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Josh ist nicht nur ein Ninja, er ist ein hypersensibler Einzelgänger, bis Toni - quirlig bis zur Hyperaktivität - in sein ruhiges Leben stürmt. Und bald stolpern auch der blinde Luis und der autistisch-scheue Emil buchstäblich in ihre Gesellschaft - und hinein in eine großartige Viererfreundschaft. Die vier vermeintlichen Außenseiter mögen sich auf Anhieb. Und bald erkennen sie, dass sie gemeinsam ein großartiges Ermittlerteam abgeben, als beim Juwelier um die Ecke eingebrochen wird … Astrid Frank lässt in diesem ersten Band ihrer Detektiv-Reihe den sensiblen Josh erzählen - wortgewandt, erfindungsreich und witzig. In der Randspalte meldet sich Toni frech und spitzfindig zu Wort. Das macht diese Geschichte - zusammen mit den kongenialen Illustrationen von Regina Kehn - zu einem spannenden, schwungvollen Lesevergnügen mit Tiefgang.
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Dein überlebender Spion muss ein Mann von überragendem Verstand sein, doch mit der äußeren Erscheinung eines Narren; von schäbigem Äußeren, doch mit einem eisernen Willen. Er muss tatkräftig sein, widerstandsfähig, stark und mutig; gründlich gewöhnt an alle Arten Schmutzarbeit, fähig, Hunger zu ertragen und Schmach und Schande auf sich zu laden.
Sun Tzu, 5. Jhd. vor Chr., chinesischer Philosoph und Stratege
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Impressum
Der Tag, an dem ich Toni das erste Mal begegnete, war der erste nach einer langen, langen Reihe Regentage, an denen man besser keinen Fuß vor die Tür setzte, wenn man nicht sofort weggeschwemmt werden wollte. An diesem Morgen schimmerte endlich einmal wieder die Sonne hinter den Wolken hervor. Also schnappte ich mir mein Trainingsschwert und suchte mir ein Eckchen auf dem Innenhof, an dem ich möglichst blickgeschützt üben wollte.
Der Innenhof steht allen Bewohnern der Häuser rundherum zur Verfügung. In der Mitte ist ein kleiner Spielplatz angelegt: eine Rutsche, zwei Schaukeln, ein Sandkasten und eine Wippe. Ach ja, und das kleine Holzhaus, in dem sich aber immer nur die Jugendlichen bei Einbruch der Dunkelheit treffen und das deshalb total zugemüllt ist. Was da alles drin liegt, will ich besser gar nicht beschreiben.
Hinter diesem Holzhaus kann man sich jedenfalls ganz gut verstecken. Der Spielplatz ist rundum von Büschen und Bänken umgeben. Aber hinter dem Holzhaus steht keine Bank und das Dornengebüsch dort ist so hoch, dass nicht einmal ein erwachsener Mann drübergucken könnte.
Dachte ich jedenfalls.
Bis zu diesem Tag.
»Guckt mal, ist das nicht süüüß!«
Die Stimme war plötzlich genau neben mir. Dabei hatte ich niemanden näherkommen gehört. Erschreckt fuhr ich zusammen und ließ das Bokken sinken.
»Wen haben wir denn hier? Ein Ninja, der nicht mal merkt, wenn sich ’ne ganze Horde an ihn ranschleicht!«
Das war eine andere Stimme. Und sie hatte natürlich vollkommen recht, was mich nur noch mehr ärgerte. Ich war so darin vertieft gewesen, den neuen Spin zu üben, dass mich die älteren Jungs total überrumpelt hatten. Jetzt standen sie zu fünft um mich herum, alle mindestens einen Kopf größer als ich, und grinsten mich dümmlich an.
»So ein Holzschwert hatte ich auch mal … als ich vier war«, scherzte der nächste und seine Kumpel lachten.
Innerlich verdrehte ich die Augen. Natürlich ist das Bokken etwas ganz anderes als ein Kinder-Holzschwert! Das Bokken ist ein Trainingsgerät, kein Spielzeug! Es kann sogar als Waffe verwendet werden.
Einer der Typen machte einen Schritt auf mich zu und wollte mir das Schwert aus der Hand reißen, aber ich schnellte zurück und hielt es vor mich, bereit zum Schlag. Nur stand dummerweise direkt hinter mir auch eine der Knalltüten und hielt mich an den Oberarmen fest.
Okay, das war’s, dachte ich und schloss die Augen in Erwartung einer Tracht Prügel.
»Ihr kommt euch wohl ganz schön toll vor! So zu fünft gegen einen Kleineren … Echt beeindruckend, wie stark ihr seid!«
Plötzlich stand sie da. Und die fünf Möchtegern-Rambos schauten mindestens genauso verdutzt wie ich. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und ihre grünen Augen funkelten wütend. Neben ihr stand ein Hund, der kleiner war als die Katze meiner Tante Rosie. Und die ist schon klein (also die Katze, nicht die Tante, die ist eher groß).
»Was ist das denn für ein laufender Meter?«, fragte der Anführer der Bande. Er ließ von mir ab und stellte sich drohend vor das Mädchen, das aber nicht einen Zentimeter vor ihm zurückwich.
Schon allein dafür bewunderte ich sie.
»Husch, husch, deine Mami ruft dich«, sagte er und machte eine scheuchende Handbewegung.
»Und du wärst bestimmt netter geworden, wenn deine Mami dich öfter mal gerufen hätte, aber die war immer froh, wenn sie dich nicht sehen musste.«
Die traut sich aber was, dachte ich und musterte meine Retterin verstohlen. Sie trug normale Jeans, aber rote Schuhe und ein giftgrünes T-Shirt.
»Du hältst dich wohl für witzig.«
Der Typ bekam richtig rote Bäckchen vor Aufregung. Er machte noch einen Schritt auf das Mädchen zu und hob dabei die Hand, als wollte er es schlagen, doch dann krümmte er sich plötzlich und stieß einen Schmerzenslaut aus.
»Au! Verdammter Köter!«
Der verdammte Köter war nicht mehr als eine Taschenausgabe von Hund, doch jetzt knurrte er wie ein ganz Großer und zeigte seine kleinen, aber sehr spitzen Zähne.
»Das ist Tarzan«, sagte das Mädchen grinsend. »Und Tarzan mag es gar nicht, wenn mir einer zu nah kommt. Aber versuch es ruhig, wenn du deines Lebens überdrüssig bist.«
Wie zur Bestätigung kläffte Tarzan jetzt, sprang wie ein Flummi auf und ab und versuchte nach möglichst vielen Waden zu schnappen.
Die Jungs vollführten ein lustiges Tänzchen bei dem verzweifelten Versuch, den Hundezähnen auszuweichen. Der, der mich bislang an den Oberarmen festgehalten hatte, gab als Erster auf und rettete sich mit einem Sprung mitten ins Dornengebüsch, aus dem er sich anschließend sofort wieder aufrappelte und das Weite suchte. Seine Freunde folgten seinem Beispiel, und schlagartig war der ganze Spuk genauso schnell vorbei, wie er angefangen hatte. Nur Tarzan jaulte noch ein bisschen rum.
»Danke«, sagte ich.
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Danke nicht mir, danke Tarzan.«
Ich musste grinsen. »Heißt der wirklich Tarzan?«
Sie nickte. »Darf ich vorstellen? Tarzan …« Sie deutete auf den Hund, der sie schwanzwedelnd anblickte und jetzt plötzlich wieder so aussah, als könnte er keiner Fliege was zuleide tun, »und Toni.« Sie deutete mit einem Zeigefinger auf sich. »Und du bist der letzte Ninja, oder was?«
»Josh, ich meine, ich heiße … Jo.« Ich bemühte mich, den Namen englisch auszusprechen. Dabei beobachtete ich den Hund, der jetzt ganz interessiert an dem Holzhaus schnüffelte und eins seiner Hinterbeine hob, um dagegen zu pinkeln. »Hast du den irgendwie abgerichtet?«
Toni lachte. »Nee, der schnappt nach allem, was in Reichweite ist, wenn er Lust dazu hat.«
Jetzt kam Tarzan auf mich zu und schnupperte an meinem Bein. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich mich über sein Interesse freuen sollte.
»Kann ich ihn streicheln?«
»Mal ja, mal nein«, antwortete Toni und es klang so, als wäre es ihr völlig gleichgültig. »Je nachdem, wie er gerade so drauf ist.«
Ich entschied mich, es lieber nicht auszuprobieren. Schließlich muss man als Ninja auch wissen, wann man einem Kampf besser aus dem Weg geht.
Ich weiß nicht so genau, wer mehr Mühe hatte, Toni zu folgen: Tarzan oder ich. Mal war sie links von mir, dann wieder rechts, dann rannte sie ein Stück voraus, dann blieb sie unvermittelt stehen, um sich in irgendeinem Schaufenster irgendetwas anzuschauen, und schien dabei alles um sich herum zu vergessen. Allmählich bekam ich Kopfschmerzen von dem Bemühen, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Ich konnte noch nicht einmal so schnell den Kopf drehen wie Toni hierhin und dorthin rennen konnte. Irgendwie war es klar gewesen, dass wir gemeinsam losziehen, nachdem ich das Bokken nach oben in unsere Wohnung gebracht hatte. Obwohl wir nicht darüber gesprochen hatten.
Logisch, wenn man sich mit der Geschwindigkeit eines Faultiers bewegt, kann einem das bet anderen, die sich ganz normal schnell for tbewegen, schon mal so vorkommen!
Toni war unten vor der Haustür stehen geblieben und hatte auf mich gewartet. Als ich wieder runterkam, hüpfte sie auf irgendwelchen nur in ihrer Einbildung existierenden Hüpfkästchen hin und her. Auf jeden Fall war sie wie immer in Bewegung. Der Tag war wunderschön. Die Sonne schien, es waren ungefähr 20 Grad und wir waren zum ersten Mal in diesem Frühjahr im T-Shirt unterwegs.
Es war kalt! Da musste ich mich ja wohl irgendwie bewegen, damit ich nicht einfror!
»Ich muss mit Tarzan Gassi gehen, kommst du mit?«, fragte Toni jetzt.
»Klar, warum nicht?«, antwortete ich.
Es kam mir so vor, als wären wir schon immer miteinander befreundet gewesen. Ob das an der gemeinsam überstandenen Gefahr lag oder an was anderem, weiß ich nicht.
Gemeinsam? Es war Tarzan, der dich gerettet hat!
»Ich habe dich schon mal beobachtet«, sagte Toni, während sie so neben mir her hüpfte. »Was du da machst, sieht ziemlich cool aus, weißt du das?«
»Du meinst das Schwertkampftraining?«
Toni nickte.
»Ich dachte immer, hinter der Holzhütte könnte mich niemand sehen.«
»Tja, das war dann wohl ein Irrtum.«
»Kenjutsu ist die Kampfkunst der alten Japaner«, erklärte ich, erfreut darüber, dass sich Toni für meinen Sport interessierte. »Die Samurai, die Soldaten des Kaisers, lernten sie. Die modernen Formen des Schwertkampfes Kendo und Iaido dienen aber mehr der Einheit von Körper und Geist als tatsächlich dem Kampf. Es geht um Charakterfestigkeit, Entschlossenheit und moralische Stärke.«
»Guck mal!« Toni war vor dem Schaufenster eines Juweliers stehen geblieben und deutete auf einen Anhänger in Form eines kleinen Hundes, der genauso aussah wie Tarzan. Sein Halsband bestand aus zig kleinen Diamanten. »Ist der nicht schön?«
Okay, Tonis Interesse an der alten Kampfkunst der Japaner war wohl doch nicht so ausgeprägt, dachte ich. Nicht nur ihr Körper, auch ihr Geist war sprunghaft.
Pah! Sprunghaft! Wer hat schon Lust auf stundenlanges Gelaber über alte Japaner?
Dabei hätte ich ihr gerne noch erklärt, dass die Ninjas sozusagen die Geheimagenten waren, die mit Operationen beauftragt wurden, von denen niemand etwas erfahren durfte. Aber stattdessen machte ich unverbindlich: »Hmm.«
Ehrlich gesagt kann ich mit Schmuck nicht so viel anfangen. Und diesen Hundeanhänger fand ich eher ein bisschen kitschig und vor allem viel zu teuer.
Du hast ja keine Ahnung!
»2.000 Euro?«, entfuhr es mir entgeistert, nachdem ich das Preisschild gesehen hatte. »Wer soll denn bitte schön 2.000 Euro dafür bezahlen?«
»Das ist doch ein Schnäppchen!«, behauptete Toni. »Der Hund ist immerhin aus Gold und das Halsband aus echten Diamanten! Letzte Woche sollte es noch 2.400 Euro kosten. Da sind 2.000 doch fast geschenkt!«
Haha! Genau! Prust…
Wäre Emil bereits bei uns gewesen, hätte er uns jetzt natürlich darauf hingewiesen, dass es sich keineswegs um Diamanten handelte, sondern um Brillanten und uns den genauen Unterschied erklärt.
Aber Emil war eben noch nicht bei uns. Emil und Luis trafen wir erst kurz darauf im Park.
Der Fußweg zum Park dauert normalerweise ungefähr fünf Minuten. Wir brauchten zehn und trotzdem war ich total aus der Puste, als wir endlich ankamen.
Du übertreibst schon wieder maßlos, Faultier!
Nachdem wir uns den Hundeanhänger beim Juweliergeschäft angeschaut hatten, stürmte Toni in einem Affenzahn weiter. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie Tarzan wie eine wehende Fahne an seiner Leine hinter sich hergezogen hätte. Aber Tarzan hatte vier Beine und war dementsprechend doppelt so schnell wie ich, der nur zwei Beine zur Verfügung hat.
Das hätte ich ja wohl mitbekommen!
Beim Konditor blieb Toni so abrupt stehen, dass ich in sie hineinlief und die Leute hinter mir die Köpfe schüttelten und nur knapp ausweichen konnten. Aber das bekam Toni gar nicht mit. Wenn sie irgendetwas ins Visier genommen hat, blendet sie manchmal alles andere um sich herum irgendwie aus.
Im Schaufenster des Konditors türmten sich Törtchen. Schokolade, Erdbeere, Biskuit … Toni sabberte beinahe gegen die Scheibe.
Ja, das stimmt wohl. Die sahen aber auch lecker aus!
Ich wagte ebenfalls einen Blick auf den Berg Baisers mit Schokoüberzug, und als ich eine Sekunde später wieder aufschaute, war Toni weg. Ich blickte mich hektisch um und entdeckte sie hundert Meter weit voraus. Normalerweise hätte ich sie gar nicht mehr sehen können, denn es waren viele Leute auf der Einkaufsstraße unterwegs und Toni ist ja ziemlich klein. Aber dort, wo sie durchfegte, entstand eine Schneise von ausweichenden Menschen und daran konnte ich lokalisieren, wo sie war.
Du solltest Schriftsteller werden.
Das Spiel wiederholte sich noch ein paar Mal. Zum Beispiel beim Sportgeschäft und beim Spielwarenladen. Aber dann hatten wir den Park endlich erreicht. Und hier gab es keine Schaufenster. Dafür aber jede Menge Blumen.
Toni kreuzte den Weg von links nach rechts und von rechts nach links. Von Tulpen zu Narzissen zu keine Ahnung was.
Es ist nicht so, dass ich Blumen nicht mag, aber ich muss nicht jede einzelne persönlich mit Namen begrüßen — Toni hingegen schon.
Und auf dem Weg von »Berta« zu »Gundi« passierte es dann. Ich hatte die beiden Jungen, die etwa in unserem Alter zu sein schienen, schon vorher bemerkt, denn irgendetwas an ihnen kam mir komisch vor. Der eine war ziemlich groß, machte schlurfende Schritte und starrte immer auf den Boden, der andere war eher klein und schaute ständig in den Himmel. Sie gingen ganz dicht nebeneinander her, als sie auf uns zukamen. So als würden sie sich gegenseitig stützen. Als sie genau auf unserer Höhe waren, entschied sich Toni aufzuspringen und auf die andere Seite des Weges zu laufen — von »Berta« zu »Gundi« (oder von »Gundi« zu »Berta«, genau weiß ich es nicht mehr).
Wieso »natürlich«? Das kann doch jedem mal passieren!
Natürlich hatte Toni die beiden Jungen nicht bemerkt, sie war ja ganz auf ihre Blumenfreunde konzentriert, und stürmte einfach los. Der kleinere der beiden, der die Augen ständig zum Himmel gerichtet hielt, versuchte noch ihr auszuweichen und schaffte es sogar! Bei seinem Seitwärtssprung stolperte er aber über Tarzans Leine und das brachte ihn zu Fall.
»Oh! Oh! Oh!«, rief der Größere und schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Dabei war Luis, der auf dem Boden saß, ganz offensichtlich unverletzt. (Natürlich wussten wir in dem Moment noch nicht, dass Luis Luis heißt. Das erfuhren wir erst kurze Zeit später.)
Luis saß also auf dem Boden und rieb sich das Knie.
Tarzan hatte sich ebenfalls furchtbar erschrocken. Er war quiekend zur Seite gesprungen, als der Junge sich in seiner Leine verheddert hatte. Und nun, als Luis da so auf dem Boden saß, wackelte er schwanzwedelnd auf ihn zu.
Ich bekam leichte Panikattacken, denn ich fürchtete, Tarzan würde dem fremden Jungen jetzt vielleicht die Nase abbeißen, die gerade so schön in erreichbarer Höhe für ihn war. Aber Tarzan war offenbar nicht in Stimmung. Stattdessen machte er vorsichtig einen ganz langen Hals und schnupperte sanft an Luis’ Gesicht, dann leckte er seine Mundwinkel, als wollte er sich bei ihm entschuldigen oder ihn trösten.
Luis lachte schon wieder, aber der größere der beiden machte immer noch »Oh! Oh! Oh!«
»Tut mir leid«, sagte Toni und streckte Luis eine Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen. »Ihr wart so plötzlich da, dass ich euch gar nicht gesehen habe!«
Ich machte leise »Pff …«, denn aus Tonis Mund klang das Wort »plötzlich« ganz besonders merkwürdig. So gut kannte ich sie da schon.
Pff …
»Nichts passiert«, sagte Luis und griff nach Tonis Hand, um sich hochziehen zu lassen.
Du spielst mit deinem Leben, Ninja! Wahre Größe zeigt sich nicht im Metermaß!
Selbst da kam mir nicht der Gedanke, dass Luis blind sein könnte, denn er ergriff Tonis Hand, als könnte er sie genau sehen! Erst als er direkt vor Toni stand (die beiden sind ziemlich genau gleich groß oder besser gesagt gleich klein) merkte man, dass er dem Mädchen vor sich nicht in die Augen schaute, sondern den Blick immer noch irgendwie an ihm vorbei in den Himmel richtete.
»Oh! Oh! Oh!«
»Es ist alles in Ordnung, Emil«, sagte Luis. »Mir ist nichts passiert, siehst du? Ich stehe schon wieder.«
Emil verstummte, als hätte Luis auf irgendeinen Aus-Knopf gedrückt.
Toni runzelte die Stirn und stierte regelrecht in das Gesicht des Jungen vor sich. Ich glaube, ich habe ein ähnlich komisches Gesicht gemacht wie sie, denn irgendetwas stimmte mit dem fremden Jungen nicht. Seine hellen Augen sahen irgendwie merkwürdig aus und flatterten unstet. Toni wedelte mit einer Hand vor dem Gesicht des Jungen herum, als wollte sie eine Fliege verscheuchen, die gar nicht da war.
»Bist du blind?«, fragte sie.
»Dasselbe könnte ich dich wohl fragen, oder?«, antwortete Luis. »Immerhin warst du es, die mich über den Haufen gerannt hat. Und warum wedelst du mit deiner Hand vor meinem Gesicht herum?«
»Oh, entschuldige«, sagte Toni. »Für einen Augenblick dachte ich, du wärst blind.«
Luis grinste und sah dabei äußerst zufrieden aus.
»Er ist blind«, meldete sich Emil zu Wort.
»Aber … woher weißt du dann, dass ich mit der Hand vor deinem Gesicht herumgewedelt habe?«, wollte Toni wissen.
»Mach mal die Augen zu«, entgegnete Luis.
Toni gehorchte und Luis wedelte mit seiner Hand dicht vor Tonis Gesicht, ohne sie zu berühren. »Und?«, wollte er wissen, »was spürst du?«
Toni zuckte mit den Schultern. »Was soll ich denn spüren?«
»Lass mich mal«, sagte ich, zog Toni zur Seite und stellte mich vor Luis. »Mach das mal bei mir.«
Luis wedelte also mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum und ich konzentrierte mich auf meine Wahrnehmung. »Ich spüre einen Luftzug und … und das Licht verändert sich. Es wird mal heller, mal dunkler, weil du mit deiner Hand manchmal die Sonnenstrahlen abschirmst.« Ich öffnete die Augen wieder. »Und außerdem riecht es nach Erde, weil du dich vorhin mit den Händen auf dem Boden abgestützt hast, als du wieder aufgestanden bist.«
Luis nickte ankerkennend. »Nicht schlecht — für einen Sehenden.«
Es war irgendwie klar, dass wir gemeinsam weitergingen. Ich weiß nicht, warum, aber wie schon vorher an diesem Tag, als ich Toni begegnet war, gab es da gar nichts zu überlegen.
Oder eine berühmte Frau!
Wir liefen zurück zum Parkeingang an der Uferstraße. Ich habe übrigens keine Ahnung, warum die Uferstraße Uferstraße heißt. Jedenfalls ist da weit und breit kein Ufer. Vielleicht gab es ja mal einen berühmten Mann mit dem Namen Ufer, der irgendetwas Wichtiges erfunden oder herausgefunden hat. Und deshalb heißt die Straße nach ihm.
Ach nee, Mr Oberschlau! Vergisst du da nicht was? Muss Ich dich daran erinnern, wer dich auf dem Spielplatz vor einer Tracht Prügel gerettet hat? Wahrnehmung? Tsss!
Ich glaube, Toni war etwas eingeschnappt, weil sie bei Luis’ Test nicht so gut abgeschnitten hatte wie ich. Aber ich bin ja auch ein Ninja!
Ninjas sind darin geübt, ihre Umgebung auszuspähen. Sie lernen, sich ganz und gar auf ihre Wahrnehmung zu konzentrieren, damit ihnen auch ja kein Laut, kein Windhauch, der vielleicht von einem sich anschleichenden Feind verursacht wird, entgeht.
Auf jeden Fall war Toni ungewöhnlich still, dafür redete Luis umso mehr. Am Ende der Grünanlage wussten wir, dass Emil Emil heißt und Luis Luis und dass die zwei wie fast jeden Nachmittag auf dem Heimweg vom Jugendtreff am Südende des Parks waren.
»Was macht man denn da so?«, wollte ich wissen. Ich erinnerte mich nämlich, dass meine Schwester da früher auch manchmal ihre Nachmittage verbracht hatte. Sie hatte allerdings immer ein riesengroßes Geheimnis daraus gemacht und so getan, als wäre es etwas ganz Besonderes für ältere Kinder wie sie. Auf keinen Fall für so armselige kleine Würstchen wie mich.
»Och, man kann Billard oder Tischtennis spielen, Kickern, Brettspiele machen oder einfach nur Tee trinken und sich unterhalten.«
Ich antwortete nur mit einem unbestimmten »Aha«. Allein die Vorstellung, mit einem Dutzend fremder Menschen in einem Raum zusammengepfercht zu werden und mich mit ihnen unterhalten zu müssen, beschleunigte meinen Herzschlag. Ich bin eben nicht so der Tee-trinken-und-dabei-unterhalten-Typ.
Der Parkweg ist mit hellem Sand und kleinen Kieselsteinen belegt, die bei jedem Schritt unter den Schuhsohlen knirschen. Tarzan hob gerade an dem Poller, der den Eingang des Parks markierte, sein Hinterbein und strullerte gegen die rotweiße Stange.
Auch Emil hob beim Übergang vom Parkweg auf die Gehplatten des Bürgersteigs sein rechtes Bein etwas höher als nötig und starrte dabei angestrengt auf den Boden. Es sah aus, als wäre dort eine Stufe, die nur er sehen konnte.
Wir standen alle ein bisschen unentschlossen herum, nachdem wir festgestellt hatten, dass Emil und Luis nach rechts mussten, Toni und ich aber nach links.
»Ja, dann …«, sagte ich irgendwann, nachdem klar war, dass sich unsere Wege jetzt trennten. »Vielleicht sieht man sich ja noch mal.« Ich hätte gerne noch mehr Zeit mit Emil und Luis verbracht, aber mir fiel auch nichts mehr ein, was ich hätte sagen können.
»Darf ich euch um etwas bitten?«, fragte Luis unvermittelt. »Ich würde gerne wissen, wie ihr ausseht, aber dafür müsste ich eure Gesichter abtasten. Wäre das okay?«
Toni und ich sahen uns an und zuckten zeitgleich mit den Schultern.
»Klar, warum nicht«, antwortete Toni schließlich.
Luis begann bei mir.
»Und?«, wollte ich wissen, nachdem er fertig war. Es hatte nicht länger als höchstens eine Minute gedauert, in der Luis’ Finger über meine Haare, meine Stirn, meine Augen, meine Ohren, meine Wangen, meinen Mund und mein Kinn gewandert waren.
»Du bist groß, hast blonde Haare und blaue Augen, Sommersprossen und eine schlanke Figur.«
Ich staunte nicht schlecht. Alles, was Luis gesagt hatte, war richtig. Und ich hatte keine Ahnung, wie er die Farbe meiner Haare und meiner Augen erkannt hatte, oder woher er wusste, dass ich Sommersprossen habe und schlank bin. Er hatte ja nur mein Gesicht abgetastet, nicht meinen Körper!
»Jetzt bin ich dran!«, forderte Toni. Sie hatte mit offenem Mund dagestanden, als Luis mein Aussehen beschrieb. Nun positionierte sie sich vor Luis und schloss erwartungsvoll die Augen.
Luis’ Finger glitten über Tonis Kopf. »Du hast lockiges braunes Haar, braune, nein, grüne Augen und bist zierlich.« Er trat einen Schritt zurück und grinste. »Du bist ziemlich hübsch.«
Toni kicherte verlegen und ich war baff. Es war wieder alles richtig gewesen! Ich musterte Toni und erst jetzt fiel mir auf, dass Luis recht hatte: Toni war wirklich hübsch. Das war mir vorher gar nicht so aufgefallen.
Es gibt so einiges, was dir nicht auffällt, Ninja.
»Woran erkennst du die Augenfarbe?«, wollte ich wissen. Vielleicht gab es da ja irgendeinen Zusammenhang zwischen Haardicke und Augenfarbe, überlegte ich.
Luis zuckte mit den Schultern. »Geraten«, gab er zu und grinste.
Als ich an diesem Abend im Bett lag, konnte ich irgendwie nicht einschlafen, weil ich an Toni, Luis und Emil denken musste und mein Herz dabei schneller schlug. So schnell, dass Einschlafen eben unmöglich war.
ich nuschle nicht, was ist mit deinen Ohren, Ninja? Und was heißt eigentlich plötzlich und unerwartet?
Toni hatte, als sie — plötzlich und unerwartet — in irgendeinem Hausdurchgang verschwunden war, irgendwas von »bis morgen« genuschelt. Und nun musste ich die ganze Zeit darüber nachgrübeln, wie ich die drei wiedersehen konnte. Wir hatten uns nicht verabredet, ich wusste nicht einmal, wo Toni, Luis und Emil wohnten, und ärgerte mich über mich selbst, dass ich sie nicht nach ihren Adressen gefragt hatte. Aber nachdem mir die Möglichkeit eingefallen war, mich in diesem Jugendtreff nach Luis und Emil zu erkundigen, ging es mir schon etwas besser und mein Herz schlug allmählich wieder langsamer.
Und Toni … Ja, Toni … Vielleicht musste ich mich noch einmal auf dem Spielplatz fast verprügeln lassen. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, Toni würde mich schon irgendwie finden. Und vielleicht hatte sie sogar eine Idee, wie wir Luis und Emil wiedertreffen konnten.