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Um ihr Volk zu retten, muss sie ihre Liebe und ihr Leben aufs Spiel setzen!
Nach dem Tod des Tyrannen Tarek ist Kalinda auf der Flucht vor dem verräterischen Rebellenführer Hastin. Dieser möchte die uralte Schrift der Elementmagier an sich reißen, die in Kalindas Obhut ist. Die junge Frau sucht Zuflucht im benachbarten Königreich, doch dort wird sie von ihrem Geliebten Deven getrennt und gerät in ein Netz von Intrigen, Verrat und Versuchung.
"Emily R. King schreibt so lebendig, dass ihre Welt für den Leser zur Realität wird." FRESH FICTION
Band 2 der Reihe
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Seitenzahl: 432
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Anmerkung der Autorin
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Emily R. King bei LYX
Impressum
EMILY R. KING
Die letzte Königin
Das Feuer erwacht
Roman
Ins Deutsche übertragen von Beate Bauer
Nach dem Tod des Tyrannen Tarek ist Kalinda auf der Flucht vor dem verräterischen Rebellenführer Hastin. Dieser möchte die uralte Schrift der Elementmagier an sich reißen, die in Kalindas Obhut ist. Als einzige überlebende Rani ist Kalinda zu einem Symbol der Hoffnung in ihrer Heimat aufgestiegen. Um ihr Volk retten zu können, ist sie jedoch auf die Unterstützung von Tareks Sohn Ashwin angewiesen, der im benachbarten Königreich im Exil lebt. Aber dafür muss sich Kalinda erneut im Kampf beweisen und gegen unzählige Intrigen und Ränkespiele bestehen – und all das ohne ihren Geliebten Deven, der bei der Flucht von ihr getrennt wurde. Bei einem Sieg wäre sie für immer an den Thron gefesselt und würde Deven verlieren. Denn die Siegerin des Turniers soll Prinz Ashwin ehelichen. Scheitert sie jedoch, ist das Schicksal ihres Volkes besiegelt. Hin- und hergerissen zwischen Pflichtgefühl, ihrer Liebe zu Deven und ihrer wachsenden Bewunderung für den jungen Prinzen, steht Kalinda vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens …
Für Marlene Stringer,
eine wahre Schwesternkriegerin
Die im Tarachandischen Reich ausgeübte Religion, der Parijana-Glaube, ist eine Fiktion, abgeleitet von der Religion der Sumerer und deren Götterglauben. Der Parijana-Glaube und das Tarachandische Reich stehen weder für eine bestimmte Epoche oder Gemeinschaft noch für einen bestimmten Glauben. Jede Ähnlichkeit mit anderen Religionen oder Herrschaftsstrukturen ist rein zufällig, ebenso die mit tatsächlichen Personen oder Ereignissen.
Der Tod hat einen üblen Geruch, und ich meine nicht den von verwesendem Fleisch, sondern den bitteren Rauchgeruch, der sich auf meine Haut legt. Eine größer werdende Rußwolke verdunkelt die Nachmittagssonne, ein Schmutzfleck aus Aschepartikeln, der wie eine Opfergabe gen Himmel steigt. Ein trostloser Wind, heiß wie der Atem eines Drachen, hüllt unsere Karawane in schwarze Flocken.
Oh, ihr Götter. Nicht schon wieder.
Ich schnalze mit der Zunge und drücke die Fersen in die Flanken meines Kamels. Es reagiert darauf mit einem müden Grunzen. Ich stoße kräftiger, und das Tier setzt sich in Bewegung, seine Hufe knistern im vertrockneten Gras, das so gelb ist wie der Vollmond im September. Die tief stehende Sonne brennt auf uns herab und versengt das Land.
Wir erreichen die Anhöhe, und ich bringe das Tier zum Stehen, um das ganze Ausmaß der Zerstörung zu betrachten. Schwarzer Rauch steigt vom Dach des Tempels auf und verschleiert die goldenen Hügel in der Ferne, rote Flammen schlagen aus den eingestürzten Mauern und dem gepflasterten Vorhof.
Ein weiterer Tempel der Bruderschaft wurde in Schutt und Asche gelegt.
Deven beugt sich vor, bis seine Brust fast meinen Rücken berührt. »Großer Anu«, höre ich seine Stimme, »sie sind uns schon wieder zuvorgekommen.«
Mathura und Brac halten ihr Kamel neben uns an. Als wir Vanhi verließen, hatten wir ein weiteres Kamel, aber Mathuras Reittier hat schon vor Tagen vor Erschöpfung zu lahmen begonnen. Nachdem sie mehr als zwei Jahrzehnte ausschließlich im Palast gelebt hat, betrachtet die würdevolle Kurtisane die Welt außerhalb der Mauern mit kindlicher Verwunderung, doch ihr düsterer, ernster Blick lässt ihr schönes Gesicht älter erscheinen. Brac, ihr Sohn und ein Feuerwesen, wickelt sein Tuch ab und kratzt sich seinen rötlich braunen Haarschopf. Seine goldenen Augen sind vor Müdigkeit gerötet. Der Staub unserer beinahe zwei Monate dauernden Reise klebt an ihm, klebt an uns allen. Die Bluse, die ich unter meinem Sari trage, kratzt an meinem Rücken, wo Schweiß und Dreck sich gesammelt haben.
Yatin und Natesa schließen zu uns auf. Ihr Kamel hat mit Yatins Gewicht zu kämpfen. Natesa, die in den Rangkämpfen meine Herausforderin war, starrt auf die schwelenden Überreste des Tempels. Yatin schüttelt betroffen den Kopf. Selbst die vielen Jahre als Soldat haben ihn nicht auf solch eine rücksichtslose Zerstörung vorbereitet.
Ich schiebe mein Kinn vor und spüre einen Kloß im Hals. »Lasst uns hinunterreiten.«
»Haltet nach Überlebenden Ausschau«, befiehlt Deven.
Wir treiben unsere Kamele wieder an, hinein in die Rauchschwaden. Auf der nächsten Anhöhe halten wir und nehmen die Tempelanlage genauer in Augenschein.
»Hauptmann«, sagt Yatin mit seiner tiefen grollenden Stimme, »wollt Ihr, dass ich das Gelände erkunde?«
»Das dürfte nicht nötig sein«, antwortet Deven und presst die Lippen aufeinander.
Ich folge seinem Blick hin zu dem geschlossenen, verriegelten Tor. Genau der gleiche Anblick wie bei den beiden letzten Tempeln der Bruderschaft. Alle Angehörigen der Gemeinschaft, Brüder und Anwärter, hat man in den Gebäuden eingeschlossen und diese dann in Brand gesetzt. Die wütenden Flammen haben alles in einen brennenden Sarkophag verwandelt. Kein Einziger hat überlebt.
Die Tränen reinigen meine Augen von dem beißenden Rauch. Deven beugt sich nach vorn, presst seine Brust gegen meinen Rücken und schlingt die Arme um mich. Ich schmiege mich an ihn, zu bestürzt, um seine plötzliche Zärtlichkeit zu hinterfragen. Seit wir Vanhi verlassen haben, hat er sich mir gegenüber immer reservierter verhalten. Ich sehne mich nach unserer früheren Leichtigkeit, doch wir sind beide erschöpft von der Flucht.
Seit Rajah Tarek mich zu seiner letzten Braut erwählt hat, ist nichts mehr, wie es einmal war. Um meine Stellung als seine hundertste und letzte Rani zu sichern, musste ich in einem Turnier gegen seine Kurtisanen antreten, die mit mir um den Thron wetteiferten. Und anstatt Gefühle für Tarek zu entwickeln, habe ich mich in Deven, meinen Leibwächter, verliebt. Nachdem Tarek dann Jaya, meine beste Freundin, getötet und Deven zum Tode verurteilt hatte, war die Zeit für ihn gekommen, dafür zu büßen. Ich gewann das Turnier, war jedoch dazu gezwungen, entweder die Hauptfrau des Rajahs zu töten oder mein eigenes Leben zu opfern. Eine Entscheidung, die mich immer noch quält, weil ich während des Kampfes erfuhr, dass meine Gegnerin die Schwester meiner Mutter und somit meine Tante war. Und auch das einzige Mitglied meiner Familie, dem ich je begegnet bin, seit ich schon als Kleinkind zur Waise wurde.
Nach meinem Sieg in der Arena wurde ich mit Tarek vermählt, und noch in derselben Nacht, nachdem ich mich an Tarek gerächt und ihn getötet hatte, wurde der Palast der Türkise von rebellischen Bhutas angegriffen, um Vergeltung gegen die Tyrannei des Rajahs zu üben. Zusammen mit den Freunden, die mich jetzt begleiten, floh ich vor dem hinterhältigen Warlord der Bhutas, und ich danke den Göttern jeden Tag, dass sie bei mir sind. Besonders Deven. Unser Traum von einem gemeinsamen Leben in den Ebenen der Alpanas wurde durch die Vermählung mit Tarek in den Hintergrund gedrängt, aber dennoch halte ich daran fest.
Er streicht mit seinem schwieligen Daumen über mein Handgelenk, wobei er es vermeidet, meinen Handrücken zu berühren, auf den mit dunkler Tinte eine Eins geschrieben steht – um meinen Rang als Hauptfrau kundzutun. Die Hennazeichnungen, die meine Arme und meinen Rücken bedeckten, sind nach ein paar Wochen verblasst, aber die Tinte, mit der diese Ziffer aufgetragen wurde, will nicht verblassen, egal, wie oft ich meinen Handrücken auch schrubbe. Dieses Zeichen, das mich als die Favoritin des Rajahs ausweist, ist eine verfluchte Erinnerung an die Nacht, in der ich Tareks Frau wurde – und seine Witwe. Ich wünschte, dieser Schandfleck, der mich ständig daran erinnert, dass ich mit einem anderen Mann vermählt gewesen war, würde endlich verschwinden.
Glühende Funken landen auf dem Pflaster des Innenhofs und verwandeln sich zischend zu Asche. Ich befürchte, dass ein einzelner Funke genügen könnte, um ein Feuer zu entfachen und sich durch das trockene Gras zu fressen, aber der Innenhof wirkt wie ein Schutzwall gegenüber dem verdorrten Tal. Die ganze Anlage wurde liebevoll gehegt und gepflegt.
Meine Feuerkräfte sieden in mir und verlangen nach Vergeltung. Für diese Zerstörung ist Hastin, der Warlord der Bhutas, verantwortlich. Ich hatte gedacht, er und seine Rebellen würden uns verfolgen, um das Zhaleh, das geheiligte Buch, in ihren Besitz zu bringen, das ich bei unserer Flucht aus dem Palast der Türkise an mich genommen hatte, aber ich habe mich getäuscht. Ich hätte wissen müssen, dass Hastins Hass auf Tarek ihn dazu veranlassen würde, stattdessen Prinz Ashwin aufzuspüren, den Erben des Rajahs.
Der Prinz wurde in einem der vier Tempel der Bruderschaft aufgezogen. In welchem genau war schon immer ein gut gehütetes Geheimnis. Auf der Suche nach ihm sind wir kreuz und quer durch Tarachand gezogen, von Tempel zu Tempel, aber Hastin war uns stets einen Schritt voraus. Dies hier war bereits der dritte Tempel, den wir zu spät erreichten. Drei heilige Stätten der Parijanas, zerstört von den Bhutas, jenen Anführern, von denen die Bruderschaft glaubte, dass die Götter sie mit ihren Kräften ausgestattet hatten, um der Menschheit zu dienen.
»Was nun?«, fragt Natesa mit matter Stimme.
»Was meinst du?«, frage ich.
»Prinz Ashwin ist tot.«
»Das wissen wir nicht«, entgegne ich. »Der Prinz kann sich im vierten Tempel aufhalten.«
»Warum sollten wir weiter nach ihm suchen, wenn er bisher keinen Anspruch auf den Thron erhoben hat?«, fragt Brac. »Entweder ist er ein Feigling, oder es ist ihm egal, was aus dem Reich wird.«
Ich nage an meiner Lippe und kämpfe gegen meine Resignation an. Brac ist erschöpft und entmutigt. So wie wir alle. Unsere Hoffnung, den Krieg beenden zu können, setzt voraus, dass wir Prinz Ashwin finden, aber die Suche nach ihm dauert nun schon viel länger, als wir angenommen hatten. Wir jagen einen Geist, jemanden, den es tatsächlich geben soll, den wir aber nie zu Gesicht bekommen haben.
»Wenn der Prinz tot ist, wird Hastin umgehend seinen Sieg verkünden«, sagt Mathura. »Also werden wir in den nächsten Tagen erfahren, ob der Prinz den Angriff überlebt hat.«
»Solange wir nichts Gegenteiliges hören, müssen wir davon ausgehen, dass er am Leben ist«, sage ich und sehe, wie Brac seinen Blick abwendet.
Mache ich einen Fehler? Sollten wir die Suche nach dem Prinzen abbrechen? Ich blicke zu Deven hinüber, möchte wissen, was er darüber denkt, als Soldat, als mein Leibwächter und der Mann, den ich liebe, doch er starrt mit schmerzerfülltem Blick auf den brennenden Tempel. Seit er seine Uniform gegen eine schlichte Tunika und Hosen getauscht hat, wirkt er häufig geistesabwesend, und seine Gedanken scheinen in die Ferne zu schweifen. Bevor der Rajah starb, hat er Deven sein Kommando entzogen. Er hat ihn des Verrats beschuldigt, weil er mir geholfen hatte, die Rebellen bei ihrem Angriff auf Vanhi zu unterstützen. Dabei war sein einziger Fehler gewesen, mir zur Seite zu stehen.
»Was sollen wir tun, Hauptmann?«, wendet sich Brac an ihn.
Deven fährt herum und zuckt zusammen, so wie jedes Mal, wenn ihn jemand mit seinem Titel anspricht. Er streicht sich über den dunklen Bart. Als er noch die scharlachrote Uniform trug, war sein Bart gepflegt, und auch seine Haare sind inzwischen so lang, dass sie aus seinem Turban herausschauen. Sein Schweigen dauert länger als üblich. Wir sind einen so weiten Weg gegangen, um unseren neuen Anführer zu finden, dass mich sein Zögern wundert.
»Sohn?«, hakt Mathura nach.
Deven blickt erst zu Brac, seinem Halbbruder, und dann zu seiner Mutter. »Wir setzen die Suche fort.« Er deutet auf die in weiter Ferne sichtbaren Gipfel der Alpanas. »Wir werden die Nacht oberhalb des Pfades im Vorgebirge verbringen. Morgen machen wir uns dann auf den Weg zum nördlichen Tempel.«
»Danke«, sage ich leise.
Er antwortet mit einem leichten Nicken, wobei seine weichen Barthaare über meine Wange streichen. »Sei wachsam. Die Rebellen können immer noch in der Nähe sein.«
Wir treiben die Kamele an und lassen die brennenden Ruinen und den Geruch des Todes hinter uns.
Unsere Karawane nimmt den gen Osten führenden Weg, der nach Iresh führt, dem Hauptsitz des Sultanats von Janardan. Der Tod des Rajahs und die Besetzung von Vanhi durch den Warlord hat zu einer Massenflucht der Bevölkerung geführt, und während der vergangenen zwei Monate haben Tausende von Füßen einen Pfad in den Erdboden getreten, der jetzt durch das ausgetrocknete Tal zum Sultanat führt.
Vor uns folgt eine Gruppe von Flüchtlingen diesem Pfad. Eine Frau, die in einem Schultertuch ein Baby vor der Brust trägt, schleppt sich dahin, während sich zwei halbwüchsige Jungen mit dem Handkarren abmühen, der ihre spärlichen Besitztümer und die Verpflegung für die Reise enthält. Ein kleines Mädchen läuft nebenher und schlägt mit einem knotigen Stock gegen die Radspeichen.
Die Frau bemerkt, dass wir näher kommen, und macht ihren Söhnen Zeichen, anzuhalten. Während sie den Karren anhalten und sich den Schweiß vom Gesicht wischen, lässt uns die Frau nicht aus den Augen. Der Wind weht geflochtene Haarsträhnen über ihr sonnenverbranntes Gesicht.
»Seid gegrüßt«, sagt Deven.
Sie presst das Kind fester an ihre Brust, und mit der anderen Hand, die teilweise unter ihrem Sari verborgen ist, umklammert sie ein Messer. Nicht nur zahlreiche Flüchtlinge folgen diesem Weg, sondern auch Diebe, die es auf die Reisenden abgesehen haben.
Brac lenkt sein Kamel über den Pfad, gefolgt von Yatin und Natesa. Ich halte unser Kamel auf der Mitte der Straße an.
»Entschuldigt bitte«, rufe ich, »habt Ihr irgendwelche Neuigkeiten aus Vanhi?«
Die Frau blickt mich mit unverhohlenem Misstrauen an. »Keine, seit der Warlord die Stadt eingenommen hat. Mein Mann diente bei den Truppen im Palast, und es heißt, dass der Warlord ihn und alle Wachen hingerichtet habe.«
Das Herz klopft mir in der Brust. Bei den Versorgungsbrunnen außerhalb der Stadt hatten wir gehört, dass Hastin die Tore zum Palast verriegelt und jedermann darin eingeschlossen habe. Das Volk von Vanhi hält Hastin für den Mörder Tareks, kaum jemand kennt die Wahrheit.
Ich greife in meine Satteltasche, und sofort hebt die Frau ihr Messer.
»Ich will keinen Ärger«, warnt sie mich.
»Wir ebenfalls nicht«, versuche ich sie zu beruhigen.
Meine Fingerspitzen ertasten den Griff des Dolchs, dessen Gegenstück an meinem Schenkel befestigt ist. Die Dolche gehörten meiner Mutter, der ersten Frau des Rajahs. Mathura hat sie bei der Flucht aus dem Palast an sich genommen, und Deven hat mir beigebracht, sie zu benutzen. Inzwischen beherrsche ich sie so sicher wie einst meine Schleuder. Ich taste weiter, finde, wonach ich gesucht habe, und ziehe langsam meine Hand hervor. Die Frau starrt das Kopftuch an.
»Für Euch.« Ich reiche es ihr.
»Ich brauche Eure Hilfe nicht.«
»Na schön, aber was wird aus Euren Kindern, wenn Ihr einen Sonnenstich bekommt?«
Ihr Blick ist nicht mehr ganz so finster, dennoch weigert sie sich, das Tuch anzunehmen.
Weiter hinten auf der Straße schleppt sich ein Zug aus Menschen und Wagen in unsere Richtung. Soldaten. Sie tragen die dunkelroten Uniformen des tarachandischen Reichs mit dem Wappen des schwarzen Skorpions auf der Brust. Die gleiche Uniform, die Deven einst getragen hat. Sie führen keine Banner mit sich, und so weit entfernt vom nächsten Stützpunkt handelt es sich zweifellos um Deserteure. Nicht nur Zivilisten flüchten vor dem Warlord.
Ich spüre Devens Anspannung, die mir wortlos mitteilt, dass wir weiterreiten sollten, bevor die Soldaten uns erreichen.
Die Kinder beobachten gespannt, wie ich mit dem Kopftuch wedele. »Bitte nehmt es.«
Die Frau kommt vorsichtig auf mich zu und packt mit spitzen Fingern einen Zipfel des Tuchs. Als sie meinen Handrücken erblickt, werden ihre Augen groß.
»Hoheit«, flüstert sie und kniet nieder. Ihre Söhne knien ebenfalls nieder, und sie macht ihrer Tochter Zeichen, ihrem Beispiel zu folgen. »Vergebt uns, wir haben Euch nicht erkannt.«
Beim Geräusch der näher kommenden Soldaten krampft mein Magen. Ich hätte beinahe vergessen, wie sehr ich es hasse, wenn man vor mir niederkniet. Bei der Vorstellung, wie viele Menschen gleich zu meinen Füßen knien könnten, bin ich kurz angebunden. »Ich habe Euch nichts zu vergeben. Aber verratet niemandem, dass Ihr mich gesehen habt.«
»Natürlich nicht, Hoheit. Mögen die Götter mit Euch sein.«
»Und mit Euch.« Ich greife nach den Zügeln, um das Kamel anzutreiben.
Wir überqueren die Straße und reiten die steinigen Hügel hinauf. Hinter uns umarmt die Mutter ihre Kinder und weint. Sie weint nicht, weil sie sich ängstlich oder elend fühlt, sondern vor Glück, was mich erschauern lässt. Ich werde ihre Familie in meine täglichen Gebete einschließen.
Deven beobachtet immer noch die Soldaten, die inzwischen die letzte Biegung erreicht haben. Er entspannt sich erst, als wir außer Sichtweite sind. »Das war wirklich nett von dir.« Seine Stimme ist wie ein sanftes Streicheln in meinem Nacken.
»Es war nur ein Kopftuch«, antworte ich.
»Es war mehr als das. Du bist die Hauptfrau. Dass sie dir hier begegnet ist, hat ihr neue Hoffnung gegeben.«
Ich rutsche unbehaglich im Sattel hin und her. Ich mag eine Hoheit sein, aber deswegen muss ich mich noch lange nicht hoheitlich benehmen. Diese Frau und ihre Familie wären nie gezwungen gewesen, aus ihrem Heim zu fliehen, wäre ich nicht so dumm gewesen, Hastin zu vertrauen. Ich habe mit ihm meine Freiheit ausgehandelt, aber was ich verloren habe, war mehr als das. Ich bin davon ausgegangen, dass mit Rajah Tareks Tod seine Ranis und Kurtisanen freikommen, aber stattdessen sind sie jetzt Hastins Gefangene im Palast der Türkise. Als Hauptfrau war ich zugleich die oberste Rani, die, zu der sie aufblickten, ihre Freundin. Und ich habe es weder geschafft, sie zu beschützen, noch meine liebste Freundin Jaya zu retten.
»Sie sollten mich nicht mehr als Hoheit ansehen«, sage ich mit ausdrucksloser Stimme.
»Deine Pflichten gegenüber dem Thron bestehen, solange Prinz Ashwin dich nicht von ihnen entbindet«, bringt mir Deven in Erinnerung. »Die Kunde von deinem Triumph im Turnier hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Das Volk liebt dich, so wie du das Volk liebst. Mit deinem Sieg hast du dir ihre Anerkennung erworben, das darfst du nicht kleinreden.«
Ich frage ihn lieber nicht, was mein Sieg ihm bedeutet. Ich habe um den Titel gekämpft, aber der wahre Kampf besteht darin, das viele Blutvergießen während des Turniers zu vergessen.
Meistens gelingt es mir, manchmal nicht. Aber es ist nicht mein Sieg in der Arena oder der Verlust von Devens Dienstgrad, der zwischen uns steht. Was uns wirklich trennt, ist meine Vermählung mit dem Rajah. Der gleiche Grund, aus dem ich ein Symbol der Hoffnung für diese um ihr Überleben kämpfende Familie bin, hält Deven davon ab, sich mir zu nähern. Für das Volk sind mein Schicksal und meine Zukunft untrennbar mit dem Thron verbunden. Von dieser Überzeugung kann ich sie – oder Deven – genauso wenig abbringen, wie ich meine Vermählung mit Tarek ungeschehen machen oder Jaya wieder zum Leben erwecken kann.
Mein Blick fällt auf die Fußspuren, die durch das Tal führen, und der Gedanke an die mühevollen Schritte der vielen Flüchtenden lastet auf meinem Herzen. Das Reich hat sich verändert, seit ich die einhundertste Königin des Rajahs wurde. Das Volk von Tarachand lebt in Düsternis, Verzweiflung und der ständigen Furcht, dass noch mehr Unschuldige sterben müssen. Ich kann nichts Würdevolles darin erkennen, all dieses Leid verursacht zu haben.
Etwas berührt meinen Nasenrücken, und ich schrecke aus dem Schlaf hoch. Ein rubinroter Baldachin erstreckt sich über mir, Kissen türmen sich neben dem Balkon, und ein heißer Luftzug lässt die Palmwedel vor den Fenstern rascheln. Ich bin in meinem Schlafgemach im Palast der Türkise.
Der Finger berührt erneut meine Nase, ich blinzele ein paar Mal, und ein Gesicht taucht vor mir auf.
Rajah Tareks blendend weiße Zähne funkeln wie ein Raubtiergebiss in dem verdunkelten Raum.
»Ich habe dich vermisst, Liebes.«
Ich versuche, mich ihm zu entziehen, aber meine Hände und Beine sind gefesselt.
»Schhh«, schnurrt er. »Wir werden jetzt die Hochzeitsnacht nachholen, die die Götter für uns vorgesehen hatten.« Er streckt sich neben mir aus, presst sich an mich und vergräbt im nächsten Augenblick sein Gesicht tief in meinen Haaren.
Ich zerre an meinen Fesseln, bemühe mich freizukommen, aber meine Knöchel und Handgelenke sind an die Bettpfosten gefesselt. Ich konzentriere mich auf meine inneren Kräfte, um die Riemen mit Feuer zu lösen, aber alles, was ich finde, ist Leere.
Kein Seelenfeuer brennt in mir.
»Was habt Ihr getan?«, frage ich, und meine Stimme überschlägt sich vor Angst.
Tarek küsst mich behutsam auf die Wange. »Ich habe dich vergiftet, so wie du mich vergiftet hast.«
Seine Hände wandern an meinem Körper hinab. Ein wilder Entsetzensschrei dringt aus meiner Kehle, aber Tarek presst eine Hand auf meinen Mund.
»Du sollst dich doch nicht gegen mich wehren, Liebes. Du bist meine Gemahlin.« Er küsst meinen verkrampften Nacken. »Und ich bin dein Gemahl. Die Götter haben unsere Seelen im heiligen Bund der Ehe vereint. Du bist mein, für immer und ewig.«
Ich zerre wie wild an meinen Fesseln, während Tränen über mein Gesicht strömen. Tarek presst seine Hand fester auf meinen Mund, um meine Schreie zu ersticken.
»Kali.«
Mein Kopf zuckt hin und her, mein Herz hämmert gegen meine Rippen. Ich bin nicht in meinem Schlafgemach. Der Palast ist weit fort. Und Rajah Tarek … Tarek ist tot.
Brac hockt neben mir, seine schimmernden honigfarbenen Augen blicken mich besorgt an. Hinter ihm am Lagerfeuer sitzen Mathura, Natesa und Deven und essen Trockenfrüchte und geröstete Nüsse. Yatin hält auf einem Felsvorsprung Wache, ein dunkler Schatten vor dem sternenbedeckten Himmel.
»Geht es dir gut?«, fragt Brac.
Ich schlinge die Arme um meinen Körper, um das Zittern zu unterdrücken. »Ich bin wohl eingenickt.«
»Hast du wieder von ihm geträumt?«
»Ja.«
Brac murmelt leise einen Fluch und blickt zum Lagerfeuer hinüber. »Du solltest es ihm sagen.«
»Nein«, antworte ich entschieden. Deven kann den Gedanken an meine Vermählung mit Tarek kaum ertragen. Und noch weniger, dass der Rajah meine Träume heimsucht. Weder Mathura noch Natesa haben mich gefragt, was sich zwischen mir und Tarek in der Hochzeitsnacht abgespielt hat, und Yatin wirft mir von Zeit zu Zeit mitfühlende Blicke zu. Als ich das erste Mal schweißgebadet aus einem Albtraum erwachte, war Brac an meiner Seite gewesen, und er hatte Yatin ins Vertrauen gezogen. Er wusste natürlich, dass ich vergiftet worden war – er hatte mir die Reste des Giftes vom Körper gebrannt, nachdem er und Deven mich gefunden hatten –, aber er wusste nicht, wie ich mit dem Gift in Berührung gekommen war. Nachdem ich mich ihm anvertraut hatte, schwor ich mir, dass ich keinem Menschen gegenüber jemals wieder erwähnen würde, dass ich Tarek mit einer vergifteten Salbe getötet hatte und bereit gewesen war, zusammen mit ihm zu sterben.
Ich starre in die flackernden Flammen und spüre, wie sich Müdigkeit in meinem Körper ausbreitet. Ich wünschte, ich hätte die Ruhe, um zu zeichnen und meinen Geist zu beruhigen, aber dieses Vergnügen muss warten, bis wir Prinz Ashwin gefunden haben. Und bis wir entschieden haben, was mit dem Zhaleh geschehen soll, das sich immer noch in meinem Beutel befindet. Wir haben noch nicht darüber gesprochen, welcher Ort für das heilige Buch der Bhutas sicher sein könnte, aber dafür bleibt noch genügend Zeit, wenn ich von allen Verpflichtungen des Throns frei bin.
Brac blickt nachdenklich in die Flammen. »Man sagt, wenn ein Feuerwesen in das Innerste einer Flamme sieht, kann es dort den Widerschein seiner Seele erkennen. Ich habe Stunden damit zugebracht und darauf gewartet, dass meine Seele in den Flammen auftaucht und mir mein innerstes Selbst offenbart.«
»Hast du jemals etwas gesehen?«
»Nein, aber ich stelle mir vor, dass meine Seele ein Wolf ist.«
Eine passende Wahl. Brac ist behände und schlau, und seine goldenen Augen glitzern wie die eines Wolfs. Er stupst mich mit der Schulter an. »Und was siehst du?«
Ich starre in das Lagerfeuer, unsicher, was es mir offenbaren wird. Mein innerstes Selbst hat schreckliche Dinge getan. »Auch ich kann nichts erkennen.«
»Versuchen wir es doch.« Er greift in das Feuer und zieht eine dünne Flamme hervor, als wäre sie ein loser Faden. Die Flamme schwebt zwischen seinen Handflächen, er dreht die Hände hin und her, und sie legt sich um seine Finger, wie sich eine Schlange durch hohes Gras schlängelt. Er versucht, mich damit aufzumuntern, und ich bin verblüfft. Es ist faszinierend ihm zuzusehen, wie er mit dem Feuer spielt.
»Das natürliche Feuer ist das letzte Element, das die Götter erschufen. Als Anu, der Himmelsgott, den ersten Bhutas die göttlichen Fähigkeiten verlieh, fürchteten sich alle vor dem Feuerwesen. Die Leute sahen sie als eine Gefahr an.«
»Sie? Das erste Feuerwesen war eine Frau?«
»Ihr Name war Uri«, antwortet Brac. Ich starre gebannt auf die Flamme, die zwischen seinen Fingern tänzelt. »Uri war bewusst, dass sie die Kräfte des natürlichen Feuers bändigen musste, damit sie nicht auf ewig gefürchtet würde. Also machte sie sich auf zu den höchsten Gipfeln und lernte während vieler Monde, mit einer Flamme umzugehen.« Brac reicht mir den Feuerfaden. »Nimm sie.«
»Lieber nicht.« Brac hat mich zwar darin unterrichtet, mit meinem Seelenfeuer umzugehen, aber ich fühle mich noch nicht bereit für natürliches Feuer.
»Kali, du kannst inzwischen mit deinem Seelenfeuer alles Mögliche anstellen, aber solange du nicht das natürliche Feuer beherrschst, wirst du eine Gefahr sein. Siehst du das Lagerfeuer? Du kannst es nicht von dir aus zum Verlöschen bringen. Du brauchst entweder Sand oder Wasser. Du kannst es zwar entzünden, aber du kannst es nicht kontrollieren.« Brac nähert sich mir mit der heißen Flamme. »Anu schuf die Sterblichen nach dem Bild der Götter. Unsere Lungen sind mit Luft gefüllt, wir stehen auf der Erde, in unserer Seele brennt das Feuer, und das Blut in unseren Adern besteht aus Wasser. Die ersten Bhutas erhielten die Herrschaft über jeweils eine dieser Kräfte. Du bist das Feuer, und das Feuer ist du, also hast du nichts zu befürchten.«
»Aber das Seelenfeuer wird vom Körper umfangen, und natürliches Feuer ist frei.« Ich starre gebannt auf die Flamme, die über seinen Handflächen tanzt, misstraue ihren munteren Bewegungen.
»Ein Grund mehr, es zu würdigen. Die Windwesen haben Ehrfurcht vor dem Sturm, die Wasserwesen schwärmen von den Wellen, die Erdwesen beten die Berge an. Und wir verehren das Feuer. Seelenfeuer und natürliches Feuer sind eine Schöpfung der Götter. Der einzige Unterschied besteht darin, wie der sterbliche Teil von dir sie wahrnimmt. Er fürchtet Tod und Schmerzen.«
»Warum wohl«, entgegne ich trocken. Jenseits des Lagerfeuers blickt Deven in die Ferne und tut so, als würde er von meiner Unterweisung nichts mitbekommen.
»Du musst deinen sterblichen Teil ignorieren«, fährt Brac fort. »Hör auf den Teil, der mit den Göttern verbunden ist. Dort liegt deine Kraft.« Er kommt mit der Hand, in der die Flamme flackert, näher. »Streck deine Hand aus.« Da ich zögere, ergreift er sie. »Bereit?«
Nicht im Mindesten. Aber Brac wird nicht nachgeben, bis ich es versuche, also nicke ich.
Von seinen Fingerspitzen lässt er die Flamme in meine offene Handfläche gleiten. Sobald der glühende Faden meine Haut berührt, zucke ich vor Schmerz zurück. Das zarte Flämmchen fällt zu Boden und entzündet das trockene Gras. Brac löscht den Brand mit einer Handbewegung und blickt mich tadelnd an.
»Du verhältst dich irrational. Du bist ein Feuerwesen, also musst du das Feuer nicht fürchten.«
»Muss ich nicht?« Ich zeige ihm die Brandblasen auf meinen Handflächen. Sie sind zwar klein, aber sie schmerzen.
Brac ergreift meine Unterarme, lässt seine Kräfte in mich fließen und bringt meine Haut zum Leuchten. Winzige Flüsse aus Seelenfeuer bringen die Adern in meinem Arm zum Leuchten, und ich blicke gebannt auf die in mir sichtbaren Kräfte. »Du bist das Feuer, und das Feuer ist du«, erklärt er. »Wenn du das Feuer fürchtest, wird es sich gegen dich wenden. Das natürliche Feuer folgt unserem Willen, denn wir sind die Feuerwesen.«
Deven kommt zu uns herüber. Er vermeidet es, die leuchtenden Linien in meinen Armen anzusehen. »Ich glaube, es reicht für heute, Brac.«
Brac wirft seinem Bruder einen ärgerlichen Blick zu und lässt meine Arme los. Das Leuchten in meinen Armen verblasst, wie die Sterne am Morgen.
»Ich mische mich nicht in eure Übungen ein, also störe du nicht unsere.«
»Ich habe sie nicht verbrannt«, entgegnet Deven.
»Das reicht«, befiehlt Mathura ihren Söhnen und bringt mir ein Töpfchen mit Salbe, wobei sie das verletzte Knie nachzieht.
Deven hockt sich neben mich, während Mathura die kühlende Salbe auf die Brandblasen aufträgt. »Mach dir keine Vorwürfe, Kalinda«, tröstet sie mich. »Es ist völlig normal, vor Feuer Angst zu haben.«
Devens Blick verdüstert sich. Dass er uns unterbrochen hat, ärgert Brac genauso wie mich, aber aus verschiedenen Gründen. Deven will, dass meine Kräfte im Verborgenen bleiben, um mich zu schützen. Rajah Tarek hat Lügen über uns verbreitet, damit das Volk die Bhutas hasst. Und jetzt, nachdem der Bhuta-Warlord sie aus ihren Hütten vertrieben hat, könnten sie mich mit seinem Aufstand in Verbindung bringen. Bhutas sind zwar Halbgötter, aber sie sehen wie ganz normale Sterbliche aus, weshalb mein Volk nicht weiß, was ich bin. Aber ich vermute, Deven hat auch einen ganz persönlichen Grund, meine Kräfte abzulehnen, weil jede Erinnerung daran, dass ich ein Feuerwesen bin, bei ihm eine tiefe Ablehnung hervorruft.
Die Brandblasen hören auf zu schmerzen, und ein plötzlich aufkommender Wind zerrt an unseren Kleidern.
»Ich mag diesen Wind nicht«, sagt Natesa und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Obwohl sie seit Tagen kein Bad nehmen konnte, ist sie immer noch eine der schönsten Frauen von Tarachand.
Eine weitere Böe weht uns Sand ins Gesicht. Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf. Das ist kein natürlicher Wind. Etwas – jemand – nähert sich uns.
»Wo ist das Zhaleh, Kali?« fragt Deven.
Mein Herz setzt für einen Moment aus. »In meinem Beutel.«
Deven schlingt ihn sich über die Schulter, Yatin kehrt von seinem Wachposten zurück, und beide ziehen ihre Khandas aus den Scheiden. Ich packe meinen Dolch, meine verletzte Hand ist bereit, meine Kräfte freizusetzen. Mathura und Natesa stehen mit gezückten Waffen Rücken an Rücken. Die Kamele knurren und drängen sich aneinander, um sich vor den Windböen zu schützen.
Brac verlässt den Schein des Lagerfeuers, um herauszufinden, was sich uns nähert. Er verlässt das Lager, seine Gestalt verschwimmt zu einer Silhouette. »Dort!«
Ich erwarte, Rebellen zu sehen, aber stattdessen segelt ein riesiger Vogel über das Tal. Ich betrachte das riesengroße Federvieh, dessen Schwingen im Mondlicht geisterhaft silbern glänzen. Der Vogel ist so groß wie eine Kutsche, die Spannweite seiner Flügel ist größer, als ein Fuhrwerk lang ist. Ich habe noch nie etwas so Gigantisches in der Luft gesehen. Wir alle starren wie hypnotisiert auf dieses Wesen, beobachten, wie es elegant durch die Lüfte gleitet, sich dann nach rechts fallen lässt und direkt auf uns zukommt.
Brac kommt zurück ins Lager gerannt, aber der Vogel hat ihn bereits ausgemacht und setzt mithilfe des Windes zum Sturzflug an. Brac stolpert und fällt hin, das Ungeheuer fliegt über ihn hinweg und direkt auf mich zu.
Deven wirft mich zu Boden, wir rollen herum, und er bleibt zum Schutz zwischen mir und dem Himmel liegen. Der Riesenvogel stößt auf uns herab, während sich alle auf den Boden pressen und dort verharren, als das gigantische Wesen erneut emporsteigt. Es wird vom Mondlicht angestrahlt, und ich erkenne, dass es sich um ein eigenwilliges Fluggerät handelt. Gesteuert wird es von einem Jungen, der ausgestreckt in seinem Bauch liegt. Er lässt das Fluggerät herabsinken und streckt die Beine aus, bis die Füße den Boden berühren und er nach einem kurzen Lauf zum Stehen kommt.
Ein weiteres Fluggerät wird am Himmel sichtbar. Der vogelgleiche Apparat gleitet zwischen zwei Hügeln hindurch, und ein Mädchen landet ihn mit der gleichen Geschicklichkeit.
Deven und ich stehen auf, Yatin entlässt Natesa aus seiner schützenden Umarmung, und Mathura kommt hinter einem Felsen hervor. Der Junge und das Mädchen klettern aus ihren Fluggeräten. Ihre schlichte Kleidung lässt nicht erkennen, wer sie sind oder woher sie kommen. Nur eins ist sicher, sie sind Bhutas, Luftwesen, und ihre Fluggeräte gleiten auf den Winden, die sie heraufbeschwören. Das einzige Luftwesen, dem ich je begegnet bin, war Anjali, die hinterlistige Tochter des Warlords. Ich bündle mein Seelenfeuer in einer Hand und spüre, wie meine Finger zu glühen anfangen.
Brac stellt sich zwischen uns und unsere Besucher und schleudert ihnen einen Feuerstoß entgegen, um sie auf Abstand zu halten. Die Flamme erhellt ihre überraschten Gesichter und verlöscht. Sie heben ihre Hände in einer Geste des Friedens.
»Wir sind keine Rebellen«, sagt der Junge. Das dunkle Haar fällt ihm in die Stirn und rahmt seine kugelrunden Augen ein. Er tritt zögernd einen Schritt vor. »Wir wurden geschickt, um Euch zu finden.«
»Ihr habt uns gefunden. Nun geht wieder.« Brac stößt eine weitere Hitzewelle in ihre Richtung aus.
»Hör auf damit.« Das Mädchen ist klein und spindeldürr, ihre Lippen sind voll, die Nase ist flach und breit und ihr Blick entschlossen. Auch wenn sie unscheinbar wirkt, zeugen der Schwung ihrer schmalen Brauen und ihre hohen Wangenknochen von Schönheit und Intelligenz. Sie senkt ihre Arme, und ein Windstoß fegt Brac von den Beinen. Er schreit überrascht auf und stürzt zu Boden.
Ich schleudere meinen Dolch, dessen Spitze sich unmittelbar vor den Zehen des Mädchens in den Boden bohrt. »Das ist nah genug«, rufe ich.
»Hoheit.« Sie kniet nieder, und der Junge folgt ihrem Beispiel.
»Was wollt ihr?« Devens Tonfall ist genauso scharf wie seine ausgestreckte Klinge.
Das Mädchen, das wahrscheinlich nicht älter als sechzehn ist, und ihr jüngerer Begleiter zeigen uns einen versiegelten Brief.
»Wir bringen eine Nachricht von Bruder Shaan.«
Brac rappelt sich hoch, schnappt sich den Brief und geht rückwärts zu uns, um die beiden nicht aus den Augen zu lassen. Er reicht mir den versiegelten Brief, ich öffne ihn und lese.
Vertraut den Boten. Sie werden euch führen.
Ich reiche den Brief an Deven weiter. Er liest die knappen Anweisungen und legt die Stirn in Falten.
»Das ist Bruder Shaans Handschrift«, sagt er. Wie ich ist er nicht bereit, den Fremden so ohne Weiteres zu vertrauen. »Und es klingt auch nach ihm. Geheimnisvoll und allwissend.«
Ich blicke unsere jungen Besucher an und überlege, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie wissen, wer wir sind und dass sie eine Nachricht von Bruder Shaan für uns haben. Ich lasse meine glühende Hand sinken. »Hören wir uns an, was sie zu sagen haben.«
Brac fixiert die Windwesen mit wachsamem Blick, während sie in den Schein des Lagerfeuers treten. Auch Natesa und Mathura lassen ihre Waffen sinken, halten sie aber weiterhin in den Händen. Yatin stellt sich neben unsere Besucher, und das Mädchen blickt ihn argwöhnisch an.
»Dürfen wir uns setzen?« Der Junge lächelt scheu. »Unser Flug hat viele Stunden gedauert, und unsere Flügel sind erschöpft.« Er schlenkert mit den Armen. Niemand von uns rührt sich. Der Junge hustet verlegen in seine Hand. »Ich bin Opal, und das ist mein Bruder Rohan«, sagt das Mädchen.
»Nehmt Platz«, sage ich. Opal und ihr Bruder setzen sich nebeneinander, und ich begebe mich zu ihnen. Alle anderen behalten ihre wachsame und misstrauische Haltung bei. »Eure Fluggeräte sind bemerkenswert.«
»Gleitflügler«, korrigiert mich Opal. »Sie wurden in Paljor gebaut.«
Ihre unscheinbare Kleidung trägt keinerlei erkennbare Abzeichen, die sie mit den nördlichen Stämmen des Alpana-Gebirges in Verbindung bringen würde. Oder mit irgendeinem anderen Volk. »Seid ihr aus Paljor?«, wende ich mich an sie.
»Paljor ist die Heimat unserer Mutter«, antwortet sie mir.
»Wo ist Bruder Shaan?« fragt Deven.
»In Sicherheit. Wir haben ihn zum nördlichen Tempel geflogen, in dem sich Prinz Ashwin versteckt gehalten hat. Vor ein paar Tagen brachten wir beide nach Janardan, und seitdem sind wir in ihrem Auftrag auf der Suche nach Euch.«
Ein warmes Licht breitet sich in mir aus. Prinz Ashwin lebt. Mathura legt ihre Waffe weg und setzt sich zu uns.
»Warum hat der Prinz sein Reich verlassen?«, fragt Natesa und verschränkt die Arme. »Sein Volk braucht ihn hier.«
»Es wäre zu gefährlich«, entgegnet Opal. »Als Hastin bemerkt hat, dass Bruder Shaan aus Vanhi geflohen ist, hat er alle Brüder zusammentreiben lassen, um sie zu befragen.«
»Der Wind hat uns von ihrem Schicksal erzählt.« Rohans Gesichtsausdruck erinnert mich daran, dass der Wind den Luftwesen Geheimnisse mitteilt, die weder Sterbliche noch andere Bhutas wahrnehmen können.
»Anjali hat sie gefoltert, um den Aufenthaltsort des Prinzen in Erfahrung zu bringen. Aber da die Brüder schwiegen, hat Hastin seiner Tochter befohlen, sie leer zu saugen.«
»Abschaum«, sagt Brac. Er bemerkt meinen verwirrten Blick. »Luftwesen können mit ihren Kräften die Luft aus den Lungen ihrer Opfer saugen. Sie nennen das leer saugen.«
»Nur unmoralische Luftwesen setzen ihre Kräfte dafür ein«, äußert Opal mit Widerwillen. »Und keiner der Brüder wusste, wo der Prinz sich versteckt hält, nur Bruder Shaan.«
Ich spüre, wie mein Mund trocken wird. Mathura nimmt einen Zug aus ihrer tragbaren Wasserpfeife, um die Gedanken an die Folterung zu verdrängen. Ich bin versucht, sie um einen Zug von dem beruhigenden Rauch zu bitten.
»Und die kaiserlichen Wachen?«, fragt Deven mit angespannter Stimme. Er hat sich bisher geweigert, über die Palastwache zu sprechen, aber das Gerücht, dass die Männer hingerichtet wurden, scheint an ihm zu nagen.
»Hastin ließ die Wachen steinigen und die höherrangigen Offiziere enthaupten«, antwortet Rohan.
Deven erbleicht. Ihm und Yatin wäre das Gleiche widerfahren, wären sie nicht mit mir geflohen. Ich bin krank vor Sorge um die Ranis und Kurtisanen, die Hastin gefangen hält.
»Wie lauten die Befehle des Prinzen?«, frage ich.
Rohan richtet seinen Blick auf mich. »Er bittet Euch, ihn in Iresh zu treffen und seine Gäste im Beryllpalast des Sultans zu sein.«
Iresh ist die Hauptstadt des Sultanats von Janardan. Beherrscht wird es von Sultan Kuval, den, Gerüchten zufolge, Rajah Tarek verachtete. Als Tarek seine Jagd auf die Bhutas begann, bot der Sultan ihnen Zuflucht in Iresh. Tareks Plan hatte vorgesehen, auch diese Flüchtlinge zu töten, nachdem er die Bhutas innerhalb der Grenzen seines Reichs ausgelöscht hatte.
Deven stößt die Spitze seines Schwerts in den Boden und stützt sich auf den Griff. »Aus welchem Grund benötigt der Prinz Kali?«
»Prinz Ashwin wandte sich an den Sultan, um militärische Unterstützung zu bekommen«, antwortet Opal, »aber der Prinz ist kein erfahrener Herrscher. Ihre Hoheit genießt überall hohes Ansehen, und die Flüchtlingslager werden immer voller. Der Prinz braucht sie, um die Gunst seines Volks zu erlangen. Sie brauchen einen Herrscher, den sie kennen und dem sie vertrauen.«
»Ich bin als Anführer nicht erfahrener als Prinz Ashwin«, antworte ich zurückhaltend.
»Ihr habt das Turnier gewonnen und Euch damit die Anerkennung des Volkes erworben«, insistiert Opal. »Der Prinz glaubt, dass Eure Unterstützung den Flüchtlingen Vertrauen gibt und gleichzeitig den Sultan davon überzeugt, uns Truppen zur Verfügung zu stellen, um Hastin aus Vanhi zu vertreiben.«
Ich stimme ihr nur ungern zu, aber ich kann verstehen, warum die Bürger von Tarachand den Prinzen als Fremden ansehen. Sein ganzes Leben lang musste er sich versteckt halten. Vermutlich könnte ich dem Volk gut zureden, bis er sich ihre Ergebenheit verdient hat.
Und dann werde ich den Thron für immer aufgeben.
Ich erhebe mich. »Ich muss das mit meinen Freunden besprechen. Allein.«
Opal und Rohan entfernen sich, aber Rohan bleibt plötzlich stehen. »Habt Ihr etwas zu essen für uns?« Mathura reicht ihm einen Beutel mit getrockneten Datteln. Rohan leckt sich die Lippen, als er den großen Sack mit Vorräten erblickt. »Sind das Cashewnüsse?«
»Die Datteln reichen uns«, sagt Opal und zieht ihren Bruder fort.
Brac betrachtet die beiden mit einem skeptischen Blick, als sie sich neben ihren Fluggeräten niederlassen und die Früchte teilen. »Du weißt, dass sie alles mit anhören können«, bemerkt er.
»Ich weiß«, antworte ich seufzend. »Aber wenigstens haben wir so den Anschein von Ungestörtheit.«
Ich blicke reihum in die Gesichter meiner Freunde und hoffe auf deren Unterstützung. Ich habe sie dazu überredet, mir bis hierhin zu folgen, aber das Reich, ihre Heimat, zu verlassen, ist ziemlich viel verlangt.
»Also wissen wir jetzt, wo sich der Prinz befindet«, beginne ich vorsichtig.
»Ich kann kaum glauben, dass er geflohen ist.« Der Vorwurf in Natesas Stimme ist nicht zu überhören. »Er hat uns im Stich gelassen, er hat sein Volk im Stick gelassen.«
»Er ging fort, um Hilfe zu suchen, kleiner Lotus«, sagt Yatin. Natesas finsterer Blick hellt sich auf, als er sie mit ihrem Kosenamen anspricht.
»Das stimmt«, füge ich vorsichtig an. Ich muss Yatin später für seine Unterstützung danken. »Der Prinz braucht unsere Hilfe.«
Brac legt nachdenklich den Kopf schräg. »Ich habe nicht gezögert, Prinz Ashwin einen Feigling zu nennen, aber es stimmt, dass er sich um Hilfe bemühen musste.« Natesa murmelt eine spitze Bemerkung. Sie hat sich inzwischen an die Brüder gewöhnt. An Deven, der sich von ihr nicht herumschubsen lässt, und an Brac, dessen Kräfte sie beim ersten Treffen zu spüren bekommen hat. Vermutlich ist sie deshalb Deven gegenüber nachsichtiger. »Also sollten wir uns aufmachen«, schließt er.
»Auf keinen Fall.« Deven zieht eine eindeutige Grenze. »Der Sultan könnte den Prinzen dazu benutzen, Kali in sein Reich zu locken.«
Brac erwidert den düsteren Blick seines Bruders. »Die kaiserlichen Truppen befinden sich in Auflösung. Unsere Soldaten versuchen, einem Krieg zu entfliehen, auf den sie nicht vorbereitet sind. Wir benötigen eine Armee, die es mit Hastin aufnehmen kann. Die Garde des Sultans besteht aus Bhutas, und niemand kann Bhutas besser bekämpfen als Bhutas.«
»Keine Armee aus Sterblichen wird Hastin schlagen können«, stimmt Yatin mit seiner tiefen Stimme zu. »Die Besetzung von Vanhi hat das bewiesen.«
»Sobald wir uns in Janardan befinden, werden wir unter der Herrschaft des Sultans stehen«, argumentiert Deven.
»Sind wir hier etwa sicherer?«, höhnt Natesa.
Das gilt natürlich auch für das Zhaleh. Ich zögere, das heilige Buch zu erwähnen, weil ich nicht weiß, wie viel Opal und Rohan wissen, aber Bruder Shaan scheint überzeugt zu sein, dass es in Janardan in Sicherheit sein wird. Ich schweige und warte darauf, dass Mathura sich äußert.
Sie zieht an ihrer Pfeife und antwortet schließlich in einer Wolke von Rauch: »Ich wollte schon immer mal das Sultanat kennenlernen.«
Deven blickt finster in die Runde. Ich gehe zu ihm hinüber und ziehe ihn vom Schein des Lagerfeuers fort. Schweigend starrt er auf seine staubigen Stiefel.
»Das könnte unsere beste Chance sein, Hastin zu besiegen«, beginne ich.
»Das verstehe ich … aber ich …« Deven blickt mich flehend an. »Lass uns das beenden, Kali. Lass den Prinzen seinem eigenen Weg folgen. Es ist sein Reich und sein Krieg. Er wird auch ohne uns einen Weg finden, mit Hastin fertig zu werden.«
»Und wenn nicht? Was dann?« Ich spüre, wie das Gewicht, das der Thron und die damit verbundenen Verpflichtungen mir auferlegt, mich niederdrückt. Prinz Ashwin muss den Thron besteigen, um mich davon zu befreien. »Wir werden erst frei sein, wenn der Prinz an der Macht ist.«
»Und wenn er nicht fähig ist zu herrschen? Er ist Rajah Tareks Sohn.«
»Nicht jeder Sohn ähnelt seinem Vater.«
Deven senkt den Blick und starrt wieder auf seine Stiefel. Sein Misstrauen gegenüber dem Prinzen passt so gar nicht zu ihm. Er hatte geglaubt, es wäre seine Bestimmung, dem Rajah zu dienen, aber das änderte sich, als wir unsere Flucht planten und er deshalb als Verräter angeklagt wurde.
Ihr Götter, macht Deven mir zum Vorwurf, dass Tarek ihn seines Kommandos enthoben hat? Ich kann mein Gewissen jetzt wahrlich nicht mit noch einem gebeutelten Schicksal belasten.
Devens sanfte Stimme durchbricht das Schweigen. »Ich sorge mich um deine Sicherheit.«
Ich trete zu ihm, streiche mit den Fingern über seinen Nacken und die weichen Locken und versuche, mich zu erinnern, wann wir uns das letzte Mal geküsst haben.
»Die Freiheit ist so nah.« Meine Stimme klingt wie bei einem inbrünstigen Gebet, aber mein Optimismus berührt ihn so sehr, dass sein Blick weich wird und seine verkrampften Schultern sich lockern.
»Also gut«, sagt er schließlich.
Ich umarme ihn voller Dankbarkeit und spüre seine Arme, die mich umfangen. Der Duft nach Sandelholz, den seine Haut verströmt, wirkt beruhigend, und ich lasse mich von der Wärme seines Körpers einhüllen. Als ich mich in seine Arme schmiege, glättet sich die Falte zwischen seinen Augenbrauen, und seine dunklen Augen blicken sanfter. Für einen glücklichen Moment ist die Anspannung zwischen uns verschwunden.
Die Geschwister treten zu uns ans Feuer. »Es war nicht zu überhören, dass ihr eine Entscheidung getroffen habt«, sagt Rohan.
»Wir werden den Prinzen treffen«, sage ich.
»Wie wär’s, wenn wir gleich aufbrechen?«, schlägt Opal vor.
»Warum das?«, erwidert Natesa trotzig. »Werdet ihr erst bei Lieferung entlohnt?«
»Wir erhalten keinerlei Lohn«, entgegnet Rohan. »Die Rebellen kommen näher.«
Deven lässt meine Hand los und tritt an den Felsvorsprung. In der Ferne braut sich ein Sturm zusammen.
Brac wirft den Luftwesen einen wütenden Blick zu. »Man hat euch verfolgt?«
»Wir dachten, wir hätten sie abgeschüttelt«, erwidert Rohan mit vor Verlegenheit gesenktem Kopf.
Meine Haut kribbelt bei den ersten unheilvollen Windböen, die unser Lager erreichen. Ohne ein Wort zu verlieren, machen wir uns daran, unsere Sachen zu packen.
»Unsere Fluggeräte können zusätzlich vier Personen aufnehmen«, sagt Opal.
Der Wind nimmt zu, und durch das Tal kommt ein Sturm mit silbern zuckenden Blitzen und einem Vorhang aus Sand auf uns zu. Donnergrollen lässt die Kamele schreien und sich niederkauern, um sich vor dem nahenden Sturm zu schützen.
Ich trete an die Klippe und sehe, wie das Unwetter heraufzieht. Leuchtende Blitze enthüllen die Silhouette einer jungen Frau, die im Zentrum des riesigen Sturms schwebt. Anjali, die Tochter des Warlords.
»Opal«, brüllt Deven, »nimm Kali mit, und macht Euch auf den Weg.«
Ich wirble herum. »Ich bleibe. Ich bin es, die Anjali will.« Ich habe ihren Vater betrogen, indem ich mit dem Zhaleh geflohen bin. Also werde ich ihr gegenübertreten müssen.
»Kali«, sagt er mit bemerkenswerter Ruhe, »du musst wie eine Rani handeln. Dich zu schützen bedeutet, das Reich zu schützen.«
Muss das Reich wirklich an erster Stelle stehen, noch vor mir, vor ihm, vor uns? Mein Pflichtgefühl sagt Ja, das Wohl des Reichs hat oberste Priorität.
»Was ist mit dir?« Ich greife nach seinem Arm, während wir uns gegen den stärker werdenden Sturm stemmen.
»Wir werden sie aufhalten und kommen dann nach.« Er legt den Beutel mit dem Zhaleh über meine Schulter. »Bruder Shaan sagte, dass wir den Luftwesen trauen können, sei aber dennoch wachsam.«
Panik steigt in mir hoch, ich packe ihn an seinem Umhang und ziehe ihn dicht an mich. »Versprich mir, dass wir uns in Janardan wiedersehen.«
»Ich verspreche es.« Deven packt mein Kinn, und seine Hand zittert vor Anspannung. Ein Teil von mir ist erleichtert, aber wenn Deven beunruhigt ist, dann haben wir wirklich Grund, uns zu fürchten. Er streicht mir mit dem Daumen über die Wange und tritt dann hinaus in den heftigen Sturm.
Die Kamele fürchten die tosenden Gewalten und versuchen, sich vor ihnen zu verstecken. Deven geht mit Mathura hinter einem Felsen in Deckung, und Yatin tut dasselbe mit Natesa. Brac hat sich weiter vorn flach auf den Boden gelegt.
Durch den umherwirbelnden Sand renne ich zu Opals Fluggerät. Opal hat um sich herum eine Luftblase geschaffen, in der es so still ist wie im Auge eines Orkans. Ich hechte in die sichere Zuflucht und atme dankbar die klare Luft.
»Steigt ein, und haltet Euch an der Navigationsleiste fest«, ruft sie mir zu.
Ich klammere mich an die Bambusleiste, und ein breiterer Querträger stützt meine Hüfte, sodass ich wie auf einer Plattform über dem Boden liege. Opal klettert neben mich, als eine starke Böe die mit Leinwand bespannten Flügel ergreift, um sie wie trockene Blätter von einem Baum zu reißen. Doch sie hält den Gleiter unter Kontrolle, und wir erheben uns in die Lüfte.
Eine Sturmböe packt uns – Anjali ist schon sehr nah. Opal kämpft, um den Gleiter zu stabilisieren, während ein Flügel beinahe den Boden berührt. Rohan formt ein Luftkissen unter uns, das uns hilft, die Schräglage zu korrigieren, und ein weiterer, exakt platzierter Windstoß lässt uns schließlich hoch in den Nachthimmel steigen. Ich schließe die Augen und lasse den Tränen freien Lauf. Es könnte so wundervoll sein, wenn es nicht so schrecklich wäre.
Hagel prasselt auf und herab. Unterhalb von Anjalis Windtunnel reitet eine junge Frau, die ihre Arme dem Sturm entgegenreckt. Indira, ein Wasserwesen, peitscht die Gewitterwolken voran. Zwei Bhutas gegen zwei Bhutas klingt nach einem fairen Kampf, aber meine Freunde hätten bessere Siegchancen, wären Opal und ich bei ihnen.
»Dreh um«, rufe ich ihr zu. »Sie brauchen unsere Hilfe.«
»Ich habe meine Befehle!«
Ihre übermächtigen Winde treiben uns gen Osten, fort von Tarachand. Fort von unseren Freunden und Familien. Fort von Deven.
Opals Fluggerät dreht nach Osten ab, fort von dem tosenden Sturm.
Den Göttern sei Dank. Kali konnte entkommen.
Peitschender Regen durchnässt mich. Anjali schwebt vor uns, ein Windtunnel aus Hagelkörnern wirbelt um sie herum.
Während Rohan zum zweiten Fluggerät rennt, schickt Brac aus seiner Deckung eine Hitzewelle in ihre Richtung. Sturm und Regen lassen das Feuer in Rauch aufgehen. Anjalis Sturmböen schieben den Felsen, hinter dem mein Bruder sich verbirgt, zur Seite. Er sprintet zu mir und Mutter herüber und geht neben uns in Deckung. Anjali peitscht unermüdlich Wind gegen unsere Felsen. Ich kauere mich über Mutter, während uns der Hagel auf den Rücken prasselt. Ich wurde für den Kampf ausgebildet, aber hier ist mein Schwert nutzlos. Gegen diese Kräfte kann ich meine Familie nicht verteidigen. Aus dem Augenwinkel nehme ich einen Schatten wahr. Rohan ist mit seinem Gleiter aufgestiegen. Anjali bündelt ihre Kräfte und schleudert sie mit voller Kraft in seine Richtung. Er wirbelt herum, gefangen im Innern des Wirbelsturms.
»Hilf ihm«, befehle ich Brac.
Er schießt eine Reihe von Feuerstößen auf Anjali, einer schwächer als der andere. Nichts scheint ihre Kräfte schwächen zu können. Bracs Hände glühen kaum noch.
»Das wird dir jetzt nicht gefallen, Deven«, sagt er und berührt mein Gesicht. Seine Kraft lässt mich innehalten, und das Licht in mir beginnt zu zucken. Er entzieht mir mein Seelenfeuer, als wäre es ein loser Faden, dann lässt er mich los. Alle Kraft scheint aus meinem Körper zu weichen, und ich sinke in den Schlamm.
»Brac, was hast du getan?«, fragt Mutter.
»Ich habe mir sein Seelenfeuer ausgeborgt.« Seine Hände glühen wieder. Die Götter schufen die Menschen mit einem Feuer in ihrer Seele, und mein Bruder hat mir meines gestohlen.
Er geht um den Felsen herum und schleudert ein Feuerband in die Luft. Ich beobachte, wie das Feuer, die Kraft, die er mir entzogen hat, auf Anjali zurast. Sie wehrt die Hitzewelle mit einem Windstoß ab und richtet sie gegen Rohan. Sein Fluggerät fängt Feuer und gerät in den freien Fall. Die brennende Tragfläche neigt sich dem Felsvorsprung zu und kreiselnd und trudelnd stürzt es dem Tal entgegen. Rohan springt im letzten Moment ab und rollt sich hinter einen Felsen. Das Fluggerät verschwindet aus unserem Sichtfeld und schlägt mit einem lauten Knall im Tal auf.
Anjali jagt Rohan einen weiteren Windstoß hinterher. Er presst sich auf den Boden und schützt den Kopf mit seinen Armen. Ich springe auf, um ihm zu helfen, aber der unablässige Hagel aus Staub und Steinen zwingt mich zurück in die Deckung. Doch dann, ohne jegliche Vorwarnung, legt sich der Sturm, und der Regen hört auf.
Yatin späht vorsichtig über den Rand des Felsens, der ihn und Natesa schützt. »Sie zieht ab.«
Mühsam und mit wackligen Beinen erhebe ich mich. Anjali hat ihren Windtunnel nach Osten gelenkt. Mein Herz klopft wie wild.
»Sie verfolgt Kali.« Ich stolpere an den Rand der Klippe, Rohan an meiner Seite. Ich packe einen Stein von der Größe einer Melone. »Kannst du den hier beschleunigen?«
»Wirf ihn hoch«, antwortet er.
Anjali entfernt sich immer weiter. Ich ziele und werfe den Stein in ihre Richtung. Rohan lässt eine Druckwelle entstehen, die den Stein in hohem Bogen wegschleudert. Ich verliere ihn in der Dunkelheit aus den Augen, doch dann ebben Anjalis Wirbelstürme plötzlich ab, und sie stürzt zu Tal. Staubwolken erheben sich an ihrer Absturzstelle. Schweigen umfängt uns.
Rohan neigt sein Ohr gen Himmel. »Sie atmet.«
»Das kannst du hören?«, fragt Natesa ungläubig.
»Ich kann sie und noch jemanden hören«, antwortet Rohan. »Sie hatte eine Gehilfin, die den Sturm gelenkt hat, ein Wasserwesen. Ich höre ihre Herzschläge wie Grillen in der Nacht. Das Wasserwesen nähert sich ihr auf einem Pferd.«
»Kannst du das Fluggerät reparieren?«, frage ich ihn, eine Hand auf meine Brust gepresst. Ich fühle mich immer noch benommen und ausgelaugt von Bracs Aktion.
»Der Regen hat das Feuer gelöscht, bevor es größeren Schaden anrichten konnte«, antwortet er. »Ich kann den Flügel in einer halben Stunde wieder herrichten.«