo runzelte die Stirn. »Wenn Ihr damit sagen wollt, dass ich eine Amazone sein soll, schließe ich daraus, dass Eure Augen trotz Eurer Jugend nicht mehr die besten sind …«
»Du bist genau, wie Mutter mir dich geschildert hat«, kicherte sie und wirkte dabei wirklich wie ein junges Mädchen.
»Mutter?« Nun war Maryo vollkommen durcheinander. »Meine Mutter?«
»Und auch meine«, erwiderte die Königin mit erhobenem Zeigefinger.
»Aber …« Der Elf blieb stehen und sah sie verständnislos an.
Seine Mutter war in der Elfenstadt von Westend gestorben. Sie wurde vom Elfenvolk verstoßen und hatte ihn erst nach Westend gebracht, als sie merkte, dass ihr Leben zu Ende ging. Sie hatte Maryo alleine im Exil großgezogen, jahrzehntelang waren sie zu zweit durch die Wälder gestreift – nur er und sie. An ihrem Sterbebett hatte er bittere Tränen geweint, als sie den letzten Atemzug tat.
Sie war tot. Er hatte gesehen, wie ihr Körper den Flammen übergeben und damit in Elfengott Ferys Hände gelegt wurde, wie sie es gewünscht hatte.
Wollte ihn dieses Mädchen veralbern? Wenn ja, war es kein guter Scherz, den sie auf seine Kosten machte. Er hatte seine Mutter geliebt und würde es nicht zulassen, dass jemand ihr Andenken in den Schmutz zog!
Gerade wollte er ihr genau das an den Kopf werfen, da hielt ihn die Amazonenkönigin mit erhobener Hand zurück. »Auch wenn ich weiß, dass du impulsiv und hitzköpfig bist, so bitte ich dich dennoch um etwas Geduld. In wenigen Augenblicken wird sich alles klären, vertrau mir. Und jetzt komm, bis zum Sternentempel ist es noch ein gutes Stück, das wir nicht mit Gesprächen verlängern sollten. Von denen stehen dir ohnehin noch genügend bevor.«
Auch wenn Maryo am liebsten dieses Mädchen gepackt und die Wahrheit aus ihm herausgeschüttelt hätte, so ballte er nun bloß die Fäuste und atmete zwei Mal tief durch, ehe er ihm weiter durch den Palast folgte.
Die Königin führte sie durch einen unterirdischen Gang, den sie hinter einem unscheinbaren Wandteppich hatte erscheinen lassen. Offenbar handelte es sich hierbei um einen Geheimgang, der ihr gestattete, sich unbemerkt in der Amazonenstadt zu bewegen.
Sie waren nur zu viert und Maryo überlegte sich, dass jetzt eine günstige Gelegenheit wäre, die Königin zu überwältigen und von hier zu fliehen. Dennoch tat er es nicht. Warum, wusste er selbst nicht – aber eine Stimme in ihm riet zur Vorsicht. Er wusste nicht, was dieses Mädchen für Kräfte besaß und wenn das, was er im Thronsaal erlebt hatte, nur ein kleiner Vorgeschmack gewesen war, musste er vorsichtig sein in ihrer Gegenwart. Allein dass die Königin keine Wachen mitnahm, zeugte davon, dass sie es sich durchaus zutraute, gegen ihn und Edana zu bestehen.
Während sie durch den Gang gingen, entzündete das Mädchen mit Hilfe von Magie Fackeln, die in Halterungen an den Wänden angebracht waren. Es war kühl hier unten und totenstill. Nur ihre Schritte hallten auf dem steinernen Boden wider und die Luft roch nach feuchtem Moos.
»Gibt es noch weitere solche Gänge unter der Amazonenstadt?«, wollte Maryo wissen, als ihm die Stille zu erdrückend wurde.
»Viele«, antwortete die Königin, ohne ihn anzusehen. »Aber sie sind nur den wenigsten bekannt und das soll auch so bleiben.« Beim letzten Wort wandte sie ihm den Kopf zu und hob vielsagend eine Augenbraue.
Maryo nickte und wollte etwas anderes fragen, da hielt die Königin unvermittelt an.
»Wir sind da.« Sie deutete auf eine Tür, die der Elf erst jetzt erkannte. Er wollte auf sie zugehen, doch das Mädchen hielt ihn zurück. »Warte. Da ist noch etwas, das wir korrigieren sollten …«
Ehe er es sich versah, hob sie die Hand und griff in sein dunkelbraunes Haar, an die Stelle, wo Thesalis ihm damals die Strähnen abgeschnitten hatte. Er zuckte zurück, doch die Königin sah ihm fest in die Augen.
»Halt still.«
Es kribbelte an seiner Kopfhaut, während sie den kurzen Strähnen entlang nach unten strich und er stieß ein erstauntes Keuchen aus, als er sah, dass sein Haar wie von Geisterhand wieder lang wurde.
»So ist es besser«, lächelte sie und wandte sich ohne ein weiteres Wort ab.
Maryo betastete die nachgewachsenen Strähnen mit verblüfftem Gesichtsausdruck und als er sich zu Edana umwandte, konnte er auch bei ihr Überraschung erkennen. Diese Königin verfügte über Kräfte, die jegliche Vorstellung überstiegen …
»Komm«, winkte das Mädchen und deutete auf die Tür, die sich soeben von selbst vor ihnen öffnete. »Du wirst schon seit Langem erwartet, Bruder.«
Der Elf verzichtete darauf, ob dieser Heimlichtuerei die Augen zu verdrehen und folgte ihr mit einem leisen Seufzen.
Als Thesalis und Edana sich anschickten, ebenfalls durch die Tür zu gehen, wandte sich die Königin noch einmal um. »Nur Thesalis«, sagte sie in strengem Tonfall. »Ihr, Magierin, seid keine Amazone und müsst hier warten. Wir wollen doch nicht mit jahrhundertelangen Traditionen brechen.«
»Aber …« Edana wechselte mit Maryo einen kurzen Blick.
Der Elf blieb mitten in der Tür stehen. »Wenn das ein Trick ist, um uns zu trennen …«
Die Königin lächelte milde. »Euch zu trennen ist nicht meine Aufgabe. Dafür sind höhere Mächte bestimmt. Ich kann dir versichern, dass ihr nichts geschehen wird und du sie in alles einweihen darfst, was du in den nächsten Minuten erfährst. Sofern dir der Sinn danach steht. Aber kein menschlicher Fuß darf den heiligen Boden unseres Tempels berühren. So lautet das Gesetz. Und wenn du wirklich dein Schicksal erfahren willst, solltest du nach unseren Gesetzen handeln.«
Maryo knurrte leise, dann nickte er. »Nun gut. Ich vertraue Euch zwar nicht …«
»Das musst du auch nicht«, meinte die Königin gleichmütig.
»Warum muss die Kriegerin mit dabei sein?«, fragte er und deutete auf Thesalis, die inzwischen neben ihm stand.
»Damit sie versteht«, war die undurchsichtige Antwort. Dabei sah die Königin nicht ihn, sondern die Amazone an.
Diese nickte kaum merklich, drängte sich an Maryo vorbei und betrat den schmalen Gang, der sich hinter der Tür erstreckte.
»Also?« Das Mädchen machte eine einladende Handbewegung.
Maryo warf noch einmal einen fragenden Blick zu Edana, die aber nickte ihm aufmunternd zu. »Aye. Ich warte hier.«
Mit einem tiefen Atemzug schloss sich der Elf den beiden Amazonen an und zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, ohne dass jemand sie berührt hatte.
Die Königin führte sie zu einer weiteren Tür, die sich ebenfalls ohne ihr Zutun öffnete. »Willkommen im Sternentempel des Hochwaldes«, sprach sie feierlich, während sie eintrat.
Als Maryo den Raum betrat, der sich hinter der Tür erstreckte, sog er unwillkürlich die Luft ein.
Über ihm erstreckte sich eine mit Efeu und Moos bewachsene Steinkuppel, die Hunderte Löcher haben musste, durch welche die Nachmittagssonne hereinschien. Die Strahlen erhellten das Innere des Tempels tatsächlich wie Sterne und brachen sich auf der Wasseroberfläche eines kleinen Sees, der inmitten eines Palmenhains angelegt worden war.
Der Elf hatte eigentlich einen Tempel erwartet, wie er ihn aus Westend kannte. Aus Stein und Marmor, mit einem Altar, auf dem Opfer dargebracht wurden, um den Gott milde zu stimmen, den man verehrte. Hier jedoch schien es beinahe, als hätte jemand mit viel Liebe zum Detail einen gewaltigen Garten angelegt. Die Luft war erfüllt vom Duft Tausender Pflanzen und Blüten. Kolibris flatterten umher und Maryo konnte sogar Vögel mit langen Beinen und rosa Gefieder erkennen, die am Ufer des Sees herumstolzierten und im Wasser nach Insekten pickten.
Noch nie hatte er sich auf den ersten Blick so wohl gefühlt. So willkommen. So … Zuhause. Es war ein seltsam befremdliches und vertrautes Gefühl gleichermaßen. Sein Herz schlug langsamer und schneller, sein Atem ging ruhig und gehetzt, seine Augen sahen alles und nichts – es war ein Zustand, der ihn schwindlig werden ließ.
Die Königin musterte ihn mit einem amüsierten Lächeln. »Überwältigend, das pure Leben zu fühlen, nicht wahr? So geht es allen, die diesen Tempel betreten.«
Maryo konnte nur nicken, während er sich staunend umsah.
Das Leben. Ja, das verkörperte dieser Tempel. Es war eine eigene Art der Magie, die hier herrschte. Eine, wie er sie noch nie wahrgenommen hatte. Und dennoch fühlte es sich an, als kenne er sie. Als sei er schon einmal hier gewesen – in einem vergangenen Leben, an das er sich nicht erinnern konnte.
»Selbst Amazonen gehen hier in die Knie – für einen Menschen wäre der Eindruck all dieser Empfindungen der Tod«, fuhr die Königin fort.
Maryo sah zur Seite, wo Thesalis neben ihm tatsächlich auf dem Boden kauerte. Stille Tränen rannen ihr über die Wangen, ihr Blick war vor Verzückung irgendwo in die Ferne gerichtet und ihre Hände gefaltet, als wolle sie beten. Die stolze, beherrschte Kriegerin war wie erstarrt ob der Magie des Tempels.
Jetzt erkannte Maryo, dass die Königin recht hatte und war mit einem Mal dankbar, dass sie Edana angewiesen hatte, draußen zu bleiben. Sie wäre als Mensch vollkommen überfordert gewesen und hätte womöglich wirklich den Verstand verloren.
»Warum …«, begann er, konnte sich jedoch nur schwer auf Worte fokussieren.
»Du das hier aushalten kannst? Und es dir sogar bekannt vorkommt?«, vervollständigte das schwarzhaarige Mädchen seinen Satz.
Maryo nickte stumm.
»Weil du einen Teil davon in dir trägst. Schon lange. Seit du geboren wurdest.« Die Königin nahm unvermittelt seine Hand und zog ihn mit sich zum See. »Komm, es ist an der Zeit, dass du jemanden wiedersiehst.«
Der Elf folgte dem Mädchen ohne Widerstand. Selbst wenn er sich hätte wehren wollen, es wäre ihm nicht gelungen, denn sein Verstand versuchte, mit all den Eindrücken zurechtzukommen, während sein Körper einfach der Königin folgte, ohne dass er etwas dafür tun musste.
Erst, als sie anhielt und seine Hand freigab, bemerkte er, dass sie mitten im Wasser standen. Seine neuen Stiefel waren augenblicklich durchtränkt und in jedem anderen Moment hätte er einen leisen Fluch ausgestoßen – aber jetzt … hing sein Blick an einer Frau. Einer dunkelhaarigen, wunderschönen Frau, die über das Wasser auf ihn zukam. Sie trug ein bodenlanges, hellblaues Gewand, das ihre Augenfarbe unterstrich.
Maryo starrte sie wie gebannt an.
Es waren ihre Augen. Es war ihr Lächeln. Es waren ihre Bewegungen. Ihr geschmeidiger Gang. Ihre ausgestreckten Hände.
Nie hatte Maryo sich kleiner gefühlt. Nie größer. Nie mutiger, obwohl alles in ihm vor Angst erbebte.
Sie schenkte ihm Sicherheit. Vertrauen. Zufriedenheit.
Sie …
Erinnerungen, schwach wie ein Nebel, tauchten in seinem Geist auf.
Erinnerungen an sie.
An ihre Arme. Um ihn gelegt, ihn an sich drückend.
An ihre Stimme. Sanft, zärtlich, Worte voller Liebe flüsternd.
An ihre Wärme … und die Kälte … als sie nicht mehr bei ihm war.
Ohne es bewusst wahrzunehmen, ging er auf sie zu – merkte nicht, dass auch er mit einem Mal auf dem Wasser wandelte. Es gab nur noch sie. Nur noch ihren Blick, der sich in seinem verfangen hatte.
Als er bei ihr ankam, hob sie die Hände, legte sie an sein Gesicht. Und in diesem Moment spürte er alles, was er vergessen hatte und seine Lippen formten von selbst den Namen, der einer anderen gehört hatte – all die Jahrzehnte im Exil.
»Mutter.«
Er wusste nicht, wie lange sie so da standen. Zeit hatte keine Bedeutung mehr, während er sie einfach nur ansah – und sie ihn.
Irgendwann versiegten die Tränen, die er unbewusst geweint hatte.
Irgendwann löste sich der Knoten, der in seiner Brust dafür sorgte, dass er kaum noch hatte atmen können.
Irgendwann beugte er sich zu ihr herunter, da er sie um einen Kopf überragte und küsste sie auf die Wange. Ihr entwich ein leiser Laut, der einem Schluchzen glich und als er sich von ihr löste, sah er Tränen in ihren Augen. Tränen der Liebe, des Schmerzes, der … Schuld.
»Ich verzeihe dir«, raunte er und küsste sie erneut.
»Mein Sohn …« Ihre Stimme war genau so, wie er sie in Erinnerung hatte. Genau so zärtlich, liebevoll, melodisch. »Es tut mir so unendlich leid. So …«
»Schhht.« Er legte ihr einen Finger auf den Mund, um sie am Sprechen zu hindern.
Sie tat es dennoch. »Es gibt so viel, das ich dir sagen möchte.«
»Ich weiß.« Er zog sie an sich und spürte, wie sie an seiner Brust leise weinte. Auch ihm traten wieder die Tränen in die Augen.
So viele Jahre hatte er einer anderen Frau ›Mutter‹ gesagt, obwohl sie es nicht war. So viele Jahre hatte er die Geschichte geglaubt, dass er aus Altra stammte, seine Mutter von den Elfen verstoßen worden sei. Dabei war die Frau, die ihn großzog, bloß eine Elfin gewesen. Sie hatte sich bemüht, ihm eine Mutter zu sein – und hatte ihre Aufgabe erfüllt, seine Liebe verdient.
Aber das hier … es war so viel mehr. So überwältigend. So … Heimat.
Ein Gefühl, das ihm die ganze Zeit gefehlt hatte. In all den Jahren, wo er rastlos gewesen war, hatte er unbewusst immer nach dieser Empfindung gesucht. Danach, sich zu Hause zu fühlen. So wie in diesem Moment.
»Komm«, sagte seine Mutter, als sie sich von ihm löste. »Lass uns reden, ich werde alle deine Fragen beantworten.«
Sie führte ihn über das Wasser zu einer kleinen Insel, von der Maryo geschworen hätte, dass sie vor wenigen Augenblicken noch nicht da gewesen war. Zu seiner Verblüffung konnte er dort sogar ein golden schimmerndes Sofa sowie einen kleinen Tisch erkennen, auf dem Wein und Gebäck standen. Sein Magen knurrte leise bei dem Duft, der ihm in die Nase stieg.
Seine Mutter lächelte. »Schinkenpasteten. Die hast du schon als kleiner Junge so gern gemocht.«
Sie setzte sich und Maryo tat es ihr gleich. Es war unwirklich, hier mitten in einem Tempel auf einer Insel in einem See neben seiner Mutter zu sitzen. So unwirklich, dass ihm ein ungläubiges Lachen entwich.
Seine Mutter sah ihn liebevoll an und strich ihm mit dem Handrücken über die Wange. »Iss und trink, mein Herz. Du hast eine lange Reise hinter dir und ich bin mir sicher, dass du eine Stärkung vertragen kannst.« Sie schenkte ihm ein Glas honigfarbenen Wein ein und reichte ihm eine Pastete.
Maryo biss kopfschüttelnd in das Gebäck und erneut strömten Erinnerungen seiner Kindheit in sein Gedächtnis. Wie er als kleiner Junge gespielt hatte. Hier im Tempel, am See. Er hatte Steine ins Wasser geworfen und Fische beobachtet. Seine Mutter hatte ihm Geschichten erzählt. Von Abenteurern, die die Welt bereisten. Von Göttern und Monstern. Helden und Kriegern. Und in ihm war der Wunsch gewachsen, genau so zu sein. So edelmütig, verwegen, unerschrocken.
Daher war es ihm nicht schwergefallen, mit der Frau zu gehen, die eines Tages hier auftauchte. Er hatte sich nicht einmal großartig von seiner Mutter verabschiedet, schließlich würde er ein Abenteurer werden, dem die Welt offen stand. Ihm waren nicht die Tränen in den Augen seiner Mutter aufgefallen, als sie ihn ein letztes Mal umarmt hatte. Nicht das Beben ihrer Stimme, als sie ihm sagte, dass sie ihn liebte und immer bei ihm wäre, ihn beschützen würde. Er hatte sich aus ihrer Umarmung losgerissen und war neben der Elfin, die von diesem Zeitpunkt an für ihn sorgte, hergehüpft, ein Liedchen trällernd seiner Zukunft entgegen. Ein kleiner Junge, voller Träume und Hoffnungen.
Nun war er wieder hier. Als Mann, den das Leben gezeichnet hatte. Das Leben, die Liebe, der Tod … und dennoch fühlte es sich besser an als in all den Jahren, in denen er nach dem großen Abenteuer suchte. Es kam ihm vor, als würde er nach Monaten auf stürmischer See endlich einen ruhigen Hafen finden, in welchem er den Anker auswerfen konnte.
»Es wäre kein Leben gewesen für dich«, flüsterte seine Mutter jetzt neben ihm. »Ich bin an diesen Ort gebunden und damit habe ich mich abgefunden. Aber … ein kleiner Junge sollte nicht in einem Tempel eingesperrt aufwachsen … er sollte lachen, lieben, Abenteuer erleben. Ich hätte dir all das niemals bieten können … deswegen schickte ich einer Elfin, die nach Karinth gekommen war, eine Vision. Ich holte sie her, erklärte ihr, was sie zu tun hatte und sie willigte ein, dich als ihr eigen Kind großzuziehen. Sie versprach mir, für dich zu sorgen und dich vor allem zu beschützen, was dir schaden konnte. Sie versprach mir ebenso, dich erst zu einem Elfenvolk zu bringen, wenn die Zeit dazu gekommen war. Und zwar zu den Elfen von Westend, da dies das Volk deines Vaters gewesen war. Der Königin von Westend sandte ich kurz vor deinem Eintreffen ebenfalls eine Vision – sie wusste, dass eine Elfin bei ihr ankäme und einen jungen Mann mit sich bringen würde, der das Schicksal der Welt verändert. Deshalb nahm sie sich deiner an, beinahe wie eine Mutter ihrem Sohn.«
Maryo wandte sich ihr zu und betrachtete die Frau, die ihm das Leben geschenkt hatte. Das Leben und so viel mehr. Ohne jeglichen Zweifel wusste er, dass sie die Wahrheit sprach. Sie hatte auf seine Liebe verzichtet, um ihm das zu ermöglichen, was sie nicht gekonnt hätte – die Welt zu sehen, zu reisen, Erfahrungen zu sammeln. Und dafür liebte er sie umso mehr.
»Die Amazonen hätten dich getötet, wenn ich dich bei mir behalten hätte«, hauchte sie. »Sie hätten dich gejagt. Ich habe es in meinen Visionen gesehen. Niemals hätten sie einen Elf unter ihresgleichen geduldet. Niemals gestattet, dass du ausgerechnet hier lebst. Auf ihrem heiligen Boden.« Sie seufzte leise und senkte den Blick. »Es war meine Schuld. Ich hätte nicht schwach sein dürfen … und dennoch«, sie sah ihn liebevoll an, »ist aus genau dieser Schwäche etwas so Schönes entstanden. Ohne meinen Fehler gäbe es dich nicht. Und ist es nicht die wahre Stärke, wenn man sie aus Schwäche erschafft?«
Maryo runzelte die Stirn. »Ich glaube, ich versteh nicht ganz …«
Seine Mutter lächelte und schüttelte den Kopf. »Natürlich. Wie dumm von mir … ich muss ganz vorne beginnen.« Sie atmete tief durch, als fielen ihr die nächsten Worte schwer. »Ich habe viele Namen. Venus, Nereide, Diona … aber hier nennen sie mich Artaami.«
»Du bist …« Maryo fiel die Kinnlade herunter. »Die Göttin … der … Amazonen?«
Das Lächeln seiner Mutter wurde breiter. »Zumindest glauben sie das. Ich bin keine richtige Göttin. Nicht so, wie Aurel, Tellos oder der Totengott. Ich bin eine Tochter Aquors.«
»Des Wassergottes?« Maryo sah sie mit großen Augen an.
»Ja«, bestätigte seine Mutter schlicht. »Aquor hat viele Arten von Töchtern … Meerjungfrauen, Nereiden … ich gehöre Letzteren an. Und ein Teil von dir ebenso.«
»Deshalb …«
»Liebst du das Meer?« Sie sah ihn zärtlich an. »Ja. Genau deshalb. Weil ein Teil Aquors auch in dir schlummert.«
Maryo trank einen großen Schluck Wein, der kühl seine Kehle hinunter rann und ihm half, das soeben Gehörte zu verdauen.
Seine Mutter wartete ein paar Sekunden, dann fuhr sie mit ihren Erklärungen fort. »Nun, Aquor verbot uns Nereiden, dass wir uns mit Menschen einlassen. Allerdings«, ein wehmütiges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, »galt dieses Verbot nicht für Elfen. Dachte ich zumindest.« Ihr Lächeln erstarb.
»Mein Vater … er war also ein Elf?«, schlussfolgerte Maryo.
Sie nickte. »Ja, er stammte aus Altra und war der großartigste Mann, dem ich jemals begegnet bin. Ich traf ihn, als ich die Welt erkundete. Du trägst sehr viel von ihm in dir. Leider starb er kurz nach unserer Verbindung …« Trauer überschattete ihr Gesicht. »Auch Elfen sind nicht dafür gemacht, mit einer Nereide zusammen zu sein – Aquor wollte uns mit dem Verbot schützen. Vor einem gebrochenen Herzen … wie mir leider zu spät bewusst wurde.« Sie holte leise Luft. »Als ich in Erwartung war, musste ich das volle Ausmaß von Aquors Zorn erleben, da ich ihm nicht gehorcht hatte. Er verdammte mich dazu, wie eine Nymphe für alle Ewigkeiten, hier, mitten im Hochwald von Karinth, an diesem See zu leben. Weit weg von irgendwelchen Elfen, die es zu der Zeit hier noch nicht gab. Denn das war vor über dreihundert Jahren.«
Maryo sah sie verblüfft an. »Aber … so lange … bin ich doch noch nicht auf der Welt, oder? Die ersten Elfen kamen erst vor etwa hundert Jahren nach Karinth – wenn mich eine Elfin mit sich nahm, als ich noch ein Junge war …«
Artaami nickte. »Du bist klug, mein Liebling. Doch die Schwangerschaft einer Nereide kann Hunderte von Jahren dauern. Wir gebären erst, wenn die Zeit reif ist. So lange schlummert das Kind in uns. Und die Zeit kam, als von den Göttern die Amazonen erschaffen wurden – und mit ihnen dieser Tempel, in welchem sie mir huldigten. Keine weiß, dass ich nur eine Nereide bin – sie alle denken, ich hätte ihnen die Kräfte verliehen, die sie besitzen. Aber … ich könnte so etwas niemals tun. Dafür braucht es größere Mächte, als mir verliehen wurden. Doch es hilft den Amazonen, wenn sie gemeinsam hier beten. Sie werden dadurch vereint und das macht sie als Volk stark. Ich könnte ihnen diese Stärke niemals nehmen und es schadet zudem keinem, wenn ich ihnen die Wahrheit nicht erzähle. Im Gegenteil. Daher … muss das unser Geheimnis bleiben.« Sie sah ihn eindringlich an.
Maryo nickte. »Natürlich. Ich werde niemandem davon erzählen.«
Seine Mutter wirkte erleichtert. »Danke. Diese Amazone«, sie deutete ans Ufer, wo Thesalis immer noch wie eine Statue kniete und in die Ferne sah, »sie wird dich für etwas Heiliges halten, denn sie sah nur, wie du in ein helles Licht gewandert bist. Ich verberge mich dadurch vor den Amazonen, sobald sie den Tempel betreten. Sie wird also glauben, dass du von ihrer Göttin empfangen wurdest und das ist gut so. Das wird ihr die Kraft verleihen, für dich zu kämpfen – und wenn nötig zu sterben. Das ist wichtig.«
»Warum? Warum ist das wichtig?«, fragte Maryo stirnrunzelnd.
»Weil dir und ihr Großes bevorsteht«, erklärte seine Mutter. »Du wirst alle Unterstützung benötigen, die du erhalten kannst. Denn du bist eine der Legenden von Karinth.«
Maryo lachte ungläubig auf. »Ja, genau. Ich und eine Legende!«
»Lach nicht«, unterbrach ihn seine Mutter und hob mahnend den Zeigefinger. »Man schafft sich seine Legenden selbst – und du bist dazu geboren, die Welt zu verändern, das ist dein Fluch und deine Bestimmung. Du wirst immer ein Werkzeug der Götter bleiben, gleichgültig, wo du hingehst. Doch du hast es in der Hand, wie du dieses Werkzeug einsetzt.« Ihre Stimme war so ernst und eindringlich, dass ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
Artaami schenkte ihrem Sohn Wein nach und ließ ihn einige Minuten über ihre Worte nachdenken.
Maryo versuchte wirklich, alles zu begreifen. Vieles fiel ihm nicht schwer, da das Wissen darüber die ganze Zeit in ihm geschlummert hatte. Die Erinnerung an seine Kindheit hier im Tempel war jetzt, da er an diesen Ort zurückgekehrt war, so frisch, als sei es gerade erst gestern gewesen. Aber er musste erst einmal die Tatsache verdauen, dass sein Großvater der Wassergott persönlich sein sollte.
»Mein Sohn«, sagte seine Mutter neben ihm leise. »Die wenige Zeit, die uns zusammen bleibt, möchte ich genießen. Aber wenn es noch Fragen gibt, die du beantwortet haben möchtest, so stell sie. Ich bemühe mich, dir alles zu sagen, was du wissen musst.«
Maryos Kopf schwirrte. »Warum soll uns wenig Zeit vergönnt sein?« Er sah sie verständnislos an. »Jetzt, da ich hier bin und wir uns wiederhaben, werde ich auch eine Weile bleiben.«
Doch seine Mutter schüttelte bedauernd den Kopf. »Das wird nicht möglich sein. Deine Aufgabe drängt dich zum Aufbruch. Du musst deinem Schicksal folgen.« Sie seufzte leise. »Aber sei versichert, dass du danach jederzeit wieder herkommen kannst. Das Schöne an einem Zuhause ist, dass es auf einen wartet, während man in der Ferne weilt. So wie ich immer auf dich gewartet habe. Ich habe dich beobachtet, in diesem See, der mir Bilder von dir zeigte, wenn ich sie sehen wollte. Ich habe dich aufwachsen sehen. Habe deine stillen und traurigen Momente miterlebt, deine fröhlichen und gefährlichen. Ich war immer an deiner Seite – und werde es weiterhin sein bis zu dem Moment, wenn du wieder zu mir zurückkehrst.«
»Du hast …« Maryo spürte einen Schauer. »Alles gesehen … alles?« Er konnte ihr nicht in die Augen sehen.
»Nun.« Seine Mutter lächelte. »Nicht alles. Das meiste fühle ich und die … intimen Momente bleiben meiner Sicht verborgen – das ist auch gut so.« Sie zwinkerte ihm zu. »Wenn ich weiß, dass es dir gut geht, so ist das alles, was ich brauche, um glücklich zu sein. Meine Tochter habe ich immer um mich – dich aber muss ich ziehen lassen. Dennoch liebe ich euch beide und freue mich, wenn ihr mich besucht.«
»Deine … Tochter?« Der Elf sah sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an, dann lichtete sich seine Miene, als er verstand. »Die Amazonenkönigin? Sie hat mich ›Bruder‹ genannt. Dann stimmt es, dass …«
Artaami nickte. »Ja. Sie ist aus meinen Tränen entstanden, die ich um dich geweint habe. Aquor hatte ein Einsehen, als er meine Trauer und Einsamkeit sah – und ließ aus einer meiner Tränen eine Perle entstehen, die er in eine Muschel pflanzte und in diesem See versenkte. Als die Muschel an die Oberfläche kam und sich wieder öffnete, lag dort drin ein Mädchen. Aphora. Die Amazonenkönigin.«
»Eine … eigenartige Geschichte«, meinte Maryo stirnrunzelnd.
»Das ist sie – und eine schöne«, lächelte seine Mutter. »Aphora stieg auf den Thron der Amazonen und führt ihr Volk seit hundert Jahren an. Ihr Schicksal ist es allerdings, für immer im Körper eines Mädchens zu bleiben. Sie altert nicht, ist unsterblich. Auch ihr Leben ist nicht leicht, das ist wohl der Fluch unserer Familie.« Ihr Lächeln wurde wehmütig und traurig zugleich.
»Also, dann ist diese … Aphora … tatsächlich meine Schwester?«
Artaami nickte erneut. »Halbschwester. Sie wird dich beschützen, solange du dich hier in der Amazonenstadt aufhältst. Vertraue ihr, sie will ebenso wie ich dein Bestes.«
»Hm.« Maryo atmete tief durch. »Hast du noch Wein? Ich brauche heute glaub ich ein ganzes Fass davon, sonst werde ich tatsächlich den Verstand verlieren, so wie mir gerade der Kopf schwirrt. Selbst ein Viertelgott braucht ab und an Alkohol, um auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren …«