Die Leute von Nr. 37 - Fran Cooper - E-Book
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Die Leute von Nr. 37 E-Book

Fran Cooper

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Beschreibung

Jedes Haus hat seine Geheimnisse

Seit über hundert Jahren steht Nummer 37 mit der türkisfarbenen Eingangstür an einer abgelegenen Pariser Straßenecke. Hinter ihren Mauern leben völlig normale Menschen. Jeder mit seinen ganz eigenen Träumen und Ängsten, Wünschen und Affären. Auf dem Flur grüßt man sich und geht seiner Wege. Doch dann entbrennt ein Streit über die Frage, wer in die leer stehende Wohnung im dritten Stock einziehen soll. Und plötzlich prallen die Leben der Bewohner mit voller Wucht aufeinander …

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Seitenzahl: 412

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Das Buch

»Ganz hinten auf der Rive Gauche, dem linken Seine-Ufer, gibt es ein verborgenes Viertel. Jenseits der von Leuchtreklamen gesäumten Straßen, die zum Montparnasse hinaufführen, und der kopfsteingepflasterten, verwinkelten Gassen des fünften Arrondissements schlummert, eingezwängt zwischen großen Boulevards, ein Gewirr ruhiger Nebenstraßen. Durchgangsverkehr verirrt sich hierhin nicht. Wie alle Häuser hat auch Nummer 37 seine ganz eigenen Geschichten zu erzählen. Denn welches Haus birgt keine Geheimnisse? Und wer seiner Bewohner weiß schon wirklich genau, was hinter den Türen der Nachbarn vor sich geht?«

Die Autorin

Fran Cooper ist in London aufgewachsen. Sie studierte Englisch in Cambridge und Kunstgeschichte am Courtauld Institute of Art. Drei Jahre verbrachte sie in Paris, wo sie neben ihrer Doktorarbeit über Reisemaler im 18. Jahrhundert auch die ersten Teile ihres Debütromans schrieb.

Roman

Aus dem Englischen von Jens Plassmann

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2016 by Fran Cooper Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Tamara Rapp Umschlaggestaltung: Eisele Grafikdesign, München Umschlagillustration: Franziska Paetzold/Creative Market Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-20633-8V002
www.heyne.de

Für Anne, eine gute FreundinUnd natürlich für Alex

Vorwort: Das Haus

Ganz hinten auf der Rive Gauche, dem linken Seine-Ufer, gibt es ein verborgenes Viertel. Jenseits der von Leuchtreklamen gesäumten Straßen, die zum Montparnasse hinaufführen, und der kopfsteingepflasterten, verwinkelten Gassen des fünften Arrondissements schlummert, eingezwängt zwischen großen Boulevards, ein Gewirr ruhiger Nebenstraßen. Durchgangsverkehr verirrt sich hierhin nicht.

In dieser vergessenen Ecke der Stadt liegt an der Kreuzung zweier Straßen die Nummer 37. Sie ähnelt stark den Häusern der Nachbarschaft. Alle spätes neunzehntes Jahrhundert, heller Stein. Ohne ihre türkisfarbene Eingangstür würde man Nummer 37 wohl keinen zweiten Blick schenken.

An Sommerabenden kehren ihre Bewohner heim, wenn die Sonne über der Stadt versinkt. Dann werden Lichter angeschaltet, Fenster geöffnet, Abendessen zubereitet und Babys schlafen gelegt. Der Duft von in heißem Öl geschwenktem Knoblauch durchzieht den Hof, zusammen mit Kindergeschrei und zufällig heranwehenden Gesprächsfetzen.

Innerhalb der Mauern von Nummer 37 küssen sich die Menschen. Sie unterhalten sich, lachen, womöglich weint jemand. Ein paar sind froh, allein am Tisch zu sitzen. Andere wünschen sich, es wäre nicht so.

Die Nacht bricht herein, und nach und nach verlöschen die Lichter wieder. In schwülheißen, windstillen Nächten wie dieser liegen die Bewohner von Nummer 37 bei offenen Fenstern in ihren Betten und lauschen dem schnaufenden Atmen der Nachbarn. Letzte Lebenszeichen im Haus sind das Kratzen auf fremden Tellern, das helle Klingeln eines Telefons irgendwo, das Stöhnen beim Sex (und bei anderen Verrichtungen), bis am Ende überall erneut Stille einkehrt.

Wie alle Häuser hat auch Nummer 37 seine ganz eigenen Geschichten zu erzählen. Denn welches Haus birgt keine Geheimnisse? Und wer seiner Bewohner weiß schon wirklich genau, was hinter den Türen der Nachbarn vor sich geht?

1

Mit einem markerschütternden Schrei schreckt Edward im Bett hoch, schlägt die Handflächen gegen die Wand und zieht strampelnd die Beine an. Wo bin ich? Sein Puls hämmert so gewaltig in seinem aufgerissenen Mund, dass er nicht einmal weiß, ob er noch schreit. Hektisch fährt er mit einem Arm durch die Dunkelheit – Licht, da muss doch irgendwo Licht sein –, erwischt aber mit dem Ellbogen nur ein Wasserglas, das sekundenlang lautlos durch die Luft fliegt, bevor er hört, wie es klirrend zerbricht und Wasser umherspritzt. Als seine vom Schlaf geschwollenen Finger endlich den Lichtschalter finden, ist der Teppich übersät mit gefährlich funkelnden Splittern.

Orangefarbenes Licht vertreibt die Schatten, und langsam gewinnen die Dinge Konturen. Er liegt in einem Bett, in einem kleinen Raum, im Dachboden eines Gebäudes. Unter der Schräge kann er einen Schreibtisch ausmachen, die Umrisse seines Rucksacks und einen Spiegel, der einen verschwommenen Lichtschein reflektiert. Das Fenster steht sperrangelweit offen und schlägt gegen die Wand. Die hellen Vorhänge werden vom Wind abwechselnd hinausgesaugt und hereingeweht und flattern bisweilen wie lange Geisterfinger in den Raum.

Auf unsicheren Beinen durchquert Edward das Zimmer und achtet darauf, nicht in die Scherben zu treten. Mit schweißnassen Händen tastet er nach der abgewetzten Kordelschlinge, die anscheinend schon seit vielen Jahren dazu verwendet wird, das geöffnete Fenster zu arretieren. Sie muss sich gelöst haben, als er schlief. Die wenigen Handgriffe wirken beruhigend, sorgen für Orientierung. Die Luft, die über die Dächer weht, ist angenehm kühl, und das beklemmende Angstgefühl im Magen lässt nach. Als er das Fenster schließlich neu gesichert hat, weiß er wieder, dass alles nur ein Albtraum war, dass er sich in Paris befindet und dass dies die Wohnung von Emilie ist.

Wohnung. Er schaut sich um. In Emilies Schilderungen klang der Raum größer. Das Einzelbett in der einen Ecke, die »Küche« in der anderen, wobei die elektrische Kochplatte und das Kissen mit Clownsgesicht gerade mal sechs Schritte voneinander entfernt sind. Edwards Mundwinkel zucken amüsiert über den bunten Kissenaufdruck, der ihm entgegengrinst. Typisch Emilie, diese Mischung aus alter Kinderbettwäsche und den über den ganzen Raum verteilten Zetteln und Papieren. Wie Schmetterlingsflügel flattern an der Wand neben dem Bett all die angehefteten Entwürfe, Postkarten und Vorlagen im Nachtwind.

Edward kehrt zum Bett zurück und sammelt die Glasscherben in einem Aschenbecher. Der Wind hat sich ein wenig gelegt, streicht nur noch sanft über das Bettzeug und haucht in die Wand voller Papiere, statt sie heftig zum Rascheln zu bringen. Edwards Atmung dagegen hat sich noch nicht beruhigt. Seiner Armbanduhr zufolge ist es kurz vor vier, aber an Schlaf ist jetzt nicht zu denken, dafür pumpt das Blut viel zu stark in ihm. Ihn hält jene Sinnesschärfe gepackt, die der panischen Angst folgt – und die auch noch die kleinste Zelle, jeden mikroskopisch feinen Blutfluss durch winzigste Kapillaren spürbar macht.

Der nächtliche Alb hat sich bloß seinem Blickfeld entzogen, trippelt ihm als schwarzer Vogel über den Nacken. Die Bilder sind immer dieselben. Seine Schwester, die ihn mit strahlendem Lächeln ansieht, unmittelbar vor dem Zusammenprall, und der Moment dehnt sich zu einer Ewigkeit, in der er nicht fähig ist, etwas zu tun, zu sprechen, sie aufzuhalten …

Erneut erfasst seine Hände ein heftiges Zittern, und die Scherben im Aschenbecher beginnen zu klirren. Edward lauscht angestrengt, hört aber keinen Laut aus den Nachbarwohnungen. Er hasst die Vorstellung, jemand könnte seinen Schrei gehört haben.

Beim Öffnen des Mülleimers schlagen ihm warme Verrottungsdämpfe entgegen. Verdorbenes Obst, Zigarettenstummel und der schale Mief von Bierresten, die am Boden alter Flaschen in der Hitze vergammeln. Auch das ist typisch Emilie. Die Berge schmutziger Wäsche hat er bei seiner Ankunft sofort in den Schrank und damit aus seinem Gedächtnis verbannt, und an den zusammengeknüllten Seidenschlüpfer neben dem Bett, der sich so knisternd kühl unter der Fußsohle anfühlte, versuchte er nicht mehr zu denken. Den Mülleimer jedoch hat er zu kontrollieren vergessen, und jetzt in der frühmorgendlichen Dunkelheit dreht ihm der süßliche Fäulnisgeruch den Magen um.

Er zieht Jeans, Turnschuhe und das verschwitzte T-Shirt von gestern an, das zwar acht Stunden Busfahrt und eine Kanalüberquerung auf dem brütend heißen Deck einer Fähre hinter sich hat, das aber immer noch besser riecht als der Müll, den er anschließend zubindet und am ausgestreckten Arm nach unten bringt.

Vier Uhr morgens. Edward steht vor seinem neuen Zuhause, in einer neuen Stadt und atmet tief die feuchte Sommerluft ein. Da er noch nicht weiß, wo die Mülltonnen sind, hat er seinen Müllbeutel auf der menschenleeren Straße abgestellt. Niemand beschwert sich. Es ist ja niemand da, der sich beschweren könnte. Nur lange Häuserreihen, flankiert von parkenden Autos.

Er muss an das Gespräch denken, das er mit Emilie geführt hat. Wie er barfuß auf dichtem Gras stand, der kräftige Heugeruch ihm in die Nase stieg und überall Pollen in der Sonne tanzten.

»Ich muss hier weg, Em.«

»Edward!« Den Ton schlug sie nur an, wenn sie in Rage geriet, und er wurde gewöhnlich begleitet vom erregten Schütteln ihrer dicht hängenden Armreifen. Er stellte sich vor, wie sie gegen das Telefon klimperten. Metall stieß gegen Metall, wurde von Metall übertragen, von ihrem Telefon zu seinem, von Wange zu Wange, über Hunderte von Meilen hinweg. »Nimm die Wohnung. Bitte. Das kümmert da keine Menschenseele, wahrscheinlich ist meine Tante sowieso nicht da. Ich sag der Gardienne, sie soll dich reinlassen, oder irgendein alter Voisin wird einen Schlüssel haben …«

Edward hatte keine Ahnung, was all die Worte bedeuteten, aber das strahlende Sonnenlicht, ihre überschwänglich drängende Stimme, ihr Lachen und die Gewissheit, mit der sie alles beschrieb, rissen ihn einfach mit, und so folgte er ihr in das Wolkenschloss. Er kaufte sich ein Ticket, und jetzt, keine drei Tage später, steht er an einem frühen Freitagmorgen mitten in einem Viertel von Paris.

Und es ist nicht das ihm bekannte Paris. Hier gibt es keinen berühmten Boulevard, keine touristischen Sehenswürdigkeiten. Der Fernbus hatte ihn am Vorabend auf der Rückseite eines Parkhauses abgesetzt, hinter einem Einkaufszentrum, gemeinsam mit kreischenden Backpacker-Teenagern, einem Pärchen orthodoxer Juden samt unglaublich winzigem Baby sowie einem verschrumpelten Alten, der sofort seinen Gehstock packte und entgegen der Richtung aller anderen davonmarschierte. Edward war der Menge gefolgt, die durch Hintertüren und entlang trister Gänge in die Metro hinabstieg, wo er wie die Menschen um ihn herum direkt vor der Kontrolleurin, die mit glasigen Augen ins Leere starrte, über das Drehkreuz sprang und einen Zug nahm, der erst an Stationsschildern vorbeiraste, deren Aufschrift ihm noch etwas sagte (Champs Elysées, Musée du Louvre), bevor alles unbekannt klang. Er entstieg der Metro und betrat Straßen, in denen abendlicher Hochbetrieb herrschte, steckte sich den Zettel mit der rasch hingekritzelten Wegbeschreibung in die verschwitzte Hand und begann, alten Frauen auszuweichen, die Einkaufstrolleys hinter sich herzogen, und Kids, die auf Rollern vorbeischossen. Gemüsehändler schwenkten ihm Tüten mit überreifen Kirschen entgegen, aus denen der blutrote Saft in fetten Tropfen auf das Pflaster klatschte, während vor einer Fleischerei zwei Männer das Pfannenblech des Rôtisserie-Grills auskippten und der Rinnstein nun von Fett und Seifenlauge triefte. Massige Frauen, von Kopf bis Fuß in grelle Neonmuster gehüllt, stapften an ihm vorbei. Ein Teenager fuhr mit dem Motorrad über den Bürgersteig, hinter sich seinen Freund, der auf den Fußrasten stand. Und Edward, dem Jungen vom Land, taumelten die Sinne.

Jetzt allerdings ist es still in den Straßen. Edward macht ein paar zögerliche Schritte, aber die Morgensonne wird noch eine Weile auf sich warten lassen, und auch das flaue Gefühl in seinem nervösen Magen hat sich noch nicht gelegt.

Er wendet sich gerade wieder dem Haus und seiner hohen türkisfarbenen Eingangstür zu, da hört er es – oder könnte schwören, es zu hören.

»Edward!«

Schnell und beschwörend geflüstert, dringt sein Name aus der leeren Straße an sein Ohr. Er sieht sich um, kann jedoch niemanden entdecken, hört nur das Blut rauschen, das ihm in den Kopf schießt. Rasch schlägt er die Tür zu, durchquert den Innenhof und stürmt im Laufschritt die Treppen in den fünften Stock hinauf.

Hätte das Adrenalin, das zum zweiten Mal in dieser Nacht durch Edwards Adern strömt, seine Pupillen geweitet und seine Augen ein wenig länger Ausschau halten lassen, vielleicht wären ihm die Umrisse des Mannes aufgefallen, der im Eingang gegenüber schläft. Oder nicht schläft, um genau zu sein, denn der Mann hat Edward interessiert beobachtet. Nachts ist das hier seine Straße. Auf seiner Schlafstätte dreht er eine alte Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger und blickt dabei konzentriert auf die Stelle, wo der junge Mann gestanden hat. Seine Augen glänzen hart im Schein des aufflammenden Streichholzes.

Und hätte Edward bei seinem Aufstieg in die Wohnungen sehen können, an denen er vorbeikommt, wäre ihm aufgefallen, dass selbst zu dieser frühen Stunde keineswegs alle seine Nachbarn schlafen. In dem halbherzigen und absolut vergeblichen Versuch, der stickigen Hitze in ihrem Schlafzimmer beizukommen, fächelt sich im ersten Stock eine Frau mittleren Alters Luft zu. Da Chantals Mann nicht bei geöffnetem Fenster schlafen möchte, zieht sich ihre Nacht in zähen, unerträglich warmen Minuten dahin, in denen ihr die Schweißtropfen das Brustbein hinablaufen und sie gelegentlich mit dem Fuß nach dem klobigen Haufen neben ihr tritt. »César, du schnarchst!«

Im zweiten Stock schlummern Kinder und träumen. Ein Baby, milchweiß und zufrieden, regt sich in seinem Bettchen, und auch ein Hund zuckt ein wenig auf seiner Jagd nach trügerischen Kaninchenlöchern. Am Fenster steht Anaïs, die Mutter der Kinder, die keinen Schlaf findet. Ihre Finger halten das Fensterbrett mit dem abblätternden Lack umklammert, während sie den Himmel beschwört, sich wieder zu verdunkeln, den Morgen, er solle fernbleiben.

Keuchend steigt Edward weiter hinauf, vorbei am dritten Stock, wo eine schlaftrunkene Hand eine Stechmücke verscheucht, und am vierten, wo er auf der gegenüberliegenden Hofseite das bläuliche Licht eines Computerbildschirms in einem offenen Fenster bemerkt. Eine davorkauernde Gestalt hackt erregt auf die Tasten ein, und Edward, der eine Verschnaufpause einlegt, kann das fieberhafte Trommeln der Finger fast hören.

In seinem Zimmer im fünften Stock angelangt, lehnt sich Edward mit dem Rücken gegen die Tür. Draußen verschwimmt der tintenschwarze Himmel allmählich zu Tintenblau, und in der Ferne zeigen sich über den Dächern erste braune Flecken. Edward verriegelt die Tür und muss sich zusammenreißen, sie aus einem albernen Sicherheitsempfinden heraus nicht noch einmal auf- und zuzuschließen. Zurück im Bett, stellt er plötzlich fest, dass der Bezug mit dem Clownsgesicht nach Emilie riecht. Er dreht das Kissen um, vergräbt mit großer Wucht den Kopf darin und versucht zu schlafen, versucht, nicht an seine Freundin zu denken und an diese eine Nacht, die sie miteinander verbracht haben, eine Nacht der Missverständnisse und Unbeholfenheiten, in der vor allem Nasen und Zähne unbeabsichtigte Stöße erlitten.

Die Sonne steigt jetzt mit Macht auf, taucht alles in rotes Licht und bringt Edwards folgsame Wangen ebenfalls zum Glühen. Als es ihm endlich gelingt, ins Dunkel zu versinken, dringt von draußen bereits das Klappern der Fensterläden und das Geräusch von anspringenden Automotoren herauf. Das Haus erwacht, um den Tag in Angriff zu nehmen.

2

Frédérique steht auf, sobald es hell wird. Das ist die Buße, denkt sie, als sie über dem Herd gelehnt darauf wartet, dass die Flamme sich entzündet. All die in der Jugend verschlafenen Morgen, all das vergeudete Tageslicht.

Sie öffnet die Läden, während das Wasser in der Schraubkanne dem Siedepunkt entgegenknattert und der Kaffee zu rumoren beginnt. Der Salon mit den schweren Möbeln und den plüschigen Stoffen hat ihrem Geschmack noch nie entsprochen. Daher trinkt sie ihren Kaffee lieber an dem abgescheuerten Tischchen in der Küche, wo ihre nackten Füße auf den Fliesen zur Radiomusik mittappenkönnen.

Mischa die Katze tanzt auf ihre Art und schlängelt sich um Knöchel und Stuhlbeine. Ihr Miauen harmoniert allerdings so wenig mit Melodie und Rhythmus, dass ihr Frauchen schon bald aufsteht, um im Kühlschrank nach der Sahne zu suchen. Obwohl Frédérique ihren Kaffee eigentlich schwarz trinkt, gönnt sie sich an manchen Morgen, wie an dem heutigen, einen kleinen Sahneschuss in den Kaffeerest. Sie lässt die sämige Flüssigkeit in ihrer Schale kreisen, während die Katze glücklich in der Ecke ihre Portion schleckt.

An solchen Hochsommertagen sammelt sie all ihren Mut, um unter die eiskalte Dusche zu springen und mit zusammengebissenen Zähnen die schmerzliche Wohltat durchzustehen. Die Katze leckt sich in der Tür vorsichtig die Pfoten und verfolgt argwöhnisch die Wassertropfen, die in ihre Richtung spritzen. Frédériques lange Haare, mittlerweile gleichermaßen silbergrau wie blond, sind noch ungeflochten, die Fältchen um die blauen Augen mit Creme betupft, mit Schicksalsergebenheit hingenommen.

Sie zieht sich an. Wie jeden Morgen katapultiert das Öffnen des Eichenschranks sie zurück in die Kindheit. Mottenkugeln, Staub und das scharfe Swisch der Bügel auf der Stange. Allerdings sind ihre weiten weißen Kleider natürlich kein Vergleich zur mächtigen Garderobe ihrer Mutter mit all den aufwendigen Stickereien, dem Zierrat, den wulstigen, ölig glatten Fellbesätzen.

Hier, wo keine Wasserspritzer zu befürchten sind, umstreicht die Katze wieder Frédériques Beine und rollt sich auf den Rücken, um ihren Bauch in möglichst vorteilhaftem Licht zu präsentieren.

Frédérique hängt sich eine bernsteinfarbene Perlenkette um den Hals und seufzt: »Nicht jetzt, Misch.«

Es gibt so viel zu tun heute, und die Hitze nimmt bereits zu.

Als sie durch die türkisfarbene Tür nach draußen tritt, legt Frédérique den Kopf in den Nacken. Der Himmel ist sagenhaft, ein sattes Azurblau. Die schrägen Sonnenstrahlen erreichen zwar noch nicht den Bürgersteig, haben die Stadt aber bereits in ihrer Gewalt. Ein weiterer sengend heißer Tag.

Auf der gegenüberliegenden Seite sitzt der Mann, der Edward beobachtet hat, im Hauseingang und pfeift. Seine Schlafmatte hat er inzwischen zusammengerollt und hübsch ordentlich an den Einkaufswagen geschnallt, in dem all seine weltlichen Güter gestapelt sind. Er trägt Shorts und ein sauberes Hemd. Eine halb vergessene Melodie durch die Zähne zischelnd, bindet er sich die Schnürsenkel.

Jetzt hebt er grüßend die Hand. »Frédérique.«

Sie erwidert die Geste. »Josef.«

Das ist ihr morgendliches Ritual.

Sie macht sich auf den Weg die Straßen hinab, und ihre Sandalen klappern im Takt zu seinem Pfeifen. Josefs Augen, die nicht ganz auf einer Höhe liegen, folgen ihr noch einen Moment, bevor er sich abwendet, um sein Rasierzeug zu verstauen. Ein kleiner Schnitt auf seiner Wange zeugt von der kürzlichen Rasur.

Frédérique steuert die Schlange am Tabac an. Sie braucht noch Zigaretten. Nikotin, der große Gleichmacher. Selbst um diese Uhrzeit (es ist gerade mal sieben) stehen hier Frauen in Designerkostümen neben Männern in farbbeklecksten Overalls, schlaksigen, ganz in Schwarz gehüllten Teenagern und einer alten Frau mit Lockenwicklern auf dem Kopf. Lange Bänder von Rubbellosen glitzern in der Morgensonne, und auf den Bildschirmen laufen bereits Nachrichtensendungen oder werden Ergebnisse der gestrigen Pferderennen angezeigt. Geduldig schiebt sich die Menge Zentimeter für Zentimeter voran. Frédérique beobachtet, wie aus dem massigen Nacken vor ihr stecknadelkopfgroße Schweißperlen treten.

Zurück auf der Straße, zündet sie sich eine Zigarette an, und der erste Zug des Tages steigt ihr berauschend zu Kopf. Wie gewöhnlich läuft sie auch heute zu ihrem Stammlokal weiter, wo Claude mit dem Goldzahn schon ein Croissant und die Zeitung für sie bereitgelegt hat. Normalerweise sitzt sie an der Theke und beginnt den Tag mit deren angenehm kühler Metalloberfläche unter den Armen, aber an diesem Morgen ist es im Innern zu stickig. Also nimmt sie die Zeitung mit nach draußen und hält ihr Gesicht in die Sonne.

Claude bringt ihr Frühstück. Auf seinen Armen verblassen diverse alte Tattoos.

»Schrecklich, nicht?« Er zieht die Nase hoch und spuckt in den Rinnstein.

»Was?«

Claude nickt in Richtung Zeitung. »Noch ’n Anschlag. Oben in Bobigny.«

»Großer Gott.«

»Ein kleines jüdisches Kind. Dreizehn Jahre alt.«

Claude schüttelt den Kopf und geht wieder hinein. Er ist kein Mann von vielen Worten. Frédérique klappt die Zeitung auf. Die Titelseite ist der Hitzewelle gewidmet. Riesige Großbuchstaben und eine Landkarte von Frankreich in Rot und Orange. Dazu wie immer Berichte über Sparmaßnahmen. Steuern, Haushaltsdefizite, die letzte Runde an Kürzungen. Erst viel weiter hinten in der Zeitung entdeckt sie am unteren Rand einer Seite die Meldung aus Bobigny. Ein Kind wurde auf dem Heimweg von der Schule geschlagen, nur weil es eine Kippa trug. Aus den klein gedruckten Meldungen erfährt sie auch, dass es vor einer Moschee am Rande von Lyon einen weiteren Übergriff gegeben hat, dass ein Obdachloser nahe Châtelet krankenhausreif geprügelt wurde und dass die Rechtsextremen neue Proteste angekündigt haben.

Obwohl die Sonne ihr nach wie vor auf die Schultern brennt, hat Frédérique das Gefühl, eine Wolke zöge über ihr auf. Tief runzelt sich ihre Stirn, ihr Magen zieht sich nervös zusammen. Ihren Rückweg unterbricht sie nicht für die üblichen Einkäufe, nicht für Brot oder Milch und auch nicht für die dicken Erdbeeren, die der Gemüsehändler Mo immer für sie zurücklegt. Sie klimpert mit dem Wechselgeld in ihrer heißen, verschwitzten Hand und eilt mit schnellen Schritten durch die ruhige Straße. Sie würde gerne mit Josef reden, aber jetzt ist sein Einkaufswagen fort.

Frédérique fühlt sich nicht so alt, wie sie ist – fast ein halbes Jahrhundert. Während sie die Treppe hinaufsteigt, kann sie gar nicht glauben, dass vier Jahrzehnte vergangen sind, seit ihre Kinderfüße über diese Stufen stapften. Jede ausgetretene Mulde in den Bohlen ist ihr vertraut, jede Stelle mit abgeblättertem Putz. Einige der Schrammen dürften von ihren Tritten als Kind stammen. Heute noch trägt ihr Knie die Narbe von dem Sturz, als sie stolperte und die lose Fliese im Erdgeschoss ihr tief ins Fleisch schnitt. Es war ein Sommertag, ebenso heiß wie der heutige, und der Geruch von Eisen lag in der staubigen Luft, während die dunkle Flüssigkeit auf ihre weißen Söckchen tropfte.

Mischa liegt rücklings auf der Chaiselongue und streckt alle viere in die Luft. Frédérique sitzt neben ihr und reibt geistesabwesend über die alte Wunde. Fünf Stiche, seit vielen Jahren schon zu bleicher Haut verwachsen. Dennoch ist die Stelle empfindungslos geblieben.

So betrachtet sie auch diese Wohnung, in der sie aufgewachsen ist. Ein Ort, an dem Gefühle außen vor bleiben. Lange Zeit dieses Suchen nach Weite, neuen Horizonten, einem Raum, der größer ist als diese Stadt, nach einer Welt jenseits der spießigen Förmlichkeit, die innerhalb dieser vier Wände gehegt und gepflegt wurde. Dann ein grenzenloses Leben erfahren, einen Sohn bekommen und ihn wieder verlieren. Das Universum erst in all seiner Unendlichkeit tief im eigenen Mark spüren. Dann die Leere – und schließlich die wiedererwachende Sehnsucht nach dem schmalen Kinderbett, den geblümten Wänden, den klobigen Möbeln und den ernst dreinblickenden Familienporträts. All die Dinge, die sie zuvor als drückende Last erstickt hatten, verwandelten sich nun in einen Schutz gegen den Schmerz. Ein Narbengewebe, das seither ihr Herz umfängt.

Die Katze wälzt sich herum und stupst Frédérique mit dem Kopf an. Runde grüne Augen und ein leicht fischiger Atem.

»Du hast recht, mein Liebling. Über Vergangenes grübeln bringt nichts.«

Und das tut sie auch nicht. Sie hat hier mit der Zeit eine stille Zufriedenheit gefunden. Sie hat ihre Katze, ihre Bücher und den Buchladen, den sie im Erdgeschoss führt. Zwar sind weder seine Öffnungszeiten noch seine Kunden noch seine Umsätze sonderlich verlässlich, aber die kleine Abwechslung im Gleichtakt ihrer Tage bereitet ihr Vergnügen.

Ohne an die Schachtel in ihrer Tasche zu denken, geht sie auf der Suche nach Zigaretten zum Beistelltischchen und sieht das rote Licht am Anrufbeantworter blinken. »Seit wann leuchtest du denn schon?«, murmelt sie und zündet die Zigarette an, die ihr zwischen den Lippen baumelt.

Frédérique nimmt einen tiefen Zug und spielt die Nachricht ab. Nach einem schrillen Pfeifton ist dumpf und abgehackt ihre Nichte zu hören. Offenbar steht sie im Freien, denn Verkehr und Windböen übertönen immer wieder ihre Worte.

»Freddie, hier ist Emilie! Hoffentlich macht es dir nichts aus … Freund von mir vorbei. Habe ihm gesagt … Schlüssel bei Madame Marin abholen. Er wird dich also gar nicht belästigen. Er muss nur mal raus …« Ein Lastwagen rumpelt vorbei. »Alles Liebe. Ach ja, er heißt Edward!«

Wieder das Piepen, dann Stille.

»Edward …« Frédérique stößt den Namen mit einem Seufzer aus. In ihrer Erinnerung tauchen wieder die feuchtfröhlichen Abende bei Kerzenlicht auf, wenn Emilie voll aufregender Geschichten über Freundinnen und Jungs von der Uni zurückkehrte. Ebenso beiläufig, wie sie das Haar nach hinten warf und dabei lachte, ließ sie auch ständig Namen fallen, nur um gleich darauf zu bemerken: »Gott, Freddie, dieser Wein schmeckt ja furchtbar!« Und Frédérique erinnert sich auch noch an den Schatten eines Errötens, als ihre Nichte wieder und wieder auf diesen wunderbaren Freund, diesen großartigen Edward zu sprechen kam.

Die Unijahre stellten damals eine deutliche Zäsur dar. Vorher hatte ihre Nichte fast bei ihr gewohnt, war so häufig zu Besuch gewesen, dass ihre Abwesenheit stärker überraschte als ihre Gegenwart, und es war nichts Besonderes für Frédérique, sie beim Nachhausekommen in der Badewanne, eingeigelt auf dem Bett oder beim Stöbern in den Bücherregalen anzutreffen. Als Emilie dann ihr Studium begann, hatte Frédérique erst wieder lernen müssen, mit der Stille zurechtzukommen. Die Nähe war groß gewesen, und natürlich lebte sie während der Semesterferien vorübergehend erneut auf, aber mit der Zeit lassen solche Dinge eben nach. Inzwischen sind einige Jahre vergangen, und Emilie hat jetzt ihr eigenes Leben in London an der Seite von Simon, dem aalglatten Banker mit dem breiten Dauergrinsen und diesem ständigen Misstrauen im Blick. Außer zu einer schrecklich steifen Tasse Kaffee in irgendeiner Touristenfalle, die Simon unbedingt besuchen musste, hat Frédérique ihre Nichte seit Monaten nicht mehr gesehen. Sie kann sich gar nicht mehr daran erinnern, wann Emilie das letzte Mal unangemeldet bei ihr hereingeplatzt ist, wann überhaupt jemand überraschend vor ihrer Tür gestanden hat.

Da Mischa spürt, wie ihre Herrin wieder einmal in Tagträumereien versinkt, löst sie sich aus der Umarmung und stolziert in Richtung Küche, um Frédérique mit ihren Zigaretten und den Gespenstern aus der Vergangenheit allein zu lassen. In der Hoffnung auf einen bislang übersehenen Leckerbissen sucht die Katze den Boden unter dem Küchentisch ab. Sie hat kein Glück, aber immerhin liegt ihr Lieblingsplatz auf der Fensterbank derzeit in der Sonne, und so springt sie hinauf und macht es sich – ein Auge geschlossen, das andere nach unten in den Hof gerichtet – gemütlich.

3

Während Mischas Schnurren in tiefes, zufriedenes Schnarchen übergeht, knarzt und klappert das Gebäude um sie herum. Türen schlagen, Putz platzt ab, und wenn die U-Bahn in regelmäßigen Abständen unter dem Haus durchfährt, erfüllt ein feines Surren die Kehlen der Bewohner.

Aus dem gleichen blassgrauen Stein errichtet, in den unter ihr der Tunnel getrieben wurde, ist Nummer 37 keineswegs ein für alle Mal fertiggestellt, sondern eher in permanenter Veränderung begriffen. Ständig öffnet sich irgendwo ein Spalt zwischen Tür und Rahmen oder zwischen Fenster und Wand. In windigen Nächten jagt kalte Luft das Treppenhaus hinauf und kreiselt heulend durch die obersten Stockwerke. Im Sommer dagegen stehen alle Fenster sperrangelweit offen, die Rollläden ragen wie ausgestreckte Zungen nach außen, und das Haus schnauft in der Hitze gemeinsam mit seinen Bewohnern. Wirklich elegant ist es nie gewesen, dafür liegt es einfach zu weit vom Fluss entfernt. Außerdem besteht es eigentlich aus zwei getrennten Gebäuden. Eins zur Straße hin, mit großzügigeren Wohnungen als das andere, das sich hinter dem Hof anschließt. Eine Längsseite dieses Innenhofs nimmt ein würfelförmiger Flachbau mit Blechdach ein, in dem die Gardienne wohnt.

Nur wenige in Nummer 37 wissen aus eigener Anschauung zu berichten, wie lange Madame Marin bereits die Gardienne ist oder wie lange sie den Friseursalon im Erdgeschoss betreibt. Seit mindestens drei Jahrzehnten ist der Durchgang vom Vordereingang zum Hinterhof ihr Reich, das sie mit dem Geruch nach Shampoo und verbranntem Haar und mit dem Klatsch über ihre Kunden füllt. Auch wenn sie es nie zugeben würde, hat sie die fünfzig längst überschritten. Ihre Brauen färbt sie sich in demselben Kürbisorange wie ihre Locken, die schon immer ihr größter Stolz gewesen sind, und nie sieht man sie ohne hochhackige Schuhe. Da Morgenmäntel in ihren Augen von grauenhafter Geschmacklosigkeit zeugen, besitzt Estella Marin eine Reihe knallbunter Kimonos, deren verwirrende Muster aus Fischen und Blumen sie sich eng um den Leib schlingt. Auf der Rückseite ihrer Beine zeichnen sich unter den transparenten Strumpfhosen marmorgleich geäderte Venengeflechte ab, deren Spinnennetze mit den Jahren in aller Stille ihre Beine hinaufwuchern, während Madame Marin den Hof kehrt, die Post in die Briefkästen verteilt und insbesondere die männlichen Bewohner grüßt, wenn sie vorbeihasten.

Früher einmal hätte die Gardienne eines Hauses alles über jeden gewusst. So riesig sind die Gebäude ja nicht, gerade mal ein gutes Dutzend Wohnungen auf fünf Stockwerke verteilt, und bevor bei Streitereien die Türen noch richtig geschlossen und die Stimmen gesenkt werden konnten, hätten die Vorgängerinnen von Madame Marin schon das Wichtigste aufgeschnappt. Zahlreiche Babys sind in Nummer 37 geboren worden. Die Schreie ihrer Mütter hallten durch das Treppenhaus, blutgetränkte Laken wurden nach unten gebracht und mächtige Kinderwagen nach oben geschleppt. Natürlich hat es auch Tote gegeben. Betagte Köpfe, die still auf ihre Kissen zurücksanken, und andere, die deutlich vor ihrer Zeit gingen.

Dem Ersten Weltkrieg fielen zwei Jungs aus dem Haus zum Opfer. Alfred Michel, ein sommersprossiger Neunzehnjähriger, frisch vom Lycée, und Guillaume Bertrand, ein blauäugiger Büroangestellter, der ein Mädchen in misslicher Lage zurückließ. Eines Tages erschien sie zum großen Entsetzen seiner Eltern an der türkisfarbenen Tür. Still und heimlich brachten sie das Mädchen in einer Dachkammer im Hinterhaus unter, in dem Zimmer neben dem von Edward, und beschränkten sich auf ihre Vorderhauswohnung mit Straßenblick, ohne sich zu der jungen Mutter zu bekennen oder auch nur mit ihr zu sprechen. Im Gegenteil. Madame Bertrand selbst heizte die Gerüchteküche im Haus noch an, indem sie den anderen Frauen vertraulich etwas von »solchen Mädchen« zuraunte, von »Kriegskindern« und »Ärgernissen«, bis das Mädchen, das Sophie hieß, eines Tages ihre Sachen packte, ihr blondes, blauäugiges Baby nahm und im Dunkel der Nacht verschwand. Dieser neuerliche Verlust lähmte die Bertrands indes vollends, und sie sprachen fortan kaum noch ein Wort.

Seinerzeit erzählte man sich, Sophie, die ursprünglich aus dem Elsass stammte, sei mit einem der Amerikaner durchgebrannt, von denen es nach dem Krieg auf dem Montparnasse wimmelte, aber in Wahrheit kamen die sagenumwobenen US-Boys nie bis zu diesem Haus oder in diese Gegend. Die großen Boulevards wiederum blieben für die hier Wohnenden in der Regel geheimnisvolle Orte, über die nur leise in missbilligendem Ton getuschelt wurde. Strahlende Lichter, Theater, Cabarets, eine ganz andere Welt verglichen mit den Straßen, in denen sie verkehrten, mit ihrem Café, dem Tabac, dem Lebensmittelhändler und dem Metzger.

1943 wurde eine Familie aus dem Haus abgeholt: die Kahns aus dem dritten Stock. Die Bewohner von Nummer 37 sahen zu, taten nichts und sagten nichts, und eine neuerliche Stille befiel das Haus. Die Leute hielten die Blicke gesenkt, mieden jeden Kontakt und blieben für sich. Nach dem Krieg gedachte man der drei Kinder der Kahns mit einer Erinnerungstafel an der Schule.

Oft behielten Familien ihre Wohnungen über Generationen hinweg. Die Menschen wuchsen auf, wurden alt, starben und vererbten, während die Ereignisse im Rest der Welt an ihnen vorüberzogen. Historisch bewegte Jahrzehnte haben Nummer 37 nur wenig erschüttern können. In den Schornsteinen pfeift noch immer der Wind, und noch immer schlägt des Nachts auf geheimnisvolle Weise die Kellertür zu.

Am Ende des letzten Jahrhunderts entschieden die Bewohner, dem Haus einen neuen Anstrich verpassen zu lassen. Tatsächlich in Gang kam dieses Millenniumsprojekt allerdings erst im Glutofensommer von 2003, als ständig Krankenwagen stumm durch die Straßen der Stadt rollten, um die Alten und Vergessenen aufzusammeln, die an der Hitze gestorben waren. Und der Anstrich blieb unvollendet.

In vielerlei Hinsicht besteht die Geschichte von Nummer 37 also darin, den Zeiten stets ein wenig hinterherzuhinken, ein wenig abseits von ihnen zu stehen, verborgen hinter dieser türkisfarbenen Tür an einer Straße, die den Namen von längst vergessenen Blumen in sich trägt, Blumen, die, sollte es sie überhaupt jemals hier gegeben haben, heute nirgends mehr wachsen. Auf diese Weise hält das Haus seit Jahren durch und wird auch weiter durchhalten, während das Viertel ringsherum sich langsam zu verändern beginnt. Der dritte Stock im Vorderhaus steht momentan leer, und etliche der verbliebenen Bewohner stimmen darin überein, dass man sich die nächsten Käufer ganz genau ansehen muss.

4

»Ich habe nur gesagt, wir müssen uns die nächsten Käufer genau ansehen«, brüllt César Vincent über das Rauschen der Wasserhähne im Badezimmer hinweg. Er dreht sie zu und betrachtet zufrieden sein in Rasierschaum gepacktes Gesicht. Als er gerade die Klinge an diese heikle Stelle direkt unterhalb der Nasenlöcher legt, tritt unbemerkt seine Frau in die Tür.

»Was für Käufer?«

Vor Schreck zuckt Césars Hand, und der Rasierschaum beginnt sich rosa zu färben.

»Die Käufer eben, die Käufer«, erwidert er ärgerlich. »Für den dritten Stock.«

»Ach, die.«

Und damit verzieht sich seine Frau wieder ins Schlafzimmer.

César hat nie verstehen können, warum sich Chantal so wenig für das Haus interessiert. Als Vorsitzender der Eigentümergemeinschaft von Nummer 37 – seine Brust schwillt um ein paar Zentimeter an, wann immer er sich diesen Titel in Erinnerung ruft – ist er dazu verpflichtet, Interesse zu zeigen. Schließlich sind die Immobilienpreise auch nicht mehr, was sie früher waren. Da sollte besser nicht jemand … Unvorteilhaftes einziehen. Mit einem Seufzer richtet er seine Aufmerksamkeit zurück auf den Spiegel und den roten Tropfen, der gerade von seinem Kinn zu fallen droht.

Im Schlafzimmer kehrt Chantal Vincent auf ihren Platz am Fenster zurück. Es ist keineswegs so, dass sie sich nicht für das Haus interessiert, im Gegenteil, sie beobachtet es schließlich die ganze Zeit. Aber sie hat nicht gut geschlafen. Wieder einmal ist ihre Nacht stickig heiß und ruhelos verlaufen, weil César sich geweigert hat, bei offenem Fenster zu schlafen. Er hingegen ist natürlich frisch und bestens gelaunt aufgewacht. Das selbstzufriedene »Pom-pom-pom« seiner weichen Baritonstimme dröhnt über das Wasserrauschen, und sie weiß genau, dass er jeden Moment hereinplatzen wird, mit rosiger Haut, gut genährt und bereit für sein Tagewerk. Chantal hingegen fühlt sich erschlagen, ist noch im Nachthemd, die Haare kleben ihr im Nacken, und ihre einzige Hoffnung besteht darin, vielleicht ein paar ungestörte Minuten Schlaf ergattern zu können, bevor um zehn ihre Schicht beginnt.

Chantal arbeitet in der Bibliothek eines privaten Literaturinstituts im fünfzehnten Arrondissement. Hinter das Pult einer Bibliothekarin geriet sie erstmals Mitte zwanzig. Damals erschien ihr das Bibliothekswesen reizvoller (und finanziell lukrativer) als die zehn einsamen Jahre, die sie voraussichtlich zum Promovieren benötigt hätte. Eine Weile befielen sie danach noch Zweifel, ob sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte, vor allem wenn sich im September die Schaufenster mit Schulranzen und Federmäppchen füllten oder wenn ein entfernter Bekannter sie einlud, zur Verteidigung seiner Doktorarbeit zu kommen. Inzwischen jedoch, nach so vielen Jahren, schätzt sie die beruhigende Stille, die ihre Arbeit mit sich bringt, den Geruch von frisch bedruckten Seiten, das Vergnügen, einen Einband zum ersten Mal aufzuklappen und den Facetten einer so noch nie geschilderten Welt nachzuspüren. Zudem hat ihr in letzter Zeit die Zusammenarbeit mit einem neuen Kollegen besondere Freude bereitet, und auch wenn sie noch nicht an dem Punkt angelangt ist, es sich selbst einzugestehen, so beschäftigen sich ihre schlaflosen Gedanken doch nicht selten mit ihm.

Auf der Suche nach einem nicht vorhandenen Luftzug und um irgendwie Kraft für den bevorstehenden Tag zu sammeln, starrt Chantal von ihrem Fensterplatz aus auf den Hof und das gegenüberliegende Vorderhaus. Im ersten Stock hat sie bereits Frédérique mit dem silbergrauen Haar herumlaufen sehen. Im vierten schlägt diese widerliche Frau gerade mit einem Knall das Fenster zu. In der Wohnung über Chantal beginnt ein Baby zu schreien. Verfluchter Balg, geht es ihr durch den Kopf, während oben Füße in besorgter Eile über die Dielenbretter hasten, begleitet von den scharrenden Krallen eines Foxterriers.

Ein kleiner Mann tritt unten aus dem Flachbau in den Hof. Auch wenn man es kaum vermuten würde, das ist Madame Marins Ehemann. Anders als seine grell geschminkte, kimonotragende Frau ist Augusto Marin eine Symphonie in Beige. Sein beiger Pulli steckt sicher in beigefarbenen Hosen, die er bis zum Brustkorb hochgezogen hat. Er macht ein paar verhaltene Schritte in den Hof, mustert kurz den Himmel und schlurft schließlich zu den Mülltonnen an der Rückseite des Vorderhauses.

»Bonjour, Monsieur Marin!«

Jetzt ist es Chantal, die vor Schreck zusammenzuckt, da plötzlich César mit umgebundenem Handtuch neben ihr am Fenster auftaucht und allen stolz seinen stattlichen Bauch präsentiert. Der Mann im Hof schaut auf, grüßt wortlos mit einer Handbewegung zur Stirn und setzt seinen Weg fort, wobei er fast mit einem jungen Mann kollidiert, der gerade aus dem Hinterhaus stürzt und Richtung Straße strebt.

»César!« Chantal schlingt instinktiv die Arme um den Oberkörper, da sie nicht mehr weiß, wie durchsichtig ihr Nachthemd eigentlich ist. »Zieh dir was an!«

»Keine Bange, Liebes, wird schon keiner meinen …«

Er bricht mitten im Satz ab, was bei ihm höchst ungewöhnlich ist.

»Was?«

»Sieh doch! Da!«

Sie schaut hinunter und tatsächlich, die Eingangstür zur Straße ist aufgegangen, und über die Schwelle tritt Madame Marin.

Nun muss Chantal sich nicht länger um die Wohlanständigkeit ihres Nachtkleids sorgen, denn Madame Marin hat ihren Körper in einen Fummel gezwängt, der ebenso knallpink strahlt wie knalleng sitzt. Die Partie zwischen ihren gemalten Brauen und den dichten schwarzen Kunstwimpern ist türkis geschminkt, die Lippen leuchten in kräftigem Rot. Sie strahlt den jungen Anzugträger, der in diesem Moment den Vordereingang erreicht, exaltiert an.

César und Chantal stockt der Atem. Auch die Füße über ihnen wandern nicht länger im Kreis. Madame Marin ist heute Nacht nicht zu Hause gewesen. Das da sind ihre Stilettos vom Vorabend, so viel steht fest. Sie macht ein paar unsichere Schritte und reckt den Hals, um zu sehen, ob ihr Ehemann irgendwo steckt. Doch Monsieur Marin ist weiter mit den Mülltonnen beschäftigt, und so verfolgt das Haus mit einem kollektiven Seufzer der Erleichterung, wie seine Frau verstohlen über den Hof wankt und unbemerkt in der Wohnung verschwindet.

»Puh, das war haarscharf«, sagt César Vincent zu seiner Frau. »Wie schafft sie das bloß? Wahrscheinlich schläft er im Wohnzimmer.« Chantal schüttelt den Kopf. »Ich sag dir, es kommt der Tag, da wird sie erwischt. Am Ende wird doch jeder erwischt.«

Trotz der Hitze läuft César ein kalter Schauer den Rücken hinab.

Nummer 37 steckt voller ironischer Verflechtungen. Sie durchziehen das Haus von Wohnung zu Wohnung, nicht anders als die Küchendünste, die das Treppenhaus hinaufsteigen, oder die eigentlich privaten Töne, die unter geschlossenen Türen entweichen. Während Chantal etwa an ihrem Fenster sitzt und sich freut, dass ihr Ehemann zur Arbeit muss, wünscht die Frau über ihr sich sehnlichst, ihrer wäre geblieben. Es ist ihr Baby, das geweint hat, und ihr anzugtragender Ehemann, der im Hof Madame Marin in die Arme gelaufen ist.

Tagesanfänge sind am schlimmsten, findet Anaïs. Vor allem dieser Moment, unmittelbar nachdem Paul gegangen ist. Zu wissen, dass es noch nicht einmal acht Uhr ist und sie noch zwölf Stunden durchstehen muss, bevor er zurückkommt, bevor sie wieder eine Unterhaltung unter Erwachsenen führen kann.

Früher in der Auvergne, vor ihrem Umzug in die Stadt, hat sie als Kindergärtnerin gearbeitet. Maitresse de maternelle. Heute lastet dieser Titel schwer auf ihr. Dass sie den Kindern anderer Leute weit mehr Geduld entgegenbrachte als nun ihren eigenen, steht ihr in schönster Ironie beständig vor Augen. Wie viel stärker ihr Mutterinstinkt doch damals ausgeprägt war. Eine zwanzigköpfige Gruppe konnte ihrem Selbstwertgefühl nichts anhaben, verstärkte es allenfalls noch. Spiele mussten gespielt, Lieder gesungen und Kontrolllisten abgehakt werden, und am Ende des Tages erfolgte eine hübsch ordentliche, befriedigende Übergabe. Ihre eigenen Kinder scheinen dagegen kein Ende zu kennen. »Maman, maman!«, schallt es rund um die Uhr in ohrenbetäubender Lautstärke, und wenn sie mitten in der Nacht schlaflos Wache hält, füllt sie bisweilen die Stille mit Erinnerungen daran, wer sie einstmals war und wer sie streng genommen noch immer ist.

Anaïs nutzt einen unerwarteten Augenblick der Ruhe und sieht in den grauen Hof hinunter, doch höchstens zwei oder drei Sekunden später dringt ein mächtiger Knall aus dem Nebenraum, gefolgt von schrillem Kreischen. Louis hat von seinem Hochstuhl aus eine Tasse Milch auf den Boden geschleudert. Florence hat ihre Patschhändchen tief ins Nutellaglas getaucht. Der Hund kläfft, das Baby schreit, der Geruch nach vollgeschissener Windel liegt in der Luft, und der ganze Zirkus beginnt wieder von vorn.

Wie und warum Anaïs es schafft, sich nachts wach zu halten, weiß sie selbst nicht. Eigentlich dürfte das gar nicht möglich sein. An manchen Tagen fühlt sie sich so entsetzlich müde, dass sie glaubt, gleich den Betrieb einzustellen. Ihre Muskeln werden erschlaffen, sie wird zu Boden sinken und dort auf dem Teppich liegen, während Hund und Kinder schreiend im Kreis um sie herum toben, krabbeln und sich erbrechen. In ihrer stummen Bewegungslosigkeit wird Anaïs den Magnet für sie bilden, den Anker.

Aber ungeachtet dieser Gedanken macht sie sich automatisch auf den Weg in die Küche. Sie schimpft den Hund aus, ihren Sohn, ihre Tochter. Sie wischt alles auf. Heute ist dieser Tag noch nicht, allerdings fürchtet sie, dass er kurz bevorsteht.

Unten beginnt der tägliche Tanz, wenn die Laufwege sich im Hofkarree kreuzen und die Bewohner einander grüßen in einem unverbindlichen Wechselgesang aus Bonjour, Bonjour, der durch das Gebäude hallt, sobald die in seinen Mauern Lebenden sich von Angesicht zu Angesicht begegnen.

César Vincent stapft die Stufen hinab und durchquert mit ausladenden Schritten den Hof. Die Aktentasche schwingt selbstbewusst an seinem Arm. Ein winziges altes Männchen aus dem Vorderhaus schlendert davon, um im Park Schach zu spielen. Monsieur Marin, der sich an den kleinen Dingen des Lebens zu erfreuen weiß, zieht einen Liegestuhl in ein Fleckchen Sonne. Madame Marin ist inzwischen wieder in den gewohnten Kimono geschlüpft und lauscht über die aufheulenden Haartrockner hinweg den Kundinnen, die über die Hitze klagen.

Etwas später macht Chantal sich auf den Weg in die Bibliothek. Die Aussicht, gleich wieder Adrien zu begegnen, lässt ihr Herz ein wenig schneller schlagen. An der türkisfarbenen Eingangstür trifft sie auf Frédérique, die heruntergekommen ist, um draußen nach dem obdachlosen Josef zu sehen.

»Bonjour, Madame Vincent.«

»Bonjour, Madame Aubry.«

Einen Moment halten beide unbeholfen vor der Tür inne, um sich nicht vor der anderen nach draußen zu drängeln. Nach ein paar verunglückten Startversuchen, die mit freundlichem Lachen quittiert werden, schaffen sie es schließlich gemeinsam auf die Straße, und Chantal denkt nicht zum ersten Mal, wie schade es doch ist, dass César und Frédérique so häufig aneinandergeraten. Frédérique wiederum wünscht sich, Chantals Ehemann wäre nicht ein solcher Widerling. Beiden fällt nicht zum ersten Mal auf, wie schön es doch wäre, eine Freundin im Haus zu haben.

Chantals Schritte verklingen in der Ferne, und erneut kehrt Stille in die Straße ein. Josef ist nicht da. Frédérique gibt sich geschlagen und beschließt, den Laden aufzumachen, der versteckt in einer Ecke des Hinterhofs liegt. Auf den einen Tag kommt es auch nicht an, und vielleicht kann sie ja heute diese Kataloge zusammenstellen. Außerdem ist sie so nicht der sengenden Sonne ausgesetzt. Auf ihrem Weg über den Hof richtet sie den Blick nach oben und muss erneut an Emilies Freund in der Dachkammer denken.

5

Er ist im Garten. Regen zieht auf. Dunkle Wolken schieben sich über den Berg. Es liegt eine gespannte Ruhe in der Luft, dennoch zittern die Blätter an den Bäumen, zwitschern die Vögel aufgeregt im Chor. Bettlaken hängen auf der Leine. Weiße, sich blähende Tücher. Er hat sie früher schon so gesehen, kennt die Silhouette der Gestalt, die mit schlaff herabhängenden Armen durch das Meer aus Segeln treibt.

»Mum!«

Er ruft nach ihr, aber vielleicht ist es ja doch windig, immerhin schlagen die Laken in wütenden Wellen aus, und er kann seine eigene Stimme nicht hören. Die Gestalt dreht sich nicht um. Als der erste Donner das Tal entlangrumpelt, läuft er auf sie zu, aber jetzt ist er in den Tüchern gefangen, und er ist wieder klein. Ein Kind, umhüllt von Waschpulverfrische, bedrängt von Seepferdchenmustern und weißer Gischt. Er duckt sich unter den Donnerschlägen, und alles, was er im weißen Auf und Ab ausmachen kann, ist die erhobene Hand seiner Mutter mit dem lose auf dem knochigen Finger steckenden Ehering, die Wäscheklammern auf- und zuschnappen lässt. Auf. Zu. Auf. Und jedes Mal schnellen die Plastikschenkel mit donnerndem Knall zusammen.

Wieder schreckt Edward aus dem Schlaf. Rasch schlägt er sich die Hand vor den aufgerissenen Mund. Inzwischen ist es taghell und heiß, seine Haut so klebrig feucht, dass er sich aus den Laken schälen muss. Es dauert einen Moment, bis er das Geräusch, das ihn geweckt hat, zu orten vermag. Die zuschnappenden Klammern aus seinem Traum verblassen, und ihm wird bewusst, dass jemand an die Tür klopft.

Er streift ein T-Shirt über den Kopf und fährt sich mit der Hand durch das platt gelegene Haar. Gerade will er den Schlüssel umdrehen, da erinnert er sich mit leichtem Grauen an die Frau, die ihm gestern Abend das Zimmer gezeigt hat. Madame Marin, in Leopardenmuster und einer Wolke aus Parfüm, die Haare fast so rot wie die Fingernägel, die sich mit befremdlichem Nachdruck in seinen Unterarm gruben.

Die Frau, die jetzt in der Tür steht, bietet einen komplett anderen Anblick. Groß gewachsen, schmal, mit einer Löwenmähne aus silbergrauem Haar, die sich sanft über ihren Nacken ergießt und ihr ein ätherisches, jenseitiges Aussehen verleiht. Sie trägt ein langes weißes Hemd, um den Hals eine Bernsteinkette und Türkisringe an den Fingern. Ihre Augen haben fast die königsblaue Farbe von Tinte.

Lächelnd sagt sie etwas, das er nicht versteht.

»Ähh … Pardon?« Sein Französisch ist stärker eingerostet, als er dachte.

»Ach, entschuldige. Emilie hat mir nicht gesagt, dass du Engländer bist.« Die Stimme der Frau ist weich wie Butter. »Ich bin ihre Tante. Frédérique.«

»Oh, natürlich. Verzeihung, Edward.« Er streckt die Hand zur Begrüßung aus, und ihre Mundwinkel heben sich amüsiert angesichts der steifen Geste. Sie beugt sich vor, ihr Haar streicht sanft an seinem Ohr vorbei, es duftet nach frisch geschnittenem Gras, und sie küsst ihn auf beide Wangen.

»Wir sind in Frankreich, Edward. Unter Freunden begrüßt man sich hier so.«

Ihre Silberarmreifen klimpern, als sie sich aufrichtet, und Edward fühlt sich von der Art, wie Frédériques lange Arme und Beine schlenkern und schlackern, wenn sie sich bewegt, sofort an Emilie erinnert. Aus irgendeinem Grund hält er noch immer die Hand ausgestreckt. Hastig lässt er sie sinken und bemerkt dabei seine nackten Beine, die Boxershorts und seine schrecklich knubbeligen Knie.

»Ich wollte dich nur willkommen heißen und sehen, ob du alles gefunden hast«, fährt Frédérique fort und beginnt, geistesabwesend die Kette um einen Finger zu wickeln.

Gefunden hat Edward so ziemlich alles, nur seine Stimme bleibt weg, und er hat schon lange genickt, bevor er endlich ein »Ja, danke« zustande bringt.

»Ich habe mir gedacht …«, wieder lächelt sie, und ein Funkeln tritt in das weite Blau ihrer Augen, »vielleicht möchtest du ja zu einem Tee nach unten kommen. Sobald du angezogen bist, versteht sich.«

In das Samtsofa zu sinken gleicht dem Eintauchen in eine andere Welt, eine Welt, die aus dunklem Holz besteht, aus dem schwachen Duft nach Räucherstäbchen und dem Kratzen von schwerem Polsterstoff an seinen Armen. Nebenan hört er Frédérique mit der Teekanne hantieren. Das metallische Klappern von Besteck wird untermalt vom leisen Trillern klassischer Musik aus einem Radio irgendwo.

Edward ist allein im Salon. Ihre Wortwahl, nicht seine. Er hätte vermutlich Wohnzimmer dazu gesagt, vorausgesetzt die Maße wären halb so groß gewesen. Tatsächlich aber nimmt der Raum die gesamte Breite des Gebäudes ein. An seiner Frontseite reihen sich vier Fenster aneinander, die allesamt offen stehen. Die cremefarbenen Vorhänge sind zugezogen und schleifen über den Holzboden. Die Wände sind in einem kühlen Farbton irgendwo zwischen Grau, Blau und Staubfarben gehalten, während sich über die Decke ein wildes Spiel von Stuckarbeiten zieht.

Frédérique hat ihn auf dem Sofa platziert, das die eine Hälfte des Raumes dominiert. Eine gewaltige Masse aus verblasstem Blau, die unter ihm zugleich nachgibt und vorspringt. Er muss an Rosshaar denken, an Mähnen, die in Quasten abstehen, und versichert sich, dass es nur der dicke Samtbezug ist, der an seinen Beinen reibt. Um das Sofa herum stehen eine Reihe schlichterer Sessel, eine Chaiselongue mit verblichenem Blütenmuster und Bücher, überall Bücher. Sie füllen die Regalwand, die hinter ihm die gesamte Längsseite entlangläuft, und lehnen, auf dem Boden zu gewagten Türmen gestapelt, gegen jede senkrechte Stütze, die sich finden lässt.

Das andere Ende des Raumes dominiert ein großer Esstisch. Selbst im Halbdunkel kann Edward die glänzende Holzfläche schimmern sehen. Dazu blinken von den Wänden Glöckchen und kleine Spiegel, die an Schmuckschnüren baumeln und leise im Durchzug klimpern. Seine Augen haben sich jetzt an das Dämmerlicht gewöhnt, und er erkennt in gleichmäßigen Abständen aufgehängte dunkle Porträts, große blaue und weiße Vasen, die mit Blumen gefüllt sind, und diverse Statuen, die hier und da herumstehen. Goldene Götter und Buddhas, prächtig und geheimnisvoll vage im diffusen Licht.

Verlegen streift Edward sich mit den Händen über die Oberschenkel. Mit derart herrschaftlichen Verhältnissen hat er nicht gerechnet. Frédérique hatte ihm zwar erklärt, wie er zu ihr kommt – die Treppe hinunter, über den Hof, im Vorderhaus hoch in den ersten Stock –, aber ihre belustigte Abwertung seiner Unterkunft als »Gesindekammer« hatte er nicht ernst genommen. Nach ihrem Besuch war er im Etagenbad gewesen, wo er sorgsam darauf achtete, beim Duschen die schmuddeligsten Wannenecken zu meiden. Doch selbst jetzt in diesem großen Raum ist es stickig, und schon beginnt sich in seinen Kniekehlen der Schweiß zu sammeln. Nach dem Duschen hat er bereits eine Spur feuchter Fußstapfen auf dem Flur hinterlassen, daher möchte er nun Schweißflecken auf diesen Möbeln unbedingt verhindern. Bis eben ist er sich in dem frischen Paar Shorts und dem am wenigsten zerknitterten T-Shirt aus seinem Rucksack noch ganz ordentlich vorgekommen, inzwischen aber fragt er sich, ob er nicht besser ein Hemd angezogen hätte. Irgendwie scheint dieser Raum nach Knöpfen zu verlangen.

»So, jetzt geht’s los.« Frédérique erscheint in einer Tür auf der gegenüberliegenden Stirnseite mit einem Tablett in den Händen.

Edward springt auf. »Kann ich …«

»Sitzen bleiben, sitzen bleiben«, fordert sie ihn mit einem Kopfnicken auf und umkurvt mit routinierter Leichtigkeit die Bücherstapel. Sie setzt das Tablett auf einem Schemel ab und macht sich daran, aus einer entenförmigen Kanne Tee in blau-weiße Tassen mit unterschiedlichen Blumenmustern zu gießen.

»Du nimmst sicher Milch.«

Es ist eher eine Feststellung als eine Frage.

»Ja, bitte.«

Frédérique lächelt. »Es war so bizarr