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Eine Liebe über die Grenzen der Welt hinaus!
Kalindas Geliebter Deven ist in der Unterwelt gefangen. Zwar gelingt es ihm, während der dunklen Stunden durch die Schatten zu Kalinda zu kommen, aber noch nie hat ein Sterblicher das Nichts auf Dauer überlebt. Deven hält schon länger durch als Viele vor ihm, doch als er eines Nachts ausbleibt, weiß Kalinda, dass er in höchster Gefahr schwebt. Um ihre große Liebe zu retten, ist sie zu allem bereit, auch wenn das bedeutet, dass sie einen Gott dazu bringen muss, sie in die Welt der Dämonen zu führen ...
"Emily King entführt ihre Leser in eine einzigartige und lebendige Welt. Das perfekte Setting für ein spektakuläres Finale!" Fresh Fiction
Abschlussband von DIE LETZTE KÖNIGIN
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Seitenzahl: 458
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Anmerkung der Autorin
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Figurenliste
Die Autorin
Die Romane von Emily R. King bei LYX
Impressum
EMILY R. KING
Die letzte Königin
Das Schicksal des Feuers
Roman
Ins Deutsche übertragen von Beate Bauer
Dank Kalinda herrscht endlich Frieden im Tarachandischen Reich, auch wenn dieser auf wackligen Füßen steht. Die Bhutas werden nicht länger wegen ihrer Kräfte verfolgt, die Rebellen sind verbannt, und Prinz Ashwin kann den Thron seines Vaters besteigen. Doch für all das musste Kalinda einen hohen Preis zahlen. Ihr altes Zuhause ist verloren, ihre beste Freundin tot und ihre große Liebe Deven in der Unterwelt gefangen. Zwar gelingt es ihm, nachts durch die Schatten zu Kalinda zu kommen, aber noch nie hat ein Sterblicher das Nichts auf Dauer überlebt. Deven hält schon länger durch als Viele vor ihm, doch als er eines Nachts ausbleibt, ahnt Kalinda, dass er in größter Gefahr schwebt. Um ihren Geliebten zu retten, würde sie alles tun, aber ihr einziger Wegweiser ist eine alte Legende, der kaum jemand Glauben schenken mag. Nur mithilfe eines Gottes kann ein lebender Mensch in die Welt der Dämonen gelangen. Niemand weiß, ob die Götter der Welt der Sterblichen überhaupt noch Beachtung schenken, doch Kalinda ist bereit, für Deven die Grenzen der Welt zu überschreiten …
Für Mom und Dad.
Euer treuer Glaube ist Ansporn für meinen.
Die im Tarachandischen Reich ausgeübte Religion, der Parijana-Glaube, ist eine Fiktion, abgeleitet von der Religion der Sumerer und deren Götterglauben. Der Parijana-Glaube und das Tarachandische Reich stehen weder für eine bestimmte Epoche oder Gemeinschaft noch für einen bestimmten Glauben. Jede Ähnlichkeit mit anderen Religionen oder Herrschaftsstrukturen ist rein zufällig, ebenso die mit tatsächlichen Personen oder Ereignissen.
Vor dreizehn Jahren …
Die Rani betrat eilig den Flur zu den Kinderzimmern. Im gedämpften Licht sah man Körbe mit Spielzeug und Bauklötzen.
Die Kindermädchen waren schlafen gegangen, nachdem sie das einzige Kind in ihrer Obhut ins Bett gebracht hatten. Die Rani hastete den Gang hinunter und blieb vor einer Tür stehen, die nur angelehnt war. Im Zimmer waren die Vorhänge an den hohen Fenstern zugezogen. Auf dem Nachttisch spendete eine Lampe einen schwachen Schein. Er fiel auf das gemalte Porträt, das sie und ihren Mann zeigte. Sie hatte damals so glücklich ausgesehen.
Sie gab sich einen Ruck und trat ein. Ihr Sari schleifte über den Boden, und der Teppich dämpfte ihre Schritte. Ihr Sohn lag im Bett, bis zu seinem zierlichen Kinn zugedeckt. Er richtete seinen Blick auf sie und strahlte.
»Mutter, du bist gekommen.«
»Es tut mir leid, dass ich nicht früher hier war. Ich musste mich noch um etwas kümmern.« Die Rani verdeckte den Blutfleck auf ihrer Bluse. Ihre Handgelenke schmerzten von den Schlägen, die sie Minuten zuvor ausgeteilt hatte. Sie hasste diese Pflichten, doch die Ranis von niederem Rang mussten lernen, zu gehorchen. »Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«
»Meine Lieblingsgeschichte?«
»Natürlich.« Es war auch ihre Lieblingsgeschichte.
Sie kniete sich neben das Bett ihres Sohnes und strich ihm über das Haar. Das Wandbild über dem Kopfende seines Bettes zeigte eine Welt, die unter der ihren existierte, sowie eine Kriegerin und einen Gott. Die Rani begann die Geschichte zu erzählen, die sie beide inzwischen Wort für Wort auswendig kannten.
»Inanna war eine hochgeschätzte junge Frau und wurde von jedem in ihrem Dorf geliebt. Manche behaupteten, sie habe die Loyalität eines Elefanten und den Mut eines Tigers. Männer umwarben sie, aber Inanna ignorierte sie. Sie wartete auf den einen – den Mann, den sie ihr ganzes Leben geliebt hatte, von Beginn an, als Anu die Sterne vom Himmel gepflückt und ihnen den Namen Sterbliche gegeben hatte.«
»Wie hieß der Mann?«, fragte der Junge.
»Das wissen wir nicht, aber in dem Moment, in dem sie sich zum ersten Mal begegneten, soll die Erde gebebt und der Himmel gesungen haben. Die ganze Welt jubelte, weil sich Inanna und ihr Liebster wiedergefunden hatten.«
»War es mit dir und Vater auch so?«
»Ganz genauso, mein Kleiner.«
Wäre der Junge älter gewesen, hätte er den Kummer in ihren geflüsterten Worten bemerkt. Er umklammerte seine Bettdecke in Erwartung der Fortsetzung der Geschichte.
»Am Abend vor der Hochzeit nahm ein Chamäleon-Dämon die Gestalt Inannas an und betrat das Schlafzimmer ihres Liebsten. Er ließ sich von dem Dämon täuschen und in dem Vertrauen, dass Inanna zu ihm gekommen war, verschwand er mit ihr in der Dunkelheit.« Der Junge zog die Decke bis zur Nase hoch. »Am nächsten Morgen legte Inanna ihr Hochzeitskleid an und machte sich auf den Weg, um ihre große Liebe zu heiraten. Den ganzen Tag wartete sie vor dem Altar auf ihn, aber er kam nicht. So verlassen worden zu sein, schloss sie sich ein und fand nicht einmal mehr die Kraft, ihr Brautkleid auszuziehen.«
Der Junge gähnte, und seine Lider sanken herab.
»Viele Nächte später erwachte Inanna und sah ihren Auserkorenen an ihrem Bett stehen. Weder konnte er der Dunkelheit entrinnen, noch konnte sie ein Licht anzünden, ohne dass er sich aufgelöst hätte. Er war mithilfe von Schatten gereist, um ihr mitzuteilen, dass er im Nichts gefangen sei.«
»Dort würde es mir nicht gefallen.« Der Junge gähnte erneut. »Ich bin lieber hier bei dir.«
»Mir gefällt es auch, dass du hier bei mir bist«, erwiderte die Mutter.
Der Junge hätte ihre Traurigkeit vielleicht bemerkt, aber Müdigkeit machte ihn schläfrig.
Seine Mutter sprach mit ganz leiser Stimme weiter. »Inanna verbrachte Nacht für Nacht mit ihrem Auserkorenen. Sie versuchten beide, sich damit zufriedenzugeben, aber Inanna konnte ihn nicht für alle Ewigkeit in der Unterwelt lassen, weshalb sie nach einer Möglichkeit suchte, zu ihm hinabzusteigen, um ihn zu suchen …«
Erschöpfung übermannte den Jungen. Seine Mutter sah ihm beim Schlafen zu, während er davon träumte, Dämonen zu töten und Prinzessinnen zu retten.
Hätte der Junge gewusst, dass es das letzte Mal gewesen war, die Geschichte von seiner Mutter erzählt zu bekommen, wäre er vielleicht aufmerksamer gewesen und hätte versucht, wach zu bleiben.
Hätte er gewusst, dass sein Vater seine Mutter davon abhalten würde, sich am nächsten Morgen von ihm zu verabschieden, hätte er ihr noch einmal gesagt, dass er sie liebte.
Aber der Junge schlief, ohne zu ahnen, welchen Schmerz der nächste Morgen ihm bringen würde.
Die Dunkelheit birgt Geheimnisse, die nur wenige zu sehen oder gar zu enthüllen vermögen. Aber wenn jemand so viel Zeit damit verbringt wie ich, die Schatten zu ergründen, entdeckt man einzigartige Texturen, welche die Haut streifen: der zarte Batist der Abendstunden, ein Kuss wie Samt um Mitternacht, und die kühle Seide des frühen Morgens. In diesen Mustern, die von der Nacht gewoben werden, habe ich einen gewissen Trost gefunden. Von dem es sonst kaum welchen gibt.
Während ich am Tisch sitze, meine Kohlestifte und mein Pergamentpapier vor mir liegend, schärfe ich meinen Tastsinn und mein Gehör.
Die Palmwedel rascheln im leichten Wind draußen vor der offen stehenden Tür des Balkons. Schatten überdecken den Schein des Wintermonds und dämpfen das Sternenlicht. Es ist schon spät, so spät, dass sich bald die Morgendämmerung am Himmel zeigen wird, die Nacht verdrängt und das Gesicht des Tages enthüllt. Meine müden Augen suchen die Schatten mühsam nach Bewegungen ab.
Er wird kommen.
Ein Gähnen entschlüpft mir. Ich will mir die Augen reiben, doch das stumpfe Ende meines rechten Arms lässt mich innehalten. Werde ich es je begreifen?
Meine Prothese liegt auf dem Nachttisch; ich trage sie nicht, wenn ich allein bin. Häufig fühlt es sich so an, als wäre meine Hand noch da. Ihr Geist gaukelt mir vor, ich hätte noch alle zehn Finger. Das Gift des Dämons Kur, das ich in mich aufgenommen hatte, um es als Waffe einzusetzen, hat meine Hand zerstört. Meiner linken Hand das Zeichnen beizubringen, wie die rechte es einst konnte, hat Übung erfordert, doch ich bin immer öfter zufrieden mit meinen Zeichnungen.
Eine Vielzahl fertiger Zeichnungen liegt über den Tisch verstreut. Mit meinem Kohlestift schattiere ich noch einige Stellen an meinem letzten Motiv ab. Der Tempel der Schwesternschaft, der sich in der Stadt im Aufbau befindet, wird bald die Schwestern und Mündel von Samiya beherbergen. Das Zuhause meiner Kindheit gibt es nicht mehr, es ist mir ebenso wie meine engste Freundin genommen worden. Jaya wurde von Rajah Tarek in einem Akt reiner Boshaftigkeit ermordet, und der Tempel, in dem ich aufgewachsen bin, wurde durch einen Brand zerstört. Obwohl Jayas Tod mich noch immer betrübt, gibt mir die Wiedererrichtung des Tempels die Hoffnung, dass alles, was dem Tod anheimfällt, vielleicht wiedergeboren wird.
Ich lege den Kohlestift beiseite und stehe auf, um mich zu strecken, damit ich wachsam bleibe. Neben dem Kamin taucht eine Gestalt auf.
»Kali.«
Ich lösche die Kerze und laufe zu Deven. Ich glaubte ihn verloren zu haben, nachdem Kur ihn in die Unterwelt verschleppt hatte. Sein Erscheinen war eine Gnade, auch wenn er während des Tageslichts im Nichts gefangen ist. Des Nachts leitet ihn mein Seelenfeuer, dem er über die Wege der Schatten folgt, und das seit drei Monden.
»Du hast lange gebraucht.« Er kommt Mal um Mal später.
»Ich bin froh, dass ich es geschafft habe.« Deven presst mir seine Lippen auf die Schläfe. Sein Bart drückt sich in mein Haar. »Du duftest nach Jasmin.«
Er riecht einfach nur. Der Moschusgeruch des Nichts überdeckt den vertrauten Sandelholzduft.
Deven hebt mein Kinn an und verschließt meine Lippen mit seinen. Seine Berührung löst augenblicklich eine Reaktion aus. Ich fahre ihm mit der Hand durchs Haar, und seine Hände umfassen meine Hüften. Wir bewegen uns nicht, bis unsere Küsse nach weiteren Berührungen verlangen.
Wir gehen eng aneinander geschmiegt zu meinem Bett. Er legt mich auf die Decke, sein Gewicht schwer auf mir. Kleine Seidenkissen türmen sich um uns herum, Deven wirft eins nach dem anderen auf den Boden. Sobald wir mehr Platz haben, geht er mit seinen Lippen auf Erkundungsreise. Ich ziehe ihn an mich und lasse meine Fingerspitzen über seinen Rücken gleiten.
Er presst seine Wange gegen meine und streicht mir durchs Haar. Die Seidenlaken sind um unsere Beine geschlungen. Seine tiefe, ruhige Stimme erklingt an meinem Ohr. »Irgendwann musst du mir erklären, weshalb du so viele Kissen hast.«
Ich kichere ausgiebiger, als ich es normalerweise tun würde. Nächte, in denen er seinen Sinn für Humor zeigt, sind selten. Diese Augenblicke sind unsere vorübergehende Zuflucht. Ich hasse es, diesen für ihn seltenen Moment des inneren Friedens zu zerstören, aber der Morgen dämmert. Ich streichle seinen Bart. »Soll ich deinen Bruder holen?«
»Nicht heute Nacht.«
Er hat sich schon seit Tagen nicht mehr nach seiner Familie erkundigt. Ich vermute, er will nicht, dass sie ihn so sieht. Er ist noch dünner und blasser als gestern. »Hast du Hunger?«
»Ja.« Er schmiegt seine Wange an die empfindsame Stelle unter meinem Kinn. Ich wage es nicht, die Augen zu schließen, weil ich dann nicht mehr klar denken kann.
Ich greife nach dem Tablett auf dem Nachttisch. Er wischt sich die Hände an der Serviette ab und isst den Duftreis. In der Unterwelt hat er weder Zugang zu Nahrung noch zu Wasser. Ich habe versucht, ihm etwas zu essen und eine Lampe mitzugeben, doch sie verschwinden, sobald er diesen Ort verlässt. Und ich kann ihm nicht in das Schattenlabyrinth folgen.
»Wie geht es dir?«, fragt er.
Deven muss sich keine Schilderung meines profanen Alltags anhören. »Es geht mir gut. Ashwin und ich studieren noch immer Buch für Buch in der Stadt. Wir finden bestimmt bald etwas.« Keiner von uns weiß, ob unsere Suche etwas bringt, aber wir glauben daran. »Wir werden einen Weg finden, um dich zu befreien.«
»Das kannst du nicht wissen.« Deven stellt den noch nicht leergegessenen Teller weg. Er muss sich stärken, aber sein Appetit lässt immer mehr nach. »Wir müssen unser Schicksal akzeptieren.«
In meinen schwächsten Momenten habe ich die gleiche Verzagtheit empfunden. Ich bete den ganzen Tag zu den Göttern, sie mögen Deven befreien. Sein inneres Licht wird schwächer wie der Abglanz des Mondes im Vergleich zur strahlenden Sonne. Ich sitze auf seinem Schoß und lege seine steifen Arme um mich. »Wir entscheiden über das Schicksal.«
»Du kannst nicht fühlen, was ich fühle.« Sein gequälter Blick begegnet meinem. »Es ist riskant, hierherzukommen. Jemand ist mir gefolgt.«
»Wer?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe niemanden gesehen, aber ich habe es gespürt.«
Ich lege meine Stirn gegen seine. »Ashwin und ich kommen der Sache näher. Wir holen dich dort heraus. Versprich mir, dass du weiterhin kommst.« Ich könnte es nicht ertragen, wenn er verschwände.
»Deinetwegen«, sagt Deven, und seine Muskeln entspannen sich.
Der Himmel draußen ist inzwischen hell. Der Sonnenaufgang wird bald die goldenen Türme des Palasts und das schlafende Vanhi erreicht haben. Deven hält mich fest, weil auch er die Zeit fürchtet. Ich schmiege mich an ihn und schließe die Augen so fest, dass sie wehtun.
Bitte, Anu. Mach, dass er bleiben kann.
Devens körperliche Gestalt löst sich auf. Ich öffne die Augen, und alles, was übrig ist, ist seine Wärme, die aus den Laken weicht.
Jemand berührt meine Schulter. Mein Gesicht ist in einem Kissen vergraben, aber ich kann Brac spüren. Das Seelenfeuer eines Feuerwesens strahlt am stärksten, und nur er wagt es, mein Gemach ohne anzuklopfen zu betreten.
»Deven ist fort.« Meine freudlose Stimme treibt mir beinahe die Tränen in die Augen.
Die Matratze bewegt sich. Ich blicke hoch zu Brac, der sich neben mich gesetzt hat. Sein kupferfarbenes Haar reicht bis zu den zusammengezogenen Brauen über seinen honigfarbenen Augen. »Wir werden ihn finden.«
»Ich sollte ihn suchen. Ich hätte schon vor Monden dort hinuntergehen sollen.«
»Dann wärst du jetzt ebenfalls im Nichts gefangen, und ich müsste euch beide befreien.«
Er muss nicht erklären, weshalb das eine schrecklich schlechte Idee ist. Wir hatten diese Diskussion bereits gestern, und vorgestern und vorvorgestern … Es geht nicht darum, in das Nichts hinabzusteigen, sondern darum, Deven dort herauszuholen.
»Wir geht es ihm?«, fragt Brac.
»Er ist schwächer.« Außer der Familie wissen nur wenige Freunde, dass Deven am Leben ist. Wir haben seinen Namen der Einfachheit halber in den Grabstein meiner Mutter meißeln lassen. Seine Gefangenschaft zu erklären ist zu kompliziert. Gelegentlich bittet er darum, sich mit seinem Bruder und seiner Mutter zu treffen. Sie haben während der ersten Wochen häufig mit ihm zu Abend gegessen, aber er ist nicht mehr so gesellig. Die Stunde, nachdem er fort ist, ist meine einsamste. Und des Morgens frage ich mich oft, ob er überhaupt da war.
Brac zieht die Knie an und streicht sich über seine kupferfarbenen Bartstoppeln. »Ich habe ebenfalls überlegt, hinabzusteigen. Doch bevor wir nicht herausgefunden haben, wie wir das tun können, ohne uns selbst in Gefahr zu bringen, müssen wir hierbleiben.«
Deven hat den komplizierten Weg über die Pfade des Schattenreiches in mein Gemach erst nach mehreren Versuchen gefunden. Doch selbst wenn er mich überall sonst finden könnte, ist jetzt nicht die Zeit, fortzugehen. Zwar gewinnt das Tarachandische Reich wieder an Stärke, aber es ergeht uns wie einem alten Mann, der die Folgen einer schweren Krankheit erst noch überwinden muss. Ich rücke näher zu Brac und esse den Rest Reis, der noch auf dem Tablett ist.
»Ashwin braucht uns ebenfalls«, sage ich.
»Er wird geschützter sein, sobald er Rajah ist.«
»Das ist nur ein Titel.«
»Titel bedeuten Macht, Feuerwesen-Rani.«
Unsere Einwohner haben sich angewöhnt, mich »Feuerwesen-Rani« zu nennen. Es ist nicht als Kompliment gedacht. Mein Turniersieg und meine kurzzeitige Ehe mit Rajah Tarek als seine Kindred haben nichts zu bedeuten. Ich bin eine Bhuta, wie die Rebellen und der Warlord, die den Palast besetzt hielten, um die Auslöschung unserer Spezies zu verhindern.
Tareks Erbe, ein tief verwurzelter Hass, hatte dazu geführt, dass unser Volk sofort geglaubt hatte, der Rajah wäre von den Toten auferstanden, um die Rebellen zurückzuschlagen, als Udug sich für ihn ausgegeben hatte. Zwar haben wir Udug entlarven können, doch es war ihm gelungen, den Dämon Kur aus dem Nichts zu befreien. Mit der Hilfe unserer Bhuta-Verbündeten – der Paljoranischen Luftschiffflotte und der Lestarischen Marine – haben wir unsere Gegner schließlich bezwungen und die Ewige Dunkelheit daran gehindert, die Gefilde der Sterblichen zu erobern.
Keine unserer guten Taten spielt für die Leute eine Rolle. Es kümmert sie nicht, dass Ashwin auch noch die letzten Rebellen vertrieben hat. Es kümmert sie lediglich, dass er die Befehle für Hinrichtungen von Bhutas aufgehoben hat und Brac zu seinem Bhuta-Botschafter und Tugendwächter ernannt hat, ebenso wie mich. Um gegen unsere Nähe zum Thron zu protestieren, sind zahllose Soldaten aus der Reichsarmee ausgeschieden. Ich wusste, dass es Zeit kosten würde, Bhutas in die Gesellschaft zu integrieren, aber nach allem, was wir getan haben, um das Reich zu retten, macht mir die Starrköpfigkeit der Leute doch zu schaffen.
Brac schlägt sich auf die Knie, bevor er aufsteht. »Du wirst heute Vormittag im Amphitheater erwartet.«
»Aber ich war die ganze Nacht wach«, stöhne ich.
»Diese kleinen Teufel haben mir beinahe wieder die Augenbrauen versengt.« Brac tätschelt versöhnlich meinen Rücken.
Es klopft an der Tür, und Natesa stürzt herein: »Einer von euch muss in den Speisesaal kommen. Eure Schüler haben während des Frühstücks die Tischdecken in Brand gesetzt!«
»Der Prinz erwartet mich zu einer Besprechung.« Brac grinst mich an und empfiehlt sich rasch.
»Ich gehe«, sage ich.
»Aber nicht in diesem Aufzug«, erwidert Natesa.
Ich wische Reiskörner von meinen Lippen, während sie meinen Kleiderschrank durchsucht. Natesa und ich wurden in Samiya großgezogen. Wir wurden Freundinnen, nachdem Tarek uns berufen hatte, sie als Kurtisane und mich als Rani, und wir sind in meinem Rangturnier gegeneinander angetreten. Ihr jadegrüner Sari und ihre kurze Bluse passen gut zu ihren Rundungen. Ich habe etwas mehr Figur seit damals, als man mich wegen meiner Schlaksigkeit aufgezogen hat. Unsere gemeinsame Freundin und Heilerin Indah hat darauf bestanden, dass ich herzhaft esse, um mein Seelenfeuer zu kräftigen, das wiederum die Nachwehen von Kurs starkem Gift geheilt hat, und ich habe zugenommen.
Während Natesa mir den Rücken zukehrt, lege ich meine Prothese an und schlinge den Lederriemen um meine Schulter. Die Holzfinger haben keine Gelenke, aber die gleiche Größe und Form wie meine linke Hand.
Natesa hält einen schwarzen Trainingssari hoch. »Der hier wird deine vollen Hüften zur Geltung bringen.« Sie drapiert den Sari auf meinem Bett. »Zieh dich um, bevor deine Schülerinnen den gesamten Palast abfackeln. Yatin wird noch eine von ihnen übers Knie legen, wenn sie sich nicht besser benehmen.«
Meine Schülerinnen sind die letzten beiden Feuerwesen-Kinder im Tarachandischen Reich. Yatin würde weder ihnen noch irgendeinem anderen Kind ein Haar krümmen, aber ein anderer Wachsoldat vielleicht schon. »Ich spreche mit den Mädchen. Irgendwelche Neuigkeiten, was eure Hochzeitspläne betrifft?«
»Yatin und ich finden, die Zeremonie kann warten, bis wir weniger eingespannt sind.« Natesa arbeitet daran, ihre eigene Taverne zu eröffnen, und Yatin hat eine Beförderung zum Hauptmann der Wachen angenommen. »Die Taverne ist so weit fertig, dass ich einziehen kann.«
Ich lasse mir meine Überraschung nicht anmerken. »Mir war nicht klar, dass du den Palast so bald verlassen würdest.«
»Ich wollte nicht …« Natesa verstummt und dreht ihren Verlobungsring, der wie eine Lotusblüte geformt ist.
Sie tut, was alle jetzt tun – sie wählen ihre Worte sorgfältig und versuchen, meine Reaktion zu erahnen. Sie gehen davon aus, ich könnte wegen eines unbedachten Worts zusammenbrechen.
»Wollte was nicht?«, hake ich nach.
»Ich wollte nicht auftrumpfen.«
Ihr rücksichtsvolles Verhalten mir gegenüber versetzt mir einen Stich. Doch ich behalte meinen Plauderton bei. »Deiner Freundin eine gute Nachricht mitzuteilen ist kein Auftrumpfen. Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du die hübscheste Braut im Reich sein.«
Natesa blickt in den Spiegel des Schminktischs. »Du solltest Prinzessin Gemis Brautsari sehen. Asha hat sich mit dem Mieder selbst übertroffen. Vielleicht frage ich sie, ob sie meins nicht auch besticken mag.«
»Prinzessin Gemi ist hübsch, aber sie ist nicht du.« Als mir bewusst wird, was ich da gesagt habe, schlage ich mir die Hand vor den Mund. »Bitte erzähl das nicht der Viraji.«
Diese förmliche Bezeichnung auszusprechen schnürt mir die Kehle zu. Ich mochte den Titel nicht, als ich ihn trug. Es fühlt sich merkwürdig an, ihn jemand anderem zu geben.
»Was erzählen?«, sagt Natesa zwinkernd. Sie greift nach einem Kamm und macht sich an meinem Haar zu schaffen. »Keine Sorge, Kali. Jeder weiß, dass du dich für die beiden freust.«
»Das tue ich«, sage ich fest.
Dass Ashwin vergebens um meine Hand angehalten hat, ändert nichts daran, dass er mir als mein Cousin und Freund etwas bedeutet. Ich unterstütze seine Entscheidung, die Prinzessin der Südlichen Inseln zur ersten Ehefrau zu nehmen. Gemi besitzt eine ganz besondere Lebensfreude und einen freien Geist. Das Reich braucht dringend eine Anführerin mit ihren fortschrittlichen Ansichten.
Lauter Lärm draußen lockt Natesa auf den Balkon. Sie schnalzt mit der Zunge und macht mir Zeichen, zu ihr zu kommen. Auf einer Wiese im Garten sind Diener bemüht, ein Feuer zu löschen. Zwischen den Bäumen sieht man zwei Mädchen davonlaufen.
»Du hast es nicht rechtzeitig zum Speisesaal geschafft«, sagt Natesa.
Ich massiere mir die Schläfen gegen einen stärker werdenden Kopfschmerz. »Ich hatte keine Ahnung, dass zwei Mädchen solche Probleme machen können.«
Den Dienern ist es gelungen, das Feuer zu löschen, und sie nehmen ihre Arbeit wieder auf. Vor den Palastmauern ist die Stadt erwacht. Menschen bevölkern die Straßen mit ihren Packeseln und Karren auf dem Weg zum Marktplatz, der von einem bunten Mosaik bedachter Stände übersät ist. Frauen hängen Wäsche auf Leinen, die zwischen den Hütten gespannt sind. Kinder spielen im Fluss, während ihre älteren Geschwister Wasser in Körbe schöpfen. Überall herrscht rege Betriebsamkeit. Ich könnte ins Bett fallen und bis Mittag schlafen.
Ich nehme meine Kleider und verschwinde hinter dem Wandschirm. Natesa hat den Sari bereits gefaltet, aber ich habe Probleme mit den Nadeln.
»Kalinda?«, fragt sie vorsichtig. »Brauchst du Hilfe?«
»Nein.«
Eine frühere Rani, die bei einem Rangturnier zwei Finger verloren hatte, hat mir beigebracht, wie man alltägliche Dinge wie Anziehen und Essen bewältigt. Aus der Not heraus ist meine linke Hand zur dominanten geworden, was mit Unterstützung meiner Prothese gut funktioniert.
Während ich den Sari über meine Schulter lege, lasse ich eine Nadel fallen. Allmächtiger Gott. Natesa ist ganz in der Nähe in der Erwartung, dass ich klein beigebe.
Ich nehme eine andere Nadel und versuche es erneut.
Meine Schülerinnen – Basma, neun Jahre alt, und ihre sieben Jahre alte Schwester Giza – stehen mit vor den Bäuchen verschränkten Händen vor mir und sehen zu mir auf. Ihre Sandalen und Beine sind staubig. Traditionell wurden im Amphitheater von Vanhi Rangduelle zwischen den Kriegerschwestern veranstaltet. Basma und Giza sind Schwestern, aber noch längst keine geübten Kämpferinnen.
»Wer hat die Flammen auf Master Tinley geworfen?«, frage ich.
Basma erwidert reglos meinen Blick. »Ich war es.«
Giza senkt ihr Kinn. Ein Zeichen der Zustimmung? Oder lässt sie zu, dass ihre ältere Schwester die Schuld für ihren Fehler auf sich nimmt?
Bis auf die Handbreit, die Basma größer ist als Giza, sehen die Schwestern genau gleich aus, mit runden Gesichtern und einem leichten Unterbiss, der deutlicher zutage tritt, wenn sie ihre Tränen zurückhalten.
Tinley steht missmutig auf der anderen Seite der Arena, das Ende ihres langen silberfarbenen Zopfes ist versengt. Indah, die als Wasserwesen lehrt, hat Wasser aus den Übungsfässern über sie gekippt. Es brauchte keine großen Überredungskünste bei den Frauen, in Vanhi zu bleiben und unsere Bhuta-Kinder zu trainieren, obwohl Tinley in diesem Moment ihre Entscheidung vielleicht überdenkt. Indah und Pons, ihr Lebensgefährte, freuen sich jedenfalls, ihre Kleine hier großziehen zu können, und Tinley nutzt jede Ausrede, um nicht wieder nach Hause zu ihren Eltern und vier jüngeren Schwestern in Paljor zurückzukehren. Obwohl ich versucht habe, die Gründe für ihr selbstgewähltes Exil herauszufinden, hat sie nichts darüber verlauten lassen.
Tinley auf der anderen Seite der Arena wendet sich wieder dem Unterricht der fünf Wasserwesen zu, denen sie beibringt, wie man Himmel und Wind zu ihrem Vorteil manipuliert. Die Zielscheibe, die Basma beim Bogenschießen verfehlt hat, ist unberührt und wird es vorerst auch bleiben.
»Übt die Suche nach eurem inneren Stern«, befehle ich den Studenten. »Öffnet eure Augen erst, wenn ihr den hellsten gefunden habt.«
Während die Mädchen auf Anzeichen für die Feuerkräfte in ihrem Innern achten, gehe ich hinüber in Tinleys Bereich. Ihre Schülerinnen schieben mit ihren Windkräften einen massiven Granitblock durch die Arena.
»Ich rieche wie verbranntes Yakfleisch«, knurrt sie.
»Eher wie geröstetes Lamm«, sagt Indah.
Ihre fünf Wasserwesen ruhen sich im Schatten ein wenig aus. Die Sitzreihen hoch über uns in dem Freiluft-Amphitheater sind leer. Noch weiter oben auf den Balken schimmern die Gongs in der Vormittagssonne, und die rot-schwarzen Dreiecksflaggen von Tarachand hängen schlaff herunter. Wir haben die ovale Arena in vier gleiche Teile aufgeteilt. Die Bhuta-Kinder zwischen fünf und sechzehn trainieren in ihren jeweiligen Bereichen.
Vor etwas über einem Mond hatte Brac bei Prinz Ashwin eine Petition bezüglich unserer Bhuta-Jugend eingereicht. Unfälle, verursacht durch ihre Kräfte, passierten überall im Reich. Die Halbgott-Kinder mit ihren Elemente-Fähigkeiten, die sie von ihren Eltern geerbt haben, mussten keine Angst mehr haben, hingerichtet zu werden, hatten aber keine Lehrer, die sie trainierten. Nach einem Unfall, der dazu führte, dass ein sechsjähriges Wasserwesen im Badehaus seines Dorfes ertrank, hat Brac die Bhuta-Kinder, von denen die meisten Waisen waren, zusammengerufen und die Arena in ein Trainingsfeld umgewandelt. Prinzessin Gemi, ein Erdwesen, hat sich bereit erklärt, vier Erdwesen zu unterrichten, sobald sie eintrifft. In der Zwischenzeit werden sie von Indah beaufsichtigt.
Indah, das Wasserwesen, hebt ihr gewelltes Haar an und fächelt sich den Nacken. Sie hat abgenommen, seit sie ihr Kind bekommen hat, und ihre Proportionen haben sich verändert. Die restlichen Pfunde ihrer Schwangerschaft haben sich auf ihre Rundungen verteilt.
»Ich dachte, die Winter in der Wüste wären kälter«, sagt sie. Schweiß schimmert auf ihrer goldbraunen Haut.
»Es ist kälter«, erwidere ich. Ich beobachte meine Schülerinnen dabei, wie sie in ihrem Innern nach ihrem Seelenfeuer suchen. Keine von ihnen scheint es finden zu können.
»Willst du sie das den ganzen Tag tun lassen?«, fragt Indah.
»Ich würde es tun«, erwidert Tinley. Sie schleudert einen Windstoß auf einen Jungen, der es aufgegeben hat, den Granitblock fortzubewegen. Er drängt sich wieder zwischen die anderen. Als ihr massiver Fels die Arenawand erreicht, ruft sie: »Nächstes Mal schafft ihr das schneller!«
Die Kinder lassen sich keuchend zu Boden sinken.
»Du solltest ihren Fortschritt loben«, sagt Indah.
Tinley betrachtet ihre krallenartigen Fingernägel. »Komplimente unterstützen die Faulheit. Sie müssen stets wachsam sein.«
»Allzeit bereit«, ist unser Trainingsmotto. Mein Unterrichtsstil ist weniger aggressiv als Tinleys. Brac hat mir meine Fähigkeiten als Feuerwesen gezeigt, und ich habe im Tempel der Schwesternschaft mit Waffen trainiert – alle Mündel tun das. Jaya hat die meiste Zeit mit mir trainiert. Sie war streng, jedoch aufmunternd während unserer Übungsstunden.
Ich kehre zu meinen Schülerinnen zurück.
»Giza, Gesicht zur Wand. Basma, sieh mich an.« Beide beeilen sich, meine Befehle zu befolgen. Ich stelle eine Schießscheibe für das Bogenschießen vor Basma auf. »Wie viele Sterne kannst du finden?« Sie schließt erneut die Augen und zählt. Bei zweiundzwanzig unterbreche ich sie. »Sagen wir dreißig. Wenn du deine Kräfte voll entfaltet hast, wirst du sie zu einem einzigen Stern verbinden. Bis dahin darfst du dich von ihnen nicht beherrschen lasen. Streckt eure Hände aus, ohne hinzusehen.«
Während meine Schülerinnen gehorchen, tauchen Ashwin und Brac in der königlichen Loge am Nordende der Arena auf. Mein Puls beschleunigt.
Der Prinz sieht genauso aus wie sein Vater.
Von dieser Loge aus hat Tarek mein Rangturnier überwacht. Die Erinnerungen holen mich wieder ein.
Ich bekomme am ganzen Körper Gänsehaut. Der Berufungs-Saal ist kalt. Eine Augenbinde versperrt mir die Sicht auf den Wohltäter, der hinter dem dünnen Schleier wartet. Ich höre, wie er hervorkommt und spüre seinen Blick, mit dem er meinen nackten Körper inspiziert.
Schwere Schritte kommen langsam näher. Ich will weglaufen, schreien, weinen. Mein Kinn ist hochgereckt, meine Fäuste sind geballt. Ein heißer, säuerlicher Atem streicht über meine Wange … meinen Hals … meine Brust.
Finger gleiten durch mein Haar. Das Symbol der Wassergöttin für Gehorsam, eine Welle, die hennafarben meinen Rücken bedeckt, brennt wie ein Fluch.
»Die hier.«
Eine Stimme, die der Tareks so ähnlich ist, verscheucht meine Erinnerung. Ich drücke meine Prothese auf mein rasendes Herz. Ashwin hat die Forderung abgeschafft, den Ritus, der Wohltätern das Recht gab, verwaiste Mündel aus dem Tempel als Dienerinnen, Kurtisanen oder Ehefrauen zu sich zu nehmen. Wir sind noch am Anfang, für diese Mädchen und uns selbst eine andere Zukunft zu gestalten, doch die Vergangenheit schüttelt man nicht so leicht ab.
Ashwins Kommen – nicht Tareks, Tarek ist tot – veranlasst die Schüler, zu flüstern. Der Prinz hat erwähnt, dass er vielleicht vorbeikäme, um sich die Fortschritte anzuschauen.
Vielleicht hat er eine Möglichkeit gefunden, Deven zu befreien.
Ich hüte mich davor, mir zu große Hoffnungen zu machen. Mein Atem geht noch immer flach. Ich versuche, Ashwins Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Er beobachtet die Schüler. Die Wasserwesen lassen Wasser aus Fässern hochschießen, als wären es kleine Fische, und die Windwesen lassen abwechselnd einen rechteckigen Teppich schweben. Das alles ist Brac zu verdanken, ja, aber auch Ashwin. Er hat die Bhutas aufgenommen und im Palast einquartiert. Mit den Schwestern und den Tempelmündeln, die ebenfalls dort untergebracht sind, bis ihr neuer Tempel bewohnbar ist, wimmelt es in seinem Zuhause nur so von Leuten.
Basmas Augen sind noch immer geschlossen. Ich rede laut, damit sie sich nicht von den anderen, die ebenfalls trainieren, ablenken lässt. »Wenn ich es sage, lasst die Lichter los.«
»Alle …?«
»Keine Angst. Sie sind aus eurem Seelenfeuer entstanden.«
Basma bewegt die Finger. Die Mädchen dürfen ihre eigenen Fähigkeiten nicht scheuen.
»Schnappt euch die Sterne, und benutzt ihre Wärme«, sage ich. »So.«
Ich schleudere ein paar Flammen von mir, und Basma schlägt die Augen auf. Meine Schulter wird von der Kraft zurückgestoßen. Ich strecke meinen Ellbogen durch und erlange die Kontrolle zurück. Meine Kräfte sind nur noch halb so stark, wie sie einmal waren. Sie in eine Hand zu lenken, ist eine Fähigkeit, die ich noch erlernen muss, falls das überhaupt möglich ist.
Basma versucht es selbst. Orangefarbene Flammen strömen aus ihren Handflächen und versengen das Ziel. Verängstigt schwingt sie die Arme aufwärts, und ein Flammenmeer schießt in hohem Bogen durch das Amphitheater und trifft eine Flagge. Der rote Stoff mit dem schwarzen Skorpion als Reichssymbol fängt Feuer.
Basma schlägt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Giza läuft zu ihrer Schwester und umarmt sie. Meine Verärgerung über die Unachtsamkeit des Mädchens verschwindet, und Sehnsucht erfüllt mich. Werde ich je aufhören, Jaya zu vermissen?
»Es tut mir leid, Master Kalinda«, sagt Basma.
Ich packe beide Mädchen und gehe vor ihnen in die Hocke. »Keine Angst vor dem, was ihr seid. Ihr lernt es schon noch, eure Kräfte zu kontrollieren. Die Götter haben euch diese Fähigkeiten gegeben. Sie glauben an euch. Vertraut darauf.«
Das Haupttor zur Arena geht auf, und eine große Gruppe Männer kommt herein. Die Männer, alle schwarz gekleidet und mit Schals über ihrer unteren Gesichtshälfte, verteilen sich um uns herum. Ihre Schwerter stecken in der Scheide. Tinley und Indah stellen sich schützend vor ihre Schüler, und ich greife nach einem meiner beiden Dolche. Die Dolche meiner Mutter sind wie ein Schutzgeist, den ich stets bei mir trage.
Einer der Eindringlinge löst sich aus der Gruppe und stellt sich vor. Sein Kopfschal lässt nur seine Augen frei. Obwohl er keine Uniform oder den beim Militär üblichen Khanda trägt, erkenne ich in ihm den Offizier wieder, der als Erster die Armee verließ. Der frühere Kapitän hat seine Desertion nicht geräuschlos vollzogen. Er hat sich überall in der Stadt lautstark gegen die Duldung von Bhutas durch den Prinzen ausgesprochen.
»Geht dort hinüber«, weise ich meine Schülerinnen an. Die Mädchen huschen zu den Kindern, die sich hinter Tinley und Indah versammelt haben.
»Kapitän Lokesh«, ruft Ashwin von der Loge aus. »Ihr seid nicht eingeladen.«
Der Kapitän steckt die Hände in den Handschutz seines Pata-Schwerts. »Wir haben das Feuer gesehen und sind gekommen, um zu überprüfen, ob alles unter Kontrolle ist.«
»Wie Ihr sehen könnt, ist alles in Ordnung«, ruft Ashwin von oben herunter.
»Das glaube ich nicht«, erwidert Kapitän Lokesh. Seine Männer kommen noch immer näher. »Wer beschützt die Leute vor diesen Kindern? Die Wachen Eurer Majestät sind rar geworden.« Er sagt das voller Genugtuung. »Meine Männer und ich bieten unsere Dienste denjenigen an, die in diesen unsicheren Zeiten mehr Schutz brauchen.«
Hauptmann Yatin betritt in der Nähe der königlichen Loge mit mehreren Wachen die Arena. Ashwin ist bei Brac sicher, aber die Nähe der Söldner zu den Kindern macht mich nervös. Ich stecke meinen Dolch weg und lenke Seelenfeuer in meine Finger.
»Ihr müsst gehen«, sage ich. Tinley ruft Wind herbei, um der Bitte Nachdruck zu verleihen. Während die Brise am Schal des Kapitäns zerrt, lässt er seinen kalten Blick auf Ashwin ruhen. Ich schleudere ein paar Funken, und Lokesh richtet seine Aufmerksamkeit auf mich.
»Feuerwesen-Rani«, sagt er zum Abschied.
Er macht seinen Männern Zeichen, und sie verlassen nacheinander die Arena. Nachdem der Letzte weg ist, schickt Tinley ihnen einen Windstoß hinterher und schlägt damit das Tor zu. Yatin und seine Männer gehen ebenfalls, um den Rückzug zu überwachen. Indah und eine Schülerin schicken Geysire zu der brennenden Flagge und löschen das Feuer. Ich lasse meine Kräfte abebben.
»Etwas stimmt mit dem Kapitän nicht«, sagt Tinley, als sie die Winde zügelt. Sie wird nachdenklich. »Seine Stimme klang … seltsam.«
»Ich habe nicht darauf geachtet«, sage ich. »Ich war zu sehr mit seinen Pata-Schwertern beschäftigt.«
Tinley, völlig unbeeindruckt von seinen Schwertern, brummt missbilligend und geht zu ihren Schülern. Die Tore auf der anderen Seite gehen auf, und der Prinz betritt die Arena, sein Botschafter dicht hinter ihm.
»Das war eine Warnung«, sagt Brac. »Lokesh nimmt täglich mehr Soldaten auf. Seine Söldner sind den Palastwachen zahlenmäßig bald überlegen. Ihr müsst sie auseinanderbringen, Euer Majestät.«
»Mit welcher Begründung?«, fragt Ashwin. »Der Kapitän hat nichts Ungesetzliches getan. Lokesh hat das Recht, seine Meinung kundzutun. Ich kann nicht jeden mundtot machen, der mit mir nicht übereinstimmt.«
»Lokesh will, dass wir Angst vor ihm haben«, sage ich und zeige auf die zusammengedrängten Kinder.
Ashwin senkt den Kopf. »Bhutas im Reich aufzunehmen, ist eine einschneidende Veränderung. Die Menschen werden lernen, einander zu vertrauen. Je mehr sie miteinander zu tun haben, desto weniger Angst haben sie. Wir unterbrechen das Training vorübergehend.«
»Genau das will er doch«, wendet Brac ein.
»Wollt ihr die Kinder weitermachen lassen, als wäre Lokesh nicht hier gewesen?«, fragt Ashwin. Er weiß, dass wir das nicht tun würden. »Wir prüfen die Lage täglich.«
Basma und Giza rennen zu Brac und springen an ihm hoch. Er fängt sie auf und wirbelt sie herum. »Spiel mit uns!«, betteln sie.
Brac trägt sie zu Indah, die ein Spiel angefangen hat. Ashwins Blick folgt ihnen, er hat dunkle Ringe unter den Augen. Er war wieder lange auf, um zu lesen.
»Hast du etwas Neues in deiner Bibliothek gefunden?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf, und ich bin ernüchtert. Die einzige Aufzeichnung über die Reise eines Sterblichen in das Nichts und dessen Rückkehr ist die Erzählung Inannas Abstieg. Ashwin kann sich teilweise an die Geschichte erinnern. Wir haben die Bibliothek nach der schriftlichen Fassung durchsucht, jedoch kein Glück gehabt. Selbst wenn wir den Text finden, liegt das Tor zur Unterwelt noch immer am Grund eines gefrorenen Bergsees. Devens Mutter Mathura ist mit Bracs Vater Chitt zu den Südlichen Inseln gefahren, um die älteren Lestarianer nach einem anderen Tor zu fragen. Wir haben noch nichts von ihnen gehört.
»Würdest du gern mit mir zurück zum Palast reiten?«, fragt Ashwin. »Ich wollte unterwegs Halt machen, um mir die Fortschritte beim Tempelbau anzusehen.«
Aus Respekt vor seiner Viraji habe ich es vermieden, allein Zeit mit ihm zu verbringen. Nichtsdestotrotz ist er mein Cousin. »Gerne. Brac kann bei den Mädchen bleiben.«
Das Trio ist ins Spiel vertieft. Die Schüler richten ihre Kräfte auf eine Münze, die am Boden liegt. Wem es gelingt, sie höher als die anderen springen zu lassen, gewinnt.
Hauptmann Yatin wartet im Sattel seines Pferds vor dem Haupttor. Unter seiner enganliegenden Uniform zeigen sich seine muskulösen Arme und seine breite Brust. Er hat seinen langen Bart abrasiert, eine Vorschrift für Offiziere. Natesa beklagt oft, dass sie sein haariges Kinn vermisst. Sein jungenhaftes Gesicht lässt seine einschüchternde Gestalt weniger bedrohlich wirken.
»Lokesh ist weg«, berichtet Yatin. »Ich habe ihn auf dem Markt aus den Augen verloren.«
Ashwin hilft mir beim Aufsitzen und steigt hinter mir auf das Pferd. Unsere Körper sind eng beisammen, mehr nicht. Die Anziehung, die einmal zwischen uns existiert hat, ist verflogen.
Wir reiten hügelaufwärts zwischen einem Strom von Menschen hindurch. Yatin und die anderen Wachen reiten dicht neben uns, damit sich uns niemand nähert. Doch die meisten eilen sowieso in die entgegengesetzte Richtung, wenn sie mich sehen. Zwei Waschmädchen erkennen mich erst, als sie direkt vor uns stehen. Sie stammeln beide bestürzt »Feuerwesen-Rani« und laufen weg.
Ich tue so, als würde mir ihre Abneigung nichts ausmachen, damit Ashwin sich nicht aufregt. Tatsächlich vermisst ein Teil von mir meinen Herrschertitel. Den geschätzten Titel der Kindred aufzugeben, hat mich ein wenig aus der Bahn geworfen. Ich habe einen Halt gesucht, indem ich mich meinen Schülerinnen gewidmet und die Tempelmündel unterrichtet habe, aber ich bin wie ein Nektarvogel ohne Ast.
Wir reiten in den Tempelhof. Sonnenstände und Mondphasen sind zu Ehren der Himmel in die Steinwände gemeißelt. In der kurzen Zeit, seit wir die Neuerungen veranlasst haben, ist das künstlerische Schaffen bemerkenswert. Nach großen Überredungskünsten hat Priesterin Mita Erdwesen damit beauftragt, die Zimmerarbeiten zu übernehmen, wodurch die gesamte Bauzeit um die Hälfte reduziert wurde.
Der Grundriss ist gestaltet wie der Samiyas, aber es wird Fenster geben und einen Unterrichtsraum dort, wo der Forderungssaal war. Und die Schwesternschaft wird nicht mehr von der Großzügigkeit von Wohltätern abhängig sein.
Die Brüder des Parijana-Glaubens sind nämlich sehr sparsam. Sie haben genug in ihren Schatullen, um sämtliche Bruderschaften und Schwesternschaften für Jahrzehnte zu unterstützen.
Ashwin betritt den Bogengang und bewundert die farbenfrohen Wände. Auf unser Geheiß hin hat der leitende Architekt Inspiration in unserem vielfältigen Reich gesucht. Jede Landschaft ist dargestellt, von der Wüste über die Berge bis zur südlichen Meeresküste. Ashwin wischt eine staubige Fliese mit seinem Ärmel ab und blickt hinauf zu einem Muschellüster, ein Entwurf von den Südlichen Inseln.
»Die Bauarbeiter müssten ihre Arbeit in wenigen Wochen abschließen«, bemerkt er.
Priesterin Mita wird den Tempel weihen, danach werden dann die Schwestern und Mündel den Palast verlassen, um hier zu leben. Ich gehe weiter und schüttle diesen Gedanken ab.
In der Kapelle arbeiten die Maler an den Wandgemälden. Ihre Darstellung des Bergtempels des Gottes, Ekur, ist überirdisch schön. Üppig blühende Gärten, Säulen, die den Himmel stützen, kristallklares Wasser, in dem sich Regenbogenfische tummeln, makellose Fußwege …
»Ich hatte gebeten, dich einen Augenblick allein zu sprechen«, sagt Ashwin neben mir.
»Wir waren alle sehr beschäftigt.«
»Wir wissen beide, dass es mehr ist.« Er zupft nervös an seinen Jackenärmeln. »Du verhältst dich ziemlich distanziert.«
»Weil deine Viraji sonst verärgert sein wird.« Ich knuffe ihn scherzhaft. Doch er bleibt ernst.
»Ich mache mir Sorgen um dich, Kalinda.«
»Das musst du nicht.« Ich betrachte das Wandgemälde der Erdgöttin Ki, die von Kriegerschwestern flankiert wird. Frauen jeden Alters tragen Schwerter, in die die fünf Tugenden eingraviert sind. Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf die dunkle Ecke des Raums. Einst habe ich geglaubt, ich gehöre zu den Töchtern von Ki. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.
»Wohin gehst du?«, fragt Ashwin.
»Was?«, sage ich und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn.
»Seit der Ewigen Nacht bist du nicht mehr dieselbe, und ich meine nicht deine Hand. Du bist völlig abwesend. Ich will Deven genauso sehr finden wie du …«
»Das ist kaum möglich.« Ein Gewicht drückt von innen gegen meinen Brustkorb. Ashwin wird nicht von diesem drängenden Gefühl umgetrieben. »Ich bin froh über die gemeinsame Zeit, Ashwin. Aber ich muss zum Palast zurück. Mein Kunstunterricht beginnt bald.«
»Ich bleibe noch eine Weile«, sagt er. Wir lassen unsere Blicke durch die Kapelle schweifen, bevor sie sich erneut begegnen. »Willst du hierher umziehen, wenn alles fertig ist?«
»Der Tempel ist nicht mehr mein Zuhause.«
»Du wirst im Palast stets auch ein Zuhause haben.« Ashwin hält inne und wartet darauf, dass ich ihm zustimme.
Das kann ich nicht. Der Palast der Türkise birgt meine besten und schlimmsten Erinnerungen. Jaya ist dort gestorben, und ich habe Tarek dort geheiratet. Außerdem habe ich dort die Wiederauferstehung der Schwersternkriegerinnen und Devens miterlebt und mich verliebt. Unter Ashwins Regentschaft wird Vanhi ein Zuhause sowohl für Bhutas als auch Nicht-Bhutas sein. Das ist die Zukunft, die ich mir für ihn vorstelle, aber ist das auch meine? Ist Glücklichsein an einen Ort oder eine Person gebunden, oder ist es überall möglich?
»Danke«, sage ich mit einem abschließenden Unterton. »Wir sprechen bald.«
Ich verlasse Ashwin und gehe hinaus.
»Ich reite zum Palast zurück«, teile ich Yatin mit. Mein Gespräch mit Natesa von heute Morgen kommt mir wieder in den Sinn. »Yatin, darf ich fragen, warum du und Natesa eure Hochzeit verschoben habt?«
Er spielt an einem Knopf seiner Uniform. »Wir möchten, dass alle unsere Freunde zugegen sind.«
Er meint Deven.
Yatin und Natesa warten auf etwas, das vielleicht nie geschehen wird. Oh ihr Götter, es tut weh, es sich einzugestehen. Ich versuche, fröhlich zu klingen, als ich antworte. »Sag dem Prinzen, er soll dich nicht zu sehr einspannen.«
»Ich werde daran denken«, antwortet Yatin.
Er würde den Prinzen niemals kritisieren. Natesa hingegen …
Ich steige auf das Pferd eines Wachmanns und reite langsam zum Palast. Seine makellose elfenbeinfarbene Hülle reflektiert in der Mittagssonne, und seine goldenen Kuppeln sind von erhabenem Glanz. Natürlich ist das spektakulär, aber mein Herzenswunsch sind hügelige Wiesen und grasende Schafe. Eine bescheidene Hütte voller Bücher. Die Alpanas vor der Tür, während ich in meinem Arbeitszimmer zeichne und Deven in der Küche herumhantiert.
Der heiße Wüstenwind lenkt meine Aufmerksamkeit zurück auf die Stadt. Als ich die Straße überquere, gehe ich an einer Mutter und ihren Kindern vorbei. Sie zieht sie weg und ergreift die Flucht. Es schnürt mir die Kehle zu. Ich erinnere mich an eine Zeit, als diese Straßen von Menschen gesäumt waren, die mir zuwinkten und jubelnd meinen Namen riefen. Vielleicht haben sie nicht mich verehrt, sondern den Thron, den ich repräsentierte. Ich habe viel geopfert, um zu beweisen, dass ich den Thron verdient habe. Manchmal denke ich, es war zu viel. Die Anforderungen des Reichs hören nie auf. Ich musste zurücktreten, oder die Last hätte mich erdrückt.
Nie hätte ich gedacht, dass ich es so sehr vermissen würde.
Meine Rückkehr in den Palast löst keine große Aufregung aus. Ich reiche einer Wache die Zügel des Pferds und erklimme die Stufen zum Eingang. Die Spuren des Kampfes mit dem Herrn des Nichts sind beseitigt, die Instandsetzungsarbeiten beendet. Obwohl ich die Beseitigung der Schäden überwacht habe, fühlen sich die weitläufigen Flure des Palasts noch immer fremd an. »Zuhause« ist nicht das richtige Wort für eine Residenz, die keine Erinnerungen birgt.
Ich bleibe oben an der geschwungenen Flügeltreppe stehen. Wohin muss ich mich wenden, um zu dem Treffen zu gehen? Zwei Ranis bemerken mich und eilen herbei.
»Prinz Ashwin«, sagt Parisa. Oder ist es Eshana? Ich erinnere mich nicht. Sie sind beide wunderbare Ranis. Bei den Göttern, man könnte als Mann seinen Namen vergessen. »Eshana und ich haben darüber gesprochen, wie großzügig es ist, all die Schwestern und Schülerinnen zu beherbergen.«
»Ihr seid zu gütig«, schnurrt Eshana.
Ich spüre Hitze in meinem Nacken aufsteigen. »Ich sehe keine Veranlassung, sie woanders unterzubringen.«
»Wie großmütig von Euch.« Parisa sieht mich verschwörerisch an und packt mich am Oberarm. »Eshana und ich haben uns gefragt, ob Ihr schon darüber entschieden habt, die Ranis Eures Vaters am Hof zu behalten oder nicht.«
Ich spanne die Armmuskeln an. »Ich denke noch darüber nach.«
»Wir können Euch bei der Entscheidung helfen«, sagt Parisa und lächelt. »Ihr solltet uns bald im Tigerinnenpalast besuchen.«
»Euer Vater mochte meine Fußmassagen«, fügt Eshana hinzu.
Ein Gefühl von Abscheu macht sich in mir breit. Ich versuche zu vergessen, dass sie Tareks Ehefrauen waren; es hilft mir, sie mir nicht nur als Ranis vorzustellen. »Ich werde Euer Angebot überdenken.«
Sie küssen mich jeweils auf eine Wange und tänzeln davon. Als die feuchten Stellen auf meiner Haut getrocknet sind, fühle ich mich schuldig. Die Frauen haben eine Vielzahl Prüfungen durchgestanden: ihre Forderung, Rangturniere, die Heirat mit Tarek, Gefangenschaft durch den Warlord und einen schrecklichen Krieg. Sie verdienen ein glückliches Leben für ihre Loyalität gegenüber dem Reich, aber sie müssen nicht wissen, dass ich mit Prinzessin Gemi verlobt bin.
Während der schwierigen Eingliederung der Bhutas in die Gesellschaft möchte ich meine Wahl der Kindred erst kurz vor der Hochzeit verkünden. Nach der Heirat darf ich vor Ablauf von zwei Jahren oder bis zur Geburt eines Erben keine weitere Rani zur Gemahlin nehmen, so gebietet es der Brauch. Tarek ignorierte diesen Brauch, indem er meine Mutter und gleich darauf Kalindas Mutter ehelichte. Ich werde die Wartezeit einhalten, um deutlich zu machen, dass ich nicht den Anspruch auf hundert Ehefrauen erhebe, wie mein Vater es getan hat. Dann würde man von mir erwarten, die früheren Ranis zu heiraten oder sie ihres Ranges zu entheben und des Palasts zu verweisen.
Ich möchte weder das eine noch das andere tun.
»Euer Majestät?«, fragt Pons.
Ich drehe mich zu dem Windwesen um. Pons, der leise spricht und sich leise bewegt, dient bei Bedarf als mein Hofmeister. Ein vertrauter, willkommener Anblick. Er trägt das Haar hinten lang und oben auf dem Kopf rasiert. Gekleidet ist er in eine Tunika und kurze, weite Hosen. Ein Blasrohr hängt an seiner Taille, dessen kurzer Bambusstab steckt in seinem Ledergürtel.
»Ah, ich wollte gerade … Wo ist mein nächstes Treffen?«
»Es findet in einer Stunde auf der dritten Terrasse im dritten Stock statt.«
»Das ist …?« Ich betrachte die Flure. Pons ist genauso lange hier wie ich, doch er kennt den Grundriss bereits auswendig. Ich mache … Fortschritte.
»Soll ich Euch begleiten?«, fragt er.
»Ich werde schon hinfinden.«
Pons folgt mir nicht. Das muss er nicht. Das großgewachsene Windwesen kann meinen Bewegungen mit seinem empfindlichen Gehör folgen.
Ich steige mehrere Stockwerke bis zum Dach hinauf. Als ich das Vogelhaus betrete, flattern ein paar Tauben auf. Ich schlängle mich an den nistenden Vögeln vorbei bis zum Fenster. Vom Boden hebe ich eine kleine Kiste auf und entnehme ihr Pergamentpapier, einen Federkiel und ein Tintenfass. Die Oberfläche der Kiste dient als Schreibtisch.
Nachdem ich das angespitzte Ende des Kiels in die Tinte getaucht habe, setze ich die Spitze auf das Pergament.
Inanna war eine hochgeschätzte junge Frau und wurde von jedem in ihrem Dorf geliebt. Manche sagten, sie hätte die Loyalität eines Elefanten und den Mut eines Tigers. Männer umwarben sie, aber Inanna ignorierte sie. Sie wartete auf den einen – den Mann, den sie ihr ganzes Leben geliebt hatte.
Ich transkribiere die Erzählung aus dem Gedächtnis, beschreibe, wie Inannas Liebster in das Nichts entführt wurde und später in der Dunkelheit seine Körperlichkeit zurückgewann – und dann weiß ich nicht weiter. Die Version, die ich Kalinda vor vielen Monden erzählt habe, war eine übertrieben geschönte gewesen, um ihr Hoffnung zu geben. Inanna hat dem Herrn des Nichts die Stirn geboten, aber wie hat sie das überlebt?
Mein Geist ist leer wie das Pergament. Ich lege den Federkiel aus der Hand und erhebe mich. Ich muss mich bewegen. Ich umfasse die obere Traufe und schwinge mich aus dem Fenster auf das steile Dach. Meine Zehen ragen über die Kante hinaus.
Vanhi, die auch liebevoll Stadt der Edelsteine genannt wird, liegt vor mir. Ein Teil der Stadt ist noch immer zerstört. Ganze Viertel sind abgeriegelt, ihre Bewohner ausgesperrt. Zelte wurden vorübergehend an der Außenmauer, die an die Bhavya-Wüste grenzt, aufgestellt, bis die Viertel wieder aufgebaut sind. Was würden meine Vorfahren zu diesem Tohuwabohu sagen? Die Rajahs, die vor mir lebten, haben die Wüste gezähmt und diese Oase errichtet. Meine erste Handlung als Herrscher hat ihre harte Arbeit zerstört.
Nur wenige wissen, dass ich den Dämon Udug aus dem Nichts befreit habe, um einen gottlosen Sultan daran zu hindern, das Gleiche zu tun. Udug hat die Gestalt meines Vaters angenommen und unsere Armee in einen Kampf gegen den Warlord geführt. Sie haben die Rebellen besiegt, auch wenn der Preis dafür hoch war. Die Reparaturen haben unsere Reserven rasch erschöpft.
Aber nicht dauerhaft.
In einer Woche werde ich Prinzessin Gemi heiraten. In vielerlei Hinsicht ist sie eine Fremde für mich. Sie und ihr Volk haben sich meine Achtung errungen, als wir gemeinsam gegen Udug gekämpft haben. Seither habe ich die Geschichte der Südlichen Inseln und ihre Einbindung der Bhutas studiert. Das Reich braucht die Materialien und die finanzielle Unterstützung, die ich im Gegenzug für unsere Allianz ausgehandelt habe. Ich brauche außerdem Hilfe, um beim Friedensprozess Fortschritte zu machen.
Eine Zeit lang hatte ich eine andere eheliche Bindung im Sinn. Kalinda als meine Kindred war die logische Wahl, aber ihr Herz hat sich anders entschieden. Der Schmerz über ihre Zurückweisung hat eine Weile angehalten, ist jedoch inzwischen abgeklungen. Kali hat große Opfer gebracht, um in meinen Palast und auf den Thron zurückzukehren. Ich merke, wie unser Volk sie ansieht. Diejenigen, die gesehen haben, wie sie für unsere Freiheit gekämpft hat, respektieren sie trotzdem sie eine Bhuta ist. Die Mehrheit weiß ihre Bemühungen jedoch nicht zu schätzen und sieht in ihr nur ein Feuerwesen. Die zukünftige Kindred, die mit den Rebellen nichts zu tun hatte, wird ihre Wertschätzung leichter gewinnen. Dass ich Zuneigung für meine erste Ehefrau entwickle, hat keine Priorität. Rajahs sind in romantischen Dingen nicht so frei. Unser Herz gehört unserem Reich.
»Euer Majestät?«, sagt Pons vom unteren Dach aus. Ich kehre in das Vogelhaus zurück. Das Windwesen kommt herein und scheucht dabei die Tauben auf. Er sagt nichts zu meinem Aufenthaltsort. Während unserer ersten gemeinsamen Tage musste er mir versprechen, niemandem von meinen Ausflügen auf das Dach zu erzählen. »Euer Treffen beginnt bald.«
»Ich komme.« Ich lege Tinte und Federkiel in die Kiste und nehme das Pergament mit der unvollendeten Geschichte an mich.
»Soll ich diese Korrespondenz verschicken, Herr?«
»Das hier? Nein. Das ist nichts.« Ich knülle das Pergament zusammen. Der Boden der Holzkiste ist übersät mit zerknüllten Blättern. Ich werfe meinen letzten Entwurf ebenfalls hinein und schließe den Deckel.
Wind und Regen prasseln auf meinen Rücken und zerren an meinem Haar. Ich stehe am Ufer des Sees, auf dessen Oberfläche sich Eisschollen auf und ab bewegen.
»Kali!«, ruft mich Deven. Er steht inmitten des aufgewühlten Wassers. Eine Welle schlägt über ihm zusammen und verschlingt ihn, gibt ihn wieder frei.
Ich gehe bis zu den Schienbeinen in das eisige Wasser. Die Kälte brennt auf meiner Haut. Regen verwischt meine Sicht. Deven verschwindet erneut hinter einer Welle. Ich suche verzweifelt nach ihm. Er taucht wieder auf und schwimmt gegen Strömung und Wind an. Ein Strudel droht ihn zu packen, wirbelt ihn herum.
Er kann sich nicht daraus befreien.
Ich tauche unter und schwimme hinaus. Ich habe meine rechte Hand zurück. Ich frage mich die ganze Zeit, wie das möglich ist. Ich bündle sämtliche Kräfte, um Deven zu erreichen. Er kommt der Mitte des Strudels immer näher.
Wir strecken die Hände nacheinander aus. Unsere Fingerspitzen berühren sich …
Eine Strömung drängt sich zwischen uns.
Deven wird vom Strudel erfasst und geht unter. Ich suche die schwappenden Wellen ab. Als er nicht wieder an die Oberfläche kommt, hole ich tief Luft und tauche.
Schatten winden sich unter Wasser, Haken greifen nach Deven und ziehen ihn fort. Ich schwimme auf ihn zu und bekomme seine Finger zu fassen. Die Haken ziehen fester und entreißen ihn meinem Griff. Dunkelheit umgibt ihn, und er verschwindet aus meinem Sichtfeld. Ich schwimme in die Tiefe.
»Komm zu mir«. Die eindeutig weibliche Stimme hallt in meinem Kopf wider. »Komm zu mir, oder Euer Liebster gehört mir.« Ihre Stimme bekommt einen hässlichen Tonfall, als sie »Liebster« sagt.
Dieselben Haken, die Deven entführt haben, greifen nach mir. Eisige Dornen bohren sich in meine Oberschenkel. Keine Haken – Klauen. Ich versuche zu schreien. Mein Mund füllt sich mit Wasser, das nach Blei schmeckt. Das Phantom lacht. Ich will nach etwas Festem greifen, aber die Klauen versuchen, mich weiter in die Tiefe zu ziehen.
Jemand rüttelt an meiner Schulter. Ich schrecke hoch.
»Es tut mir leid, Euch zu stören«, sagt Indah. »Ihr beide schlaft schon eine ganze Weile.«
Ihre Tochter Jala schlummert in meinen Armen. Ich habe sie in ihren Gemächern besucht, wie ich es meistens an den Tagen nach meinem Kunstunterricht tue. Ich setze mich auf und wiege sanft das Baby, damit es nicht aufwacht. »Ich muss eingenickt sein.«
»Ihr habt irgendwas gemurmelt.«
Meine Beine tun weh. Ich kann mich noch immer an das unheimliche Lachen erinnern.
»Ich habe geträumt.« Mehr sage ich nicht, weil ich meinem Albtraum keine Glaubwürdigkeit verleihen will, indem ich seine Schrecken noch einmal durchlebe, und ich blicke hinab auf das eingewickelte Baby.
»Jala schläft bei Euch tief und fest«, bemerkt Indah in erfreutem Tonfall.
Sie hat mehr als einmal darauf hingewiesen, dass Jala und ich in einem früheren Leben miteinander verbunden waren. Mehr als einmal habe ich mich gefragt, ob Jalas kleiner Körper die reinkarnierte Seele meiner Freundin Jaya beherbergt. So wahnhaft es auch sein mag, gefällt mir die Vorstellung, dass Jaya aus dem Jenseits zurückgekehrt ist. Diese Vermutung gefällt mir besser als Rajah Tareks Behauptung, ich sei die reinkarnierte Seele der hundertsten Rani des Feuergottes. Auch wenn ich mich nach mehr Achtung durch mein Volk sehne, ist diese Beteuerung zum Glück nicht hängengeblieben.
Ich küsse Jalas flaumigen Kopf und reiche sie Indah. Das Baby wacht auf und verzieht protestierend das Gesicht. Ihr Wimmern verwandelt sich in lautes Geschrei. Der Lärm befreit mich von den letzten Eindrücken meines Albtraums, bis auf Devens Angst, als er davonglitt. Nichts kann das aus meinem Gedächtnis löschen.
»Trefft Ihr Euch heute Abend nicht mit Deven?«, fragt Indah.
Mein Blick schnellt zum offenen Balkon und dem dämmrigen Himmel. »Wie spät ist es?«
»Kurz nach Sonnenuntergang«, höre ich Indahs Antwort, während ich zur Tür gehe. »Deshalb habe ich Euch geweckt. Ich dachte, Ihr wolltet ihn gern sehen.«
»Ja, das will ich.« Ich danke ihr und laufe den Flur hinunter zu meinem Gemach. Natesa liegt auf meinem Bett und nascht von der Mango auf Devens Esstablett.
»Da bist du ja«, sagt sie. »Wie war dein Tag?«
Deven ist noch nicht da, weshalb ich mich zu ihr setze und ebenfalls ein Stück von der Frucht stibitze. »Ich kann nicht klagen. Meine Kunstschüler lernen, Personen zu zeichnen. Sie sind fasziniert vom Feuergott Enlil. Sie wollen nur noch ihn zeichnen.«
»Es sind junge Frauen mit Perfektionsanspruch.«
»Ich war damals von Anu ganz hingerissen«, gestehe ich. »Aber ich hatte auch noch nie einen echten Mann gesehen. Diese Mädchen haben schon viele gesehen.«