Die zwei Hälften eines Hauses - Fran Cooper - E-Book

Die zwei Hälften eines Hauses E-Book

Fran Cooper

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Beschreibung

Um dem aufreibendem Leben in London zu entfliehen und auf neue Gedanken zu kommen, erwirbt ein wohlhabendes Paar im Norden Englands ein Ferienhaus — nicht ahnend, dass sie damit Ereignisse in Gang bringen, die die trügerische Ruhe eines Dorfes stören, das ein dunkles Geheimnis in sich birgt.

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Das Buch

»Jay geht hinaus in den Zwischenraum, die Lücke zwischen den beiden Häusern, die 1712 als eins gebaut wurden. In dem Haus hat es so heftig gespukt, sagen die Einheimischen, dass der letzte Besitzer einfach die Mitte herausgerissen hat. Die Räume herausgerissen hat, in denen Sachen von allein über den Teppich flogen, Hunde winselten und die Luft selbst in der Hitze des Sommers – was es auf diesen Hügeln an Sommer gibt – plötzlich eiskalt werden konnte. Ein Haus ist zu zweien gemacht worden, mit einer großen Leere dazwischen. Schlimme Dinge seien dort passiert, erzählt man sich, das Land sei verflucht.

Jay betritt die große Leere, denn dort haben die Bauarbeiter gegraben. Wäre es nicht großartig, hatten sie und Simon überlegt, ihr dort ein Atelier zu bauen; die zwei Häuser zu verbinden, sie wieder zusammenzubringen?«

Die Autorin

Fran Cooper ist in London aufgewachsen. Sie studierte Englisch in Cambridge und Kunstgeschichte am Courtauld Institute of Art. Drei Jahre verbrachte sie in Paris, wo sie neben ihrer Doktorarbeit über Reisemaler im 18. Jahrhundert auch die ersten Teile ihres Debütromans »Die Leute von Nr. 37« schrieb. »Die zwei Hälften eines Hauses« ist ihr zweiter Roman.

Fran Cooper

Die zwei Hälften

eines Hauses

ROMAN

Aus dem Englischen

von Ruth Sander

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe The Two Houses erschien 2018 bei Hodder & Stoughton, an Hachette UK company.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständige deutsche Erstausgabe 09/2019

Copyright © 2018 by Fran Cooper

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Daniela Arens

Umschlaggestaltung: © Cornelia Niere,

Büro für Gestaltung, München,

unter Verwendung eines Motivs von

© plainpicture/miguel sobreira

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-23500-0V001

www.heyne.de

Für meine Eltern, die mir beibrachten

verrückte Orte zu lieben.

DER RISS

1

DIEZWEIHÄUSERHOCKEN grau und brütend unter einem blassen Himmel. Sie klammern sich an den Berghang und ducken sich vor dem Wind, denn vor allem anderen hier oben fällt der Wind auf. An diesem nicht ganz hell gewordenen Novembernachmittag wird die ganze eigenartige Landschaft von ihm gepeitscht; die dürren Bäume, das lange Riedgras, sogar die Häuser scheinen sich seinem Ansturm zu beugen.

Die zwei Häuser sind nicht immer zwei gewesen. Aber wenn es menschlich ist, etwas zu bauen – selbst in diesem öden nördlichen Hinterland –, ist es auch menschlich, etwas niederzureißen.

Er hat ja nicht wissen können – der Mann, dessen Hand mit tiefen Hieben das eckige 1712 in den Stein über der Haustür gemeißelt hat –, dass sein Werk nicht vollständig überdauern würde. Denn inzwischen sind es mehr als dreihundert Jahre, in denen dieser Wind und diese Steine miteinander ringen, mehr als dreihundert Reisen um die Sonne, und die Mauern stehen immer noch. Doch die Mitte des großen Hauses fehlt. Die Räume, die sich dort befunden haben, wurden entfernt, sauber herausgeschnitten wie eine stinkende Wunde oder ein Krebsgeschwür. Das eine große Haus wurde zerrissen und zu zweien gemacht.

Jay geht hinaus in den Zwischenraum, die Lücke zwischen den beiden Häusern, die 1712 als eins gebaut wurden. In dem Haus hat es so heftig gespukt, sagen die Einheimischen, dass der letzte Besitzer einfach die Mitte herausgerissen hat. Die Räume herausgerissen hat, in denen Sachen von allein über den Teppich flogen, Hunde winselten und die Luft selbst in der Hitze des Sommers – was es auf diesen Hügeln an Sommer gibt – plötzlich eiskalt werden konnte. Ein Haus ist zu zweien gemacht worden, mit einer großen Leere dazwischen. Schlimme Dinge seien dort passiert, erzählt man sich, das Land sei verflucht.

Jay betritt die große Leere, denn dort haben die Bauarbeiter gegraben. Wäre es nicht großartig, hatten sie und Simon überlegt, ihr dort ein Atelier zu bauen; die zwei Häuser zu verbinden, sie wieder zusammenzubringen? Und Simon mit seinem Architektenhirn und seiner Freude an Stein und Glas und am Bauen, hatte eifrig angefangen zu zeichnen.

Hier oben, hoch über der Welt, ist der Regen so allgegenwärtig wie der Wind. In der Stille des zu Ende gehenden Jahres hat Jay ihn eingeteilt. In dünnen Regen, dichten Regen, Regen, der nicht fällt, sondern die Menschen einhüllt wie ein Schleier; Regen, der horizontal getrieben wird und stumpfe Nadeln in die Haut sticht. Heute rieselt er aufreizend langsam an ihrem Nacken herunter und verfängt sich wie Tau in ihren Haaren und Wimpern.

Man sieht alles und nichts von Two Houses aus. Alles, weil die zwei Häuser oberhalb der Talstraße stehen und den sacht abfallenden, baumlosen Hang und die geschwungenen Bergrücken mit ihrem windgepeitschten grünen und ockergelben Gras überblicken. Nichts, weil das Dorf weiter oben im Tal liegt, dem Blick entzogen, und weil es in der anderen Richtung, zur Stadt hinunter, zehn Meilen sind. Sie sind die einzigen Menschenseelen weit und breit, Jay und Simon, der Baumeister und sein Sohn.

Zwischen den Häusern liegen Spaten. Die Schaufel eines verlassenen Baggers ruht auf dem Boden. Trotz der Luftfeuchtigkeit kann Jay die nasse, frisch umgegrabene Erde riechen, deren kräftige, geheimnisvolle Düfte zum ersten Mal freigesetzt wurden. Ihre Knie knacken, als sie sich vor die Stelle hockt, auf die alle Augen gerichtet sind.

»Jay …«

Simon ist irgendwo hinter ihr. Er ist immer so vernünftig, ihr Simon.

»… vielleicht solltest du nicht …«

Aber es ist zu spät. Ihre Finger haben es berührt, dieses merkwürdige, unirdische Ding, das aus dem Boden ragt und von allen angestarrt wird. Und in dem Augenblick wird ihr alles klar. Jedes jähe Luftschnappen, wenn die Two Houses erwähnt werden; jede düstere Anspielung auf das, was dort passiert ist. Plötzlich versteht sie es.

Hinter ihr übergibt sich der Junge des Baumeisters. Der bitterkalte Wind trägt ihr den Geruch seines sauer gewordenen Frühstücks zu. Dann wird es wieder still um die Menschen, die in einem unbehaglichen Halbkreis um die aufgewühlte Erde herumstehen und warten. Denn es gibt keinen Zweifel mehr: Das Ding in ihrer Hand ist hart wie ein Knochen.

DER BRUCH

2

SOFÄNGTESAN, an einem Donnerstagnachmittag mitten im Frühjahr, während draußen vor dem Fenster aufgeregte Vögel tschilpen. Mit einem Sprung in der Glasur. Einem haarfeinen Riss. Und als sie das Gefäß in den Händen dreht, hat sie plötzlich das Gefühl, selbst auf der Töpferscheibe zu stehen, losgelöst vom verschrammten, staubigen Boden, und sich zu drehen. Zu drehen, zu drehen und in den Riss, diesen winzigen Spalt, der sich vor ihr aufgetan hat, hineinzufallen. Einfach zu verschwinden, doch die Vögel in ihrem rauschhaften Paarungsdrang kümmert das nicht, ihr gefiederter Gesang ist lauter denn je. Sie dreht sich schneller um ihre Achse als die Welt, und als das große, gesprungene Gefäß ihr aus der Hand fällt, zersplittert es lange Sekunden auf dem Boden.

Das kommt vor, sagt sie sich an dem Nachmittag. Und am Abend. All die erdrückenden Stunden der schlaflosen Nacht. Das kommt vor das kommt vor das kommt vor. Doch als Simon sie in der kalten Dämmerung des dritten Tages in der Küche findet, wo sie in den halbdunklen Stunden, in denen alles silbrig und weiß erscheint, mit unkontrollierbar zitternden Händen und heftig klopfendem Herzen rastlos hin und her läuft, muss sie sich eingestehen, dass in ihr etwas zersprungen ist. Dass irgendwie sie es ist, die zerbrochen ist.

Sie kann nicht arbeiten. Egal, dass auf dem Kalender an der Werkstattwand der 13. Mai mit rotem Filzstift mahnend eingekreist ist. Egal, dass Galerieassistenten, dann Galerieleiter anrufen und mit wachsender Panik fragen, wann sie ihnen ihre Werke schicken wird. Egal, dass ihre Freunde kommen, sie will sie nicht sehen. Lässt das Telefon läuten. Das Essen, das Simon ihr macht, kalt werden und auf dem Teller gerinnen. Sie ist kopfüber in diesen porzellanglatten Abgrund gefallen, und dort gibt es nichts – keine Wörter, keine Gedanken – nur weiße, schmerzhafte Leere.

Es hat absolut nichts damit zu tun, dass sie keine Kinder bekommen kann.

»Hat es etwas damit zu tun, dass du keine Kinder bekommen kannst?«, fragt Podge vorsichtig, eine Hand auf ihrem Unterarm, in übertrieben verständnisvollem und unerträglich mitfühlendem Ton.

Nein, verdammt noch mal, möchte Jay schreien. Ich will nicht reduziert werden auf die Summe meiner Teile, die Frucht meines Leibes, die Unbeweglichkeit meiner Eierstöcke.

»Nein, Podge.« Podge mit seinem rasierten Schädel und seinen großen silbernen Ohrringen ist seit zwanzig Jahren ihr bester Freund, dennoch hat er es irgendwie geschafft, diese Frage zu stellen. »Es ist wegen der Arbeit. Du kennst mich doch.«

Podge nickt ernst. »Oh ja. Bei dir geht es immer um die Arbeit.«

Und doch und doch und doch, Jay schlägt die Stirn gegen die Badezimmerwand, nur um das kalte Klatschen zu hören. Wie es sie schmerzt zu versagen. Sie, die mühelos durch die Schule und die Kunsthochschule in Chelsea gekommen ist. Die Erste, die einen Galeristen, einen Verkauf, eine Ausstellung, einen vierstelligen Vorschuss vorweisen konnte. Die Einzige aus dem Jahrgang, die eine Retrospektive bekommen wird – eine Retrospektive mit 42, Herrgott, das ist doch etwas. Sie, die in einen Raum gekommen ist, Simon entdeckt, ausgewählt und geheiratet hat. Sie, die alles getan hat, was sie sich wünschte, ohne je darüber nachdenken zu müssen. Für sie ist diese Unfähigkeit zerstörerisch. Sie nagt an ihren unproduktiven Eingeweiden.

Dabei geht es gar nicht darum, ob sie Kinder haben wollte. Ob sie anschwellen und dick und fett wie ein Wal von innen heraus ausgezehrt werden wollte. Sie denkt an Sally Armstrong, die Schwächste aus der Chelsea-Gruppe, die, als sie das letzte Mal von ihr gehört hat, feist und zufrieden in der Vorstadt lebte und wie eine massige Milchkuh vor Mütterlichkeit nur so strotzte. Sie hatte Sally nie ausstehen können; diese Rüschenränder an ihren Vasen, diese niedlichen Glasuren.

Und doch, und doch (wieder klatscht ihre inzwischen lädierte Stirn gegen die Fliesen). Es ist neu für sie, etwas nicht zu können. Am liebsten würde sie sich die Haut, in der sie steckt, herunterreißen und sich von ihr befreien. Jay verbringt den Sommer im Bett. Freunde flüstern ängstlich vor der Schlafzimmertür, wagen sich aber nicht über die Schwelle. Als wäre ein Zusammenbruch ansteckend, als könnte Verzweiflung überspringen.

Weiße Laken, weiße Wände, schwarz-weißes Collie-Fell. Bella liegt neben ihr im Bett und wird rund, weil keiner mehr mit ihr spazieren geht. Jay wird immer dünner und fällt in sich zusammen, während der Hund, Zunge und Schwanz schlaff herabhängend in der Sommerhitze, füllig wird.

Das zerbrochene Gefäß verfolgt sie in ihren Träumen, huscht in den seltsamen, zeitlosen Sekunden zwischen Wachen und Schlafen über ihre Netzhäute. Schon früher sind Dinge zu Bruch gegangen; natürlich ist das schon früher passiert. Die Zauberkraft des Brennofens ist unberechenbar, nicht zu ergründen. Aber dieses Stück hatte sie so lange geplant. Ein Gefäß – weder Vase noch Urne – halb so groß wie sie. Mit einem dicken Bauch, der sich zu einem schmalen, zarten Hals verjüngt. Sie hatte monatelang experimentiert, probiert, getestet, und schließlich herausgefunden, wie sie den Ton so fein bearbeiten konnte, dass er sich wie Papier anfühlte. Das Gefäß hatte so matt geschimmert, dass man, wenn man in der Dämmerung in die Werkstatt kam, einen Moment lang geglaubt hatte, einen makellosen, gefallenen Mond entdeckt zu haben. Einen Himmelskörper, den es auf die Erde gezogen hatte.

Ein Sommer im Bett mit zugekniffenen Augen, und dennoch spürt sie noch immer den kühlen Ton unter den Händen, seine Lebendigkeit, Schwere und Fülle. Wie sie ihn bearbeitet hat; all diese Stunden und Wochen. Wofür? Gerissen beim Brennen. Eine leere Hülle. Wertlos, unfertig, unbrauchbar.

Sie kann Simon, der an ihrem Bett sitzt, nicht erklären, dass ihre Gedanken nur um nutzlose Gefäße kreisen. Dass es sie nicht traurig macht, als der Tag der Retrospektive sich nähert – kommt – vorbeigeht, denn sie fühlt gar nichts.

3

»ICHWILLNICHTMEHR hier sein«, flüstert sie. Die Worte durchschneiden die muffige Hitze im Schlafzimmer, die drückende Sommerluft, in der Simon gerade vorsichtig eine Seite seiner Zeitung umblättert. Schwarz und weiß und ganz leicht zitternd hängt sie in seiner Hand.

Ich will nicht mehr hier sein.

Draußen reißen ein paar Männer die Straße auf. In einem Garten weint ein Kind; die Bauarbeiter nebenan haben ihr Radio aufgedreht. Ein Bus brettert über die Hauptstraße, und oben am Himmel ziehen Flugzeuge träge Kreise. Das ist London im August, der Krach und das Chaos dringen durch die offenen Fenster.

Simon, der die Zeitungsseite langsam wieder sinken lässt, beschließt, ›hier‹ als London zu interpretieren. Als einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, nämlich dieses erstickende Schlafzimmer im besonders lauten Stadtteil Southwark. Es ist warm, seine Haut ist klebrig, und jedem würde es verziehen, wenn er den Smog und den Lärm der Stadt nicht mehr aushielte. Verschmiert von den Schweißperlen, die sich schon lange vor der Morgendämmerung auf seiner Stirn gebildet haben, rutscht Simons Brille beharrlich an seiner Nase herunter. Zum x-ten Mal schiebt er sie wieder hoch und weigert sich, den Gedanken zuzulassen, dass mit ›hier‹ mehr gemeint sein könnte.

»Ich denke auch, wir sollten mal hier raus«, erwidert er.

Aus dem Kissen, in dem Jay in den letzten Wochen komplett versunken ist, blicken ihn ihre türkisfarbenen Augen an.

»Was?«

»Ich denke auch, wir sollten mal hier raus. Uns etwas außerhalb von London suchen. Ein Haus, das wir renovieren können. Für den Urlaub und die Wochenenden. Das wollten wir doch schon immer.«

Bleich und lustlos schaut seine Frau ihn an, das lange rote Haar hinter sich ausgebreitet. Wie ein präraffaelitisches Porträt; Millais’ Ophelia, die in ihrem Bett ertrinkt. Sie ist inzwischen sehr blass, die Haut milchweiß geworden und wie eine Karte von einem Netz aus blauen Venen durchzogen. Selbst ihr Haar ist verblasst, so als wäre die Farbe herausgewaschen worden.

Die Frau, die Simon geheiratet hat, war voller Farbe, fröhlich und lebhaft, mit einer rostroten Mähne und grünen Augen, die schillerten wie Türkise. Sie war der Mittelpunkt jeder Party gewesen. Immer voller neuer Ideen. Wenn sie nicht an ihrer Töpferscheibe gestanden oder den Brennofen beaufsichtigt hatte, hatte er sie beim Nachhausekommen manchmal auf einer Leiter angetroffen, weil sie das Wohnzimmer mit Girlanden schmückte, oder in der Küche, weil sie spontan ein Abendessen für fünfzehn enge, gute Freunde kochte. So etwas hätte Simon nie von sich aus getan, aber er hatte es immer genossen, auf seine eigene ruhige Art; er hatte stets von der Seitenlinie aus bewundernd zugeschaut und geduldig und zufrieden auf den Moment gewartet, in dem die Haustür zuging und er seine Frau wieder für sich hatte.

Hin und wieder hat er sich gefragt, ob er zu sensibel für Jay sein könnte. Er vermutet, dass ihre Künstlerfreunde ihn ziemlich spießig finden. Podge, der Maler, dessen rasierter Kopf genauso rund ist wie sein Schmerbauch; Gavin, der spindeldürre Dichter; Hélène, die nie etwas anderes zu tun scheint, als auf der Suche nach Inspiration nach Nepal und Bhutan zu reisen. Für diese Clique geht es bei der Architektur nur um Linien und Maße. Ihr Metier ist die Kreativität – das Entkorken von Flaschen, das Aufbleiben bis zum Morgen –, während er zu einer frühen Besprechung ins Büro geht, noch dazu mit Krawatte. (Nicht dass er es Podge und Co sagen würde, aber er findet seine Strickkrawatten eigentlich recht avantgardistisch.)

Doch Jay hat nie etwas Derartiges gesagt, nie etwas gegen sein zeitiges Zubettgehen und frühes Aufstehen eingewendet. Hat stets seine Pläne studiert, die kompliziertesten Probleme mit ihm besprochen und Ideen und Lösungen angeboten, während er wie gebannt das Spiel des Lichts in ihrem kastanienbraunen Haar verfolgt hatte.

»Platz, Schatz«, sagt er bedächtig über das Hämmern des Presslufthammers und das Rauschen des Verkehrs hinweg. »Ruhe und Frieden.«

Jay setzt sich auf und schlingt die Arme um die Knie. Da ihre Schultern sich vorn zusammenziehen, kann er die Rückenwirbel sehen, die sich durch ihre Haut drücken, und die dunklen, neuerdings großen Höhlen unter ihrem Schlüsselbein.

»Du hörst dich an wie Podge«, murmelt sie. »Aber ich will nicht mitmachen bei dem Zirkus im dämlichen …«

Margate. Simon weiß, was sie meint. In Margate und Rye und seit Kurzem auch in Whitstable und all den anderen einst verwaisten Küstenstädten, die in letzter Zeit von der Londoner Schickeria übernommen worden sind, sieht man am Wochenende die gleichen Gesichter wie unter der Woche in Soho und Clerkenwell.

»Nein, Schatz, nicht in Kent. Weiter weg. In einer Gegend, die wild und abgelegen ist, wo wir einfach wir sein können.«

Wo wir einfach wir sein können und du wieder du, fügt er stumm hinzu, halb hoffend, halb flehend.

»Für die Wochenenden?«, fragt sie nachdenklich und zwirbelt die Spitzen ihres langen Haars.

Simon nickt. »Ja, für die Wochenenden. Und dann und wann auch mal für eine Woche.«

Jay seufzt.

»Ich weiß nicht. Wie weit kann man denn an einem Wochenende kommen?«

Sie wendet sich von ihm ab, legt sich wieder aufs Kissen, kehrt in ihre horizontale Welt zurück. Aber Simon lässt sich nicht abschrecken. Er hat den Hauch von Interesse gesehen. Und er ist Architekt. Er weiß, dass Schritt für Schritt, Stein auf Stein gebaut wird.

Als Jay später in jener Nacht nach unten kommt, findet sie ihn am Küchentisch, auf dem Karten und Zugfahrpläne ausgebreitet sind.

»Ich meine es ernst, Jay. Lass uns hier weggehen.«

»Es ist ja nur für die Wochenenden«, hört er sie in der nächsten Woche zu Podge sagen, während sie eine Tasche für ihren Ausflug nach Norden packt. Podge, der sich mit ihm um sie gekümmert und auf sie aufgepasst hat bei diesem – Simon weiß nicht, wie er es nennen soll. Der Arzt hatte es als ›Zusammenbruch‹ bezeichnet, aber dabei hatte er in seiner bequem ausgestatteten Privatpraxis hinter einem glänzenden Mahagonischreibtisch gesessen, und Simon hatte seine Erklärung nichtssagend und seine Beratung angesichts des geforderten Honorars dürftig gefunden.

Podges nasale Stimme klingt spitz und ungläubig. »Nur für die Wochenenden?«

Trotz des brüchigen Waffenstillstands zwischen ihnen – Podge hat ständig das Bedürfnis zu betonen, dass er schon vor Simons Auftauchen Jays bester Freund gewesen sei – muss Simon zugeben, dass der Mann in den letzten Monaten großartig gewesen ist, absolut treu und verlässlich.

»Vielleicht auf lange Wochenenden«, entgegnet Jay. »Simon kann ja manchmal von zu Hause aus arbeiten.«

»Und was ist mit dir? Was willst denn du auf dem Land?«

Es ist etwas Angewidertes an der Art, wie er das sagt, als hätte er den Schmutz und den Mist, den dieses Wort heraufbeschwört, irgendwie auf der Zunge.

»Ich werde auch arbeiten. In Ruhe und Frieden …«

Podge murmelt etwas, das Simon nicht verstehen kann. Während er seine Arbeitsunterlagen zusammenpackt, fragt er sich, was Podge von Jays neuer Arbeitsscheu hält. Denn Jay hat immer gearbeitet, immer etwas in den Fingern gehabt – bis jetzt. Dass sie wieder damit anfängt, scheint ihm irgendwie genauso unwahrscheinlich zu sein wie ihr Aufhören damals. Das leise Gespräch im Schlafzimmer geht weiter, bis Podge dramatisch ausruft: »Ich weiß nicht, warum du nicht einfach mit uns andern nach Margate kommst!«

Da lächelt Simon siegessicher.

4

»SCHEISSE!«

Der Volvo bricht seitwärts aus und bleibt mit der breiten Nase nur Zentimeter vor einer Trockenmauer auf dem Randstreifen stehen. Simon sieht, wie seine Frau gegen das Fenster auf der Beifahrerseite geworfen wird und hört das dumpfe Klock, mit dem ihr Kopf gegen die Scheibe schlägt, als der Wagen zum Stillstand kommt.

»Alles in Ordnung?«, fragt er.

Jay reibt sich die Schläfe. »Was war das?«

»Keine Ahnung.« Mit zitternden Händen rückt Simon seine Brille zurecht.

»Ein Schlagloch?«

»Das Rad?«

Sie klettern hinaus in einen rauen Nachmittag, die Luft ist kühl und feucht. Obwohl man in London von einem Altweibersommer spricht. Sie sind im Norden, weit oberhalb von sonnenhellen Städten und bilderbuchschönen Tälern. Hier schwitzt niemand im Liegestuhl oder holt Sommersachen aus dem Schrank, die er längst weggepackt haben wollte. Der September hat kaum begonnen, doch schon fällt das Licht schwächer durch die Wolken; ein paar Stunden wird es noch scheinen, aber mit dieser herbstlichen Trägheit, die das Kommen einer langen Nacht ankündigt.

In der Stadt werden die Menschen jetzt auf die glutheißen Straßen hinausgehen und in der tropischen Schwüle tapfer mit der U-Bahn fahren. Sie werden blicklos, achtlos aneinander vorbeieilen und abrupt von ihrem Kurs abgebracht werden, wenn sie mit jemand anders zusammenstoßen. Davon sind Simon und Jay auf diesem menschenleeren Stück Straße weit entfernt. Das braune Gras raschelt, beugt sich der Gewalt des Windes und in der Ferne singt ein Vogel – oder ist es der Wind? – ein trauriges Lied.

Simon geht zu Jay, die auf der Beifahrerseite steht, und zusammen schauen sie auf den Reifen hinunter oder das, was davon übrig ist, und schlaff und verdreht um die Radkappe hängt.

»Kannst du damit fahren?«

Simon geht in die Hocke und berührt das rasch abkühlende Gummi, als könnte er es so wiederbeleben. »Ich denke, wir können langsam weiterrumpeln.«

Jay kniet sich neben ihn, greift aber nicht nach dem Rad, sondern nach der ockerfarbenen Erde. Als Simon sieht, wie sie sie zwischen Daumen und Zeigefinger zerreibt, steigt eine Erinnerung in ihm auf.

»Muss das sein?« Er steht auf und lehnt sich an die Motorhaube, rollt die Schultern und verdreht den Nacken. Sie sitzen seit fünf Stunden im Wagen, haben vier Häuser gesehen und sind meilenweit davon entfernt, das richtige zu finden.

Jay erwidert nichts. Zieht sich wieder in sich selbst zurück, denkt Simon, als sie an dem Klumpen schnuppert, den sie aus der Erde geklaubt hat. Noch etwas, das sie von ihm trennt.

»Nun komm schon«, ruft er sie mit einer Schärfe, die er sich selbst nicht erklären kann. Eine Bö fegt über die einsame Straße, und wenn er könnte, würde er seine Worte zurückholen. Doch der Wind trägt sie fort, und Jay steht auf, lässt den Klumpen fallen und steigt wortlos ins Auto. Simon bleibt auf der Straße stehen und wünscht sich verzweifelt, er hätte das Aufflackern dieser alten Angewohnheit nicht im Keim erstickt.

Wacklig holpern sie weiter, das Rad wimmert wie ein verletzter Hund, als hätte der Wagen Schmerzen. Die Seiten des Tals ragen steil empor, graugrün und Unheil verkündend. Hier gibt es nicht viele Bäume, nur kahles Land durchkreuzt von Steinmauern mit verfallenen Scheunen dazwischen. Die Stille draußen kriecht in den Wagen. Das Radio hat schon vor langer Zeit aufgehört zu plappern, und Jay und Simon blicken verhalten und schweigsam über die öde Landschaft.

Am Ende war die Wahl des Ortes Zufall gewesen. Simons Karten hatten sich in der ganzen Küche ausgebreitet, jede Oberfläche bedeckt, und schließlich hatten sie einfach blind Finger auf das zerknitterte Papier gedrückt. Sie wollten nicht nach Kent, das hatten sie beschlossen. Nicht in die Cotswolds (zu konservativ). Auch nicht in den Peak District (zu touristisch). Und Wales war, in Simons Worten, zu … walisisch. Letztendlich hatte Jay nach der Gegend mit den wenigsten Verkehrsadern gesucht, den wenigsten Straßen und Schienen. Luftblasen im Ton führen zu Explosionen im Brennofen, und da der Sommer im Bett ein freiwilliger Entzug von Sauerstoff gewesen war, eine Komprimierung nicht unähnlich der Art und Weise, wie sie Ton bearbeitete, um die Lufteinschlüsse herauszudrücken, wollte sie auch so weitermachen. Sie betrachtete die bunte Karte wie einen Körper, sie wollte kein Netz aus Straßen, Adern, Leben.

Die ersten Häuser, die sie besichtigt hatten, hatten ihr nicht gefallen. Ein niedliches Cottage mit allzu putzigen Blumenkästen. Ein Bungalow aus den Sechzigern mit Fenstern wie Schießscharten und metallisch glänzenden Bodenfliesen. Das dritte hatte Simon angesprochen, ein altes Pfarrhaus, das einen postkartentauglichen Dorfanger überblickte, doch Jay hatte mit versteinertem Gesicht den Kopf geschüttelt. Denn schon hatten alte Damen neugierig durch Spitzengardinen gelugt und Simon auf dem Gartenweg abgepasst, um sich katzenfreundlich mit ihm zu unterhalten.

»Ich möchte in Ruhe gelassen werden«, sagte Jay zu ihm.

»Haben Sie noch etwas?«, fragte Simon den Immobilienmakler mit heruntergezogenen Mundwinkeln.

»Hier unten nicht, tut mir leid.«

Simon drehte sich gerade wieder zu Jay um, bereit, sich geschlagen zu geben, als der Mann sagte: »Moment, warten Sie mal. Es gibt noch ein Objekt. Viel weiter oben im Tal. Eher eine Ruine, um ehrlich zu sein. Der Gemeinderat hat sich endlich dazu durchgerungen, es zu verkaufen. Lassen Sie mich Herbert anrufen, um herauszufinden, ob er es Ihnen zeigen kann. Aber Sie müssten allein dort hinfahren. Das liegt außerhalb meines Bereichs. Und außerdem an einer Sackgasse – auf der Bergkuppe hört der Weg einfach auf.«

Also kriechen sie nun mit ihrem kaputten Rad langsam die eine Straße am Grunde des verlassenen Tals, dieses ausweglosen nordenglischen Dales’ hinauf. »Nel-der-dale«, verkündet Simon gedehnt, ein Auge auf der Straße, das andere auf der Karte. Sie fahren durch eine schäbige Stadt, grau und heruntergekommen, die Hälfte der Geschäfte aufgegeben, die verwitterten Fassaden verrammelt, als drohe ihnen eine unbekannte Gefahr.

»Bist du sicher, dass du dir hier oben etwas ansehen willst?«, fragt Simon.

Jay antwortet nicht, gespannt vorgebeugt nimmt sie die eigenartige Welt in sich auf und betrachtet staunend die breiten baumlosen Hänge, die sich weit über sie erheben und mit ihren runden Rücken so wirken, als wollten sie ihnen die kalte Schulter zeigen. Als wollte das Land seine Ruhe haben – so wie sie. Von unten sehen die Hügel samten aus, riesig und unbewohnt. Sie fahren weiter über die Straße, die in Serpentinen nach oben führt, und der Druck in ihren Ohren entweicht mit einem Plopp, als sie an einem verlassenen Haus – die Fenster zugenagelt, das Dach eingestürzt – nach dem anderen vorbeirattern. Am Rande der Straße kommt ein altes Telefonhäuschen in Sicht, die einst roten Wände nun rosa und rostig.

»Kannst du mal anhalten?«

Überrascht sieht Simon sie an, die Augen hinter den Brillengläsern weit aufgerissen. »Anhalten?«

»Ja, halt an, sofort.«

Er gehorcht, und Jay klettert aus dem Wagen und geht zurück zu dem Häuschen, einem ungewohnten Relikt aus vergangenen Tagen. Der Wind ist heftig, schneidend kalt, aber sie weiß nicht, ob sie deshalb eine Gänsehaut bekommt, oder weil sie so aufgeregt ist, als sie die alte Glastür aufzieht. Drinnen ist es ruhig und muffig. Ein winziger Raum aus einer anderen Zeit, geschützt vor Wind und Wetter, mit einem Drehscheibentelefon und zurückhaltend formulierten Werbezetteln, inzwischen verblichen und altersfleckig – Little’s Schafbad – das beliebteste im Umkreis. Hustensanft von Arkwright – das Beste für Mensch und Tier. Die Kabel sind seit Langem gekappt, doch Jay späht einen Moment durch das schmierige Glas auf die leere Landschaft, nicht ein Haus in Sicht, und fragt sich, wer hier wohl telefoniert hat. Wie traurig es geklungen haben muss, falls irgendjemand jemals versucht hat, hier anzurufen, und das Klingeln immer wieder im verlassenen Tal widergehallt hat.

»Jay …« Simon zieht die Tür auf und lässt einen Schwall kühler Luft herein.

Jay legt die Finger auf den kalten Apparat. »Ist das nicht unglaublich?«

Simon nickt und zieht den Kragen seines Pullovers um den Hals. »Erstaunlich. Aber wir sollten gehen, dieser Mann wartet auf uns.«

Umtost vom Wind taumeln sie wie Betrunkene zum Auto zurück, die Kraft der Böen treibt sie im Zickzack über die Straße und Jays Haar verheddert sich vor ihren Augen zu wirren Knäueln.

»Simon?«

Doch dieser unaufhörliche Wind reißt ihr die Worte vom Mund und trägt sie fort, ehe sie Simon erreichen.

»Simon!«

Halb schon im Auto, streckt er den Kopf drollig über das Autodach.

»Ja?«

»Warum heißt es ›Die Zwei Häuser‹?«

Simon überlegt. Der Wind legt sich und hinterlässt eine überraschende Stille. »Ich weiß nicht, Schatz. Ich glaube, der Makler hat etwas davon gesagt, dass da ein bisschen fehlt.«

»Also wie bei mir.« Jay lächelt steif und sinkt in ihren Sitz.

Simon runzelt die Stirn und konzentriert sich auf die Straße. Jays Worte hängen zwischen ihnen und klingen so lange im kühlen Innenraum nach, bis sie fast verhallt sind. Es gibt keine leichte Antwort, keine lässige Reaktion darauf. Am einfachsten ist es, solche Aussagen zu ignorieren; sie auf sich beruhen zu lassen, bis die Stille so laut wird, dass es scheint, als hätte Jay nichts gesagt.

»Da ist er«, sagt Simon und deutet nach vorn. Ein Stück weiter weg am Straßenrand entdeckt Jay einen rundlichen Mann, der mit den Armen rudert und auf einen Weg zeigt, der einen Hügel hinaufführt. »Ich glaube, wir sind da.«

Irgendwo tief in Jays Bauch fühlt es sich an wie ein Nachhausekommen und die Finger, die ihr Herz umklammert hielten, lösen sich.

5

DIELEUTEBEHAUPTEN, Zeit vergehe lautlos. Zeit sei träge und still. Aber die Leute erzählen viel dummes Zeug, denn ein Haus – oder zwei – aufgegebene Häuser könnten von den Geräuschen erzählen, die die Zeit macht. So wie wir Aufgegebenen, die ihnen dabei zugehört haben.

Wenn man lange genug reglos verharrt, kann man es hören. Wie der Efeu durchs Fenster kriecht und sich mit seinen Ranken an den Wänden eines Schlafzimmers festklammert. Wie die Farbe abblättert und jedes herabfallende Stück auf den Boden klatscht. Wie das gefrorene Wasser in den Leitungen kreischt. Wie eine Kugel mitten im Winter eine Fensterscheibe durchschlägt. Oh ja, der Verfall wird von einer Kakofonie begleitet. Das war ein Lieblingswort meiner Mutter, Kakofonie.

Sie ist laut, die Zeit, und sie ist grausam, denn ganz egal, wie heftig man sich gegen ihr Fortschreiten wehrt, wie sehr man sich bemüht, sich daran zu erinnern, wie es einmal war, sie verrinnt, gnadenlos.

Holz splittert. Fenster bersten. Blätter dringen unter den Türen durch und rascheln über den Boden, bis sie nur noch papierne Skelette sind und zu Staub zerfallen. Doch selbst der Staub zischelt im Windhauch, der durchs Gemäuer streift, wird von Kindern zertrampelt, die kein Recht haben, dort zu spielen, oder von Nagetieren, die in der Nacht kommen; wenn sie das gewusst hätten, dann …

Modernde Vorhänge seufzen. Zerfetzte Tapeten flattern in der Brise. Die Haken einer schweren Deckenleuchte ächzen und stöhnen unter der Schwerkraft, die an ihnen zerrt, bis eines Tages der ganze Kristallleuchter herabstürzt und einfach zerschellt, ganz egal, wie sehr er geliebt wurde.

Die Welt ist nicht stumm, nur weil niemand mehr da ist, sie zu hören. Ich war noch da.

Jays Augen brauchen einen Moment, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen, und ihre Ohren müssen sich erst auf die geräuschvolle Stille des Hauses einstellen, als hörten sie so etwas zum ersten Mal. Dann erscheint vor ihr ein großer Eingangsflur mit einer dunklen Holztreppe mit zwei Windungen. Sie wirkt höchst elegant in ihrem Verfall; wie die Treppen in Hotels oder Herrenhäusern, die ihr das Gefühl geben, eine Gutsherrin zu sein. Doch selbst im Halbdunkeln kann sie sehen, dass ein Großteil des Geländers fehlt und der Handlauf mit dem Dreck bedeckt ist, den Vögel in vielen Jahren darauf hinterlassen haben. Die mondbleiche Kruste kommt ihr seltsam vertraut vor; lächelnd denkt sie an all den Ton, der auf den Werkstattboden gefallen ist.

Sie tastet sich in den ersten Raum vor. Die breiten Erkerfenster werden von dunklen, schwer zu bewegenden Vorhängen verhüllt. Als sie sie zurückreißt, befreit sie jahrzehntelang angesammelten Staub, dessen Flusen in den nun einfallenden Lichtstrahlen tanzen und glitzern. Herbert, der rundliche Immobilienmakler, läuft in die Staubwolke hinein.

»Natürlich«, prustet er und räuspert sich, um den Hals frei zu bekommen, »haben vierzig Jahre Leerstand ziemlich viel Dreck hinterlassen.«

Stimmt, die Fenster sind silbrig vor Schmutz, doch in dem schummrigen Licht kann Jay einen reich verzierten Kamin erkennen, überbordende viktorianische Deckenfriese und einen riesigen Raum, von jahrelanger Vernachlässigung gezeichnet. Alte Zeitungen liegen vergessen unter abgebröckeltem Putz auf dem Boden, daneben ein ledergebundenes Buch, die Seiten aufgeschwemmt vom Regen, und seltsame undefinierbare Reste aus Holz und Metall. Eine schwere Blumentapete löst sich von den Wänden, und es riecht beißend nach Rauch, schwarze Brandflecken längst gelöschter Feuer züngeln an den Wänden empor.

Jay sieht nicht, was Simon und Herbert sehen, hört ihrer sachlichen Unterhaltung nicht zu (»steht schon lange leer … ist für einen Spottpreis zu haben«; »gute Substanz … ein anständiger Boden unter all diesem Dreck« …) Stattdessen geht sie aus dem Zimmer in einen zweiten Flur, zieht die steife, verschimmelte Tapete wie Packpapier ab und streicht mit den Händen über den Putz darunter. Er ist kühl, wie Ton, und wunderschön marmoriert vom Alter.

Am Ende des Flurs befindet sich die Küche, die gefliesten Wände halten sie immer noch kühl. Hier riecht es sauer, und in einer Ecke kriechen Maden über etwas halb Verfaultes. Doch Jay kommt es so vor, als spüre sie Wärme, wenn sie eine Wange an die Fliesen presst und mit den Fingern über den großen schwarzen Herd streicht, als wäre noch ein Rest Hitze in diesen Mauern gefangen. Und wenn sie die Augen schließt, riecht sie Brot im Ofen und etwas Deftiges, Fleischiges auf dem Herd, hört Wasser kochen und sieht Dampf aufsteigen. Als sie die Augen wieder aufschlägt, verschwindet das alles, aber es ist ihr nicht unangenehm, allein in dieser dunklen, vergammelnden Küche zu sein.

Vogeldreck und zerbrochenen Stufen ausweichend steigt sie die Treppe hoch. In einem Schlafzimmer findet sie einen Fingerhut – silbern, verbeult –, der ihr perfekt passt. Sie dreht sich um, um ihn Simon zu zeigen, der hinter ihr ins Zimmer gekommen ist – »Schau mal, Si« –, aber er ist nicht da, also kann sie auch keine näherkommenden Schritte gehört haben, obwohl sie sich so sicher gewesen ist. Sie lauscht und wartet. Ob sie wieder Schritte hören wird. Doch nichts passiert, deshalb schleicht sie weiter, in ein anderes leeres Zimmer, wo das Bettgestell an der gestrichenen Wand einen Schatten hinterlassen hat, alte Bettpfosten in perfekter Symmetrie; und in das nächste, wo die Kindertapete fast völlig verblichen ist, sodass die Reiter, die auf schemenhaften Pferden an den Wänden entlangjagen, pinkfarbene Jacken tragen. Hier sind die Farben blass, aber in anderen Räumen lebhaft: In der Badewanne sind dunkle rostrote Flecken, eine spröde Spitzengardine ist ockergelb geworden, und neben der großen Treppe, wo ein Flur nach einem kleinen Stück plötzlich endet, gibt es einen leuchtend grünen Schimmelfleck.

»Simon?«

Wieder hatte sie ihn näher bei sich vermutet, hätte geschworen, er sei gleich nebenan, nur ein paar Schritte hinter ihr. Aber das ist er nicht, und sie ist eine Weile allein mit ihrem klopfenden Herzen, den zarten Atemwolken, die das Dämmerlicht durchwehen, dem Knacken und Knarren der lange unbetretenen Dielen. Es gibt keine Geister, sagt sie zu sich selbst.

»Ja, Liebes?«

Da ist er, kommt vorsichtig die Treppe herauf, den kleinen, etwas betreten wirkenden Makler im Schlepp.

»Was soll das da?« Sie deutet auf die Nische in der Wand, wo die Sockelleiste und der Deckenfries einen Bogen machen, als wollten sie um die Ecke herum, dann aber abrupt enden.

»Ich weiß nicht, Schatz.« Simon streicht mit den Händen über die Wand und tritt kurz zurück, um sie zu begutachten. »Sieht aus, als hätte das eine Art Durchgang sein sollen.«

»Aber warum ist hier einfach Schluss?«

Der Makler ergreift das Wort und leckt sich vorher und nachher nervös über die Lippen. »An der Stelle wurde etwas herausgeschnitten.«

»Was wurde herausgeschnitten?«

»Die Mitte des Hauses.«

»Wie bitte?«

»Die Mitte des Hauses. Früher war es symmetrisch und hieß Hestle Hall, nach dem Dorf weiter oben. Schauen Sie.« Der Makler blättert durch seine Unterlagen. Sie beben und flattern in seinen Händen, trotzdem kann Jay es gut sehen. Das Foto von dem Haus, in dem sie stehen: ein großes Erkerfenster links, eine Vordertür, die einmal die Mitte des Gebäudes gebildet hat, dann eine Lücke, ein Zwischenraum, und daneben rechts ein schmales Gebäude.

Sie zeigt auf das andere Haus. »Gehört das auch dazu?«

»Ja, Ma’am.« Es klingt so, als sagte er Mam.

»Aber man muss nach draußen gehen, um hinzukommen?«

»Ja. Über den Rasen. Hinten ist eine Tür eingebaut worden. Daher Two Houses. Zwei Häuser. So nennt man es seitdem.«

»Wann war das?«

»Oh, vor langer Zeit. Muss mindestens siebzig Jahre her sein.«

»Aber warum?«

»Jay …« Simons Stimme hat diesen warnenden Unterton, den er manchmal anschlägt, wenn sie zu viele Fragen stellt, zu viel von den Menschen verlangt. Sie sind beide leicht verwundert, dass sie in den letzten Monaten so ruhig gewesen ist, nicht mehr nachgefragt hat und nicht mehr von ihren Verhören abgehalten werden musste.

»Tja …« Der Makler schluckt schwer und zwinkert heftig hinter seiner Brille. »Die Leute haben behauptet, hier würde es spuken. Dass Hunde angeschlagen hätten und so was. Dass Dinge sich von allein bewegt hätten. Und seltsame Geräusche zu hören gewesen wären. Er hatte seine Frau verloren, der letzte von ihnen, also der Besitzer, damals. Danach hat es angefangen – aber nur in den mittleren Räumen. Deshalb hat er sie herausschneiden lassen. Die Zimmer, in denen sie herumgeisterte, ihre Zimmer. Aber das ist, wie gesagt, jetzt schon lange her. Und es ist sicher nichts dran.«

Doch Jay spürt, dass seine Hände schwitzen, und sieht die Schweißperlen auf seiner Oberlippe. Sie fängt Simons Blick auf. Er hat den Gesichtsausdruck, den er manchmal bekommt, wenn er über seine Arbeit nachdenkt oder versucht, ein kompliziertes Kreuzworträtsel zu lösen. Er ist ihr Ratgeber, sein Verstand arbeitet so präzise wie ein Uhrwerk, und obwohl sein blasses Gesicht ruhig und undurchschaubar ist, kann sie, wenn sie den Atem anhält, hören, wie sich bei ihm die Rädchen drehen.

»Können wir das andere Haus auch besichtigen?«, fragt sie.

»Es ist von hier aus zu sehen. Schauen Sie.«

Herbert, der Makler, marschiert zum Fenster und kämpft mit dem längst eingerosteten Riegel. Plötzlich schwingt es mit einem so durchdringenden Quietschen auf, als schrecke das ganze Haus nach diesem unerwarteten Übergriff vor dem jähen Ansturm frischer Luft zurück. Gehorsam stecken Jay und Simon die Köpfe durchs Fenster.

Sie blicken über verfluchtes Land, den Zwischenraum, in dem all diese gespenstischen Dinge geschehen sein sollen. Der Abend rückt näher und bringt kühle Dunstschleier mit, die sie in helles Weiß hüllen. Regen klatscht ihnen in den Nacken, als sie sich die Hälse nach dem anderen Haus verrenken. Denn es ist genau das: die andere Hälfte des Hauses, in dem sie stehen. Von ihrem seitlichen Blickwinkel sieht es so aus, als wäre es aus dem gleichen Stein und gleich groß, als hätte es sich einfach eines Nachts bei einer Flut losgerissen und wäre durch den Garten gedriftet, an einen Platz, an dem es frei atmen und selbstständig sein konnte.

»Faszinierend«, murmelt Simon, während es in ihm rattert. »Ich frage mich, wie die Deckenbalken verlaufen. Man könnte fast daran denken, es wieder in seinen ursprünglichen …«

Jay dagegen denkt an die Enge in ihrer Londoner Straße, in der Neubauten, Altbauten und winzige Reihenhäuser zusammengezwängt sind. Das endlose Hupen verärgerter Autofahrer, die nicht weiterkommen, oder keinen Parkplatz finden. Die Baumwurzeln, die die Bürgersteige zu spitzen Vulkankegeln auftürmen, als sehnten auch sie sich danach, frei zu sein. Daran, wie es sie plötzlich eingeengt hat, durch die Wand einen fremden Fernseher zu hören; die Geräusche von Liebe, Wut, Krankheit. Durch den Abgasdunst zu einem von Flugzeugkondensstreifen vergitterten Himmel emporzuschauen, und dabei immer, immer, den Baulärm zu hören, die Straßenarbeiten, die Laster, die Busse, die Füchse, die greinenden Babys, die in ihre Handys schreienden Mütter – diesen ständigen Lärm.

Die zitternden Hände des Maklers suchen ungeschickt in seinen Unterlagen. Papier raschelt, Regen fällt. Doch ansonsten herrscht Stille. Sie sind in einer düsteren, einsamen Welt, in der sie sich abschotten und Frieden finden können. Jay erinnert sich, wie sie barfuß auf ihre paar Quadratmeter Rasen in London hinausgegangen ist und verzweifelt versucht hatte, sich zu erden, zu verankern. Hier gibt es so viel Platz. So viel Boden, der Halt geben kann.

»Simon, es ist perfekt.«

Ihr Atem macht Wolken in der schnell aufziehenden Nacht, und so fängt es ganz unspektakulär an.

6

DASGERÜCHTFEGT wie ein Lauffeuer durchs Tal. An den verwahrlosten Ruinen, den verlassenen Farmhäusern, dem vergessenen, zu rostigem Rosa verblassten Telefonhäuschen vorbei. Über die schmale Straße die Hänge hinauf, wo jenseits der leeren Schule und der aufgegebenen Mine alte Narben das Land zerreißen und seit Jahren taubes Gestein auf Halden liegt. Erreicht schließlich die Straßen des Dorfes und die wenigen noch bewohnten Häuser, die Hestle zu bieten hat, und kommt mit dem Wind durch die Ritzen in den Türen und Fenstern und die Schornsteine herunter.

Es ist nicht herauszufinden, wer es in die Welt gesetzt hat. Das ist es nie in Orten wie diesen. Doch es fällt wie Schnee auf diejenigen, die übrig geblieben sind, legt sich unangenehm auf ihre Schultern, sogar auf ihre Nasenspitzen.

Irgendjemand fährt die zwölf Meilen in die Stadt hinunter und fragt Little Herbert, den Immobilienmakler, danach. Der Mann ist längst nicht mehr klein, sondern gedrungen und schwitzt hinter seiner dicken Gleitsichtbrille, aber hier ändert sich nichts, am allerwenigsten ein Spitzname.

»Aye«, sagt er und schluckt laut. »Ich hab Käufer für Two Houses. Leute aus London.«

Doch er weigert sich, mehr preiszugeben, also geht der Klatsch weiter, kreist durchs Dorf und bauscht sich auf, bis die Luft schwirrt von Schreckensnachrichten.

Nicht einmal Tom Outhwaite kann sich davon abhalten im Vorbeifahren hinzuschauen. Auch wenn er – groß, grau meliertes Haar, markantes Kinn, nüchterner Blick – nicht der Typ ist, der viel auf dummes Geschwätz gibt. Oder losfährt, um die beiden Häuser anzustarren, als hätten sie irgendein Geheimnis zu verraten. Es gibt nur eine Straße im Tal, rechtfertigt er sich, doch er kann nicht leugnen, dass er einen langen Blick auf sie wirft und den Fuß vom Gas nimmt. Dabei würgt er den Motor ab. Wütend macht er ihn wieder an und rast mit Vollgas über die dunkel werdende Straße.

Im Dorf angekommen, parkt er vor dem Pub. Seinem Pub, oder zumindest dem, den er betreibt. Die Kneipe ist an ihn weitergereicht worden, als Harry Neal das Dorf verließ, und er … nun ja, etwas zu tun brauchte.

Es handelt sich um ein quadratisches, schiefergraues Gebäude. Zwei Bänke mit zerbrochenen Brettern flankieren den Eingang, daneben steht ein verblichener Sonnenschirm. Tom stellt den Motor ab und bleibt noch einen Moment sitzen; er kann sich nicht mehr erinnern, wann die Sonne das letzte Mal richtig geschienen hat. Woran er sich aber erinnert, gegen seinen Willen, bei Tag und Nacht, sind die verworrenen Muster der verschlissenen Teppiche, die auf dem Boden des Pubs liegen. Und die quietschbunten, glänzenden Etiketten der Flaschen. Das grelle, elektrische Licht hinter der Bar hat sich so tief in seine Netzhäute gebrannt, dass er nachts im Bett diese brutal helle Welt ständig vor den müden Augen hat. Er ist nicht dafür gemacht, drinnen zu arbeiten.

Und jetzt dieser Wirbel um Two Houses, darauf hätte er gut verzichten können. Dabei hatte man es lange kommen sehen können. Sie alle hatten gewusst, dass der Gemeinderat eines Tages vielleicht doch noch beschließen könnte, die alte Ruine zu verkaufen. Und dennoch …

»Das ist ja lächerlich«, schilt er sich selbst und holt die Einkaufstüten aus dem Kofferraum. Albern. Sich so aufzuregen, über ein paar Leute aus London, die noch nicht einmal da sind und vermutlich im kalten Licht des Tages nur einen Blick auf Two Houses werfen, ehe sie schnell wieder dahin zurückkehren, wo sie hergekommen sind. Wahrscheinlich halten die es hier oben keine zwei Monate aus. Warum sollten sie auch? Sicher lohnt es sich nicht, sich Sorgen zu machen.

Doch als Tom in den Pub kommt, herrscht Aufregung, jedenfalls so viel Aufregung, wie in einem Pub mit einem halben Dutzend Gäste herrschen kann.

»Hast du von den neuen Leuten gehört?«

Die Frage ist aus Angelas Mund, noch bevor die Tür hinter ihm zuschlägt. Angela hat ihr wasserstoffblondes Haar auf dem Kopf aufgetürmt, und zwischen ihren Lippen hüpft eine Zigarette auf und ab. Tom geht hinter seine Theke.

»Du sollst hier drin nicht rauchen.«

»Ach, gib’s auf, Tom.«

»Ich meine es ernst, Ange. Mein Name steht über der Tür. Und ich bin es, der Ärger bekommt, wenn die Behörden an die Tür klopfen.«

»Als ob irgendjemand hier herkäme.« Trotzdem drückt Angela die Zigarette aus, wobei ihre langen, lackierten Fingernägel gegen den Aschenbecher klacken. Aus Gewohnheit schaut Tom hinein. Drei Zigaretten liegen darin, alle mit Lippenstiftspuren. Am Ende des Abends kann er immer sagen, welche Zigaretten Angela geraucht hat.

»Du hast also schon davon gehört?«

Tom nimmt ein Geschirrtuch und beginnt, methodisch die Gläser auf der Abtropffläche abzutrocknen. Sie sind nicht sehr nass, aber er beschäftigt sich lieber, als Angela anzuschauen. »Wovon?«

»Von den neuen Leuten in Two Houses.«

»Ja, und?«

»Und was?«

»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«

»Ich will ja gar nicht, dass du irgendwas tust, Tom!« Angelas Stimme ist schrill und scharf, und Tom ist froh, dass er sie nicht allzu oft hören muss.

Es hat einmal eine Zeit gegeben, in der er Angela Metcalfe für die schönste Frau der Welt gehalten hat. Als linkischer Teenager hätte er alles getan, um in einer Wolke aus Zigarettenqualm und billigem Parfüm neben ihr herzugehen und durch ihr blondes Haar zu streichen. Erst Jahre später hatte er bemerkt, wie dick es mit Haarspray verklebt war, wie hart und strohig. Da hatte sie sich längst einen anderen Typen ausgesucht. Tony Hanley, zwei Jahre älter, mit einem Motorrad und Muskelbergen, einem Hang zum Trinken und Fäusten, die er sie nur zu gern spüren ließ. Als sie mit Ende zwanzig ins Dorf zurückgekommen war, war sie schmaler, bleicher, aggressiver und ziemlich verletzt gewesen. Außerdem war er verheiratet gewesen, und froh darüber. Doch inzwischen gibt es Momente – nicht wenn sie arbeitet, in seinem Pub aushilft, sondern in den einsamen Minuten seiner schlaflosen Nächte. Dann, in der ungewohnten großen Kälte des leeren Betts fragt er sich manchmal … Doch wenn er sie am nächsten Tag sieht, stellt er fest, dass die Parfümwolke, so atemberaubend wie eh und je, ihren Reiz verloren hat. Er möchte etwas Echtes. Etwas, an dem er sich festhalten kann.

»John sagt, es ist wahr, Tom«, fängt sie wieder an. »Dass sie wirklich kaufen.«

John hat Flecken auf seinem Hemd. Wenn er sich auf seinem Hocker bewegt, stößt sein Bierbauch gegen die Theke. Er ist vor der Zeit alt geworden. Die Jahre, in denen er zu viel getrunken und zu wenig gearbeitet hat, haben ihn fett und grau werden lassen; graue Augen, graue Haut, graue Zähne.

»Tatsächlich?«

»Ja.« John schiebt den Unterkiefer hin und her, bis er laut knackt. »Und zwar schon bald.«

»Aha.« Tom wendet sich wieder seinen Gläsern zu.

»Und?«, fragt Angela daraufhin noch schriller.

»Und was?«

»Das ist nicht gut, oder?«

»Nicht gut, nicht gut.« Das leise Echo kommt aus der Ecke an der Bar. Dort sitzt Jacob, Toms kleiner Bruder.

In der Schule galt er als sonderbar. Überempfindlich. Der Junge mit den stets geballten Fäusten, den X-Beinen und den Schultern, die von links nach rechts schräg abfallen. Der Junge, der mit der Nabelschnur um den Hals aus dem Bauch seiner Mutter gekommen ist und sein Leben lang um Luft und Anerkennung gerungen hat. Der Junge, der mittlerweile Ende dreißig und nach wie vor hilflos ist, und gerade in sein kleines Bier starrt, als könnte der Schaum darauf ihm irgendeine Botschaft übermitteln, während er auf seinem Barhocker unentwegt hin und her schaukelt. Erst als Tom seinen Bruder fest am Arm packt, hört Jacob damit auf.

»Keine Sorge, Kumpel. Das sind nur Stadtmenschen, die mal Landluft schnuppern wollen. In ein oder zwei Monaten sind die wieder weg. Was zum Teufel sollte irgendjemand hier oben wollen?«

Damit sind die Gäste für eine Weile zum Schweigen gebracht. John watschelt, von seinem dicken Bauch aus dem Gleichgewicht gebracht, zu der alten Jukebox. Simon und Garfunkel beginnen zu singen, die Stimmen kommen dünn und quäkend aus dem abgenutzten Automaten. Das ist das Letzte, was Tom hören möchte, aber er ist dankbar für die Ablenkung. Er vermeidet es, Angela anzusehen, die ihn mit ihren dick mit Mascara umrandeten Augen über ihr Bierglas hinweg unverwandt anschaut. Drei Lieder später hört die Musik wieder auf, und die Tür öffnet sich.

Die Frau, die im Rahmen steht, ist alt, klein und dünn und hat so fluffiges, weißes Haar, dass sie aussieht wie eine Pusteblume. Die Leggings schlabbern ihr um die Knöchel, und das Alter hat ihre Wangen zu zwei perfekten Os ausgehöhlt. Unsicher bleibt sie auf der Schwelle stehen, die linke Hand fest auf die rechte gelegt.

»N’Abend, Heather.«

»N’Abend Tom, Jacob.« Angela gönnt sie keinen Blick. Alte Streitigkeiten. Tom weiß gar nicht mehr, worum es gegangen ist.

»Was kann ich für dich tun?«

»Einen Sherry bitte.« Heather zieht ihre Strickjacke enger um sich und kommt zur Bar. Sie hält das Geld abgezählt in der Hand.

»Bitte schön.«

»Danke.«

Zögernd nippt Heather an ihrem Glas. Eine Pause entsteht.

»Also, was ist mit Two Houses, Tom?«

»Da ist nichts dran.«

»Nein?«

»Die sind im Handumdrehen wieder weg. Glaub mir.«

Langsam trinkt Heather den Rest ihres Sherrys. Tom kann das leise Klicken hören, mit dem ihre Ringe gegen das Glas schlagen.

»Na dann gute Nacht alle zusammen.«

7

TOMISTFROHÜBERDIEEINSAMKEIT nach Kneipenschluss. Er steht allein in dem nun dämmrigen Pub mit den fadenscheinigen Teppichen, den nicht zusammenpassenden Stühlen und den süßen, aber zunehmend sauer riechenden Bierpfützen, und sieht zu, wie John und Jacob in Schlangenlinien zu Johns Wagen wanken. Verfolgt Angelas Weg um die Straßenkurve herum und die Gasse hinauf am Glühen ihrer Zigarette. Im Laufe des Abends waren nach und nach noch ein paar Dorfbewohner gekommen, und er freut sich, sie ebenfalls gehen zu sehen. Weil er sich dann nicht mehr verstellen muss.

Es ist jeden Abend dasselbe. Er macht ein Tuch nass und wischt damit grob über die Theke und die klebrigen, zerschrammten Tische. Um die schlimmeren Flecken und die Chips auf dem Boden kümmert er sich nicht besonders: Angela kommt sowieso morgen, sie braucht das Geld, verdient sich etwas dazu, für ihre Jungs. Er muss daran denken, nicht dauernd ihre Arbeit zu machen.

Im Dunkeln, mit den bizarren Schatten und dem eigentümlichen Glitzern von Glas und Metall, gefällt ihm der Pub besser. Jeden Abend, wenn er seine letzte Runde dreht – die Tür verschließt, die Vorhänge vorzieht –, kommt er an dem Kasten vorbei, in dem die 1934 gefangene, preisgekrönte Forelle ausgestellt ist, und an den messingverzierten Pferdegeschirren, den alten Fischernetzen und den ausgestopften Vögeln, die an der Wand hängen, seit er denken kann. Angenagelt in einer Zeit, in der irgendjemand Spaß daran hatte.

»Hau besser ab«, sagt er grüßend zu der glasäugigen Forelle.

In den letzten zwei Jahren hat er über dem Pub gewohnt. Ist seitwärts die winzige, hässliche Treppe hochgeklettert, die zu einer Handvoll winziger, hässlicher Zimmer führt. Einige dienen als Gästezimmer, für die Wanderer, die vorbeikommen. Nicht, dass das oft passiert. Das Nelderdale hat nicht viel zu bieten und das Dorf Hestle noch weniger, deshalb sind die, die sich zu ihnen verlaufen, auch schnell wieder weg. Mittlerweile hat Tom sich daran gewöhnt, wie unangenehm berührt sie sich umschauen, als wollten sie fragen, kann das wahr sein? Sind wir dafür den ganzen Tag gewandert? Aber sie bleiben, weil sie keine andere Wahl haben. Verspeisen das Abendessen, das Angela ihnen vorsetzt, und das Frühstück, das er ungeschickt zubereitet. Und dann gehen sie wieder. Bloß schnell weg. Und bei jedem Schritt wird das Dorf hinter ihnen ein wenig kleiner, während das Gewicht auf Toms Schultern bei jedem Abschied ein wenig schwerer wird. Die Ausweglosigkeit belastet ihn.

Es ist jeden Abend dasselbe. Seitwärts steigt er die Stufen hoch, für die seine Füße zu groß sind. Bleibt wie immer einen Moment vor Zoes Schlafzimmer stehen, bis ihm wie immer zu spät wieder einfällt, dass seine Tochter nicht da ist. Dass er nicht hineingehen kann, um zu fragen, wie es in der Schule war, oder um Gute Nacht zu sagen, oder einen Witz über etwas zu machen, das im Fernsehen gelaufen ist, weil sie zwölf Meilen weiter unten im Tal wohnt, im schäbigsten Teil der Stadt, mit ihrer Mutter und einem Mann, der ihr neuer Vater sein möchte. Die Poster an ihrer Tür lösen sich, deshalb drückt Tom, statt Gute Nacht zu sagen, pflichtschuldig die Ecken wieder an die Klebestreifen.

Dann geht er zu dem engen, rautenförmigen Bad, dessen Wände nicht richtig zueinanderpassen, wäscht sich das Gesicht am hellrosa Waschbecken und betrachtet sich im fleckigen Spiegel. Römische Nase, rote Wangen, Augen so grün wie das Gras im Moor, wie seine Mutter ihm als Junge gesagt hat. Spiegelbilder unter einer nackten Glühbirne sind nicht allzu schmeichelhaft, wenn man in seinem Alter ist, deshalb reibt er sich so heftig mit dem Handtuch übers Gesicht, als wollte er die besorgten Fragen wegwischen, die ihm den ganzen Abend gestellt worden sind. Aber es gibt Grund zur Sorge, das weiß er nur zu gut.

Wieder fragt er sich, was die Käufer von Two Houses wohl von ihnen wollen. Ihr Dorf liegt nicht in einem Nationalpark und zieht keine Touristen an. Hat nichts mehr, was von Interesse sein könnte.

In den letzten fünfzig Jahren sind fast alle Bewohner auf und davon. In die Stadt, die Großstädte, auf Bohrinseln. Überallhin, wo sie bessere Chancen haben könnten als in diesem Dorf. Der große, schleichende Exodus in den zu vielen harten Jahren hat es zu einem Geisterdorf gemacht, die Hälfte der Häuser steht leer. Das Tal ist gestorben. Wenn auch nicht ganz, denn ein paar von ihnen sind immer noch da und harren grimmig aus. Es wäre besser gewesen, denkt Tom in seinen dunkleren Momenten, wenn sie einfach alle gegangen wären. Es beendet hätten. Lieber ganz tot als halb, lieber nichts als zu wenig. Schlimmer als dieses Fegefeuer hätte es nicht werden können.

Fegefeuer. Wenn sie als Kinder dieses Wort benutzt hatten, hatten sie einen Klaps bekommen. Einen harten. Wir wollen hier kein dämliches katholisches Gewäsch. In diesem Tal gab es keine Beichte und keine Erlösung. Nur ein Leben voller harter Arbeit, und dann eine Holzkiste, die einen mit vierzig abholte, wenn man schließlich an den seelischen oder körperlichen Schmerzen zerbrochen war. Er ist gerade vierzig geworden. Da muss er wohl bald mit dieser Kiste rechnen, denkt er, und knipst das Licht im Bad aus.

Doch es ist nicht die Kiste, die langsam das Tal hochkommt, über den Weg, auf dem früher die Leichen von den abgelegenen Farmen zu den Kirchen unten im Tal gebracht wurden, sondern diese neuen Leute, diese Städter, die ihn beschäftigen und die Frage, was um Himmels willen sie dazu gebracht hat, Two Houses zu kaufen.

»Dieses Tal hat schon genug Geister«, murmelt er in die Dunkelheit, die sein leeres Bett umgibt.

Er hat schon ohne diese Leute aus London mehr als genug, worum er sich kümmern muss – seinen Vater, seinen Bruder, seine Tochter, sich selbst –, und dennoch ist es das von diesen Leuten heraufbeschworene Schreckgespenst, das in dieser Nacht in einer Ecke seines Schlafzimmers lauert, sind es ihre bislang unbekannten Gesichter, die seine Träume bevölkern.

8

SIMONFREUTSICHDARÜBER,