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Sie kämpft für ihre Liebe und das Schicksal ihres Volkes!
Die achtzehnjährige Kalinda ist behütet bei der Heiligen Schwesternschaft aufgewachsen. Doch ein Besuch des Tyrannen Rajah Tarek reißt sie abrupt aus ihrem friedlichen Leben heraus. Sie soll die hundertste Ehefrau des Herrschers werden - ein Platz, den sie gegen die anderen Ehefrauen und Kurtisanen Tareks im Zweikampf verteidigen muss. Ihr einziger Trost in der feindseligen Welt des Hofes ist ihr junger Leibwächter Deven Naik. Ihn zu lieben ist ihr verboten, doch Kalinda begreift schon bald, dass sie niemals die Frau des grausamen Tarek sein kann. Ihre einzige Chance liegt in der verborgenen Macht, die tief in ihr schlummert ...
"Oh mein Gott, dieses Buch war genial! Emily R. King hat eine Welt voller Magie, Romantik und atemberaubender Kämpfe geschaffen." TWO CHICKS ON BOOKS BLOG
Band 1 von "Die letzte Königin"
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Seitenzahl: 468
EMILY R. KING
Die letzte Königin
Das schlafende Feuer
Roman
Ins Deutsche übertragen von Beate Bauer
Die junge Kalinda wird seit ihrer Kindheit von einem seltsamen Fieber heimgesucht und ist behütet bei der Heiligen Schwesternschaft aufgewachsen. Doch ein Besuch des Tyrannen Rajah Tarek reißt sie abrupt aus ihrem friedlichen Leben heraus. Sie wird erwählt, die hundertste Ehefrau des Herrschers zu werden – und somit auch seine letzte. Denn mehr Frauen zu ehelichen, als es der Gott Anu der Legende nach tat, wäre ein Sakrileg. Kalinda weiß, dass sie sich glücklich schätzen sollte, doch die Ehre, die ihr zuteilwird, ist in Wirklichkeit ein Fluch. Der eitle und rücksichtslose Tarek löst in ihr nur Abscheu aus – und zudem muss sie im Zweikampf gegen die anderen Frauen des Herrschers ihren Platz in der Rangfolge der Königinnen verteidigen. Ihr einziger Trost in der feindseligen Welt des Hofes ist ihr junger Leibwächter Deven Naik. Ihn zu lieben ist ihr verboten, doch Kalinda weiß schon bald, dass sie niemals die Frau des grausamen Tarek sein kann. Als das Fieber, das sie immer als ihre Schwäche sah, sich als Zeichen für eine schlummernde Macht offenbart, begreift sie, dass dies ihre Chance auf Freiheit sein könnte. Doch damit sie ihr Volk von der Tyrannei erlösen und ihrem Herzen folgen kann, muss sie zuerst dem Tod ins Auge sehen …
Für John
Die im Tarachandischen Reich ausgeübte Religion, der Parijana-Glaube, ist eine Fiktion, abgeleitet von der Religion der Sumerer und deren Götterglauben. Der Parijana-Glaube und das Tarachandische Reich stehen weder für eine bestimmte Epoche oder Gemeinschaft noch für einen bestimmten Glauben. Jede Ähnlichkeit mit anderen Religionen oder Herrschaftsstrukturen ist rein zufällig, ebenso die mit tatsächlichen Personen oder Ereignissen.
Schneebedeckte Berge ragen in den aschgrauen Himmel, ihre kantigen Gipfel sind perlmuttfarben wie Wolfszähne. Der kalte Wind ist beißend auf meinen bloßen Wangen und ungeschützten Händen. Der eisige Innenhof des Tempels ist verwaist, keine der anderen Töchter und Schwestern, die hier wohnen, ist zu sehen. Nur meine beste Freundin ist bei mir.
»Schlag mich hierhin«, fordert Jaya mich auf und zeigt auf ihren Hals.
Ich lege die Stirn in Falten und umklammere die Bambusstange.
»Ich habe das schon tausendmal mitgemacht«, sagt sie. »Vertrau mir, Kalinda.«
Jaya ist die einzige Tochter im Tempel, der ich wirklich vertraue, also hole ich mit dem Stock aus und ziele auf ihre Halsschlagader. Sie packt den Stock mit beiden Händen und macht einen Satz zurück. Weil ich das andere Ende noch immer festhalte, werde ich mitgerissen, mache dabei eine leichte Drehung. Jaya zerrt an dem Stock, entreißt ihn mir und lässt das lange Ende auf meine Schulterblätter herabsausen. Der Schlag der Bambusstange erzeugt einen hohlen Knall, und ich sinke auf die Knie in den Schnee.
Jaya richtet sich zu ihrer vollen Größe auf. Sie ist einen Kopf kleiner als ich. »Du hättest loslassen sollen.«
Ich beiße die Zähne zusammen. Jaya ist nicht hämisch. Sie weiß, dass ich dieses Manöver meistern muss, eines von mehreren, die ich bereits beherrschen sollte und auch beherrschen würde, hätte ich nicht jahrelang in einem Krankenbett gelegen. Inzwischen geht es mir gut, auch wenn man es meinen Kampfkünsten nicht ansieht.
Ich stehe auf, und mein Rücken brennt beinahe genauso wie mein verletzter Stolz. »Noch mal.«
Jaya gibt mir die Stange und reibt sich die Hände, damit sie warm werden. Ich muss in einem meiner früheren Leben etwas Außergewöhnliches getan haben, dass mich die Götter mit solch einer Freundin belohnen. Sie harrt so lange hier draußen in der Kälte aus, wie ich möchte, den winterlichen Launen der Alpana-Berge ausgesetzt.
Ich schwinge den Stock erneut. Jaya packt ihn und zieht kräftig daran, ohne zu zögern oder ihre Kraft zu drosseln. Ich lasse nicht los, wir umklammern beide die Stange, stehen uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber, während sich unsere silbrigen Atemwölkchen in der froststarren Luft vermischen. Mein Verstand ist wie gelähmt. Ich kann mich daran erinnern, welches Buch ich zuletzt gelesen und was ich zuletzt gezeichnet habe, aber ich weiß nicht mehr, was ich als Nächstes tun soll.
»Dreh ihn ganz schnell und zieh«, hilft mir Jaya auf die Sprünge.
Ich drehe den Stock so schnell ich kann. Jayas Handgelenke können sich nicht mitdrehen, weshalb sie gezwungen ist, loszulassen. Endlich habe ich die Oberhand. Ich ramme ihr das kurze Ende der Stocks gegen die Brust. Sie kippt nach hinten und rutscht auf einem Stück Eis aus. Ich packe ihren Arm, bevor sie stürzt.
»Entschuldige«, sagte ich. »Ich hätte dich warnen sollen.«
»Ich hätte das Gleiche getan.« Jaya zieht einen Mundwinkel hoch. »Ich hätte dich fallen lassen.«
Das war nur gerecht. Ich darf morgen bei meiner ersten Eignungsprüfung nicht unvorbereitet sein, oder meine Gegnerinnen lachen mich aus dem Ring. Mit den jüngeren Mädchen auf Anfängerniveau zu trainieren und mich dann von ihnen schlagen zu lassen, war schon demütigend genug. Vor zwei Tagen habe ich dann endlich meinen Kampf gewonnen und bin in meine Altersgruppe aufgerückt, aber im Vergleich mit den anderen Achtzehnjährigen bin ich noch immer ziemlich unerfahren.
Ich streiche mir mit dem Handrücken über die Stirn und bin erleichtert, dass sie kühl ist. Seit Heilerin Baka ein Tonikum gebraut hat, das mein chronisches Fieber senkt, hat sich mein gesundheitlicher Zustand verbessert, doch ich muss viel nachholen und großes Geschick beweisen.
»Bereit für eine weitere Runde?«, frage ich.
Jaya streicht sich ihr tiefschwarzes Haar aus den Augen und nimmt mir die Stange aus der Hand. »Mal sehen, ob du mich diesmal aufhalten kannst«, sagt sie.
Ich grinse und nehme die Herausforderung an. Sie weiß, dass meine Stärke in der Abwehr liegt. Sie versucht, mein Selbstvertrauen als Zweikämpferin zu stärken, und bei Gott, ich liebe sie dafür.
Plötzlich ist ein Geräusch von der anderen Seite der hohen Tempelmauer zu hören, das wie das Rumpeln von Steinen klingt. Wir verharren reglos und spitzen die Ohren.
Jaya blickt mich durchdringend an. »Es kommen Wagen.«
Und das bedeutet, dass Besucher auf dem Weg zu uns sind. Genauer gesagt Männer. Ich lausche den Geräuschen, die sich nähern, noch aufmerksamer. Unzählige Geheimnisse umgeben unseren geschlechtlichen Gegenpart, doch ich bin eher neugierig als ängstlich. Ich schnappe mir meine Steinschleuder und gehe in Richtung Tor.
»Kali, warte!« Jaya zieht mich zurück. »Du darfst das Tempelgelände nicht allein verlassen.«
»Dann komm mit.«
Sie nagt an ihrer Unterlippe. Ich werfe einen Blick zum Tor. Viel Zeit haben wir nicht. Die Schwestern werden unser Fehlen bemerken und uns holen kommen. Der Tempel besitzt keine Fenster – damit wir die langen Winter durchstehen und um unsere Unschuld – oder unsere Unwissenheit – zu bewahren. Dies ist unsere erste und vielleicht letzte Gelegenheit, die Ankunft einer Reisegesellschaft zu sehen.
Jayas Blick schnellt zum Tor. »In Ordnung. Rasch.«
Wir reißen das Tor auf und flitzen zu einer Felszunge, von der aus man die Straße überblicken kann, die einzige Verbindung, die zum Samiya-Tempel führt. Ich ducke mich hinter einen der wenigen Büsche, während meine Sinne verrücktspielen. Jaya schließt sich mir an, sie zittert im eisigen Wind. Das stete Klappern schwillt an. Ich nehme einen Stein und spanne den Gummizug meiner Schleuder. Die Schwestern haben uns vor Bhutas gewarnt, die sich in den nahe gelegenen Höhlen verstecken. Niemand hat je diese bösen Teufel mit ihren dunklen Kräften gesehen, aber ich bin gern vorbereitet.
Eine Karawane kommt in Sicht, mit Waren beladene Wagen, die von Pferden gezogen werden. Mir knurrt der Magen. Die letzte Lebensmittellieferung ist drei Monate her.
Jaya stößt mich mit dem Ellbogen an. »Kali, sieh doch.«
Eine vergoldete Kutsche mit gerundetem Dach, die von einem Schimmelgespann gezogen wird, müht sich den holprigen Weg entlang. Die goldene Kutsche ist das Schönste, was ich je gesehen habe, doch ein eisiger Schauer durchfährt mich. Ich kann nicht erkennen, wer drinsitzt. Jemand aus dem Palast des Rajahs ist nach Samiya gekommen, und die Wohltäter machen die Reise aus dem Tal hier herauf nur aus einem Grund: um eine Forderung zu stellen.
Jaya zieht ein so finsteres Gesicht, dass sich ein Kranich auf ihrer Unterlippe niederlassen könnte. Ich bin von klein an in der Schwesternschaft des Parijana-Glaubens erzogen worden, doch sie wurde erst im Alter von acht Jahren in den Tempel gebracht. Nachdem sie mir von ihren schrecklichen Erinnerungen an ihr Leben davor erzählte, hatte ich tagelang Magenschmerzen.
Mehrere Reiter kommen in Sicht. Mein Herz pocht. Der Anführer ist am deutlichsten zu erkennen; er hat lange Beine und einen kastenförmigen, kräftigen Brustkorb. Er ist der erste Mann, den ich mit eigenen Augen sehe. Ich reiße sie auf, um alles in mich aufzusaugen. Er ist faszinierender als die Wandmalereien in der Kapelle des Himmelsgottes Anu und seines Sohnes Enlil, des Feuergottes. Ich möchte ihn gern aus der Nähe sehen.
Mit der schussbereiten Schleuder stehe ich auf, um eine bessere Sicht zu haben – und stehe vollständig im Sichtfeld von Priesterin Mita, der Oberin des Tempels, die uns hereinruft. Jaya gehorcht augenblicklich. Ich folge langsam und hoffe darauf, noch einen Blick auf den Anführer zu erhaschen, doch es ist zu spät, um sein Gesicht noch einmal zu sehen.
»Kalinda«, faucht die Priesterin.
Ich haste in den Innenhof. Jaya nimmt die beiden Blumentöpfe, die sie hinausgestellt hat, damit die Setzlinge ein wenig Sonne bekommen, und drückt sie an sich. Priesterin Mita scheucht uns durch den dunklen Tempeleingang. Rauchkringel, die nach Sandelholz riechen, steigen von den stets brennenden Räucherstäbchen auf, die im Gang aufgestellt sind, um den Modergeruch zu überdecken. Die Priesterin reicht uns angezündete Öllampen.
»Was habt ihr vor dem Tempel gemacht?« Obwohl sie eine kleine, gebeugte Frau ist, kann ihre Autorität einen Berg zum Erbeben bringen.
Ich wappne mich gegen ihren finsteren Blick. »Jaya hat mir dabei geholfen, für die Eignungsprüfungen zu trainieren.«
»Was habt ihr auf der Straße gesehen?«
»Nichts.«
Sie bläht ihre Nüstern. »Ist das wahr, Jaya?«
Jaya senkt den Blick. »Ja, Priesterin.«
Der Gesichtsausdruck der Priesterin entspannt sich. Sie glaubt Jaya eher als mir. Letztes Jahr erwischte mich die Priesterin dabei, wie ich unerlaubt den Nordturm betrat. Ich hatte genug von meiner Bettlägerigkeit, und ich schlich mich oft in das nur eingeschränkt zugängliche Observatorium, um frische Luft zu schnappen. Jahrelang schlich ich mich unbemerkt auf Zehenspitzen hinauf, bis sie mich eines Abends unverhofft auf der Treppe ertappte. Seither ist die Tür zum Turm abgeschlossen, und ihr Vertrauen zu mir hat Priesterin Mita gemeinsam mit dem Schlüssel weggesperrt.
»Geh zum Abendessen, Jaya«, befiehlt die Priesterin.
Meine Freundin schenkt mir einen zögerlichen Blick und geht, das Licht ihrer Lampe erhellt ihr den Weg den Gang entlang.
Priesterin Mita blickt mich durchdringend an. »Du weißt, dass es nicht erlaubt ist, den Tempelgrund zu verlassen, Kalinda«, sagt sie. Dann wird ihre Stimme auf einmal fürsorglich. »Gefällt es dir hier?«
»Ja, Priesterin.«
Das ist mein Zuhause. Ich würde den höchsten Gipfel der Alpanas besteigen, um es zu beschützen, doch wenn sich die Gelegenheit bieten würde, würde ich es ebenfalls tun, um noch einen Blick auf den Anführer der Soldaten zu erhaschen. Ich senke den Kopf so, dass das Licht der Lampe nicht mehr auf mein Gesicht fällt, um mein Erröten zu verbergen.
Priesterin Mita schnalzt mit der Zunge. »Konzentriere dich auf deinen Unterricht, deine Schwestern und deine Hingabe. Welche der fünf göttlichen Tugenden schätzen die Götter am meisten?«
»Gehorsam«, murmle ich. Ich verkneife mir zu sagen, dass ich bezweifle, dass die Götter uns nur eine Möglichkeit lassen. Doch wenn es um Die Forderung geht, hat keiner von uns überhaupt eine Wahl.
»Du vergisst besser nicht, wo dein Platz hier ist«, sagt Priesterin Mita und scheucht mich weg, während sie davongeht, um den Reisetross zu begrüßen.
Als sie fort ist, starre ich auf die geschlossenen Türen des Tempeleingangs. Ich könnte sie einen Spalt breit öffnen und einen Blick auf die Männer werfen, aber ich will Priesterin Mita nicht noch mehr reizen. Ich kann von Glück sagen, dass sie mich nicht bestraft hat.
Der Schein meiner Lampe weist mir den Weg zum Speisesaal. Meine Schritte hallen durch die Gänge des Tempels, in dem die Lehre über Die Forderung so alt ist wie dessen Fundamente selbst. Vor langer, langer Zeit war der Tempel von der Erdgöttin Ki errichtet worden, um verwaisten Mädchen, ob noch Kind oder schon junge Frau, als Zufluchtsstätte zu dienen. Wie alle Tempel des Parijana-Glaubens existiert er nur durch die Geldzuwendungen von Wohltätern. Doch die Großzügigkeit ebenjener ist nicht umsonst. Sie können zu jedem Tempel der Schwesternschaft reisen und ein Mündel verlangen – um ihre Dienerin, Kurtisane oder Frau zu werden.
Ich beschleunige meine Schritte. Ich will für keine dieser Rollen auserwählt werden. Ich will überhaupt nicht auserwählt werden. Die meisten Töchter können es nicht erwarten, diese abgelegene Festung zu verlassen, doch sie verlassen sie nur, um ein Leben zu leben, das ihnen von einem Wohltäter diktiert wird. Ich würde lieber in Samiya bleiben und den Göttern dienen, als es zu verlassen und einem Mann zu dienen.
Das Geplapper von hundert Mädchen dringt aus dem Speisesaal. Ich bleibe an der Tür stehen und schaue über die kniehohen Tische. Jaya sitzt bei den anderen Mädchen unseres Alters, zu denen auch Falan und Prita gehören. Jaya macht mir Zeichen, mich auf das leere Kissen neben ihr zu setzen. Sarita und Natesa sitzen ihr gegenüber. Ich zwinge mich zu einer freundlichen Miene und knie mich neben Jaya hin. Falan und Prita lächeln zur Begrüßung und setzen leise ihre Unterhaltung fort.
»Bambusmädchen«, murmelt Natesa.
Sarita kichert mit dem Mund voll Reis. Ich nasche mit den Fingern von meinem Essen. Ich möchte mir nicht ihre ewig gleichen Beleidigungen über meine ungewöhnliche Größe und Magerkeit anhören.
Jaya beugt sich zu mir. »Alles okay?«
Ich zucke mit den Achseln und stochere in meinem verwässerten Curry herum. Ich will über die goldene Kutsche reden, doch nicht vor den anderen. Es wäre mir lieber, wenn unser kurzer Blick auf die Welt da draußen unter uns bliebe.
Priesterin Mita betritt den Speisesaal, gefolgt von einer Gruppe Schwestern. Falan und Prita unterbrechen ihr Gespräch, und alle im Saal hören auf zu essen. Die Schwestern stellen sich an der Stirnseite des Raums in einer Reihe auf. Jaya neben mir verkrampft sich, und ich wische mir die Hände ab, weil ich keinen Hunger mehr habe. Unsere Oberin unterbricht während des Essens nur selten.
»Töchter, ich habe wunderbare Neuigkeiten.« Die Priesterin legt wie beim Gebet ihre Hände gegeneinander. »Ein Wohltäter ist wegen einer Forderung angereist!«
Die meisten Mädchen, sogar diejenigen, die für den Ritus noch zu jung sind, jauchzen erfreut. Priesterin Mita lässt den Ausbruch mit stolzem Lächeln zu. Ich suche nach Jayas Hand und umklammere unter dem Tisch ihre eiskalten Finger.
Die Priesterin schreitet in unsere Richtung, um sich an die Mädchen unseres Alters zu richten. Zwölf von uns knien an zwei Tischen. Unsere blauen Saris sind identisch, die Farbe steht für Gehorsam und Unterwerfung, Fügsamkeit und Anpassung. Damit endet aber auch schon meine Ähnlichkeit mit den anderen. Meine schlaksige Gestalt lässt mich aus der Gruppe wohlgerundeter Mädchen im wahrsten Sinne des Wortes hervorragen wie eine Nadel aus einem Korb voller Garnknäuel.
»Auf Bitten unseres verehrten Wohltäters werden die Eignungsprüfungen morgen wie geplant fortgesetzt«, sagt die Priesterin. »Sie finden im Innenhof statt, und unser Gönner wird vom Observatorium des Nordturms aus zusehen.«
Ärger rumort in meinem Bauch. Ich will mich um meines eigenen Erfolgs willen duellieren, nicht zur Unterhaltung des Wohltäters. Mir liegt nichts daran, dessen Gunst zu gewinnen.
Priesterin Mita geht an den Tischen entlang, ihre Worte sind wohlüberlegt, ihre Schritte gemessen. »Ihr habt die Wahl, mit einem Stock oder einer Waffe mit Klinge zu kämpfen.«
Jaya drückt meine Hand so fest, dass meine Fingerspitzen prickeln. Weil ich wegen meines chronischen Fiebers den anderen Mädchen hinterherhinke, habe ich noch nicht mit Klingen trainiert. Erst wenn wir den Stock beherrschen, lernen wir, mit Stahl anzugreifen und zu parieren. Ich bin mit der Steinschleuder ziemlich gut, doch im Ring ist sie keine brauchbare Waffe.
»Wir wollen, dass ihr gut ausseht, wenn ihr euch dort präsentiert«, sagt Priesterin Mita. In ihrem Lächeln schwingt eine Warnung mit. »Achtet also darauf, bei eurer Gegnerin nicht zu viele Spuren zu hinterlassen.«
Ich sehe Natesa missbilligend an, als sie grinst. Jeder weiß, dass sie den Tempel verlassen und die Frau eines Wohltäters werden will. Hätte sie eine Wahl, würde sie gegen das schwächste Mädchen kämpfen, um ihre Fähigkeiten in ein besseres Licht zu rücken, und es ist kein Geheimnis, dass ich das schwächste bin.
Der eisige Winter fährt dem Tempel in die alten Knochen, und Feuchtigkeit dringt in die dunklen Gänge. Jaya und ich verlassen schweigend den Speisesaal und kehren in unsere Schlafkammer zurück. Wir ziehen unsere Nachtgewänder an und bürsten unser Haar, dann kümmert sich Jaya um ihre Töpfe mit Setzlingen, und ich kuschle mich mit einem Skizzenbuch auf meine Pritsche. Unsere abendliche Routine ist entspannt und beruhigend. Ich weigere mich, mir vorzustellen, dass dieser Abend unser letzter sein könnte.
Jaya träufelt Wasser auf die grünen Triebe in den kleinen Lehmtöpfen. Sie ist dem Kräutergarten von Heilerin Baka zugeteilt, aber das hier sind keine Heilkräuter. Wegen des Mangels an Sonnenlicht in unserem fensterlosen Zuhause kann Jaya nur giftige Pflanzen züchten, doch lieber das als gar nichts.
Sie stellt ihre Gießkanne weg, tritt hinter mich und streicht mir mit den Fingern durchs Haar. Sie betrachtet meine Zeichnung. So haben wir uns kennengelernt. Jaya verbrachte die ersten Wochen im Kloster auf der Krankenstation, wo sie sich von ihrer Mangelernährung und Schlägen und Verletzungen, über die Heilerin Baka nur flüsternd sprach, erholte. Während eines meiner Fieberanfälle legte man mich auf die Pritsche neben Jaya, und sie bat mich, meine Zeichnungen sehen zu dürfen. Die meisten Mädchen mieden aus Angst vor Ansteckung meine Nähe, doch Jaya war das egal. Seither habe ich ihr alle meine Zeichnungen gezeigt.
Jaya hört auf damit, mir übers Haar zu streichen. »Die Räder waren größer.«
Sie hat ein gutes Auge für Proportionen, weshalb sie natürlich recht hat. Sie setzt sich neben mich. Ich radiere die Räder aus und zeichne sie größer. Jaya nimmt mein anderes Skizzenbuch und blättert durch die fertigen Zeichnungen: Porträts von ihr, vom Garten, wo wir im Gerstenfeld Flieg, Kranich, flieg spielten, vom Mediationsteich mit seinen Lotusblumen.
Bei der Zeichnung, die den Himmelsgott zeigt, hält sie inne. Anu ist das berühmteste männliche Wesen, das ich je gezeichnet habe. Ich bin von den harten, kantigen Linien seiner zerklüfteten Gesichtszüge bezaubert, die den eindrucksvollen Alpana-Bergen so sehr ähneln. In meiner Zeichnung werden seine Oberschenkel von einem Sarong bedeckt. Seine unbehaarte, nackte Brust ist flach und breit wie ein Tal, und seine schlanken Beine sind kraftvoll wie ein Fluss. Wie einen Speer hält er einen Sonnenstrahl in einer Hand, bereit ihn zu schleudern, die andere Hand ist zu einer einladenden Geste ausgestreckt, ihm zu folgen. Anu ist die Gottheit der Welt; seine großen Augen sind das Tor zum Himmel, sein grimmiger Ausdruck eine Warnung vor seiner Allgewalt.
Jaya fährt mit einem Finger an Anus Nase entlang. »Was, wenn du auserwählt wirst?«
»Was, wenn Natesa anfängt, nett zu mir zu sein?«
Jayas Lippen werden schmal. »Unser Gönner könnte deinen Wert erkennen und nach dir verlangen, Kali.«
Ich schüttle den Kopf. Ich werde bestimmt übergangen. Laut Jaya ist mein bestes körperliches Attribut mein langes Haar, doch das ist nicht genug, um die Aufmerksamkeit des Mannes auf mich zu ziehen.
Jaya zieht die Schultern nach vorn, und ihre Stimme ist nur noch ein Flüstern. »Was, wenn ich auserwählt werde?«
Ich will ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen machen soll, aber Jaya ist nicht schlaksig und spindeldürr wie ich. Sie ist zierlich und anmutig. Ich sehe sie an und verstehe ihre Angst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand sie nicht wahrnimmt.
Ihre Stimme wird noch rauer. »Was, wenn er so ist wie mein …«
»Denk nicht daran. Egal wer er ist, das ändert nichts an unseren Plänen.«
Jaya und ich haben vor, der Schwesternschaft Treue zu schwören und hier unser Leben zu verbringen, aber das ist nur möglich, wenn wir den Ritus hinter uns bringen, ohne ausgewählt zu werden. »Sie werden uns nicht trennen. Wir sorgen dafür.«
»Wie? Du wirst vielleicht nicht einmal für gesund genug befunden.«
Ich unterdrücke ein Stöhnen; daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Heilerin Baka untersucht jede Kandidatin vor einer bevorstehenden Forderung, um jene auszusortieren, die nicht in bester Verfassung sind. Sie hatte nicht gesagt, dass meine Krankheit meine Chancen verringert, doch ein tägliches Tonikum zu nehmen ist vielleicht ein Grund, mich auszuschließen.
»Wir sorgen uns später um die Untersuchung«, sage ich. »Zuerst müssen wir über die Eignungsprüfungen sprechen. Der Gönner wird bestimmt einschätzen wollen, wie gut wir als Kriegerschwestern sind.«
Jaya nickt ernst. Kriegerschwestern werden von Männern hochgeschätzt. Die meistbegehrten Mädchen sind sowohl hübsch als auch kampferprobt.
»Du musst dein Duell verlieren«, sage ich. »Der Fordernde wird dich bestimmt nicht wollen, wenn du besiegt wirst.«
Jaya runzelt die Stirn. »Was ist mit dir?«
»Mit mir?«, sage ich spöttisch. »Selbst wenn ich gewinnen sollte, würde er trotzdem einem hübschen Gesicht den Vorzug geben.«
»Und wenn wir gegeneinander kämpfen müssen?«
Ich lache. »Dann werde ich dich schlagen, auch wenn alle Mädchen wissen werden, dass wir gemogelt haben.«
Jaya legt ihren Kopf an meine Schulter und nimmt meine Hand. Wir verschränken unsere Finger und pressen unsere Handballen aneinander. »Einverstanden. Aber wir dürfen uns nicht erwischen lassen; Priesterin Mita würde uns für den Rest des Jahres Abfalldienst machen lassen. Unsere Niederlagen müssen glaubhaft sein.«
»Was für mich leicht sein wird.« Ich lehne meinen Kopf an ihren und blicke auf unsere verschränkten Hände. »Wir werden vorsichtig sein.«
»Kannst du schlafen?«, fragt Jaya, als sie sich aufsetzt.
»Natürlich.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Ich werde davon träumen, dich zu besiegen.«
Jaya lacht prustend. Sie drückt meine Hand, was unsere Art ist zu sagen, ich liebe dich, küsst mich auf die Stirn und geht zu ihrer Bettstatt.
Obwohl ich versuche, es mit Humor zu nehmen, zerrt der Gedanke an den kommenden Tag an meinen Nerven. Unabhängig davon, wie unser Plan aussah, könnte Heilerin Baka mich bei der Untersuchung zurückstellen, und Jaya würde den Ritus ohne mich durchstehen müssen. Aber ich will von diesem Gönner gesehen werden und den Ritus hinter mich bringen. Denn sobald Jaya und ich bei dieser Forderung unberücksichtigt geblieben sind, können wir Mitglieder der Schwesternschaft werden. Die meisten Mädchen entscheiden sich für eine zweite Teilnahme an einem Ritus, für eine zweite Chance, um von hier fortgehen zu können. Jedes Mädchen, das bis zum Alter von einundzwanzig Jahren noch keiner Forderung hatte folgen müssen, wird sofort in den Schwesternorden aufgenommen, doch nur wenige Mündel bleiben so lange. Die Wohltäter brauchen fortwährend neue Dienerinnen.
Bernsteinfarbenes Kerzenlicht fällt auf mein Skizzenbuch. Ich schlage eine leere Seite auf und lasse meinen Kohlestift über das elfenbeinfarbene Papier gleiten, wo er weiche, dunkle Linien hinterlässt. Ich hoffe, dass es mich beruhigt, meine Gedanken auf Papier zu bringen. Ich habe darauf gewartet, dass Jaya ins Bett geht, um das zeichnen zu können; es geht mir nicht aus dem Kopf.
Als ich fertig bin, nehme ich die Hand weg. Der Anführer sieht genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung habe – mit Schultern, auf denen ein Berg ruhen könnte, und Armen, so stark, dass sie sich zu den Wolken aufschwingen könnten. Doch sein Gesicht ist ausdruckslos, wie alle männlichen Gesichter, die ich zu zeichnen versucht habe.
Als Säugling wurde ich auf den Stufen des Tempels der Vanhi-Bruderschaft zurückgelassen, die von den Männern des Parijana-Glaubens geführt wird. Ich kann mich nicht an die Brüder erinnern, die sich um mich gekümmert haben, bis ich alt genug war, um hierher gebracht zu werden. Ich erinnere mich nicht einmal daran, je einen Mann gesehen zu haben. Jaya hat mir von ihren älteren Brüdern erzählt und mich vor der Willkür gewarnt, die uns erwartet, falls wir gefordert werden. Ich glaube ihr, doch die Angehörigen der Bruderschaft sind der Beweis dafür, dass nicht alle Männer schrecklich sind, und die Schwestern lehren uns, dass Männer unsere Herren und Beschützer sind.
Während ich meine Zeichnung des gesichtslosen Soldaten betrachte, weiß ich nicht, was stimmt. Haben die Götter alles für uns erschaffen? Sie haben mir das Fieber und einigen Pflanzen Gift gegeben, aber haben sie auch den Menschen ihre Macht gegeben? Wurde Natesa als Quälgeist geboren? War Jaya schon immer so vorsichtig? Wo ist die Grenze zwischen dem Willen Gottes und unserem eigenen?
Ich lege mein Skizzenbuch weg und frage mich noch immer, ob alle Männer so grausam wie Jayas ältere Brüder sind, und es mir ohne sie tatsächlich besser geht. Als ich erwache, liegt ein weißer Satinumhang am Fußende meines Bettes. Genau der gleiche liegt auf Jayas Pritsche. Es ist unser Gewand für die Berufung.
Voller Unruhe springe ich aus meinem zerwühlten Bett. Ich habe nicht von der Eignungsprüfung geträumt. Ich habe überhaupt nicht geträumt. Dass mich Heilerin Baka vielleicht nicht zu den Eignungsprüfungen zulässt, hat mir den Schlaf geraubt. Ich ertrage es nicht länger, darüber zu spekulieren. Ich muss mit ihr reden.
Nachdem ich mir ein Tuch um die Schultern gelegt habe, gehe ich leise die stillen Gänge entlang, vorbei an Lichtkreisen und durch Schwaden von Weihrauch. Ich kann die Morgendämmerung nicht sehen, doch die Kälte, die durch die Steinmauern dringt, verrät die frühe Morgenstunde.
Der vertraute Weg zur Krankenstation macht mich nervös. Ich habe mit Heilerin Baka mehr Zeit als mit jeder anderen Schwester verbracht. Ich will nicht mit ihr streiten, doch wenn sie mein chronisches Fieber als Entschuldigung benutzt, um mich von der Teilnahme am Forderungsritus auszuschließen, werde ich mich ihr widersetzen.
Ich gehe an einem Treppenschacht vorbei, und leise Stimmen dringen von unten herauf. Sie sind so schwach, dass ich sie beinahe überhöre. Ich beuge mich vor, um zu lauschen. Die Stimmen sind so leise, wie ich sie noch nie gehört habe. Ich atme flach, doch mein Herz pocht. Ich glaube, es sind Männerstimmen.
Priesterin Mitas Zurechtweisung gestern lässt mich nicht los. Ich sollte gehorsam sein und in meine Kammer zurückkehren. Die unteren Stockwerke zu betreten, ist den Töchtern strengstens verboten. Aber ich will unbedingt wissen, wer dort unten ist.
Ich steige in die Dunkelheit hinab, wo es stockfinster ist. Ich taste mich an der Wand entlang, meine Fingerspitzen gleiten über den rauen Stein. Jeder Schritt bringt mich einer Kälte näher, die mir in die Knochen fährt. Ich verliere den Überblick über die Anzahl der Stufen und die Male, die ich mich mit meinen bloßen Zehen auf dem kalten Boden vortaste.
Ich bin unten angekommen, und die Wand, an der ich mich entlanggetastet habe, endet. Die leise Stimme ertönt kaum lauter als mein Herzschlag. Ich folge dem Klang einen unbeleuchteten Gang entlang, an dessen Ende ein schwacher Schimmer zu erkennen ist. Der Tempel ist die einzige Zuflucht auf diesem abgelegenen Berggipfel. Ich hatte noch gar nicht darüber nachgedacht, wo die Förderer logieren, doch es musste hier sein, auf diesem Stockwerk.
Der Korridor führt in eine beleuchtete Nische. Zwei tiefe Stimmen sind hinter einer hohen Tür zu hören, ohne dass man das Gesagte verstehen könnte. Ich spähe den Gang entlang. Ich weiß, dass man mich erwischen könnte, doch das Gespräch verrät mir vielleicht, wer gekommen ist. Ich schleiche zur Tür und beuge mich vor, um zu lauschen.
»Du darfst nicht hier sein.«
Ich wirble herum, als ich die Stimme höre, die nicht lauter ist als die hinter der Tür es sind, und weiche erschreckt einen Schritt zurück. Ein junger Soldat versperrt meinen Fluchtweg. Ich muss im Dunkeln an ihm vorbeigegangen sein.
Er hält den Griff eines Schwerts an seiner Seite umklammert. »Weiß jemand, dass du hier unten bist?«
Meine Zunge klebt mir am Gaumen. Angesichts der Zeichnungen von den Göttern, die ich studiert habe, schätze ich den Soldaten zwei bis drei Jahre älter als mich. Er ist außerdem größer. Eine Seltenheit. Seit meinem dreizehnten Lebensjahr überrage ich jeden.
Trotz der imposanten Größe des Soldaten spüre ich keine Aggression, sondern lediglich Misstrauen.
Ich ziehe mein Tuch fester um mich. »Ich – ich habe Stimmen gehört«, sage ich. »Und …« Ich habe keine vernünftige Ausrede. Ich bezweifle, ob er glauben würde, dass ich vor allem das Gesicht eines Mannes hatte sehen wollen.
Sein Gesicht ist anders, als ich erwartet habe. Er sieht eher göttlich als sterblich aus. Sein kantiges Kinn ähnelt dem Bild von Anu, die sanfte Wölbung seiner Wangenknochen, seine vollen Lippen und seine gerade Nase hingegen Enlil, der seiner Mutter Ki, der Erdgöttin, ähnelt. Seine zarten und trotzdem robusten Gesichtszüge sind bemerkenswert.
»Du musst gehen.« Der Soldat blickt zu der geschlossenen Tür. Er bewacht wohl jene, die dort drinnen sind. »Es ist hier nicht sicher.«
Meine Handflächen werden feucht, aber ich kann nicht ohne die Antwort gehen, wegen der ich gekommen bin. »Wer ist für Die Forderung gekommen?«
Sein Blick und seine Stimme werden ausdruckslos. »Du musst gehen.«
Das Gespräch hinter der Tür verstummt. Meine Ohren explodieren, als Schritte näher kommen.
»Geh!« Der Soldat zerrt mich aus der Nische.
Ich flüchte den dunklen Gang entlang, verfolgt von dem Quietschen einer sich öffnenden Tür und der verärgerten Stimme eines Mannes.
»Hauptmann Naik?«
Meine Lunge brennt vom kurzen, flachen Atmen. Etwas Nasses, Feuchtes huscht über meine Zehen. Ich beiße die Zähne zusammen, um nicht zu kreischen. Weiter. Die Treppe ist ganz nah.
»Ich habe Manas auf seinem Posten abgelöst«, sagt der Hauptmann. »Bitte entschuldigt die Störung, Eure Hoheit.«
Ich stolpere über die erste Stufe und kratze mir die Hände am Stein auf.
Eure Hoheit.
Schauder laufen mir über den Rücken. Ich bedecke meinen Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken. Rajah Tarek ist hier. Der Herrscher des Reichs von Tarachand ist nach Samiya gekommen. Ich rühre mich nicht vom Fleck, mein Körper zittert.
»Wo ist Manas?«, verlangt die Stimme des anderen Fremden zu wissen.
»Er ist zu Bett gegangen, General«, antwortet der Hauptmann.
Ich runzle die Stirn, ohne mich zu rühren. Wieso beschützt mich Hauptmann Naik? Wieso erzählt er dem Rajah nicht, dass ein Mädchen an seiner Tür gelauscht hat?
»Kommt herein, Hauptmann«, sagt der Rajah. »Ich will unsere Pläne für die Zeit nach der Forderung besprechen …« Die Tür fällt zu.
Wie ein eisiger Finger gleitet Kälte über meinen Rücken. Rajah Tarek ist hergekommen, um Die Forderung zu stellen.
Ich lehne meine Stirn gegen eine der Stufen. Mein Gesicht brennt vor Hitze. Innerhalb von Sekunden glühe ich am ganzen Körper. Bei den Göttern, ich habe vergessen, mein Tonikum zu nehmen.
Das plötzliche Fieber fühlt sich an, als hätte mir jemand mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen. Mit zitternden Gliedern stehe ich auf und zwinge mich, die dunkle Treppe zum Hauptgang hinaufzusteigen. Auf dem Weg zum Speisesaal gehen Töchter an mir vorbei. Ich taumle den Gang entlang in meine Schlafkammer.
Jaya ist inzwischen aufgewacht und bereits angekleidet. Auf ihren Armen und Beinen hat sie Ausschlag – rot und geschwollen und heftig. Das Zimmer riecht nach Kamille.
»Heilerin Baka sagt, das geht wieder weg«, sagt Jaya, während sie sich Salbe auf die Beine reibt.
Ich betrachte die entzündeten Stellen auf ihrer Haut. »Woher hast du das denn?«
»Es ist eine Reaktion.«
»Auf deine Pflanzen?«
»Auf Die Forderung.« Mit zitternden Händen reibt sie Salbe auf ihre Arme. Ihr Gesicht ist blass. »Heilerin Baka sagt, ich soll mich beruhigen, aber … Wo warst du?«
»Auf einem Spaziergang.« Ich taumle zu meiner Pritsche und setze mich, die Ellbogen auf den Knien, den Kopf in meine Hände gestützt. Atme.
Jaya eilt zu mir und legt mir die Hand auf die Stirn. »Du glühst ja. Du hast heute Morgen dein Tonikum nicht genommen.«
Stöhnend lehne ich mich zurück. »Gib es mir, sei so nett.«
Jaya findet es auf meinem Nachttisch und drückt es mir in die Hand. Ich entkorke das schlanke Fläschchen und nehme einen Schluck. Der fermentierte Saft schmeckt bitter, doch ich schlucke ihn. Ein Schwall Kühle begleitet das Heilmittel, als es in meinen Magen gelangt, und macht meinen Kopf frei.
Das Fieber kam schnell. Normalerweise dauert es einen ganzen Tag, bis ich diesen Zustand erreiche.
Jaya hat sich über mich gebeugt und schiebt nervös ihren Zopf über die Schulter. Sie hat dunkle Ringe unter den blutunterlaufenen Augen. »Soll ich Heilerin Baka rufen?«
»Es geht mir gut.« Ich packe Jayas Hand und lege sie auf meine Stirn. »Spürst du es? Das Fieber lässt nach.« Ihre lauwarme Hand kühlt mein glühendes Gesicht, und meine Temperatur passt sich an ihre an. Ich schniefe und lächle. »Du riechst wie Heilerin Bakas Kräutergarten.«
Sie lacht und betrachtet ihren Ausschlag. »Wir geben ein hübsches Paar ab. Wenn der Wohltäter uns doch jetzt sehen könnte.«
Mein Lächeln gefriert. Ich kann ihr nicht sagen, dass Rajah Tarek der Wohltäter ist. Jaya ist schon jetzt so furchtbar besorgt. Außerdem ändert seine Identität nichts an unserem Plan für die Eignungsprüfungen. Doch die Bedeutung seiner Anwesenheit hier lastet auf mir. Ich kann nicht verstehen, weshalb der Rajah uns vor dem Stellen der Forderung kämpfen sehen will. Eignungsprüfungen sind eine Initiation – ein Beweis für das Frausein und eine Übung in moralischer Reife, ein Beweis, dass wir unser von Kin ererbtes Geburtsrecht verdienen. Eine wahre Schwesternkriegerin ist gut ausgebildet und körperlich stark, doch sie hat sich auch den fünf göttlichen Tugenden verschrieben – Gehorsam, Diensteifer, Schwesterlichkeit, Demut und Toleranz.
Der Rajah will eine Prüfung unserer inneren und äußeren Stärken sehen, doch zu welchem Zweck? Ich bin mir nur einer Sache sicher, nämlich dass Rajah Tarek gekommen ist, um ein Mädchen zu fordern. Zur Mittagsstunde werde ich wissen, wofür.
Eine Silhouette verdunkelt den Fensterflügel des Observatoriums oben auf dem Nordturm. Ich versuche, nicht hinaufzuschauen oder daran zu denken, dass uns der Rajah zusieht, während ich den Anweisungen von Priesterin Mita lausche.
»Ich schätze es, dass ihr rechtzeitig hier seid, Töchter. Wir wollen diese Prüfungen schnell absolvieren und euch wieder hinein ins Warme bringen.«
Jaya und ich drängen uns im kalten Wind, der uns peitscht, aneinander. Wir tragen Trainingssaris, deren Stoffbahnen wir zwischen den Knien durchgesteckt und im Rücken an der Taille befestigt haben. Das gibt uns eine gewisse Bewegungsfreiheit, und unsere Beine bleiben bedeckt. Der rutschige Boden ist vom Eis befreit worden, weshalb der Kreis wieder zu erkennen ist, der gestern während des Trainings darunter verborgen war. Der Duellplatz.
»Die heutigen Eignungsprüfungen laufen ein wenig anders ab. Unser Gönner hat eine Bitte geäußert.« Die Priesterin wirft einen Blick nach oben, und unsere Blicke folgen ihrem. Der Rajah hat sich erwartungsvoll gegen den Fensterflügel gelehnt, und seine Silhouette wirkt groß und dunkel. Meine Nerven liegen blank. »Siegerin ist, wer der Gegnerin eine blutende Verletzung zufügt.«
Ich kneife ablehnend die Augen zusammen. Normalerweise gilt, dass gewinnt, wer den Gegner als Erster aus dem Kreis treibt. Wir kämpfen nie bis aufs Blut.
Priesterin Mita steht völlig reglos da, ihre starre Haltung spiegelt ihre unausgesprochene Ablehnung der geänderten Regel wider. »Verletzungen, die ihr euch im Kreis zuzieht, gereichen euch bei der Feststellung eurer körperlichen Gesundheit wohlwollenderweise nicht zum Nachteil.«
Wie »wohlwollend« von ihm. Jaya und ich tauschen mit hochgezogenen Brauen Blicke.
Heilerin Baka und Schwester Hetal, unsere Trainerin für Verteidigungstechniken, stehen an der Außenlinie des Kreises. Baka wohnt stets den Eignungsprüfungen für den Fall bei, dass sich ein Mädchen verletzt. Ich spüre einen Anflug von Übelkeit. Wer heute besiegt wird, braucht definitiv ihre Hilfe.
Die Stimme der Priesterin hallt über den Innenhof. »Tretet vor, um die Lose zu ziehen!«
Jaya packt meine Hand und zerrt mich vor die Gruppe. Die Priesterin streckt der Tochter vor ihr – mir – die Faust mit den Holzstäbchen entgegen. Ich ziehe ein langes, und Natesa zieht als Nächste. Ihres ist nur ein Viertel so lang wie meins.
Natesa saugt die Luft ein. »Schade.«
Ich bin beinahe ihrer Meinung. Gern hätte ich ihre Haut sich rot färben sehen, doch die Wahrscheinlichkeit, dass ich ein Duell gegen sie gewinne, ist geringer als die Chance, der Leere zu entkommen.
Sarita zieht ein Holzstäbchen und legt es neben meines. Sie sind gleich lang. Sie grinst, und ich setze eine gleichgültige Miene auf. Unsere Wahl ist überhaupt nicht fair. Sarita ist die drittbeste Kämpferin hier, nach Natesa und Jaya.
Die anderen Mädchen ziehen ihre Lose. Sie finden ihre Gegnerinnen und wünschen den anderen Glück. Priesterin Mita reicht Jaya das letzte Stäbchen.
Natesa fixiert Jaya mit einem betonten Grinsen. »Sieht so aus, als kämpfst du gegen mich.«
Sie sind ein gleich starkes Duo, aber Jaya muss gegen Natesa verlieren, und ich gegen Sarita. Der Rajah will uns bluten sehen.
Priesterin Mita schließt unsere Unterweisung ab. »Die mit den kürzesten Stäbchen sind als Erste dran, dann kommen die mit den zweitkürzesten und so weiter. Der erste Kampf ist zwischen«, sie lässt den Blick über die Mädchenpaare gleiten, »Natesa und Jaya. Töchter, wählt eure Waffen!«
Natesa läuft zu den Waffen, die am Ufer des zugefrorenen Teichs ausgebreitet liegen, und wählt als Erste. Mit einem Khanda auf dem Weg zum Duellkreis grinst sie Jaya spöttisch an. Als größte, furchteinflößendste Waffe passt das lange zweischneidige Schwert zu Natesas Kampfstil. Einschüchternd. Aggressiv. Kraftvoll und stark.
Jaya entscheidet sich für den Haladie, ein zweischneidiges Messer. Die Waffe steht für ihre Methode zu kämpfen. Wendig. Präzise. Klein, jedoch schnell. Sie könnte mit dem Haladie gewinnen, aber ich weiß nicht, ob sie damit auch verlieren kann.
Die anderen drängen sich um den äußeren Rand des Kreises. Niemand darf den Ring betreten, bevor nicht eine der beiden Kämpferinnen zur Siegerin erklärt wurde. Ich gehe langsam nach hinten, wobei ich mich weigere, zu dem Rajah hinaufzublicken, der uns beobachtet. Ich kann es nicht ertragen, mit anzusehen, wie Jaya besiegt wird. Der Nesselausschlag entstellt noch immer ihre Arme und Beine. Ich bete, dass Natesa ihr keinen bleibenden Schaden zufügt.
Jaya und Natesa gehen in Position: Beine gespreizt, Knie gebeugt, Schultern gestrafft, Waffen erhoben.
»Auf mein Zeichen.« Die Priesterin hebt eine Handtrommel und hält ihre Hand über die gespannte Tierhaut. Spannung liegt in der Luft. Der Trommelschlag ertönt.
Natesa stürzt los und zielt mit dem Schwert auf Jayas Brust. Jaya dreht sich wie ein Pfeil, und sie prallen mit ihren Waffengriffen gegeneinander. Natesas Khanda ist langsam beim Rückprall, und Jaya zieht sich bis zum Rand des Kreises zurück.
Ich betrachte meine Freundin von Kopf bis Fuß und atme langsam aus. Kein Blut bisher. Natesa schreitet um Jaya herum und provoziert sie mit ihrem höhnischen Grinsen. Sie hat viele Kämpfe gewonnen, indem sie Gegnerinnen eingeschüchtert hat, doch heute ist ihre Mühe umsonst. Jaya ist bereit, geschlagen zu werden.
Jaya geht auf sie zu und kreuzt ihre Klinge mit Natesas. Beim Kreischen des Metalls zucke ich zusammen. Das Schnauben der Herausforderinnen hallt von den Mauern wider. Die Zuschauer schweigen. Normalerweise feuern wir unsere Favoriten an, doch heute geht es weniger um die Eignungsprüfungen als um Die Forderung. Furcht schwebt über uns wie eine Gewitterwolke. Eine von uns wird heute von diesem Ort weggeholt. Vielleicht sogar mehr als eine. Und niemand weiß, wer.
Jaya stößt mit der kurzen Klinge des Haladie zu und streift Natesas Sari. Sie hält inne, um zu sehen, ob Blut kommt. Sie hat sie verfehlt. Nur ich weiß, dass das absichtlich geschehen ist. Natesa holt mit dem Khanda aus und stößt Jaya zurück. Jaya stürzt und lässt ihre Waffe fallen. Natesa richtet die Schwertspitze auf Jayas Oberkörper. Meine Freundin hält still. Ich halte den Atem an. Natesa hält die scharfe Klinge an Jayas Gesicht und fügt ihr einen Schnitt quer über die Wange zu.
Zorn steigt in mir auf wie ein loderndes Feuer. Mir ist erst bewusst, dass ich mich bewege, als ich mir bereits einen Weg in den Kreis gebahnt habe. Natesa bewegt das Schwert zu Jayas anderer Wange. Sie will ihr noch einen Schnitt verpassen.
Ich ramme Natesa mit voller Kraft. Sie wirbelt durch die Luft und hebt kraftlos das Schwert, um sich zu verteidigen. Ich schlage einen Purzelbaum und trete sie mit beiden Füßen gegen die Beine. Natesa fällt und landet hart auf dem Rücken, wobei sie den Khanda loslässt.
Ich schnappe mir das Schwert und beuge mich über sie. Ich lege den breiten Mittelteil des Schwerts an ihren Hals. Irgendwo in meinem Hinterkopf weiß ich, dass ich aufhören sollte. Doch ich kümmere mich nicht darum. Ich kümmere mich auch nicht um den Rajah. Natesa hat Jaya nicht an einer Stelle verletzt, die man hätte verbergen können.
Sie hat Jaya absichtlich eine entstellende Wunde zugefügt.
»Kali, halt«, ruft Jaya. Blut läuft ihr über die Wange, was meinen Zorn nährt.
Die Klinge schneidet in Natesas Hals. Purpurfarbene Tropfen sammeln sich am Klingenrand. Sie erstarrt beim Geruch ihres eigenen Blutes. Kein Aufstöhnen oder Betteln kommt über ihre aus Furcht geöffneten Lippen.
»Kalinda!« Priesterin Mitas laute Stimme dringt durch meinen Rachedurst zu mir durch. Sie zerrt mich von Natesa weg, und ich starre auf deren blutigen Hals, während ich rückwärts taumle.
Ich habe das getan.
Schwester Hetal kniet sich vor Natesa. Heilerin Baka eilt Jaya zu Hilfe. Meine Freundin hält sich die Wange, zwischen ihren blassen Fingern quellen scharlachrote Tropfen hindurch.
»Geh hinein, Kalinda.« Priesterin Mitas Befehl lässt keinen Raum für Ungehorsam.
Bevor ich einen Schritt machen kann, beginnt jemand zu applaudieren.
Wortlos blicken alle, die im Hof stehen, hinauf zum Nordturm, der in den grauen Himmel aufragt.
Der Applaus verstummt, und eine tiefe, feste Stimme ruft von oben herunter: »Sie soll bleiben.«
Ich erschauere vor Schreck. Im Innenhof ist es so still wie bei einer Himmelsbestattung. Für viele der Mädchen ist es das erste Mal, dass sie einen Mann sprechen hören.
Priesterin Mita schüttelt die Verwirrung als Erste ab. »Kalinda, du hast unseren Gönner gehört. Tritt zurück und warte, bis du dran bist.« Sie blickt verstohlen nach oben und erhascht einen Blick auf den Rajah, ohne das Kinn anzuheben. Sie hat Angst vor ihm.
Heilerin Baka hilft Jaya auf. Ich will auf meine Freundin zugehen, doch die Heilerin scheucht mich zurück. »Sie kommt auf die Krankenstation. Du bleibst hier.«
»Das wird schon wieder.« Jaya hält sich das blutige Gesicht. »Sei vorsichtig, Kali.« Sie blickt zum Turm hoch, ehe sie und Heilerin Baka in Richtung Eingang gehen.
Schwester Hetal stützt Natesa, die so laut heult, als hätte man ihr die Kehle durchgeschnitten, doch ihre Wunde ist bloß ein Kratzer im Vergleich zu dem Schnitt in Jayas Wange.
Mein Mangel an Mitgefühl für das, was ich getan habe, überrascht mich. Natesa hat Jayas hübsches Gesicht als Konkurrenz gesehen, deshalb hat sie es zerstört. Ich wünsche ihr die Schmerzen von tausend Schwertverletzungen.
Ich werfe den Khanda auf den Waffenstapel und geselle mich zu den anderen Schwestern, um auf mein Duell zu warten. Ihre schockierten Blicke schnellen zwischen mir und dem Schatten hin und her, der von oben herunterblickt.
»Sarita und Kalinda, tretet bitte vor!«
Priesterin Mita ruft endlich unsere Namen auf. Natesa und Jaya sind vor knapp einer Stunde verschwunden, doch wir haben die ganze Zeit in der Kälte gezittert. Ich bin bereit, meine Prüfung hinter mich zu bringen und hineinzugehen.
Die anderen Duelle waren vorhersehbar. Falan hat ihre Gegnerin geschlagen, und Prita hat verloren, weil die andere die aggressivere der beiden war. Fehlt nur noch, dass Sarita mich besiegt, und das muss sie. Der Rajah hat nicht mehr applaudiert oder gesprochen. Ich habe zu viel Aufmerksamkeit auf mich gelenkt. Das war nicht meine Absicht, doch jetzt ist die Gelegenheit, meinen Fehler wiedergutzumachen.
Sarita und ich stehen uns im Kreis gegenüber. Da sie nicht zimperlich ist, hat sie den Khanda gewählt. Ich bin die erste Duellantin, die sich für den Stock entschieden hat. Alle anderen haben mit einer Klinge gekämpft. Jede Siegerin hat ihre Gegnerin an einer unsichtbaren Stelle verletzt – Arm, Bein oder Oberkörper. Kein einziges Mal mehr im Gesicht. Ich bereue nur, dass ich die Aufmerksamkeit des Rajahs nicht damit auf mich gezogen habe, Natesa auf angemessenere Weise zu bestrafen. Ich hätte sie ebenfalls im Gesicht verletzen und damit ihr Aussehen beeinträchtigen sollen.
Ich mache mich bereit, indem ich den Stock mit beiden Händen packe. Sarita mag kleiner sein als ich, doch sie ist flink und hat einen kräftigen Schlag. Obwohl mich meine Attacke gegen Natesa als Schwertkämpferin ausgewiesen hat, fühle ich mich mit den Waffen, mit denen ich trainiert habe, am wohlsten.
Priesterin Mita schlägt auf die Handtrommel, und Sarita kommt auf mich zu.
»Wegen dir ist Natesa jetzt nicht hier«, sagt sie und hebt das Schwert.
Ich lasse den Stock kreisen. »Jaya auch nicht. Sie hat Natesa nichts getan. Sie hat niemandem etwas getan.«
Sarita bleckt die Zähne. »Natesa wollte gegen dich kämpfen.«
»Das ist ihr auch auf jämmerliche Weise gelungen.«
Sarita holt zu wilden, wütenden Schlägen aus. Ich weiche seitlich aus. Sie macht einen Ausfallschritt und trifft den Bambusstock. Die starke Vibration schießt mir durch den Arm. Ich umkreise sie, und unsere Waffen treffen erneut aufeinander. Die Klinge hackt ein Stück aus meinem Stock.
»Ich wusste, dass du mit einem Baum kämpfen würdest.« Sarita grinst höhnisch, voller Überlegenheit und Niedertracht. »Er ist so hässlich und dürr wie du.«
Verärgerung steigt in mir auf. Hör auf zu plappern und beende das hier.
Ich ziele auf ihren Kopf mit einem Manöver, das Jaya und ich gestern geübt haben, doch ich unterschätze die Kraft hinter dem Schlag, die aus meiner Gereiztheit resultiert, und wie weit wir voneinander entfernt stehen. Das Ende der Stange klatscht Sarita auf den Mund.
Priesterin Mita schlägt die Trommel, um das Ende des Duells zu signalisieren.
Ich starre unverhohlen auf Saritas aufgeplatzte Lippe. Sie berührt vorsichtig ihren verletzten Mund und glotzt erstaunt auf ihre blutigen Fingerspitzen. Mein Sieg war keine dreiste Zurschaustellung meines Könnens. Keine von uns hat erwartet, dass die schwächste Kämpferin als Erste eine blutende Wunde schlägt.
Panik steigt in mir auf. Was habe ich getan?
Die Priesterin tupft Saritas Lippe mit Gaze ab, und die Töchter verlassen den Innenhof. Alle zittern, weil sie in der winterlichen Kälte gestanden haben, und es dauert nicht lange, bis alle im Gebäude verschwunden sind. Ich bin die Letzte, doch vorher höre ich noch den lauten Applaus von der Spitze des Nordturms.
Ich lache beinahe, als mir die Mädchen im Gang aus dem Weg gehen. Wegen meiner Krankheit sind sie schon immer auf Distanz geblieben, doch sie hatten keinen echten Grund gehabt, mich zu fürchten. Es ist beunruhigend, jedoch auch seltsam befriedigend, dass ich ihnen jetzt einen gegeben habe.
Der vertraute Geruch von geriebenem Ingwer und Echter Kamille empfängt mich auf der Krankenstation. Die Pritsche, die Heilerin Baka für mich reserviert hat, ist leer, und keines der anderen Betten ist belegt. Wir sind allein, so, wie wir es einen Großteil meiner Kindheit gewesen waren.
»Wo ist Jaya?«, frage ich. »Geht es ihr gut?«
Heilerin Baka blickt von den Instrumenten auf, die sie sterilisiert. »Jaya musste genäht werden. Sie wird eine kleine Narbe von dem Schnitt zurückbehalten, doch sie ist fit genug, um präsentiert zu werden. Sie soll sich für den Ritus anziehen.« Die Heilerin betrachtet mich hinter ihren Brillengläsern. »Ich verstehe, weshalb du sie verteidigt hast, aber du bist zu weit gegangen.«
Ich lege meine Hände auf eine Stuhllehne und blicke sie an. »Jemand musste Jaya helfen. Wie lange wollte die Priesterin denn noch warten, bis sie eingreift? Bis Natesa auch Jayas andere Wange verletzt hätte?«
»Wie lange hätte sie warten sollen, um dich von Natesa zu trennen? Bis du ihr die Kehle durchgeschnitten hättest?«
Ich presse die Lippen aufeinander, und Heilerin Baka dämpft ihre Stimme. »Du hast Natesa auf die gleiche Weise verletzt wie sie Jaya. Du musst Frieden schließen mit dem, was du getan hast.«
»Sie hat Jaya absichtlich verletzt!«
»War das, was du getan hast, so anders?«, fragt Heilerin Baka sanft. »Frieden zu schließen gilt nicht ihr. Es ist für dich selbst.«
Ich umklammere den Stuhl, als ich mich an das Gewicht des Schwerts in meiner Hand erinnere. Schwesterlichkeit ist eine der fünf erlernten göttlichen Tugenden, doch ich empfinde keine schwesterliche Liebe für Natesa. »Ich werde mich nicht entschuldigen; es war richtig, Jaya zu helfen.«
»Das mag sein, aber du kannst Frieden wählen, Kali. Eine Entscheidung, bei der du mit der Welt nicht uneins bist und den vorgeschriebenen Weg der Götter akzeptierst. Du kannst keinen größeren geistigen Frieden erlangen, als das zu tun, was die Götter von dir verlangen.«
Ich starre finster zu Boden. Ich besitze so wenig Freiheit. Es ist nicht fair von ihr, von mir zu erwarten, dass ich Natesa vergebe. Jemandem zu grollen ist eine der wenigen Entscheidungen, die ich treffen kann.
Heilerin Baka geht um den Tisch herum und berührt mich am Unterarm, womit sie mich zwingt, sie anzusehen. Besorgt runzelt sie die Stirn. »Wie fühlst du dich?«
»Gut.« Ich bin kurz davor ihr zu sagen, dass mein Fieber zurückgekommen ist, als die Medizin nicht mehr gewirkt hat, doch sie würde mich dafür rügen, sie nicht rechtzeitig genommen zu haben. »Wie lange muss ich mein Tonikum noch einnehmen?«
»Das Tonikum ist kein Heilmittel, Kali. Das Fieber könnte irgendwann verschwinden, aber genauso gut kann das Tonikum seine Wirkung verlieren.«
Wir sehen einander stirnrunzelnd an. Nach Jahren, in denen nichts geholfen hat, hat Heilerin Baka schließlich ein fiebersenkendes Tonikum zusammengebraut, allerdings konnte sie den Ursprung meiner Krankheit nicht bestimmen. Wir wissen, dass ich nicht ansteckend bin, weil ich häufig die einzige Patientin auf der Krankenstation bin. Ihre brauchbarste Theorie ist, dass ich das Fieber von jemandem aus meiner Familie ererbt habe, doch weil nicht bekannt ist, wer meine Eltern sind, gibt es keinen Beweis dafür.
Allerdings ist nicht meine Vergangenheit das, was mich am meisten beunruhigt. Jaya und ich müssen für Die Forderung noch die Untersuchung über uns ergehen lassen, aber angesichts des unvorhergesehenen Verhaltens des Rajahs während der Eignungsprüfungen sollten wir besser nicht präsentiert werden. Ich würde lieber gemeinsam mit ihr ein zweites Mal den Ritus durchlaufen, als dem Rajah gegenüberzutreten und zu riskieren, getrennt zu werden. Doch Heilerin Baka hat das letzte Wort.
Ich begegne ihrem Blick. »Kann ich die Untersuchung bestehen?«
»Du kennst die Regeln. Niemand, der nicht tauglich ist, wird dem Wohltäter präsentiert.«
Sie setzt ihre Brille ab, und ihr strenger Blick trifft mich. »Ich werde dich fair beurteilen, aber wenn du nur ein wenig höhere Temperatur hast als du solltest, werde ich dich zurückstellen.«
Ich bringe ein unsicheres Lächeln zustande. Heilerin Baka will, dass ich darauf gefasst bin, die Untersuchung vielleicht nicht zu bestehen. Sie denkt bestimmt, ich mache mir Sorgen, dass mir mein Fieber die Möglichkeit verdirbt, dem Gönner vorgeführt zu werden, doch das ist genau, was ich will. Ich bete dafür, dass Jayas Nesselausschlag und mein Fieber genügen, uns vor dem Rajah zu bewahren.
Heilerin Baka tätschelt meinen Arm. »Zieh dich um.«
Ich streife meine Robe ab, lasse den elfenbeinfarbenen Satin auf meine bloßen Füße gleiten und widerstehe dem Bedürfnis, mich zu bedecken. Die Schwestern haben uns die Abfolge des Ritus gelehrt, weshalb ich auf das Entkleiden vorbereitet bin, doch vor den anderen nackt zu sein, vergrößert meine Unsicherheit, weil ich so dünn bin.
Gänsehaut bedeckt meinen nackten Körper. Ich bin eines von zwölf Mädchen, die in zwei Reihen im Untersuchungszimmer stehen. Heilerin Baka geht an den nackten Mädchen auf und ab, blickt in Augen und Münder, in Nasen und Ohren. Niemand beschwert sich. Die Forderung ist der Preis, den wir für eine geschützte Unterkunft, Essen, Kleidung und Training zahlen. Dafür wurden wir gerettet.
Die Heilerin hält vor Jaya inne, die neben mir steht. Der Schnitt auf Jayas Wange wurde mit einer Reihe winziger Stiche genäht. Ihr Nesselausschlag ist fast nicht mehr zu sehen; die Kamillensalbe hat die Rötung verschwinden lassen. Meine Hoffnung, dass wir die Untersuchung nicht bestehen, schwindet.
Heilerin Baka ist mit meiner Freundin fertig, und ihr ruhiger Blick begegnet meinem. Ich versuche, die geübten Hände der Heilerin zu ignorieren, als sie über meinen Körper gleiten, doch es ist unmöglich, sich nicht davor zu fürchten, womöglich dem Rajah vorgeführt zu werden. Ich kann wieder atmen, als Heilerin Baka zur Nächsten geht.
Von dort, wo sie steht, wirft mir Natesa einen vernichtenden Blick über die Schulter zu. Sie hat einen weißen Verband um den Hals. Ein schwaches Schuldgefühl befällt mich, doch ein Seitenblick auf Jayas Wange genügt, und mein Zorn löst es in Luft auf.
Ich weiß nicht, wie lange wir warten, doch meine Knie schmerzen, als Heilerin Baka fertig ist. »Zieht euch wieder an«, sagt sie.
Ich hebe mein Gewand vom Boden auf und bedecke mich. Natesa und Sarita stellen ihren Körper zur Schau und haben es nicht eilig, sich anzuziehen. Sie sind Kopien der Göttin Ki, klein und rundlich, weich und doch fest, trainiert und doch weiblich. So anders als ich mit meiner schlaksigen, knochigen Gestalt.
Priesterin Mita, die der Untersuchung beigewohnt hat, bespricht sich mit Heilerin Baka. Sie debattieren leise, aber hitzig. Heilerin Baka schaut mich an und schüttelt den Kopf. Priesterin Mita nickt energisch und tritt vor.
»Töchter, ihr habt alle bestanden!«, sagt die Priesterin.
Ich tausche Blicke mit Jaya. Ihr schwaches Lächeln verrät Angst. Wir werden dem Rajah vorgeführt werden.
»Töchter«, sagt Priesterin Mita, »wir werden euch jetzt mit dem Zeichen von Enki schmücken.«
Die Priesterin und Heilerin Baka kommen mit einer Schale Henna, und die Heilerin zeichnet eine gewellte Linie auf den Rücken jedes Mädchens. Das Wellensymbol auf unserer Haut repräsentiert die Wassergöttin Enki. In den Geschichten wird Enki als eine Tochter beschrieben, die ihren Eltern Anu und Ki in allem gehorcht hat. Enkis Zeichen zu tragen versichert dem Förderer unsere absolute Ergebenheit. Ich lasse meine Robe ein Stück weit meinen Rücken hinabgleiten und halte sie vorn fest. Priesterin Mita zeichnet die Wellenlinie auf meinen Rücken und lässt dann das Henna trocknen und abblättern.
Sobald wir alle mit dem Zeichen geschmückt sind, eilt die Priesterin zum Seiteneingang. »Stellt euch in einer Reihe auf. Wir dürfen unseren Wohltäter nicht warten lassen.«
Jaya und ich tun uns zusammen und lassen den anderen Mädchen den Vortritt, die sich neben die Tür stellen. Priesterin Mita scheucht als Erste Prita in das angrenzende Zimmer, gemeinsam mit Heilerin Baka. Ich nehme Jaya an die Hand und stelle mich mit ihr an das Ende der Reihe. Wir haben uns auf den Tag, an dem wir getrennt werden könnten, vorbereitet, und alles getan, um es zu verhindern. Jetzt liegt unser Schicksal in den Händen der Götter.
Die Reihe wird kürzer. Nacheinander werden die Töchter Rajah Tarek vorgeführt, bis nur noch Jaya und ich übrig sind. Die Priesterin neigt den Kopf in Richtung Tür, um zu lauschen. Heilerin Baka taucht auf und winkt Jaya in den Raum. Meine Kehle ist rau und wie zugeschnürt. Rajah Tarek hat mir bei den Eignungsprüfungen vielleicht sein Wohlwollen gezeigt, doch seine Frauen und Kurtisanen werden aufgrund ihrer atemberaubenden Schönheit ausgewählt. Ein Blick auf meine knochige Gestalt, und er wird zu dem Schluss kommen, dass ich kein Mädchen für seine Sammlung bin. Er wird mich übergehen, und ich werde von unseren Wohltätern nicht mehr behelligt. Aber Jaya … Großer Anu, bitte lass nicht zu, dass sie ausgewählt wird.
Die Tür öffnet sich ein letztes Mal, und Priesterin Mita begleitet mich in den Saal, in dem Die Forderung gestellt wird. Ich war noch nie zuvor dort. Wände, Decke und Boden sind mit einem farbenfrohen Mosaik bedeckt, das Wolken, so weiß wie der Augustmond, Land, so tiefgelb wie Safran, Feuer in Krapprot und Wasser in einem klaren Indigoblau zeigt. Gegenüber vom Eingang hängt ein schweres malvenfarbenes Tuch von der Decke bis zum Boden.
»Dreh dich zu dem Schleier und zieh dich aus«, sagt Heilerin Baka.
Jemand hat eine rote Linie auf den Boden vor dem weißen Vorhang gezogen. Mit gesenktem Blick trete ich an die abgeriebene, abgesplitterte Linie. Ich schlüpfe aus meiner Robe, wobei ich mich frage, wie viele Töchter, nackt und ängstlich, schon genau an dieser Stelle gestanden haben.
Prinzessin Mita hebt meine Robe vom Boden auf und hält einen Streifen Musselin in der Hand. Den Töchtern werden die Augen verbunden, um ihre Unschuld für zukünftige Förderer zu bewahren. Die Priesterin streicht mein langes Haar zurück, und ich mache mich klein, damit sie mir die Augen verbinden kann. Die plötzliche Dunkelheit verwirrt mich. Ich berühre meine verbundenen Augen und presse mir die Fingerknöchel gegen die pochenden Schläfen. Ich kann nicht aufhören zu zittern.
Im Raum wird es still. Jemand verbirgt sich hinter dem Vorhang. Ich kann ihn atmen hören.