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Das Feuer ist ihre mächtigste Waffe - wenn es sie nicht zerstört!
Kalinda wurde vom Eishauch eines Dämons berührt. Dieser hat nun in der Gestalt des toten Tyrannen Tarek die Kontrolle über ihre Armee übernommen. Wieder muss sie mit ihren Gefährten fernab der Heimat bei einem fremden Herrscher Zuflucht suchen. Auf den südlichen Inseln ist Kalinda endlich frei, ihre Kräfte zu nutzen, doch die Berührung des Dämons hat das Feuer in ihr unkontrollierbar gemacht. Aber vielleicht ist die ungezügelte Macht des Feuers das Einzige, was die dunkle Kreatur aufhalten kann, die Kalindas Volk in ihrem Todesgriff hält.
"Das Buch hat mich bis tief in die Nacht wachgehalten." BOOK GEEK REVIEWS
Band 3 der Reihe
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Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Anmerkung der Autorin
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Figuren
Danksagungen
Die Autorin
Die Romane von Emily R. King bei LYX
Impressum
EMILY R. KING
Die letzte Königin
Die Seele des Feuers
Roman
Ins Deutsche übertragen von Beate Bauer
Kalinda hat Unfassbares erlebt. Sie hat mehrfach in der Arena um ihr Leben gekämpft und wurde vom Eishauch eines Dämons berührt. Dieser hat nun in der Gestalt des toten Tyrannen Rajah Tarek die Kontrolle über ihre Armee übernommen. Kalinda sucht mit Tareks Sohn Ashwin und ihren Gefährten Zuflucht und Unterstützung auf den südlichen Inseln. Dort ist sie endlich frei, ihre Kräfte zu nutzen, doch es stellt sich bald heraus, dass die Berührung des Dämons das Feuer in ihr unkontrollierbar gemacht hat. Und es kommt noch schlimmer – der falsche Rajah Tarek versucht mit allen Mitteln, Kalinda in seine Hände zu bekommen, um seinen Anspruch zu festigen. Und Kalinda weiß, dass auch die, die ihr Hilfe versprechen, einen Preis dafür verlangen werden. In all diesen Wirren sind ihr Geliebter Deven und Prinz Ashwin ihr Trost und Stütze, doch die Rivalität zwischen den beiden Männern überschattet Kalindas Liebe zu Deven zunehmend. Solange sie sich nicht offen gegen eine Ehe mit Ashwin ausspricht – eine Ehe, die ihr Reich vor dem Untergang retten könnte –, werden sie und Deven kein Glück zusammen finden. Aber etwas in ihr kann sich nicht von Aswhin abwenden, scheint er doch der Einzige zu sein, dessen Nähe die eisige Kälte des Dämons in ihrer Seele lindert …
Für Joseph, Julian, Danielle und Ryan.
Eure Namen stehen in meinem Buch ganz vorn.
Zufrieden jetzt?
In Liebe, Mom
Die Religion des Tarachandischen Reiches, der Parijana-Glaube, ist eine fiktive Abwandlung sumerischer Gottheiten. Der Parijana-Glaube und das Tarachandische Reich repräsentieren keine bestimmte Epoche oder Gemeinschaft und auch keinen bestimmten Glauben. Jede Ähnlichkeit mit anderen Religionen oder Herrschaftsstrukturen ist rein zufällig, ebenso die mit tatsächlichen Personen oder Ereignissen.
KALINDA
Die Beisetzungszermonie beginnt bei Tagesanbruch, bevor die Hitze des Dschungels den Tau verdunsten lässt und die morgendliche Brise erstickt. Wir haben uns im Heck des Flussschiffs versammelt und sehen ernst dabei zu, wie Deven und Yatin die letzten schweren Steine an den Fußknöcheln und Handgelenken des Leichnams befestigen. Indah hat ihn bereits mit Mandelöl eingerieben, ein Ritual aus ihrer Heimat, den Südlichen Inseln. Pons, ihre geliebte Leibwache, hat ihr dabei geholfen, den Verstorbenen in weiße Laken zu wickeln.
Natesa legt ihren Arm um meine Taille. Ich halte mich an ihr fest und entlaste mein verwundetes Bein. Prinz Ashwin steht mit gesenktem Kopf an der Seite, aber ich kann seine noch immer geröteten Augen und seine ebenfalls gerötete Nase sehen.
Deven richtet sich so langsam auf, als täte ihm alles weh. Ich kenne das Gefühl, diese lähmende Schwere, als steckte man in Treibsand. Alle an Bord bewegen sich mit der gleichen schwerfälligen Langsamkeit, als würden Mühlsteine an uns zerren.
Das Rauschen des Flusses Ninsar erfüllt die Stille. Wenn doch das Leben ebenso gleichmäßig dahinfließen könnte wie er. Obwohl ich glaube, dass der Tod nicht das Ende ist und unsere Seelen weiterleben, bin ich nie wirklich darauf vorbereitet, wenn Leben versiegt.
Deven neigt den Kopf und spricht unser traditionelles Totengebet. »Ihr Götter, segnet Bruder Shaans Seele, damit er das Tor finden mag, das zu Frieden und ewigem Licht führt.«
Gestern Nachmittag fand ich Bruder Shaan zusammengesunken in seinem Stuhl vor dem Ruderhaus. Seit unserer Flucht aus der Stadt Iresh hat er vierzehn Tage lang unermüdlich zu den Göttern gebetet, dass sie uns in diesen schweren Zeiten beschützen mögen. Indah meinte, sein Herz sei einfach stehengeblieben, wie es alte Herzen eben tun. Aber ich glaube, dass ihn die Furcht vorzeitig ins Grab gebracht hat.
Deven beendet das Gebet mit ein paar eigenen Gedanken: »Bruder Shaan war ein engagiertes, loyales und liebendes Mitglied der Bruderschaft. Er verkörperte die fünf göttlichen Tugenden in jeder Hinsicht und diente Anu mit ganzem Herzen.« Seine zittrige Stimme versagt ihm. »Wir werden ihn vermissen.«
Yatin legt seinem Waffenbruder Deven für einen Moment die Hand auf die Schulter und drückt sie. Die Soldaten tragen den Leichnam an die Kante der Barke. Pons hilft ihnen, ihn über Bord zu heben und dem Fluss zu übergeben. Wasser spritzt auf.
Tränen brennen in meinen Augen. Der Körper treibt einen Moment lang an der Oberfläche, bis die Steine ihn in die Tiefe des trüben Flusses ziehen.
»Enki«, sagt Indah, als sie zu der Wassergöttin betet. »Schicke deine Seedrachen, um Bruder Shaans Seele ins Jenseits zu begleiten und lösche alle schmerzvollen oder angsterfüllten Erinnerungen an sein sterbliches Leben.«
Ihr Totengebet ist für uns Bewohner von Tarachand ungewöhnlich, weil wir den Himmelsgott Anu anbeten. Indahs Volk glaubt, dass heilige Kreaturen aus der Tiefe, die Seedrachen, ihre Seelen ins Jenseits oder das Nichts geleiten, wenn sie sterben. In diesem Moment, da wir nicht an Land gehen und Bruder Shaan in einem Erdgrab beisetzen können, wie es unser Brauch ist, sind ihre Worte ein dringend benötigter Trost.
Pons geht als Erster, um unsere Ruderer zu überwachen.
Wir fahren weiter den Fluss entlang, und die Stelle, an der Bruder Shaans Leiche untergegangen ist, verschwindet in unserem schwach gekräuselten Kielwasser. Ein Mangrovenwald überwuchert die Flussufer und gedeiht im brackigen Feuchtgebiet zwischen Regenwald und dem Meer der Seelen. Die Baumwurzeln, die teilweise im Schlamm verschwinden, erheben sich von der Oberfläche wie knorrige Pfähle. Wir haben das Flussdelta beinahe erreicht. Bruder Shaans Wunsch, das Meer zu sehen, hätte sich für ihn fast erfüllt …
Yatin tritt zu Natesa. »Geht es dir gut, kleiner Lotus?«
Sie streicht ihm mit der Hand über die Brust. »Ja.« Ihr stattlicher Soldat mit dem Vollbart kam schwerkrank an Bord des Flussschiffs. Indah, das erfahrenste Wasserwesen an Bord, kurierte Yatins Krankheit, und Natesa hat ihn wieder gesundgepflegt. Er hat an Gewicht verloren, ist aber noch immer der stärkste Mann an Bord. Die Sorge um seine Genesung und meine im Turnier erlittenen Verletzungen haben uns so sehr beschäftigt, dass wir Bruder Shaan vernachlässigt haben.
Das Gewicht dieser Schuld lastet auf uns allen.
Natesa und Yatin gehen den Laufgang seitlich am Boot entlang. Ashwin hat sich davongeschlichen, als keiner aufgepasst hat. Seit Iresh haben wir nicht miteinander gesprochen. Ich verbringe meine Zeit mit Deven – und Ashwin geht uns aus dem Weg. Auf so engem Raum wie jetzt waren wir seit Tagen nicht zusammen.
Indah kommt zu mir. »Kalinda, es ist so weit.«
Weil die Stimmung heute Morgen so gedrückt ist, überlege ich, unsere Sitzung ausfallen zu lassen, doch ich verdanke es allein Indahs Heilkräften, dass ich wieder stehen kann.
Deven blickt noch immer auf den Fluss hinaus. Ich habe ihn letzte Nacht so gut es ging getröstet, doch Bruder Shaan war sein Mentor. Manche Verluste hinterlassen eine Leere, die nicht wieder gefüllt werden kann.
Indah reicht mir den Arm, ich nehme ihn und wir lassen Deven in Ruhe trauern.
Ich liege im Ruderhaus auf einer Pritsche und spüre, wie mich Indahs Kräfte wie lauwarmes Wasser überströmen. Sie lässt meine Schläfen los, ihre Miene ist angespannt. Meine einstündige Sitzung ist nicht so verlaufen wie erwartet.
Sie wäscht ihre Hände im Waschbecken. Meine Haut verströmt die frischen Gerüche ihrer Heilwässer, von Kokosnuss und weißem Sandelholz.
»Und?«, frage ich.
»Der Knochen in Eurem Bein ist wieder zusammengewachsen, und die Narbe von dem Schwert an der Seite ist kaum noch zu sehen.«
Beide Verwundungen habe ich während meines Duells im Turnier erlitten, aber das ist es nicht, was uns Sorgen macht. Vor unserer Flucht aus Iresh blies der Herr des Nichts, ein leibhaftiger Dämon, der aus seinem Gefängnis in der Ewigkeit befreit wurde, sein giftiges Feuer in meine Kehle. Trotz Indahs Bemühungen, mich davon zu befreien, verursachen seine Kräfte noch immer eine Eiseskälte in meinen Adern. Nicht einmal ein Schmerzblocker, Indahs seltene Gabe, Schmerz kurzfristig auszuschalten, schwächt die Kälte ab.
Ich schließe die Augen und suche in mir nach dem einen perfekten Stern. Das ewige Licht ist die Quelle für meine Kräfte als Feuerwesen – mein Seelenfeuer. Kein Sterblicher oder Bhuta existiert ohne dieses innere Leuchten. Ich entdecke den Stern, doch sein kräftiges Licht ist verschwommen. »Ich sehe etwas Grünliches hinter meinen Augenlidern.«
»Das kommt von den Dämonenkräften.«
»Könnt Ihr sie vertreiben?«
»Ich weiß nicht wie«, erwidert Indah und hilft mir, mich aufzurichten. »In gewisser Hinsicht ist Eure Seele durch Frost geschädigt. Wären die verletzten Teile eine Extremität, würde ich eine Amputation empfehlen, doch weil es eine innere Schädigung ist …«
»Könnt Ihr meine Seele nicht amputieren«, beende ich den Satz mit einem gezwungenen Lachen, obwohl ich nichts an der Erinnerung daran, wie ich mich vor Schmerzen am Boden krümmte, gepeinigt von dem langsamen, quälenden Brennen des kalten Dämonenfeuers, witzig finde. Der anfängliche Schmerz hat nachgelassen, hat jedoch dunkle Flecken wie angelaufenes Silber in mir zurückgelassen. Die Kräfte des Herrn des Nichts hätten mich zerstört, wäre ich nicht zu einem Viertel selbst eine Dämonin. Alle Feuerwesen stammen von Enlil ab, einem unehelichen Sohn der Erdgöttin Ki und des Dämonen Kur. Vermutlich sollte ich meine Abstammung zu schätzen wissen. Aber ich bin nicht dankbar. Ganz und gar nicht.
Indahs goldene Augen spiegeln ihre Besorgnis. »Ich werde in Lestari eine erfahrenere Heilerin für Euch finden. In der Zwischenzeit solltet Ihr mit Euren Kräften und Fähigkeiten haushalten.«
Ich hatte keine Veranlassung, meine Fähigkeiten als Feuerwesen in Anspruch zu nehmen, seit ich gegen den Herrn des Nichts gekämpft habe. Aber was passiert, wenn ich sie brauche? Ich schiebe meine Besorgnis beiseite. Wir haben Lestari, die Reichsstadt der Südlichen Inseln, fast erreicht. Heute Abend werden wir dort ankommen, bis dahin halte ich durch.
Als ich aufstehe, versuche ich, das Gewicht auf mein verwundetes Bein zu verlagern; kein Schmerz schießt durch mich hindurch. Indah reicht mir ihren Arm, doch ich greife nach meinem Stock. »Ich komme allein zurecht.«
Ich humple zur Tür hinaus, wobei ich auf das Schwanken des Schiffs achte. Nach ein paar Schritten ruhe ich mich an einer sonnigen Stelle an Deck aus. Das strahlende Licht wärmt meine Haut, doch der innerliche Raureif wird nicht weniger.
»Weiß Indah, dass du allein hier draußen bist?«
Ich wirble zu Natesa herum und hake mich bei ihr unter. »Ich bin nicht allein. Du bist hier.«
»Lass uns ein Stück gehen.« Sie zieht mich von der Reling weg, und wir gehen außen um das Deck herum. Sie wiegt sich in den Hüften und lässt ihren Zopf wie ein Pendel schwingen, wenn auch unabsichtlich. Natesa kann ihre Kurven genauso wenig überspielen wie ich etwas an meiner Magerkeit ändern kann.
Als ehemalige Rivalinnen bei den Rangturnieren zwischen Ehefrauen und Kurtisanen des Rajahs konnten wir uns eine Zeit lang nicht leiden. Natesa und meine anderen Gegnerinnen kämpften um ein besseres Leben in dieser Welt der Männer. Nur ich habe das Turnier gewonnen. Mein zweiter Sieg in den Turnierkämpfen in Iresh hat mir meinen Thron als Rani des Tarachandischen Reiches gesichert. Ich bin gegen vier weibliche Bhutas in mehreren Wettkämpfen angetreten, die dazu gedacht waren, unsere Kräfte auf die Probe zu stellen. Mein Preis ist, Prinz Ashwins Erste Frau, seine Kindred, zu werden. Ich respektiere Ashwin, aber ihn zu heiraten, fühlt sich nicht gerade wie eine Belohnung an.
»Der Prinz ist nach der Bestattung recht schnell verschwunden«, bemerkt Natesa.
»Er geht mir aus dem Weg.«
»Er geht Deven aus dem Weg. Hat er dir von ihrem Streit erzählt?«
»Nein …«
Natesa verzieht spöttisch die Lippen. »Gleich nachdem wir Iresh verlassen haben, hat Deven Ashwin geschlagen und beinahe über Bord geworfen.«
Bei den Göttern. Als Hauptmann der Wache ist es Devens Pflicht, den Prinzen zu beschützen, doch er wirft Ashwin vor, den Herrn des Nichts entfesselt zu haben. Der Dämon kehrte in der physischen Gestalt meines Ehegatten Rajah Tarek, Ashwins Vater, zurück. Weil er ihn befreit hat, musste der Herr des Nichts Ashwin seinen Herzenswunsch erfüllen – den Bhuta-Warlord aus dem Palast der Türkise in unserer Reichsstadt Vanhi zu vertreiben.
Der Dämon in Rajah-Gestalt ist aufgebrochen, genau das zu tun. Er hat unser Volk aus den erbärmlichen Lagern in Iresh befreit und damit dessen Zuneigung gewonnen, hat aber dabei das Leiden der Menschen ausgenutzt. Unsere Armee beabsichtigt, gemeinsam mit dem Herrn des Nichts in das ferne Vanhi zu marschieren. Tareks Ehefrauen und seine Kurtisanen sind dort eingeschlossen; meine Freundinnen und Kriegerschwestern, gefangen gehalten vom Warlord und seiner Bande von Rebellen. Ich will, dass die Ranis freigelassen werden, doch der Rajah-Dämon darf den Warlord nicht stürzen. Falls er Erfolg damit hätte, würde er Angst und Schrecken über unsere Welt bringen.
»Ich habe versucht, es zu erklären«, sage ich, »aber Deven hört nicht zu.«
»Vielleicht hat er allen Grund, wütend zu sein.« Natesa lässt ihren Blick über das Wasser gleiten. »Sogar Bruder Shaan hat unser Schicksal gefürchtet.«
Leider ist der Verlust von Bruder Shaan eine weitere Tragödie, die Deven dem Prinzen anlasten kann. »Ashwin konnte nicht wissen, dass der Dämon Tareks Gestalt annehmen und unser Volk davon überzeugen würde, dass er ihr Rajah ist.«
Wir umrunden das Heck des Schiffs und stoßen beinahe mit dem Prinzen zusammen. Er hält ein Buch aufgeschlagen in der Hand, wie bei unserer ersten Begegnung. Nur dass ich ihn diesmal nicht mit seinem Vater verwechsle. Ashwin besitzt zwar Tareks unwiderstehliches Aussehen, doch er ist gutherzig. Seine gekränkte Miene verrät, dass er unsere Unterhaltung belauscht hat.
»Eure Majestät«, sagt Natesa und verbeugt sich. »Wir haben Euch gar nicht gesehen.«
»Natürlich nicht«. Er klappt das Buch zu. »Ich mache eine Runde.«
Er will an uns vorbeigehen, doch ich hake mich bei ihm unter. »Wollen wir gemeinsam ein Stück gehen?«
Ashwin dreht sich langsam zu mir und reibt sich die Schläfe, als hätte er Kopfschmerzen. Ich ziehe ihn mit mir, und Natesa geht zufrieden in die andere Richtung davon.
»Wie geht es dir?«, frage ich den Prinzen.
»Nun, vielen Dank.« Seine vage Antwort lässt mich verstummen. Das Klacken meines Stocks auf dem Holzdeck ist das einzige Geräusch. Ich habe die Hoffnung auf eine Unterhaltung schon fast aufgegeben, als er fragt: »Wie fühlst du dich?«
»Besser. Indah meint, ich könnte bald wieder allein gehen.«
Er nickt, sagt aber weiter nichts. Ich sehne mich nach der Unbeschwertheit, die einst zwischen uns geherrscht hat. Während Deven in Iresh im Militärlager gefangen gehalten wurde, lernten Ashwin und ich, einander zu vertrauen. Ich trage noch immer den Messingarmreif, den er mir vor meinem letzten Turnier als Glückbringer geliehen hat. Ashwin ist mein Cousin zweiten Grades und das einzige lebende Familienmitglied. Ich könnte es nicht ertragen, seine Freundschaft zu verlieren.
Ich bleibe stehen, weshalb auch er stehen bleibt. »Was kann ich tun, um das wieder in Ordnung zu bringen? Dieses Unbehagen zwischen uns ist unerträglich.«
»Du weißt, was ich will.« Er schaut in alle Richtungen, nur nicht zu mir. »Ich kann meine Wünsche wiederholen, wenn du das willst, aber ich werde mein Wort halten. Du hast das Turnier gewonnen und somit keine weitere Verpflichtung mir oder deinem Thron gegenüber.«
»Glaubst du wirklich, ich würde dich verlassen?«
Er legt die Stirn in Falten. »Ich dachte, jetzt da Hauptmann Naik zurückgekehrt ist …«
»Das Tarachandische Reich ist auch mein Zuhause. Unser Volk ist vom Dämon-Rajah getäuscht worden. Er marschiert auf unseren Palast mit unserer Armee zu, wo meine Ranis vom Warlord gefangen gehalten werden. Ich bin bei dir, Ashwin. Vielleicht nicht so, wie du es dir gewünscht hast, aber wir werden uns dem Dämon-Rajah gemeinsam entgegenstellen.«
Seine Lippen zucken, und er muss sich ein Lächeln verkneifen. »Verstanden, Kindred.«
Ich ziehe ihn weiter, und er geht mit, hält sich dicht bei mir. »Woher hast du es?«, frage ich ihn und deute auf das Buch unter seinem Arm.
»Ich habe es unter mein Hemd gesteckt, bevor ich Iresh verlassen habe.«
Mein Blick schnellt zu ihm. »Hast du nicht.«
»Doch. Ich sah es auf dem Boden liegen und hab es mir geschnappt.«
Ashwin hat mehr Bücher gelesen als jeder andere, den ich kenne. »Ist es gut?«
»Gähnend langweilig. Aber das Gute ist, dass ich gelernt habe, wie man einen Turban näht.« Er zeigt mir den Titel. Anleitung einer Schneiderin für die männliche Garderobe. Ich muss lachen. Er lacht lautlos, seine Schultern beben.
Ich werde wieder ernst, als ich mich frage, ob unsere Heiterkeit nur wenige Stunden nach Bruder Shaans Bestattung angemessen ist. Aber Bruder Shaan glaubte daran, dass alle Kinder des Anu, Bhutas wie Sterbliche, in Harmonie leben sollten. Es hätte ihm gefallen, dass Ashwin und ich uns wieder versöhnt haben.
Wir erreichen den Bug. Niemand außer uns ist hier. Der Himmel davor erhebt sich über dem Wasser und den Mangroven. Eine Brise zerzaust Ashwins kurzes tiefschwarzes Haar. Ich ruhe mich an der breiten Wand neben der Reling aus, erschöpft von meinem kurzen Ausflug.
»Darf ich dich zurück ins Ruderhaus begleiten?«, fragt er.
»Ich bleibe noch ein Weilchen hier.« Ashwin setzt sich weder noch geht er. Seine Unentschlossenheit angesichts unserer Nähe bringt mich auf die Palme. Ich habe ihn vermisst, aber dieses Eingeständnis kommt mir nicht über die Lippen. Er interpretiert meine Gefühle vielleicht anders, als sie gemeint sind. »Danke für den Spaziergang.«
Er zögert und ist völlig ernst. »Ich werde das Reich zurückerobern, Kalinda.«
Ashwin macht seine Verfehlungen fast ausschließlich mit sich allein aus. Ich habe gesehen, wie er nachts auf dem Deck auf- und abging, sich Kopfschmerzen wegmassierte und sich das Haar raufte. Bruder Shaans Tod verstärkt sein schlechtes Gewissen noch. Ashwin liebt das Reich und sein Volk. Er wird nicht ruhen, bis er beides wiedergewonnen hat. Ich sehe in seine blutunterlaufenen Augen. »Ich weiß, dass du das wirst.«
Er deutet ein Lächeln an und beugt sich herunter, um mich auf die Wange zu küssen. Ich wende mich ihm zu; er riecht nach Kokosnussrasieröl. Uns ist beiden nicht klar, wie nah wir einander sind, und seine Lippen landen auf meinem Mundwinkel.
Ich begegne seinem überraschten Blick. Er hält inne und drückt dann seine Lippen auf meine Wange. Sein sanfter Mund entzündet ein Feuer unter meiner Haut. Wärme durchdringt mich bis tief in mein Innerstes. Ich schmiege mich an ihn und ziehe die Berührung hinaus. Zum ersten Mal seit Tagen lässt die innere Kälte nach, und mein Seelenfeuer brennt wahrhaftig.
Ashwin weicht zurück. Kälte durchströmt mich erneut. Den Mund weit aufgerissen starre ich ihn an. Er strahlt, beglückt von meiner Reaktion, und schlendert davon.
Was ist da gerade zwischen uns passiert? Ich … Ich habe zugelassen, dass er mich küsst. Zweimal.
Als ich mein Spiegelbild auf dem Wasser betrachte, versuche ich, nicht an Ashwin zu denken, aber in meinem Kopf dreht sich alles. Sobald ich wieder mit Deven vereint war, schob ich meine romantischen Gefühle für Ashwin beiseite. Trotzdem hätte der Kuss des Prinzen ohne jeden Widerstand von meiner Seite länger dauern können. Kann es sein, dass er mir noch immer mehr bedeutet als ein Freund? Ich kann diese wohltuenden Sekunden nicht ignorieren, als der Winter in mir schmolz …
»Da bist du ja«, sagt Deven.
Er zieht seine scharlachrote Uniformjacke glatt und setzt sich neben mich. Heute Morgen hat er seinen Vollbart abrasiert, und sein Haar unter dem Turban ist kurz geschnitten. Er ist bereit, sich mit den Lestarianern zu treffen und ist haargenau das Abbild eines gut aussehenden Offiziers der tarachandischen Armee.
Ich schmiege mich an ihn und warte darauf, dass er Fragen über Ashwin und mich stellt. Doch entweder hat Deven uns nicht zusammen gesehen, oder er will nicht über den Prinzen sprechen. Ich will das Thema ebenfalls nicht aufbringen. Ashwins Kuss war unschuldig, eine Geste zwischen Freunden, doch eine solche Geste zuzulassen, könnte Fragen aufwerfen. Manchmal ist die Wahrheit schmerzhafter als ihre Unterschlagung. Und ich bin nicht die Einzige, die Geheimnisse hat.
»Natesa sagt, du hättest versucht, Ashwin über Bord zu werfen«, sage ich.
»Es war mehr ein Schubs«, erwidert Deven leichthin.
Ich gebe einen Seufzer von mir. »Das hättest du nicht tun sollen.«
Er reagiert gereizt. »Es ist meine Aufgabe, das Reich zu verteidigen. Der Prinz hatte gerade den Herrn des Nichts befreit. Allem Anschein nach war er eine Bedrohung.«
Ich verschränke meine Finger mit seinen. »Der Prinz ist dein Befehlsherr. Sobald er eine Frau ehelicht, wird er Rajah sein.« Ich habe uns unabsichtlich auf ein Thema gebracht, dem ich seit Tagen aus dem Weg gegangen bin. Deven hat mich nicht gebeten, meinen Thron aufzugeben. Er versteht, dass mein Rang als Rani göttliche Vorsehung ist – und meine Wahl. Oder um es genauer zu sagen, eine angenommene Verpflichtung. Doch keiner von uns beiden weiß, was das für uns oder unseren Traum eines friedlichen Lebens in den Bergen bedeutet. »Du musst deinen Unmut überwinden. Wir sind schon von genug Spaltung geplagt.«
Er spannt sich an, und seine Stimme klingt angestrengt. »Ich versuche es, Kali. Ich muss an so viele Dinge denken.«
Mehr als Bruder Shaans Tod zehrt an ihm. Seine Mutter und sein Bruder, Mathura und Brac, sind an der Grenze zwischen dem Reich und dem Sultanat gestrandet. Zwei Luftwesen wurden ausgesandt, sie zu finden, sind aber noch nicht zurückgekehrt. Mit jedem Tag wird Devens Angst größer.
Ich umfasse seine glatte Wange. »Das weiß ich doch.«
Er schmiegt sie gegen meine Hand. Seine Gesichtszüge sind eine Mischung aus rauer Härte und geschmeidiger Glätte, so, wie auch seine wichtigsten Rollen: Soldat und hingebungsvoller Anhänger des Parijana-Glaubens. Ich berühre seine Lippen mit meinen. Er zieht mich fester an sich, und sein Geruch nach Sandelholz steigt mir in die Nase. Seine Körperwärme berührt mich, dringt jedoch nicht ein und lindert auch nicht die Kälte in mir. Ich denke nicht daran, was das womöglich bedeutet, und lasse meine Finger über seinen Hals gleiten. Heißes Verlangen steigt in meiner Kehle auf, doch das eisige Gefühl in mir hält an. Atemlos und zitternd löse ich mich von ihm.
Devens sanfte braune Augen schauen mich prüfend an. »Was ist mit dir?«
»Ich …« Ich weiß nicht. »Ich sollte mich hinlegen.«
Ich stütze mich auf meinen Stock, um aufzustehen, doch Deven zieht mich in seine Arme. Meine Füße sind in der Luft, und ich schlinge die Arme um seinen Hals. »Lass mich herunter!«
»In Ordnung«, sagt er ruhig und geht in Richtung Ruderhaus.
Ich ziehe mein Unterkleid und meinen Sari um mich. »Du hast gesagt, du lässt mich herunter.«
»Das werde ich … auf deiner Pritsche.«
»Aber ich kann laufen!«
Deven ruft laut: »Vorbeilassen!«
Ein Stuhl versperrt unseren Weg. Indah und Pons nehmen ein spätes Frühstück aus geriebenem Obst und Johannisbeeren zu sich. Pons’ Haar fällt über seinen Rücken; Oberkopf und Seiten sind rasiert. Er packt Indahs Sitzgelegenheit und zieht sie aus dem Weg. Ich erröte bei ihren unverhohlenen Blicken. Das Wasserwesen und das Luftwesen sind ineinander verliebt, doch sie zeigen das nicht in der Öffentlichkeit. Ich ahne, dass Pons es tun würde, wenn Indah dazu bereit wäre, doch sie ist sehr zurückhaltend, was ihre Gefühle betrifft.
Deven trägt mich durch die offene Ruderhaustür und legt sich zusammen mit mir auf die Pritsche. »Siehst du? So schlimm war es doch gar nicht.«
Ich schmiege mich an ihn. »Ich könnte dir dafür die Nase wegbrennen.«
»Du magst meine Nase.«
»Stimmt«, sagte ich und küsse ihre Spitze.
Er lässt seine raue Handfläche unter meine Bluse und über meinen bloßen Rücken gleiten. Seine Berührung wärmt mich an Stellen, die Ashwins Kuss nie erreichen könnte. Ich drücke erneut meine Lippen auf Devens und genieße es, seinen Körper auf meinem zu spüren. Meine Finger ranken sich um seine muskulösen Schultern, doch seine Jacke verhindert, dass ich Haut berühre. Deven hört nicht auf mich zu küssen, während er die Knöpfe aufmacht, um seine Jacke auszuziehen.
Plötzlich geht die Tür auf, und Natesa bleibt wie angewurzelt stehen. »Tut mir leid, dass ich störe.« Ihre Augen funkeln, als sie uns so eng umschlungen vorfindet. »Wir haben die Flussmündung erreicht. Ein Schiff aus Lestari wartet auf uns.«
Deven liebkost mein Ohr. »Irgendwann werde ich dich ganz für mich allein haben«, sagt er mit heiserer Stimme.
Ein warmer Schauer läuft mir über den Hals. »Ich werde dich daran erinnern.« Ich küsse ihn noch einmal und richte mich auf. Schwindel befällt mich, weil ich mich zu schnell aufgerichtet habe, und ich sinke nach vorn.
»Du solltest dich hinlegen«, sagt Deven, während er seine Jacke zuknöpft.
»Es geht mir gut. Gib mir eine Sekunde.« Ich atme einige Male tief durch, und der Schwindel vergeht.
»Kali, du solltest wirklich hierbleiben.«
»Ich habe gesagt, es geht mir gut«, fauche ich. Ich weiß, dass ich schwächer bin als sonst. Er muss mich nicht fortwährend daran erinnern. »Natesa, bitte gib mir meinen Stock.«
Deven nimmt den Stock und hält ihn mir hin. Natesa macht sich auf Zehenspitzen davon. Deven fürchtet um meine Gesundheit, doch ich habe ganz andere Sorgen.
»Ich muss die Lestarianer begrüßen«, erkläre ich. »Unser erstes Auftreten muss ein gutes Licht auf das Reich werfen.«
Indah hatte Ashwin und mir versichert, dass wir auf die Unterstützung von Datu Bulan, den Herrscher der Südlichen Inseln, bauen können, doch das bedeutet, viel Vertrauen in einen völlig Fremden zu setzen. Der Herr des Nichts befehligt die mächtigste Armee im Land. Wir können nur hoffen, dass der Datu die Bedrohung erkennt, die er darstellt, und sich uns anschließt, um sie aufzuhalten.
Ich stehe auf und zügle meinen Ärger. »Ich muss gehen, Deven.«
»Gibt auf dich Acht.« Er streckt die Hand aus, will mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichen. Ich komme ihm zuvor, und er zieht gekränkt die Hand zurück.
»Es tut mir leid«, flüstere ich. Meinen Thron anzunehmen bedeutet, meine Pflicht, Ashwin zu helfen, zu akzeptieren. »Wir müssen auf Distanz bleiben, jetzt wo …«
»Eine Erklärung ist überflüssig.« Deven zupft die Manschetten seiner Jacke mit knappen verärgerten Bewegungen zurecht. »Es würde ein schlechtes Licht auf die Kindred werfen, wenn sie ihre Leibwache bevorzugt.«
»Es ist nur für eine Weile.« Ich suche nach Anzeichen, dass er versteht, doch sein Ausdruck ist noch immer abwehrend.
Ashwin taucht an der Tür auf. »Kalinda«, sagt er zögernd, während er Devens finsteren Blick und trotzige Haltung abschätzt. »Indah fragt nach uns.«
»Ich komme«, sage ich und stütze mich auf meinen Stock. Obwohl Deven sauer auf mich ist, weicht er nicht von meiner Seite, als erwartete er, dass ich stolpere.
Anu, bitte lass nicht zu, dass meine Beine nachgeben, sonst nimmt das kein Ende.
Mit Gottes Hilfe durchquere ich das Ruderhaus selbstständig, und Ashwin geht voraus.
DEVEN
Ich greife nach meinem Schwert hinter der Ruderhaustür und folge dem Klacken von Kalis Stock. Seit sie die Verwundungen erlitten hat, wirkt ihre große schlanke Gestalt beinahe zerbrechlich. Sie geht gebückt, und ihr verwundetes Bein zittert vor Anstrengung.
Himmel, sie ist so stur.
Ihr zu helfen wäre einfacher, wenn sie aufhören würde, meine Hilfe als ihr Scheitern zu begreifen. Sie ist nicht schwach; sie ist nur in Not. Bevor der Herr des Nichts sie mit seinem kalten Feuer attackiert hat, war Kali so strahlend wie die Sonne und verzauberte natürliches Feuer in einen riesigen bedrohlichen Drachen. Es tut weh, sie so kämpfen zu sehen.
Indah und zwei weitere Wasserwesen aus Lestari benutzen ihre Kräfte, um unser Flussschiff durch das kabbelige Deltawasser zu lenken. Ich bin auf dem sanft dahinströmenden Fluss von Seekrankheit verschont geblieben, doch von der offenen See ist mein Magen weniger begeistert. Auf beiden Seiten des Meeresarms erstreckt sich die Küstenlinie, deren alabasterfarbene Strände von Palmen gesprenkelt sind. Der Rest meiner Gruppe steht in einer Reihe an der Reling und blickt zu dem wartenden Schiff.
Das Wasserfahrzeug ist größer und geeigneter für das offene Meer mit seinem flachen Rumpf und dem hohen Bug und niedrigen Heck. Ich schätze seine Länge auf dreihundert Ellen und seine Breite auf die Hälfte davon. Außen ist es tiefblau gestrichen, und der Bug hat die Gestalt eines Seedrachens. Das Militärschiff hat einen Mast, aber weder Segel noch ein Steuerruder. Wasserwesen steuerbords und backbords bewegen das Schiff vorwärts. Hohle Zylinder sind im Heck installiert – Wasserkanonen. Die Marine von Lestari beschützt Händler und Passagierschiffe vor Piraten, die in diesen Gewässern unterwegs sind. Ein schlangenartiger Seedrache gleich dem am Bug schmückt die flatternde violette Flagge oben am Mast.
Wir erreichen das Marineschiff und stoppen längsseits des Rumpfes, an dem der Name Enki’s Heart steht. Pons wirft die Leine zu den Seeleuten hinauf. Sie packen sie und lassen eine Strickleiter herunter. Ich klettere als Erster hinauf. Zwei ältere offiziell aussehende Männer erwarten uns auf dem tadellos geschrubbten Deck. Die Crew besteht aus Männern und Frauen, alle in weiten knielangen Hosen und Uniformjacken.
Einer der beiden Männer – er hat einen langen weißen Bart – hält einen Dreizack wie ich einen Stock halten würde. Er kaut auf etwas – einem Klumpen von etwas Grünem. Minze? Ich hörte, dass Minzekauen ein beliebter Zeitvertreib unter Seeleuten sei. Die Lestarianer betrachten mich mit ihren goldenen Augen. Ich lasse mein Schwert in seiner Scheide und erwidere ihren prüfenden Blick.
Prinz Ashwin betritt als Nächster das Deck und hilft Kali von der Leiter herunter. Ich zeige keine Regung und tue so, als würde es mir nichts ausmachen, dass sie seine Hilfe akzeptiert, doch ich würde ihn am liebsten über Bord werfen. Als ich vorhin gesehen habe, wie er sie auf die Wange küsste, hatte ich mich nur mit Mühe zurückhalten können. Eine scheinbar harmlose Geste, nur dass er die Macht hat, sie zur Ehe mit ihm zu zwingen. Sie glaubt, er wird es nicht tun, aber ich traue nicht gern jemandem, der dumm genug ist, einen Dämon zu befreien.
Yatin und Natesa kommen als Nächste an Bord. Natesa, die den Fremden misstraut, lässt eine Hand frei – für den Dolch an ihrer Hüfte. Mit seiner imposanten Gestalt und dem struppigen Vollbart sorgt Yatin dafür, dass die Lestarianer nervös von einem Bein aufs andere treten, dabei ist er äußerst sanftmütig – solange man ihn nicht provoziert.
Pons folgt den beiden, sein Blasrohr steckt in seinem Gürtel. Er ist ausgebildeter Soldat, auch wenn seine Hauptaufgabe darin besteht, Indah zu bewachen. Nachdem er ihr an Deck geholfen hat, legt der weißbärtige Mann mit dem Dreizack einen Arm um sie.
»Das ist mein Vater«, sagt Indah stolz, »Admiral Rimba, Oberhaupt der Marine von Lestari. Vater, das sind Prinz Ashwin und Kindred Kalinda.«
Der Admiral verbeugt sich. »Willkommen an Bord. Das ist Botschafter Chitt«, stellt er den unauffällig gekleideten Mann neben sich vor. »Er ist der ständige Bhuta-Emissär.«
»Bitte nennt mich Chitt«, sagt der Botschafter. Graue Strähnen durchziehen sein ansonsten kupferfarbenes Haar. Er ist groß, ungefähr so schwer wie ich, doch langgliedriger von Gestalt. Feine Muskelstränge ziehen sich über seine Unterarme, die zum Teil von seiner leichten Tunika verdeckt werden. Er mag ein Diplomat sein, doch seine Hände und Arme verraten, dass er harte Arbeit gewöhnt ist. Etwas an seinen groben Gesichtszügen kommt mir … vertraut vor.
»Kindred, ich war eine Zeit lang ein Abgesandter Eures Vaters«, sagt er. »Ich habe ihn auf mehreren Schlichtungsmissionen begleitet.«
»Sein Abgesandter?«, fragt Kali.
»Kishan war der vorherige Bhuta-Emissär«, erwidert der Botschafter. Auf der Brust von Chitts Tunika befindet sich das Symbol des Feuergotts, eine einzelne Flamme. Admiral Rimba trägt das Emblem des Wassergottes, eine Welle, auf seinem Kragen. Beide Abzeichen identifizieren sie als Bhutas.
Ich tausche einen Blick mit Yatin. Der Sultan hatte ebenfalls Bhutas in seinem Militär. Sie haben uns nicht gut behandelt.
»Ich würde irgendwann gern mehr über meinen Vater erfahren«, sagt Kali.
Botschafter Chitts Anblick weckt irgendwelche Erinnerungen, besonders als er sagt: »Es wäre mir ein großes Vergnügen.«
Indah setzt ihre Vorstellungsrunde fort, die sie mit mir beendet. »Und das ist Hauptmann Deven Naik.«
»General Naik«, stellt Prinz Ashwin richtig.
Ich zucke bei der Nennung meines neuen Ranges zusammen. Nachdem ich den Prinzen angepöbelt habe, habe ich nicht erwartet, dass er sein Versprechen halten würde, mich zum General zu machen. Und wessen General überhaupt? Wir haben keine Armee. Der einzige Soldat unter meinem Kommando ist Yatin, und mein Freund würde mir überallhin folgen, ungeachtet meines Titels. Wenn der Prinz glaubt, er kann sich bei mir einschmeicheln, ist er noch einfältiger, als ich dachte. Mein Vater war vorher der General der Armee. Unter der Regie des Rajahs massakrierte er Hunderte unschuldiger Bhutas. An seine Stelle zu treten ist weder eine Auszeichnung noch eine Ehre.
»Sehr erfreut, General Naik«, sagt Chitt und nimmt mich ebenfalls in Augenschein. »Uns wurde gesagt, Ihr hättet noch einen Passagier, ein Mitglied der Bruderschaft.«
»Er ist gestorben.« Ich werfe dem Prinzen einen wütenden Blick zu. Seinetwegen hat sich Bruder Shaan vor Sorge verzehrt. Den entfesselten Herrn des Nichts in unserer Welt zu wissen war zu viel für sein altes Herz gewesen. Ich vermisse ihn jetzt schon.
»Ist vor uns bereits jemand angekommen?«, fragt Kalinda. Pons hat auf der Suche nach Nachrichten von meiner Familie dem Wind gelauscht, doch leider vergebens. »Deven wurde von seinem Bruder und seiner Mutter getrennt. Sie und zwei Luftwesen, die zu unseren Wachen gehören, sollen sich mit uns in Lestari treffen.«
Ich bete, dass sie bereits da sind.
»Wir haben weder von ihnen gehört noch sie gesehen«, erwidert Admiral Rimba und macht damit meine Hoffnungen zunichte. Seinen Minzeklumpen kauend spricht er weiter. »Aber sie sind vielleicht heute Morgen eingetroffen. Wir werden es bald erfahren. Wir müssen jetzt aufbrechen, um die Insel bei Sonnenuntergang zu erreichen.«
Er und Indah führen uns zu einer Kabine in der Mitte des Decks. Pons schließt sich ihnen an, seine Miene ist ernster als sonst. Es ist seltsam, ihn nicht an Indahs Seite zu sehen. Prinz Ashwin und Kali folgen gemeinsam mit Chitt, der höflich Konversation über das feuchte Wetter macht.
Natesa vor mir flüstert Yatin zu: »Kommt dir der Botschafter nicht bekannt vor?«
Dann bin ich also nicht allein damit.
Ich betrete den Raum eine halbe Sekunde nach ihnen und verpasse Yatins Antwort. Mit Kissen bedeckte Bänke säumen die rechteckige Kabine, und die Türen gleiten zu, um den Wind auszusperren. Jeder sucht sich seinen Platz für die Fahrt. Natürlich nimmt Ashwin den Platz neben Kali ein. Ich sitze neben dem Ausgang und teile meine Aufmerksamkeit zwischen den Lestarianern und meiner Rani.
Die Schiebetüren sind geschlossen, die Tür zum Heck jedoch steht offen. Die Wasserwesen auf dem Deck lenken die Enki’s Heart über eine hohe Dünung, und wir gleiten auf einer langen Welle vorwärts. Ich halte mich an der Kante der Bank fest. In null Komma nichts hat das Schiff Kali in den Schlaf gewiegt. Ich bleibe wachsam, wobei ich unseren Gastgebern am wenigsten traue, aber meine Aufmerksamkeit lässt nach, als meine Eingeweide vor Übelkeit rumoren.
Alle betrachten die vorbeiziehende Landschaft, unbeeindruckt vom Schwanken unseres Bootes. Natesa und Yatin zeigen einander Seevögel und springende Fische. Mein Blick sucht an Natesas Händen den Lotusring, den Yatin für sie aufbewahrt hat. Während seiner Krankheit hatte er mich gebeten, ihn ihr in seinem Auftrag zu geben. Ich sagte ihm, er solle ihn behalten. Jetzt, da es ihm wieder gut geht, dachte ich, er würde ihr einen Antrag machen, doch Natesa trägt den Ring nicht.
Yatin sieht mich prüfend an. »Ist dir schlecht? Brauchst du einen Eimer?«, fragt er in seinem freundlichen Brummton.
»Nein, nur frische Luft.«
Ich nehme mich zusammen und verlasse die Kabine. Als ich außer Sichtweite von den anderen bin, taumle ich zur Reling und übergebe mich ins Wasser. Gischt spritzt hoch und kühlt meine Wangen. Ich entleere meinen Magen und sinke zusammen. Vor dem Bug wogt die See bis zum Horizont. Ich habe noch nie etwas so Eintöniges und Tristes gesehen.
Chitt kommt an Deck und tritt zu mir. »General, kennt Ihr Mathura Naik?«
Ich dränge weitere Übelkeit zurück. »Sie ist meine Mutter. Woher kennt Ihr sie?«
»Wir sind uns vor Jahren im Palast begegnet. Sie hatte einen kleinen Jungen mit ernstem Blick, der ungefähr so groß war.« Chitt zeigt die Größe eines kleinen Kindes. »Ohne sein Holzschwert konnte er nicht einschlafen.«
»Ihr habt Zeit im Kurtisanenflügel verbracht«, stelle ich nüchtern fest. Sie konnten sich nur dort begegnet sein. Meine Mutter war eine von Rajah Tareks Kurtisanen.
»Mathura wurde in mein Gemach geschickt.« Als Chitt den Vornamen meiner Mutter benutzt, packe ich meinen Schwertgriff. »Wir haben den ganzen Abend von meinen Reisen erzählt. Ihre Neugier auf die Welt war mitreißend.«
Tarek hatte meine Mutter gezwungen, seine Gefolgsmänner und am Hofe zu Besuch weilende Würdenträger zu unterhalten. »Ihr habt sie nicht angerührt?«, will ich wissen.
Chitts goldene Augen blitzen. Ein mächtiges Feuerwesen zu provozieren ist vielleicht nicht die schlaueste Idee. »General Naik, ich glaube, das ist eine Frage an Eure Mutter.«
»Ich werde sie ihr gewiss stellen.«
»Das hoffe ich.« Er betrachtet mich eingehend. »Ich habe gehört, Mathura hat noch einen Sohn.«
»Meinen Halbbruder Brac.«
»Ihr habt erwähnt, Ihr wärt von Eurer Familie getrennt worden. Ist sie in Gefahr?«
»Ich weiß es nicht.«
Chitt runzelt die Stirn. »Wenn wir Lestari erreichen, tue ich, was ich kann, um sie zu finden.«
»Wieso?«
»Das ist eine weitere Frage an Mathura.« Der Botschafter klopft mir auf plump vertrauliche Weise auf den Rücken. »Ihr hattet denselben ernsten Blick schon als Junge … und dieselbe Leidenschaft für Waffen.« Er betrachtet mein Schwert mit einem halben Lächeln, das mir einen Schock versetzt.
Ich gaffe Chitt hinterher, als er davongeht. Ich habe dieses Grinsen schon tausendmal bei jemand anders gesehen …
Heiliger Himmel, ich habe gerade Bracs Vater kennengelernt.
KALINDA
Als ich erwache, stelle ich fest, dass ich allein in der Kabine bin. Die Türen sind offen, und ich sehe unsere Gruppe am Bug zusammenstehen. Deven steht an der Backbordseite, er wirkt gedankenverloren. Ich gehe zu ihm, ein wenig steif, aber ausgeruht.
»Geht es dir gut?«, frage ich.
»Es war ein seltsamer Tag.« Als niemand hersieht, streichle ich seine Hand. Er schüttelt seine Verwirrung ab und lächelt. Ich möchte meine Arme um ihn schlingen, doch der Anstand muss gewahrt werden. Deven zeigt zur Bugspitze. »Wir sind da.«
Die Nachmittagssonne fällt auf eine Mauer, die noch ein gutes Stück weit entfernt ist. Die hohe Steinwand ragt aus dem Meer auf, ist um ein Vielfaches höher als unser Schiffsmast. Ich kneife die Augen zusammen und entdecke eine Durchfahrt in der Barriere. Sie wird von einer niedrigen gewölbten Brücke überspannt, fragil wie der Faden eines Spinnennetzes.
»Was ist das?«, frage ich.
»Ein Schutzwall. Indah sagt, er führt um die gesamte Insel herum. Er schützt sie vor Eindringlingen und hohen Wellen.« Deven klingt beeindruckt, und ich bin es ebenfalls. Diese Mauer mitten im Meer ist bemerkenswert.
Eine dunkle Linie am nördlichen Horizont zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Admiral Rimba steht auf dem Ausguckdeck über der Kabine. Ich rufe zu ihm hinauf. »Was ist das hinter uns?«
Der Admiral wirbelt herum und blickt in Richtung Heck. Die Linie rückt ins Blickfeld – eine riesige Welle kommt beunruhigend rasch auf uns zu. Er ruft von oben seine Befehle: »Leute, volle Kraft voraus! Passagiere in die Kabine!«
»Guter Anu«, sagt Deven leise.
Wir umklammern die Reling, als die Enki’s Heart Fahrt aufnimmt und auf die Insel zuhält. Meerwasser spritzt uns ins Gesicht, der Wind bläst mein Haar nach hinten. Die Besatzung drängt zu den Wasserkanonen. Die anderen Mitglieder unserer Gruppe und Botschafter Chitt hangeln sich an der Reling entlang zur Kabine. Deven und ich lassen die Reling los, um das Deck zu überqueren, doch das Schiff hebt und senkt sich mit jeder Welle, und der Bug lässt noch mehr Gischt aufspritzen. Trotz unserer beschleunigten Fahrt kommt die Flutwelle immer näher.
Natesa starrt auf die riesige Welle. »Wo um Himmels willen ist sie hergekommen?«
Indah stößt sie vorwärts. »Alle unter Deck!«
Deven und ich stolpern über das Deck und zusammen mit den anderen in die Kabine. Der steinerne Schutzwall voraus wird höher und größer. Hinter der Durchfahrt erkenne ich eine sichere Bucht.
Ein Schatten fällt auf das Schiff. Ich schaue durch die geöffneten Türen – und die Wasserwand stürzt auf uns herab. Die Kabine hält, doch Wasser schwappt herein und wirft uns um. Völlig durchnässt schliddere ich über den Boden.
Das Wasser weicht zurück, eine heftige kalte Strömung, die auf mich draufklatscht und an mir zerrt. Deven kriecht neben mich, sein Turban ist verschwunden. Ashwin liegt auf dem Bauch und spuckt Wasser, ist aber unverletzt. Natesa und Yatin liegen in einer Pfütze und halten sich in den Armen, während Indah und Pons sich in eine Ecke drängen.
Ein Schiff kommt in rasender Geschwindigkeit auf unser Heck zu. Der Dreimaster ist unpassenderweise in strahlendem Gelb gestrichen. Eine dunkle Wolke, in der Blitze zucken, hängt drohend über dem Schiff. Donner grollt, eine Warnung vor der drohenden Absicht des Schiffs.
»Wasserkanonen backbords!«, ruft Admiral Rimba.
Das Schiff dreht bei und verdeckt aufgrund seiner Größe den Himmel, und seine Wasserkanonen sind auf uns gerichtet. Ich wische mir Wasser aus den Augen und spähe hinauf zu der schwarzen Flagge mit dem weißen Symbol – ein riesiger Haifisch mit spitzen Zähnen.
Das Emblem der Seeräuber.
Unsere Verfolger setzen ihre Wasserkanonen ein. Salzwasser schießt durch unsere Kabinentüren und reißt eine von ihnen aus den Angeln. Deven beugt sich über mich und bekommt das Sprühwasser ab. Die gezielten Wasserströme lassen zwei unserer Kanonen ins Wasser kippen und zerstören eine dritte. Mehrere Mitglieder der Crew werden über Bord in die raue See gespült. Schreckliche Winde heulen, und das Schiff ächzt und stöhnt.
Die Seeräuber richten ihre größte Kanone auf unsere Kabine und schießen noch mehr Wasser auf uns. Deven wird von mir heruntergestoßen und zur Tür gespült. Pons packt ihn am Handgelenk, und sie werden beide aufs Deck und zur Reling geschwemmt. Pons klammert sich an eine Kiste und verhindert, dass sie über Bord gehen, doch Devens Beine hängen über die Kante.
Ich stürze aus der Kabine auf das Deck. Unter Einsatz meines Seelenfeuers schicke ich einen Feuerschwall in den Sturm. »Genug!«
Meine Flammen lassen das Wasser auf meinen Händen verdunsten. Ein Mann oben auf dem Deck des feindlichen Schiffes tritt an die Reling, um zu sehen, wer den Feuerschwall produziert hat. Botschafter Chitt tritt an meine Seite, seine Hände glühen ebenfalls.
»Was wollt Ihr, Kapitän Loc?«, ruft Chitt dem Mann auf dem anderen Schiff zu.
»Wir sind nicht an Euch oder Euren Männern interessiert, Botschafter.« Kapitän Loc zeigt auf mich. »Wir sind wegen der Kindred und dem Prinzen gekommen. Rajah Tarek hat dem eine Belohnung versprochen, der sie zu ihm zurückbringt.«
»Prinz Ashwin und Kindred Kalinda stehen unter unserem Schutz«, ruft Admiral Rimba über das Wasser zwischen den Schiffen hinweg. Obwohl das Meer sich langsam beruhigt, braut sich am Himmel ein Gewitter zusammen. »Ich schlage vor, Ihr verschwindet, bevor unsere Flotte kommt.« Er zeigt auf die Schiffe, die die Durchfahrt des Schutzwalls passieren und auf uns zukommen.
»Gebt uns den Prinzen und die Kindred, und wir verschwinden«, antwortet Kapitän Loc.
Ashwin hinter mir ist wie versteinert, aber ich kann in ihm lesen wie er in seinen Büchern. Ich wende mich an Captain Loc. »Der Prinz und ich bleiben.«
Captain Loc spricht völlig ungerührt weiter. »Kindred, Euer Gemahl verlangt nach Euch.«
Ich schleudere zur Warnung einen Feuerschwall auf sein Schiff. Der Herr des Nichts ist nicht mein Gemahl. Mein Feuer gleitet am Bug entlang und brennt eine Linie in den Rumpf. Männer bringen sich mit einem Hechtsprung vor der Spur meines Zorns in Sicherheit. Kapitän Loc duckt sich hinter die Reling, richtet sich dann erneut auf.
Ein köstlicher Schauder, einem Entzücken ähnlich, gibt mir Kraft. Die Seeräuber fürchten meine Fähigkeiten.
Und das sollten sie auch.
Aber Kapitän Loc weist seine Crew nicht an, sich zurückzuziehen. Meine Ungeduld wächst. Verschwinde.
Flammen schießen aus meinen Händen hoch über das Wasser, in der Mitte weiß und an den Rändern von einem irisierenden Blassgrün. Mein Feuerschwall trifft den Schiffsmast und setzt die Flagge in Brand. Kapitän Loc ruft einen Schwall Wasser herbei, um das Feuer zu löschen, und sorgt dann dafür, dass sich schlangenartige Gebilde aus dem Wasser erheben, die er in meine Richtung lenkt.
Ich bin bereit und mit Chitt an meiner Seite mutiger als allein auf mich gestellt. Die Marineschiffe nähern sich in hohem Tempo, sind nur noch Sekunden entfernt. Sollten uns die Seeräuber kapern wollen, werden sie ihre gesamte Flotte einsetzen müssen.
Captain Loc schleudert seine Wasserströme gegen den Rumpf. Wellen klatschen an Deck, umspülen meine Füße. »Ein andermal, Kindred.« Er macht seiner Crew Zeichen, und das Schiff dreht ab, hinaus aufs offene Meer.
Ich humple über das Deck. Deven sitzt ein Stück von der Reling entfernt neben Pons und schöpft Luft. »Diese Dummköpfe«, sage ich und helfe Deven hoch. »Rajah Tarek ist tot.«
Deven wringt Wasser aus seiner Uniformjacke. »Ich habe immer geglaubt, niemand könnte gefährlicher sein als Tarek, bis ich dem Dämon begegnet bin, der seine Gestalt angenommen hat.«
Pons ruft eine Brise herbei, die über uns hinwegstreicht und die Nässe aus unseren Kleidern nimmt. Nachdem der Wind sich gelegt hat, sagt er: »Die Belohnung dafür, euch zurückzubringen, muss sehr hoch sein. Kapitän Loc würde es nicht riskieren, ein Marineschiff so dicht vor Lestari anzugreifen, jedenfalls nicht ohne einen entsprechenden Anreiz.«
Deven und ich tauschen einen Blick. Unser Entschluss, uns mit den Lestarianern zu treffen, hat sich bereits als nützlich erwiesen. Ich hoffe nur, unsere Begegnung mit dem Datu verläuft gut.
Die von der Insel kommenden Schiffe erreichen und umringen uns. Admiral Rimba ruft seiner Crew zu, die Seemänner aus dem Wasser zu fischen, die über Bord gegangen sind. Ein Crewmitglied schafft den Schutt beiseite, damit die anderen leichter ihre Arbeit tun können.
Deven stöhnt und lehnt sich an mich, doch dieser Klagelaut rührt von Erschöpfung und nicht von einer Verletzung her. »Ich will helfen, damit wir uns auf den Weg machen können«, sagt er. »Je früher wir an Land sind, desto besser.«
Ich halte mich länger an ihm fest als nötig. Schließlich weicht er zurück, und ich gehe widerstrebend in die Kabine, um nach den anderen zu sehen.
Chitt fängt mich an der zerstörten Schiebetür ab. »Ich würde gerne kurz mit Euch sprechen, Kindred.« Weil er mir den Weg versperrt, warte ich darauf, dass er weiterspricht. »Hatten Eure Kräfte stets diesen grünen Farbton?«
»Sie sind normalerweise in der Farbe eines Sterns, doch es geht mir in letzter Zeit nicht so gut.«
»Vielleicht ist es ja nicht von Bedeutung«, antwortet Chitt, obwohl der Ton, in dem er das sagt, etwas anderes vermuten lässt. »Jede Feuerwesenkraft ist von einzigartiger Farbe. Meine ist von einem leuchtenden Johannisbeerrot, und Euer Vater hatte ein leuchtendes Orangerot. Aber ich habe noch nie eine grüne Tönung bei einem Feuerwesen gesehen.«
Ich bin noch nie auf die Idee gekommen, mein Feuer mit dem eines anderen Feuerwesens zu vergleichen. Es gibt zu wenige davon, als dass sich eine solche Gelegenheit leicht böte. Das einzige andere Feuerwesen, dem ich je begegnet bin und mit dem ich gemeinsam gekämpft habe, ist Brac. Ich wünschte, er wäre hier, damit ich ihn fragen könnte, ob die Farbe meiner Kräfte anormal ist.
Ashwin drängt sich an Chitt vorbei und hakt sich bei mir unter. »Kalinda sollte sich jetzt ausruhen, Botschafter.«
»Natürlich. Danke für Eure Zeit, Kindred.« Chitt verbeugt sich, seine Miene wirkt noch immer besorgt.
Ashwin und ich gehen das Deck entlang und setzen uns auf eine umgekippte Kiste. Als niemand in der Nähe ist, ergreift er das Wort. »Der Angriff hat uns gegolten.« Seine leise Stimme ist voller Reue.
»Niemand ist verletzt worden.«
»Den Göttern sei Dank. Glaubst du, wir sind sicher in Lestari?«
Ich blicke zu der mächtigen Steinmauer, die sich in der Ferne erhebt. »Beten wir dafür.«
Um einem Matrosen Platz zu machen, der das Deck säubert, rückt Ashwin näher zu mir. Ich sollte Abstand zu ihm wahren, doch die Berührung des Prinzen mindert die Kälte in meinem Innern.
Seit mich der Herr des Nichts damit befleckt hat, trage ich seine dunklen Kräfte wie ein unsichtbares Brandzeichen in mir. Ich habe ihm gesagt, dass ich nichts mit ihm gemein habe. Ich bin eine Bhuta, eine Halbgöttin, also muss ich gut sein. Welches Übel auch immer er in mich eingepflanzt hat, es kann mein Erbe nicht verändern. Doch etwas stimmt nicht. Meine Kräfte sind anders, und das nicht nur, was ihre Farbe angeht. Ich habe mich … weniger unter Kontrolle.
Während ich mich an Ashwin lehne, schaue ich aufs Meer und versuche, nicht an das zu denken, was sich unter meiner Haut befindet.
Die Schiffe segeln in einer langen Reihe auf die gigantische Steinmauer zu. Seevögel kreischen über der Prozession, einige von ihnen nisten in der zerklüfteten Felswand. Die Enki’s Heart verlangsamt ihre Fahrt, und wir warten, bis wir dran sind, um bei Niedrigwasser unter der Brücke hindurchzufahren.
Wasserkanonen sind auf der Überführung angebracht und zielen auf die offene See. Sie sind größer als die der Seeräuber, denke ich. Sie sollten die Seeräuber abwehren können.
Die Enki’s Heart gleitet auf die Durchfahrt zu, um sie als nächste zu passieren. Soldaten beobachten uns vom Wachhaus auf der Brücke aus, und dann gleiten wir unter ihnen ins Dunkel des Brückengewölbes. Ich erkenne Runen, die in das Mauerwerk geritzt sind.
»Was bedeutet das?«, fragt Ashwin neben mir.
»Wasser in unserem Blut«, antworte ich, während ich die alte Schrift lese. Ich habe diese Zeile einmal in einem Buch über Bhutas gesehen. Die Menschheit ist nach den Ebenbildern der Götter erschaffen worden – der Himmel in unserer Lunge, das Land unter unseren Füßen, das Feuer in unseren Seelen und das Wasser in unserem Blut. Ashwin verzieht das Gesicht angesichts der Zeichen. Das letzte Mal, als er Runen gelesen hatte, war die Entfesselung des Herrn des Nichts die Folge gewesen.
»Es tut mir leid«, sage ich. »Ich habe nicht nachgedacht.«
Bevor er antworten kann, fahren wir in eine blau schimmernde Bucht ein. Eine grüne Insel liegt auf der anderen Seite des Wassers. Die Stadt Lestari erhebt sich in erhabener Vornehmheit aus dem Meer. Ein Labyrinth von Wasserwegen schlängelt sich unterhalb malerischer Häuser entlang, die auf Plattformen errichtet und an Pfählen am Strand verankert sind. Dicke Säulen, riesige Fenster und großzügige Terrassen reihen sich auf sämtlichen Ebenen der versetzt angeordneten Gebäude aneinander. Palmen blühen auf Flecken von weißem Sand. Brücken führen über die azurblauen Zuflüsse und verbinden die Stadtbereiche miteinander, ohne die Gezeiten zu stören.
Der Perlenpalast, das große Herzstück der Südlichen Inseln, erhebt sich in den Sonnenuntergangshimmel mit spindeldürren Turmspitzen, die wie das Innere einer Auster glänzen. Während ich ihn betrachte, entzünden Bewohner Fackeln, um die Straßen und Häuser zu beleuchten, die sich im schwindenden Tageslicht verdunkeln.
Unser Schiff gleitet einen Hauptkanal entlang auf das Herz der Stadt zu, vorbei an Wassermühlen, die Textil- und Papierfabriken mit Antriebskraft versorgen, und Kornmühlen. Die Lestarianer setzen ihre Ressourcen umsichtig ein, wobei ich vermute, dass sie kontinuierlich von Wasserwesen unterstützt werden. Eine Frau steuert eines der Wasserräder, indem sie den Wasserstrom auf die Radleisten lenkt.
Auf der gegenüberliegenden Uferseite findet ein Markt statt. Die Meeresbrise lässt orangefarbene und lindgrüne Markisen flattern, die über den Ständen gespannt sind. Händler offerieren eine Vielzahl verlockender Dinge, von bemalter Töpferware bis zu reifen Bananen. Fisch hängt von Querleisten und trocknet in der Abendsonne, während Käufer vor Einbruch der Dunkelheit ihre Waren erwerben. Kleidung und Gesichter sind sauber. Alles in Lestari ist so makellos wie eine perfekt runde Perle.
Die Wasserstraße führt uns durch die offenen Tore des Perlenpalastes, wo die Enki’s Heart gegen die Anlegestelle stößt. Ein mittelgroßer alter Mann, ganz in Weiß gekleidet, wartet dort. Mehrere Wachen, ebenfalls in Weiß, stehen an seiner Seite. Die grauen Haare des Mannes fallen ihm bis über die Schultern, und eine Kette aus rosafarbenen Muscheln liegt um seinen Hals. Seine sonnengegerbte Haut ist so tiefbraun wie brüchiges Leder.
Unsere Gruppe geht von Bord, und Admiral Rimba führt Ashwin und mich zu dem grauhaarigen Mann in Weiß. Mein verwundetes Bein tut weh. Ich habe meinen Stock auf dem Boot gelassen, um den Eindruck zu vermeiden, dass die Kindred des Tarachandischen Reiches und zweifache Turniersiegerin nicht ohne Hilfe laufen kann.
Admiral Rimba macht eine elegante tiefe Verbeugung. »Datu Bulan, wir bringen Euch Prinz Ashwin und Kindred Kalinda.«
»Ich habe Augen, Admiral«, erwidert der Datu und zieht angesichts meiner leicht gebückten Haltung eine buschige Braue hoch. Er ist kein großer Mann. Sogar gebeugt überrage ich ihn. »Willkommen in Lestari, dem Juwel der Südlichen Inseln.«
Meine Körperhaltung verschlimmert die Unzulänglichkeit meines Beins. Ich spreche, um mein Unwohlsein zu verbergen. »Habt Dank für Eure Gastfreundschaft. Sind andere Mitglieder unserer Gruppe vor uns hier eingetroffen?«
»Bisher nur Ihr«, antwortet der Datu und entblößt eine Lücke zwischen seinen Vorderzähnen.
Wie so oft, steht Ashwin aufrechter, wenn ich an seiner Seite bin. »Wir wünschen uns nichts mehr, als die Geschehnisse in Iresh zu besprechen.«
Der Blick, den der Datu auf den Prinzen richtet, ist kühl. Ich habe bisher nur Deven Ashwin mit einer solchen Verachtung anschauen sehen. »Wir bereiten Abendessen für Euch und Eure Viraji. Doch bringen wir Euch zuerst zu Euren Gemächern.«
Ich erschrecke bei der formellen Bezeichnung für mich, und aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Deven erstarrt. Niemand hat mich Viraji – auserwählte Königin – genannt, seit Tarek mich zu seiner letzten Rani ernannt hat.
»Datu Bulan«, sage ich, »da liegt ein Irrtum vor. Ich bin nicht …«
»Kalinda geht es nicht gut genug, um hier noch länger zu stehen«, beendet Indah meinen Satz. »Es war ein Martyrium, den Thron mithilfe der Turniere zu retten. Ich bestehe darauf, dass sie sich ausruht.«
Datu Bulan legt eine väterliche Freundlichkeit an den Tag. »Dann lasst uns gehen.«
Ashwin weicht zurück. »Datu, darf ich vielleicht Eure Bibliothek benutzen?« Er hat die Absicht, Recherchen über den Herrn des Nichts anzustellen. Bhuta-Kräfte können dem Dämon nichts anhaben, weshalb wir einen anderen Weg finden müssen, ihn aufzuhalten.
Der Datu sperrt sich weder gegen die Bitte des Prinzen, noch ändert sich seine finstere Miene. »Wie Ihr wünscht.«
Admiral Rimba tritt vor. »Pons kann den Prinzen begleiten.«
Deven erhebt keinen Einwand dagegen, Ashwin in Pons’ Obhut zu lassen, doch Indah ergreift das Wort.
»Muss es Pons sein, Vater? Wir sind gerade erst angekommen.«
»Der Botschafter und ich müssen uns unseren Aufgaben widmen«, weist er sie in ihre Schranken. »Irgendwelche Einwände, Pons?«
Pons legt mit vorgerecktem Kinn die Arme am Körper an. »Nein, Sir.« Er wendet sich an Ashwin. »Euer Majestät, wenn Ihr mir folgen wollt, zeige ich Euch den Weg zur Bibliothek.«
Als sich Ashwin zum Gehen wendet, wird mir schlagartig bewusst, an einem neuen, unbekannten Ort zu sein.
»Sehen wir uns bald?« Meine Frage klingt wie ein Befehl. Distanz zwischen Ashwin und mir hat mich zuvor nicht beunruhigt, doch das Engegefühl in meiner Brust will nicht weichen.
»Ich suche Euch später in Eurem Gemach auf«, verspricht Ashwin und geht mit Pons davon.
Meine Beklemmung verschwindet … bis ich Devens Seitenblick bemerke. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, ich weiß nur, dass ich mich in Gesellschaft unserer Verbündeten nicht so wohlfühle wie erwartet.
Admiral Rimba geht in Begleitung von Chitt, und Datu Bulan schlurft in Sandalen, die ihm zu groß sind, den Hauptweg entlang. Eine violette Flagge mit einem Meeresungeheuer darauf hängt über dem Torbogen. Pastellfarbene Muscheln bedecken die elfenbeinfarbenen Wände und Lampen. Weitere Flaggen hängen von der gewölbten Decke, Zeichen der Erhabenheit, die dem neutralen Dekor etwas entgegensetzen.