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The 'Q source' that served as a source for the Gospels of Matthew and Luke represents a double connecting link: on the one hand, the text needs to be situated between early Judaism and the beginnings of the Jesus movement - a document that focuses less on 'Christian' expectations than on eschatological hopes for salvation among Jewish disciples of Jesus. On the other hand, the text also serves as a bridge between the historical Jesus and later Christianity and provides insights into the early Jesus movement with a glimpse of archaic forms of Christology and ecclesiology. In addition to issues of reconstruction of the text, which is only preserved indirectly, this volume is particularly concerned with the context of origin and the theology of the Q source - opening up a view of the period in which Jesus=s followers were still Jews.
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Seitenzahl: 355
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Markus Tiwald
Die Logienquelle
Text, Kontext, Theologie
Verlag W. Kohlhammer
1. Auflage 2016
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-025627-9
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-025628-6
epub: ISBN 978-3-17-025629-3
mobi: ISBN 978-3-17-025630-9
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Die Logienquelle 'Q', die den beiden Evangelien nach Matthäus und Lukas als schriftliche Quelle vorlag, ist ein doppeltes Bindeglied: Einerseits ist der Text zwischen Frühjudentum und den Anfängen der Jesusbewegung zu verorten - ein Dokument, das weniger 'christliche' Erwartungen, als eschatologische Erlösungshoffnungen jüdischer Jesusjünger thematisiert. Andererseits hat der Text auch eine Brückenfunktion zwischen historischem Jesus und späterem Christentum und eröffnet mit einem Blick auf archaische Formen der Christologie und Ekklesiologie Einblicke in die frühe Jesusbewegung.
Neben Fragen der Rekonstruktion des nur indirekt erhaltenen Textes befasst sich dieser Band besonders mit dem Entstehungskontext und der Theologie der Logienquelle und eröffnet so einen Blick in die Zeit, als die NachfolgerInnen Jesu noch Juden waren.
Prof. Dr. Markus Tiwald lehrt Neues Testament an der Universität Duisburg-Essen.
Vorwort
Teil I: Der Text der Logienquelle
1. Die »Synoptische Frage«
1.1 Vormoderne Fragestellung
1.2 Neuansatz in der Moderne
1.3 Zweiquellentheorie
1.3.1 Markus-Priorität
1.3.2 Logienquelle
1.3.3 Sondergut
1.3.4 Doppelüberlieferung und Dubletten
1.4 Anfragen und Alternativen zur Zweiquellentheorie
1.4.1 Die »minor agreements«
1.4.2 ProtoMk und DeuteroMk
1.4.3 Die »große Lücke«
1.4.4 Kannte Mk die Logienquelle?
2. Die Bedeutung einer Rekonstruktion von Q
2.1 Q als eigener Strang der Jesusüberlieferung
2.2 Q als zwischen der frühen Jesusüberlieferung und den späteren Evangelien
2.3 Q als Dokument des Frühjudentums
3. Die Frage der Rekonstruierbarkeit von Q
3.1 Zur Frage der Genauigkeit einer Rekonstruktion
3.2 Die Sprache der Logienquelle
3.2.1 Analphabetismus
3.2.2 Schriftlichkeit der Logienquelle
3.2.3 Aramäisch oder Griechisch?
3.2.4 Rückübersetzungsversuche
3.3 Mündliche Überlieferung und Verschriftlichung
3.3.1 »Wachstumsringe« in Q
3.3.2 Schriftliche Vorstufen zu Q?
3.3.3 »Secondary Orality«
3.4 Q-Rezensionen?
3.5 Die Abfolge der Texte in Q
3.6 Die Zitation der Logienquelle
3.7 Aufbau und Gliederung der Logienquelle
3.8 Die Q-Rekonstruktion
3.8.1 Geschichtlicher Rückblick
3.8.2 Das Internationale Q-Projekt (IQP)
3.8.3 Critical Edition of Q
3.8.4 Forschungsgeschichte: »Documenta Q«
3.9 Ausgaben der Logienquelle
4. Der rekonstruierte Q-Text
4.1 Erläuterung der Markierungen im Text
4.2 Verwendung des Textes in diesem Band
4.3 Der Text der Logienquelle
Die Logienquelle
5. Die literarische Gattung von Q
5.1 Q – ein Evangelium?
5.2 Der Begriff »Evangelium«
5.2.1 »Evangelium« in der Antike
5.2.2 Die »Frohbotschaft« in AT und Frühjudentum
5.2.3 Das mündliche »Urevangelium«
5.2.4 »Evangelium« als literarische Gattung
5.3 Spruchevangelien im Urchristentum
5.3.1 Thomasevangelium
5.3.2 Jesus-Logien im JohEv
5.3.3 Die Logienquelle als Spruchevangelium
Teil II: Der Kontext der Logienquelle
1. Zeit und Ort der Abfassung
1.1 Die Zeit der Abfassung
1.1.1 Frühdatierung von Q
1.1.2 Spätdatierung von Q
1.1.3 Eigener Datierungsversuch
1.2 Der Ort der Abfassung
1.2.1 Lokalkolorit in Q?
1.2.2 Die in Q genannten Orte Nordpalästinas/Syriens
1.2.3 Jesusjünger in Galiläa
1.2.4 Alternative Verortungen: Judäa und Jerusalem
1.2.5 Die Jesusbewegung als rurales Phänomen
1.2.6 Ein in Palästina
1.2.7 Rurale Strukturen in Q
1.2.8 »Q’s Mental Map«
2. Die Gemeinde hinter der Logienquelle
2.1 Q und das Frühjudentum
2.2 Q und die Tora
2.3 Anfrage 1: Jesu Anspruch in Rivalität zur Tora?
2.3.1 Jesu exklusiver Anspruch …
2.3.2 … als Ausdruck frühjüdischen Ringens um die Tora
2.3.3 Eschatologisches Sonderwissen
2.3.4 Ergebnis: Jesus vs. Tora?
2.4 Anfrage 2: Antijüdische Polemik in Q?
2.4.1 Polemik im Frühjudentum
2.4.2 Ergebnis: Antijüdische Polemik in Q?
2.5 Die »Gegner« in der Logienquelle
2.5.1 Pharisäer und Gesetzeslehrer
2.5.2 Jerusalem, der Tempel, das dtr Geschichtsverständnis und das »Motiv vom gewaltsamen Prophetengeschick«
2.5.3 »Diese Generation«
2.5.4 »Christenverfolgungen« in Q?
2.5.5 Abschließende Wertung zu den »Gegnern« in Q
2.6 Heidenmission in Q?
2.6.1 Judenmission und Heidenmission in der Urkirche
2.6.2 Die »Heiden« in Q
2.6.3 »Shaming Rhetoric« in Q
2.7 Q und die »Ritualtora«
2.8 Die Q-Gemeinde als Teil des Frühjudentums
3. Die Verfasser der Logienquelle
3.1 Wanderradikale Propheten …
3.1.1 Die »Wanderradikalen«-These
3.1.2 Realsymbolische Zeichenhandlungen
3.1.3 Kritik an der Wanderradikalen-These
3.1.4 Wanderradikale in der Didache?
3.1.5 Wanderboten im syrischen Urchristentum
3.1.6 Wandernde Boten – sesshafte Gemeinden
3.1.7 Missionarischer Vermögensverzicht als »Gebot des Herrn«
3.1.8 Die Praxis Jesu als Ethos der Q-Boten
3.2 … oder Dorfschreiber …
3.3 … oder beides: Autoritäten und Autoren
3.4 Q und die Kyniker
3.4.1 Q – eine Schrift von »jüdischen Kynikern«?
3.4.2 Anfragen
3.4.3 Berührungspunkte
4. Die Erben von Q: Warum wurde Q verfasst und blieb uns trotzdem nicht erhalten?
4.1 Umstände der Abfassung
4.2 Das MtEv als »Nachlassverwalter« von Q
4.2.1 Die Mt-Gemeinde: Quellen, Gründung und Theologie
4.2.2 Die Mt-Gemeinde, das Judentum und die Tora
4.2.3 Entwicklungslinien: Q und Mt
4.2.4 Das MtEv und das Erbe von Q
5. Q als Missing Link
5.1 : Frühjudentum – Christentum
5.2 : Jesusbewegung – Urkirche
Teil III: Die Theologie der Logienquelle
1. Der »narrative Plot« der Logienquelle
1.1 Der narrative Spannungsbogen
1.2 Die argumentative Gesamtstruktur von Q
1.3 Narrative Sinnstiftung
2. Die »Christologie« der Logienquelle
2.1 Menschensohn
2.1.1 Gebrauch in jüdischer Bibel und Frühjudentum
2.1.2 Jesus und der »Menschensohn«
2.1.3 Konklusionen
2.1.4 Die eschatologische Naherwartung in Q
2.2 Sohn/Sohn Gottes
2.3 Johannes, Jesus und die Propheten
2.4 Johannes und Jesus als Kinder der Weisheit
2.5 Q – prophetisch oder weisheitlich?
2.5.1 Zwei verschiedene Deutungen …
2.5.2 … dieselbe Sichtweise unter anderem Aspekt
2.5.3 Q – »apokalyptisch« oder »eschatologisch«?
2.6 Der eschatologische Freudenbote
2.7 Passion und Ostern?
2.7.1 Fehlendes Kerygma …
2.7.2 … oder anderes Kerygma
2.7.3 Tod und Auferstehung Jesu in der Logienquelle
2.8 Der »Messias« im Frühjudentum
2.8.1 Die Grundbedeutung von »Messias«
2.8.2 Eschatologischer Messianismus
2.8.3 Vermeidung des Messias-Titels durch Jesus und Q
2.9 Auswertung: Q als theologisches
2.9.1 Ursprünglichkeit …
2.9.2 … und Weiterentwicklung
3. Das Theologumenon vom gewaltsamen Prophetengeschick
4. Q und Israel
4.1 Das gewaltsame Prophetengeschick
4.2 Der Tempel
4.2.1 Tempelwort und Tempelaktion Jesu in Q
4.2.2 Tempelfrömmigkeit in Q
4.2.3 Rivalitäten der Galiläer gegen Jerusalem
5. Die »Ekklesiologie« der Logienquelle
5.1 Das Gottesvolk
5.2 »Amtsträger« in Q?
6. Q und die Frauen
6.1 Anfragen und Monita
6.2 Frauen in der Logienquelle
6.2.1 Die Sichtbarmachung von Frauen …
6.2.2 … oder konservatives Festschreiben von Rollenbildern?
6.3 »Wanderradikalinnen«
6.3.1 Frauen von Wanderpropheten
6.3.2 Missionarische Ehepaare
6.3.3 Weibliche Missionare ohne Mann
Schlusswort
Abkürzungen und Zitationsmodus
Allgemeine Abkürzungen
Weitere Anmerkungen zu Abkürzungen und Zitationsmodus
Sekundärliteratur
Transliteration des Hebräischen
Bibeltexte
Qumrantexte
Zitation der Quellenschriften
Literatur
1. Quellentexte
1.1 Antike Quellen
1.1.1 Frühjüdische Apokryphen und Pseudepigraphien
1.1.2 Qumrantexte
1.1.3 Philon und Josephus
1.1.4 Pagane Autoren
1.1.5 Rabbinische Schriften
1.1.6 Patristische Literatur
1.2 Moderne Quellen
1.2.1 Ausgaben der Logienquelle
1.2.2 Literatur aus der Frühgeschichte der Q-Forschung (bis 1960)
1.2.3 Kirchenamtliche Texte
2. Sekundärliteratur
Register
Studienbücher zur Logienquelle sind im deutschsprachigen Raum selten.1 Das mag daran liegen, dass vielen Forschern die Arbeit mit einem rekonstruierten Text – wie es Q nun einmal ist – Unbehagen bereitet. Die Bedenken sind verständlich – wenn auch nicht immer konsequent, da die meisten Forscher ja auch mit der Zweiquellentheorie arbeiten: Akzeptiere ich die eine Theorie, muss ich auch Q mit berücksichtigen. Dieses Junktim soll aber nicht nur aus der Not – faute de mieux – geboren sein. Schließlich gehört die »Erforschung der Logienquelle … gegenwärtig zu den dynamischsten Bereichen der ntl. Exegese, so dass noch viele Untersuchungen und Theorien zu erwarten sind.«2 Der »primitive« Text der Logienquelle (im positivsten Sinne von »Ursprünglichkeit«) stellt immerhin einen eigenständigen Strang der frühen Jesusbewegung dar. Gerade weil das paulinisch-markinische Kerygma den »moderneren« Ansatz bildete (und damit für die Zukunft »die besseren Karten« besaß), ist doch die Logienquelle ursprünglicher und regelrecht als missing link zu bezeichnen. Als literarisches »Brückenfossil« schließt es die Lücke zwischen Frühjudentum und Christentum, aber auch zwischen charismatischen Anfängen der Jesusbewegung und frühkirchlicher Institutionswerdung.
All jenen sei dieser Band gewidmet, die sich auf die Reise in jene Zeit begeben wollen, als die ersten Jesusjünger noch Juden waren.
Danken möchte ich in erster Linie Herrn Florian Specker vom Verlag Kohlhammer, der mit der schönen Idee, ein Studienbuch über die neueren Entwicklungen in der Q-Forschung zu verfassen, an mich herangetreten ist. Das unkomplizierte Arbeiten mit ihm und dem Verlag Kohlhammer war eine Freude! Danken möchte ich auch meinem Lehrstuhlteam: allen voran Frau Michaela Richter für das gewissenhafte Korrekturlesen und ihre computertechnische Kompetenz; sodann Kathrin Wenzel, Marie-Helén van Heys, Markus Mähler und Lothar Junker für die intensive Literaturrecherche.
Danken möchte ich aber auch allen »fellow Q-bies« (wie sich Q-Forscher augenzwinkernd nennen) für die herzliche Atmosphäre in der Q-Community. Wahrscheinlich färbt ja stets ein Stück der materia prima – die irenische Unkompliziertheit der Q-Missionare – auf die damit arbeitenden Forscherinnen und Forscher ab!
Essen, im Mai 2016Markus Tiwald
Die Logienquelle Q ist uns nicht erhalten geblieben. Von den vier kanonischen Evangelien haben wir alte Textfragmente, die bis ins beginnende zweite nachchristliche Jahrhundert zurückdatieren,3 doch von der Logienquelle ist kein einziges Manuskript übrig geblieben. Was also berechtigt uns, solch einen Text zu rekonstruieren?
Der Kirchenvater Augustinus (354–430) war der Erste, der sich Gedanken über die schriftstellerischen Beziehungen zwischen den synoptischen Evangelien machte. Seiner Meinung nach wurden sie in der Ordnung abgefasst, in der sie heute in der Bibel aufgeführt sind, wobei die späteren jeweils Kenntnis der früheren gehabt hätten (De consensu evangelistarum I,2,4). Dabei ergibt sich das Schema:
Zu Recht muss man aber darauf verweisen, dass die antiken (und auch mittelalterlichen) Vorstellungen einer Verbalinspiration für die Redaktionsarbeit der Evangelisten nur beschränkten Spielraum ließen, da man damals von einem wörtlichen Diktat des Textes durch den Heiligen Geist ausging. Die neuzeitliche Weiterführung der synoptischen Frage ist daher »nicht einfach als eine Fortsetzung der augustinischen Überlegungen anzusehen.«4 In dem Maße, in dem in der Neuzeit die Idee der Verbalinspiration immer mehr ins Hintertreffen geriet, musste auch die Abhängigkeit der Evangelien neu durchdacht werden.
Schon im 18. Jh. hatte der Weimarer Theologe J. G. Herder (1744–1803) die Ähnlichkeit der drei »synoptischen« Evangelien (griech. σύνοψις, sýnopsis, »Zusammenschau« i. S. einer literarischen Abhängigkeit), also MkEv, MtEv und LkEv, auf ein mündliches Urevangelium in aramäischer Sprache zurückgeführt (Traditions-Hypothese).5 Tatsächlich legen die zumeist wortwörtlichen Übereinstimmungen eine literarische Abhängigkeit der drei »Synoptiker« nahe. Daher postuliert F. Schleiermacher (1768–1834) bereits eine größere Anzahl unabhängiger Einzelaufzeichnungen und Sammlungen von Texten, von denen manche jeweils mehreren, manche aber auch nur je einem Evangelisten vorgelegen wären (Fragmenten- oder Diegesenhypothese). Schließlich vermuteten J. G. Eichhorn (1752–1827) und G. E. Lessing (1729–1784) ein schriftliches, aramäisches Urevangelium (Urevangeliumshypothese), das von den drei Synoptikern unterschiedlich übersetzt worden sei. Doch auch diese Annahme scheitert an den starken wortwörtlichen Übereinstimmungen auf griechischer (!) Sprachbasis der drei Synoptiker. Die in Folge vorgebrachten Benutzungshypothesen rechnen mit unterschiedlichen literarischen Abhängigkeiten der Texte:
Die Griesbachhypothese ist nach ihrem Urheber J. J. Griesbach (1745–1812) benannt und sieht im MtEv das älteste Evangelium, welches der Autor des LkEv benutzt habe.
Das MkEv ist nach dieser Annahme lediglich eine Zusammenfassung der beiden anderen Evangelien. Dass der Verfasser des MkEv nach dieser Hypothese so bedeutsame Passagen wie die Bergpredigt, die Kindheitsgeschichten und die Osterevangelien aus seinen Vorlagen hinausgekürzt habe, macht diesen Ansatz doch sehr unwahrscheinlich. Allerdings wird hier die bereits in Antike und Mittelalter vertretene Matthäus-Priorität (Mt als ältestes Evangelium) weitergeführt, die davon ausging, dass der Verfasser des MtEv einer der zwölf Apostel gewesen sei, von dem die Nicht-Apostel Lk und Mk abgeschrieben hätten. Heute wird eine »Neo-Griesbach-Hypothese« nur mehr vereinzelt im angelsächsischen Bereich vertreten und als »Two-Gospel-Hypothesis« (Zwei-Evangelien-Hypothese) bezeichnet.
Die Farrer-Goulder-Hypothese wurde von A. Farrer (1904–1968) entwickelt und von M. D. Goulder (1927–2010) weitergeführt. Sie geht von einer Mk-Priorität aus; Mt habe das MkEv benutzt, Lk die beiden anderen. Unbeantwortet bleibt hier, warum Lk so viel mt Sondergut weggelassen habe.
Die am weitesten verbreitete Erklärung ist die Zweiquellentheorie, mit der heute so gut wie alle seriösen Bibelwissenschaftler arbeiten (daher auch nicht »Zweiquellenhypothese«, sondern »Zweiquellentheorie«).6
Die Zweiquellentheorie geht von der »Markus-Priorität« aus, also von der Annahme, dass das MkEv das älteste Evangelium sei. Schon K. Lachmann (1793–1851) war in dem 1835 publizierten Artikel De ordine narrationum in evangeliis synopticis aufgefallen,7 dass Mt und Lk in ihrer grundsätzlichen Anordnung der Perikopen dort übereinstimmen, wo sie auch mit Mk identisch sind. Verlassen aber Mt oder Lk den mk Faden, dann weicht auch deren Perikopenanordnung voneinander ab. Lachmann folgerte daraus, dass Mk das damals postulierte »Urevangelium« (s. o. I.1.2) am getreuesten wiedergäbe. So hatte auch schon J. G. Herder im MkEv das älteste synoptische Evangelium gesehen.
Dem heutigen Stand der Wissenschaft zufolge ist die Markus-Priorität kaum mehr zu erschüttern. Recht präzise lässt sich beweisen, dass sowohl Mt als auch Lk das gesamte (s. u. I.1.4.3) MkEv kannten, dieses allerdings stilistisch überarbeiteten, inhaltlich ergänzten, theologisch weiterführten und in einen je neuen erzähltechnischen Rahmen spannten. All diese Verbesserungen und Erweiterungen würden keinen Sinn ergeben, wenn nicht Mk das älteste Evangelium geschrieben hätte.
Dabei ist zu beachten, dass Mt und Lk einander nicht gekannt haben, sie gestalten ihre Überarbeitungen des MkEv in je unabhängiger Weise. So etwa übernimmt Mt 90% des Mk-Stoffes, während Lk nur 55% verwendet (zum Grund dafür s. u. I.1.4.3).
Wie der Name »Zweiquellentheorie« schon sagt, haben Mt und Lk neben der ersten Quelle, dem MkEv, noch eine zweite Quelle besessen, die sogenannte »Logienquelle«, abgekürzt »Q« (für »Quelle«). Denn über lange Passagen stimmen Mt und Lk wortwörtlich überein, ohne dabei von Mk abhängig zu sein. Es muss also noch eine zweite Quelle gegeben haben.
Die Existenz solch einer zweiten Quelle wurde zuerst von C. H. Weisse (auch: Weiße, 1801–1866) in seinem 1838 erschienenen Werk Die evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet postuliert. Da der Gehalt dieser Quelle – bestehend aus den Übereinstimmungen von MtEv und LkEv über den Mk-Text hinaus – größtenteils Aussprüche und Reden Jesu (auf Griechisch logia, »Sprüche«) wiedergibt, meinte man hier die von Papias von Hierapolis zu Beginn des 2. Jh. erwähnten logia, eine angebliche Sammlung von aramäischen Jesus-Sprüchen, gefunden zu haben.8 Im Papias-Fragment 5,16 (= Eusebius, HE 3,39) heißt es:
Matthäus hat die Logien also in hebräischer Sprache zusammengestellt; es übersetzte sie aber jeder, so gut er konnte.
So man nicht der Deutung Kürzingers9 folgt, hat sich heute die Einsicht durchgesetzt, dass Papias hier auf eine von ihm angenommene aramäische Urform des Evangeliums abzielt. Aufgrund dieses Zitats rechnete man noch bis in das 20. Jh. hinein mit einer aramäischen Quelle von Logien für das MtEv. Bezüglich der Logienquelle allerdings scheitert solch eine Annahme auch aus einem anderen Grund: Die als Q zu postulierenden wortwörtlichen Übereinstimmungen zwischen MtEv und LkEv funktionieren auf griechischer Sprachbasis, aber nicht auf Aramäisch. Dennoch führte dieser »kreative Irrtum« dazu, dass H. J. Holzmann (1832–1910) das Sigel Λ (den griechischen Buchstaben Lambda) als Abkürzung für logia verwendete und der Zweiquellentheorie mit seinem 1863 erschienenen Werk Die synoptischen Evangelien, ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter zum Durchbruch verhalf (die Tübinger Schule favorisierte damals noch die Griesbachhypothese). J. Weiß (1863–1914) war 1890 schließlich der Erste, der für diese logia das Sigel »Q« im Sinne der zweiten »Quelle« verwendete, obwohl er in seinen Publikationen zumeist von der »Redenquelle« oder den »Logia« sprach. Erst 1899 setzte sich mit der Monographie von P. Wernle (1872–1939), Die synoptische Frage, das Sigel »Q« für die Logienquelle durch.
Neben den beiden schriftlichen Quellen – MkEv und Logienquelle – haben Mt und Lk ihren Werken auch noch »Sondergut« hinzugefügt, Mt sein Sondergut-Mt (SMt), Lk sein Sondergut-Lk (SLk). Zur Herkunft dieses Sonderguts wissen wir wenig, es dürfte sich um mündliche Traditionen unterschiedlichster Provenienz handeln. Gerade in den Kindheits- und Ostergeschichten ist dieses Material dominant.
Manche Texteinheiten bei Mt und Lk kommen in zweifacher Weise vor. So etwa wird die Aussendung der Jünger Jesu zur Mission in Lk 9,1–5 und ein weiteres Mal in Lk 10,1–12 berichtet, während Mt die Aussendungsrede nur einmal in Mt 10,5–16 bietet. In diesem Fall, wenn nur einer, Mt oder Lk, diese Verdoppelung besitzt, spricht man von einer Dublette. Besitzen beide, Mt und Lk, solch eine Verdoppelung, spricht man von einer Doppelüberlieferung. Dies ist beispielsweise der Fall beim Wort von der kompromisslosen Nachfolge, das in Mt 10,37f. und Mt 19,29f. gedoppelt ist, aber auch in Lk 14,26f. und Lk 18,29f.
Dubletten und Doppelüberlieferungen stellen ein starkes Argument zugunsten der Zweiquellentheorie dar: Einmal folgt der Evangelist seiner Mk-Vorlage, einmal der Logienquelle.
Gerade im Fall der Aussendungsrede hat Mt Mk-Text und Q-Vorlage ineinander verwoben, wie er dies häufiger tut. Lk hingegen verwendet bei der Übernahme seiner Quellen eine »Blocktechnik«: Ein Block Mk wird von einem Block Q abgelöst. Dadurch weist Lk auch mehr Dubletten auf als Mt.
Allerdings ist die Rekonstruktion der Logienquelle bei Dubletten nicht einfach, da sich nicht immer entscheiden lässt, ob ein bestimmtes Wort oder eine ganze Phrase nun auf den redaktionellen Einfluss des Evangelisten (Mt oder Lk) zurückgeht oder bereits so in Q stand.10
Die sogenannten minor agreements meinen die »kleineren Übereinstimmungen« überall dort, wo Mt und Lk ihre Mk-Vorlage in gleicher Weise abändern. Dies geschieht in einigen wenigen (daher: »minor«) Fällen, wo z. B. Texte des Mk sowohl von Mt wie auch von Lk gestrichen wurden, aber auch bei redaktionellen Eingriffen.
All dies dürfte es nach der Zweiquellentheorie nicht geben, da dieser zufolge Mt und Lk einander nicht kannten. Haben Mt und Lk diese Änderungen eigenständig und ohne Kenntnis des anderen in ihre Evangelien eingetragen? Oder griffen beide auf eine frühere bzw. spätere Variante des uns heute überlieferten MkEv zurück?
Eine uns heute verlorengegangene frühere Variante des MkEv wird als ProtoMk, eine spätere Variante als DeuteroMk/DtMk bezeichnet. Ob es diese überhaupt gegeben hat, lässt sich heute nicht mehr entscheiden. Jedenfalls würde man dadurch eine neue Unbekannte in die ohnehin schon spekulative Gesamtkonstruktion einbauen, da dieses Mk-Exemplar später verloren gegangen sein müsste und uns heute nicht mehr erhalten ist. Allerdings könnte eine solche Hypothese helfen, die minor agreements zu erklären. Dies etwa vertreten U. Schnelle, für den DtMk allerdings nur eine »Bearbeitungsschicht« und nicht einen umfassenden Neuentwurf des MkEv darstellt, und U. Luz, der ebenfalls unterstreicht, dass die »Minor Agreements aber nicht zu einer grundsätzlichen Revision der Zwei-Quellen-Hypothese« nötigen, da »sie kein klares gemeinsames sprachliches und/oder theologisches Profil zeigen«.11 Eine Sonderform der DtMk-These bietet A. Fuchs, der weite Abschnitte, die generell der Logienquelle zugerechnet werden, für DtMk reklamiert, ohne die Existenz der Logienquelle grundsätzlich zu bestreiten.12
Dies alles sind ohne Zweifel gangbare Wege, sinnvoller aber scheint es, das Phänomen der secondary orality (s. u. I.3.3.3) stärker zu werten, also einer zur schriftlichen Überlieferung parallel weiterlaufenden mündlichen Tradition. Wir dürfen nicht vergessen, dass die meisten Menschen damals Analphabeten waren und auch des Lesens Kundige zumeist auswendig rezitierten. Schriften waren sehr teuer und nur im Besitz von Reichen oder Gemeinschaften, obendrein aufgrund ihrer sperrigen Form schwer zu transportieren. Daher könnte auch eine kontrastierende mündliche Überlieferung in die schriftliche Form der Texte interferiert haben. Dies ist zumindest eine weniger aufwendige Hypothese, statt zusätzlich noch die Annahme von DtMk einzuführen.
Bei den Stellen, die Lk aus dem MkEv weglässt, sticht vor allem die sogenannte »große Lücke« (auch »große Auslassung«) zwischen Lk 9,17 und 9,18 ins Auge, wo Mk 6,45–8,26 seinen Platz gehabt hätte, aber fehlt. Häufig wurde vermutet, dass Lk ein verstümmeltes Mk-Exemplar (DtMk) oder eine frühere, kürzere Form des MkEv (ProtoMk) vorliegen gehabt habe.13 Es gibt aber Hinweise, dass Lk hier bewusst redigiert hat: Zum einen war wohl die Dublettenvermeidung (Mk 8,1–10 zu Mk 6,34–44) federführend, zum anderen auch der Wunsch des Lk, die mit der Israelthematik verbundenen Fragen (z. B. die Frage nach rein und unrein, Mk 7,1–23; die Heidin im Kontrast zu Israel, 7,24–31; der Sauerteig der Pharisäer und des Herodes, 8,15) gesondert zu behandeln (dies wird durch die lk Erzählpragmatik erst in der Apg thematisiert, etwa Apg 10,1–11,18).14 An einigen Hinweisen kann man erkennen, dass Lk den von ihm ausgelassenen Text Mk 6,45–8,26 dennoch kannte. So etwa übernimmt er die Ortsangabe Betsaida in 9,10 aus Mk 6,45 und 8,22.15 Dies kann als Hinweis dienen, dass es sich bei der »großen Lücke« tatsächlich um eine »große Auslassung« handelt.
Das MkEv weist sehr viel Stoff auf, der in ähnlicher Weise auch in Q vorkommt (die sogenannten Mark-Q Overlaps): Mk 1,2; 1,7–8; 1,12–13; 3,22–26.27–29; 4,21.22.24.25; 4,30–32; 6,7–13; 8,11.12; 8,34–35; 8,38; 9,37.40.42.50; 10,10–11; 10,31; 11,22–23; 12,37b–40; 13,9.11.33–37).16 Hätte Mk allerdings Q gekannt, dann wäre nur schwer zu erklären, warum er viele andere schöne Passagen aus Q ausgelassen hat. Daher muss eine direkte literarische Verbindung zwischen Mk und Q als unwahrscheinlich zurückgewiesen werden.
Allerdings erkennt man an dieser Stelle sehr gut, wie altes, mündliches Traditionsgut der Jesusüberlieferung unterschiedlich – doch im Kern ähnlich – von der Urkirche überliefert wurde. Gerade hier kann man die prinzipielle Zuverlässigkeit der mündlichen Jesusüberlieferung trotz unterschiedlicher Überlieferungsströme und trotz unterschiedlicher späterer Auswortung beobachten.
Die seit Lachmann 1835 postulierte Markus-Priorität hatte in der Wissenschaft zunächst dazu geführt, dem MkEv die höchste historische Authentizität in der Wiedergabe der Jesustradition zuzuschreiben. Nachdem W. Wrede allerdings 1901 sein Buch Das Messiasgeheimnis in den Evangelien veröffentlicht hatte, war klar geworden, dass auch Mk starken redaktionellen Interessen folgte und keinen ungefilterten Zugang zu Jesusworten ermöglichte.17 Auf der Suche nach dem »ursprünglichen« Jesus ging nun das Augenmerk durch A. v. Harnacks Schrift Das Wesen des Christentums (Auflagen 1900–1929, jeweils um Anmerkungen erweitert) auf die Logienquelle über.18 Allerdings wurde in der deutschen Formgeschichte die Logienquelle bloß als ergänzende paränetische Sammlung von Jesusworten angesehen, die mit den Höhenflügen des paulinischen Kerygmas nicht mitzuhalten vermochte. Dies jedoch änderte sich mit der bei G. Bornkamm entstandenen, 1959 publizierten Dissertation von H. E. Tödt Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung. Seit dieser Publikation setzte sich die Erkenntnis durch, dass Q einen eigenen kerygmatischen Entwurf voraussetzt und einen unabhängigen Strang der Jesusüberlieferung präsentiert. Damit allerdings stieg auch der Quellenwert dieses frühen Dokuments der Jesusbewegung beträchtlich! So etwa hatte O. H. Steck in seiner 1967 erschienenen Dissertation erkannt, dass das deuteronomistische Geschichtsbild federführend hinter der Theologie der Q-Verfasser stand (s. u. III.2.5.2). In allerjüngster Zeit wurde dieser Ansatz weiterentwickelt: 2010 konnte M. Labahn mit seiner Habilitationsschrift Der Gekommene als Wiederkommender. Die Logienquelle als erzählte Geschichte überzeugend darstellen, dass die Logienquelle nicht nur eine willkürliche Zusammenstellung frei flottierender Jesusworte darstellt, sondern einen durchgehenden narrativen Plot aufweist (s. u. III.1).
Die redaktionsgeschichtlichen Arbeiten von D. Lührmann (1969), R. A. Edwards (1971), P. Hoffmann (1972) und A. Polag (1977) legten ein besonderes Augenmerk auf die theologische Konzeption und den soziohistorischen Hintergrund der Logienquelle. Dabei kam auch die einzigartige Stellung von Q innerhalb des Frühchristentums zur Sprache. Die besondere Nähe der Logienquelle zu den Ursprüngen der Jesusbewegung, wie etwa die Abfassung in Nord-Palästina (s. u. II.1.2) oder die archaische Theologie, in der der »Christus«-Titel noch nicht für Jesus verwendet wird (s. u. III.2), lassen Q als ein Bindeglied zwischen der frühen Jesusüberlieferung und der späteren Evangelientradition erscheinen. Besonders wenn man mit einer längeren mündlichen Überlieferungszeit der Logienquelle rechnet, bevor diese schriftlich niedergelegt wurde (s. u. I.3.3 und II.1), kann man an der Logienquelle sowohl mündliche Traditionsprozesse wie auch den Übergang zur Schriftlichkeit analysieren. In der Gegenwart ist es gerade J. Kloppenborg, der mit der Annahme von Wachstumsstrata innerhalb von Q (Q1–Q2–Q3; s. u. I.3.3.1) auf die unterschiedlichen theologischen Entwicklungsstufen der Logienquelle verwiesen hat.19
Obendrein kann man an der Logienquelle auch noch deutlich das ursprüngliche »Lokalkolorit« der Jesusbewegung wahrnehmen: Die Jesusjünger haben hier noch nicht den Sprung ins urbane Milieu geschafft, der das spätere Christentum so auszeichnete.20 Auf Schritt und Tritt schimmern noch die kleinbürgerlichen galiläisch-ruralen Strukturen durch (s. u. II.1.2). Auch dies macht die Logienquelle wertvoll als einzigartiges Zeugnis der frühen palästinischen Jesusbewegung.
Diese unzweifelhafte Nähe zu den ersten Nachfolgern Jesu darf jedoch nicht einem unkritischen Romantizismus Vorschub leisten, in der Logienquelle nun den alleinigen »O-Ton« Jesu heraushören zu wollen. Auch die Logienquelle unterlag theologischen Deutungs- und Entwicklungsprozessen. Will man allerdings die Konzeption der tria tempora traditionis ernst nehmen,21 der drei Zeitstufen der Überlieferung, die erstens Jesus, zweitens die mündliche Überlieferung und dann erst drittens die Evangelien ansetzt, so ist uns mit der Logienquelle tatsächlich ein Hinweis auf eine längere mündliche Überlieferung des Jesusmaterials vor dessen Verschriftlichung erhalten geblieben.
Erst in jüngerer Gegenwart wurde einem bisher unberücksichtigten Aspekt der Logienquelle Aufmerksamkeit geschenkt: Die Logienquelle stellt nicht nur ein Dokument der frühen Jesusjünger dar, sondern kann auch als Dokument des Frühjudentums gelesen werden (s. u. II.2.8 und II.5.1).22 Diese Erkenntnis konnte allerdings erst konkretere Gestalt annehmen, seit in der Bibelwissenschaft das Bewusstsein wächst, dass das »Parting of the Ways«, die Trennung von Juden und Christen, ein länger andauernder Prozess war und nicht das Werk einer Generation. Gerade für die Logienquelle ist anzunehmen, dass sie noch »von einer intakten jüdischen Matrix aus zu lesen und zu verstehen ist«.23 Gleicherweise fällt es schwer, in der Trägergruppe hinter Q bereits »Christen« sehen zu wollen – schließlich taucht der »Christus«-Titel kein einziges Mal in Q auf (s. u. III.2). Daher sollte man bezüglich der Q-Gruppe wohl besser von jesusgläubigen Juden sprechen.
Damit allerdings wird die Logienquelle nicht nur zu einem wichtigen Zeugnis, das die Entwicklung des Christentums zu dokumentieren hilft, sondern auch zu einem Beleg für unterschiedliche theologische Ansätze des Frühjudentums, deren Erforschung auch interdisziplinäre Bedeutung hat.
Nicht nur der hypothetische Charakter der Logienquelle selbst, sondern auch die konkrete Rekonstruktion des Textes stellt vor Probleme. Dort, wo MtEv und LkEv über den Mk-Text hinaus wortwörtlich miteinander übereinstimmen, macht die Wiederherstellung des verlorenen Textes keine Schwierigkeiten – hier haben Mt und Lk ihre Q-Vorlage offenbar wörtlich übernommen. Doch dies ist nicht immer der Fall. Ein Blick auf die Mk-Vorlage, die uns ja als eigener Text erhalten geblieben ist, vermag dies zu verdeutlichen: So etwa übernimmt Mt 90% des Mk-Stoffes, während Lk nur 55% verwendet24 (als Grund dafür kann u. a. die »große Lücke« benannt werden, s. o. I.1.4.3). Da allerdings die Auslassungen unterschiedlich ausfallen, finden von den insgesamt 609 Versen des MkEv nur etwa 30 kein Äquivalent bei den beiden »Seitenreferenten« (so werden Mt und Lk in Bezug zum MkEv genannt). Es handelt sich hier um drei Perikopen (Mk 4,26–29: Gleichnis von der selbstwachsenden Saat; 7,31–37: Heilung eines Taubstummen; 8,22–26: Heilung des Blinden von Betsaida) und drei kürzere Texte (Mk 3,20f.: Jesu Verwandte halten ihn für verrückt; 9,49: das Wort vom Salzen mit Feuer; 14,51f.: die Flucht des nackten Jünglings). Auch die Reihenfolge des MkEv wurde größtenteils beibehalten: Das MtEv weicht nur in zwölf Fällen von seiner Mk-Vorlage ab, Lk noch seltener.
Daraus lässt sich schließen: Wenn Mt und Lk Q als literarische Quelle mit der gleichen Sorgfalt behandelt haben wie das MkEv, dann ist anzunehmen, dass sich aus ihren beiden Evangelien fast die gesamte Logienquelle rekonstruieren lässt – und das auch in der richtigen Reihenfolge.
Gerade vom ersten Evangelisten werden wir aufgrund seines Profils sagen können: »Theologisch steht Matthäus Q näher als dem Mk.«25 Für ihn gilt das MkEv als theologisch »korrekturbedürftig«, ja, vielleicht ist Mt sogar »markuskritisch«, wenn nicht sogar »antimarkinisch.«26 – Trotz dieser theologischen Vorbehalte schuldet Mt seiner Mk-Quelle eine solche Loyalität, dass er 90% davon übernimmt. Dies muss dann freilich auch a fortiori für seine zweite Quelle, also Q, gelten, da Mt dieser Quelle näherstand als dem MkEv. Wahrscheinlich waren es sogar Q-Missionare, denen die mt Gemeinde ihre Existenz verdankt: Wandernde Boten der Logienquelle operierten schon zuvor im nordpalästinisch-syrischen Grenzraum (s. u. II.1.2); wahrscheinlich wurde die in Syrien zu lokalisierende Matthäusgemeinde von umherziehenden Propheten der Logienquelle gegründet.27 Das MtEv könnte dann geradezu als »theologischer Nachlaßverwalter der Quelle Q«28 verstanden werden (s. u. II.4.2).
Aber auch für Lk lässt sich ein ähnlich akribischer Umgang mit seinen Quellen veranschlagen. Schon bei der »großen Lücke« (s. o. I.1.4.3) haben wir gesehen, dass Lk ausgelassenes Material an anderer Stelle »wiederverwertet« und somit eine Tendenz beweist, auch nicht ins Konzept passendes Quellenmaterial doch noch unterzubringen.
Summa summarum: Rechnet man das von Mk übernommene Material ab, so stimmen MtEv und LkEv noch immer in weiteren ca. 200 Versen mehr oder weniger wörtlich überein.29 Auf dieser Basis lässt sich eine »konservative« Rekonstruktion der Logienquelle bewerkstelligen, obwohl darüber hinaus nicht auszuschließen ist, dass der Text von Q noch umfangreicher war. Allerdings stehen die Chancen gut, dass Mt und Lk mit ihrer Q-Vorlage akribisch umgingen: Ein Vergleich mit dem aus Mk übernommenen Material legt nahe, dass Mt und Lk auch aus Q nicht allzu viel Material ausließen und obendrein dem ursprünglichen Wortlaut grundsätzlich treu blieben. Aufgrund der lk Blocktechnik kann man auch die ursprüngliche Abfolge der Q-Verse einigermaßen gut rekonstruieren.
Die Muttersprache Jesu und seiner Jünger war Aramäisch.30 Zweifelsohne hat Jesus seine Gleichnisse in dieser Sprache erzählt. Inwieweit Aramäisch im damaligen Galiläa, dem Entstehungsort der Logienquelle (s. u. II.1.2), auch als Schriftsprache in Verwendung war, darüber scheiden sich die Geister.
Wenn die Logienquelle in Galiläa verfasst wurde, muss man fragen, welche Bevölkerungskreise dort des Schreibens kundig waren. Jesus und seine ersten Jünger waren des Lesens und Schreibens wahrscheinlich nicht mächtig.31 Die in frühjüdischen Texten wiederholt begegnende Forderung, dass Kinder für die Toraauslegung Lesen und Schreiben lernen sollten (1QSa I,6–8; Josephus Ap 2,204; TestLev 13,2), ist zu optimistisch und in jedem Fall ein Idealbild. Die Alphabetisierungsrate lag im damaligen Palästina unter 10–15 Prozent.32 Auch die vielzitierten »Synagogenschulen« werden hier überschätzt, wahrscheinlich wurden zur Zeit Jesu nur die elementaren Texte auswendig gelernt.33 Noch in späterer rabbinischer Zeit wurde die einfache, theologisch ungebildete Landbevölkerung mit dem pejorativen Ausdruck ‘am ha-᾿arez (wörtl. »Volk des Landes«, etwa bPes 49a–b; bBer 47b; bSot 22a) belegt: einfache, der Tora unkundige Menschen (vgl. auch Joh 7,49). Gerade das rurale Galiläa wurde in toraaffinen Kreisen oft verachtet (vgl. Mt 4,15 und Joh 7,52).
Bisweilen wurde die These vertreten, dass die Logienquelle teilweise34 oder vollständig35 in mündlicher Form tradiert wurde. Durch den hohen Grad an Analphabetismus wird man zweifelsohne von einem gewissen Maß an secondary orality (s. u. I.3.3.3) auch nach Abfassung der Logienquelle ausgehen können. Trotzdem legt die wortwörtliche Übereinstimmung zwischen Mt und Lk in den Q-Passagen eine schriftliche Vorlage unbedingt nahe: Selbst kleinste Füllwörter, aber auch komplizierte längere Phrasen, werden in derselben Wortfolge wiedergegeben.36 Das lässt gerade nicht auf »eine (relativ flexible) mündliche Tradition« schließen.37 Darüber hinaus spricht auch die Anordnung des Materials bei Doppelüberlieferungen für eine schriftliche Quelle: Mehr als ein Drittel der Einheiten aus der Doppelüberlieferung stehen bei Mt und Lk in der gleichen Reihenfolge.38 Aber auch das Faktum von Doppelüberlieferungen und Dubletten selbst deutet auf eine schriftliche Quelle hin.
Schulen für Schriftgelehrte gab es am Tempel in Jerusalem, dort wurden Hebräisch und Aramäisch auch als Schriftsprachen gelehrt.39 Diese Kreise aber hatten mit Galiläa wenig Kontakt. Sadduzäer waren in Judäa und natürlich besonders in Jerusalem angesiedelt, da ihr Dienst am Tempel keine zu großen Entfernungen zuließ. Auch die Pharisäer waren größtenteils in Judäa und Jerusalem beheimatet. Zwar dehnten sie ihren Einfluss auch auf Galiläa aus, doch war dies nicht ihre natürliche Heimat. Nach Josephus, Vita 196f., müssen die Pharisäer eine Gesandtschaft von Jerusalem nach Galiläa schicken, um die Vorgehensweise des Josephus zu überwachen.40 Hier ist man stark an die Berichte der drei Synoptiker erinnert, wo Pharisäer von Jerusalem nach Galiläa kommen, um das Handeln Jesu zu beurteilen (Mk 7,1f.; Mt 15,1f.; Lk 5,17). Daher scheiden wohl auch Schriftgelehrte aus pharisäischen Kreisen für die Abfassung der Logienquelle aus, zumal Pharisäer zu den Gegnern der Q-Gruppe zählen (s. u. II.2.5.1).
Bis auf die soeben genannten pharisäischen Einflüsse haben wir im damaligen Galiläa keinerlei Hinweise auf einen eigenen, autochthonen, schriftgelehrten Theologenstand.41 Anders aber verhält es sich, wenn man auf die Schriftgelehrten als bürokratische Verwaltungsbeamte blickt: Die κωμογραμματεῖς (kōmogrammateís) waren einfache Dorfschreiber (mehr dazu s. u. II.3.2), die als niedere Funktionäre und moderat gebildete Mittelsmänner zwischen der einfachen Bevölkerung und der herrschenden Bürokratie standen. Die Amtssprache, der sich diese Leute bedienten, war mit hoher Wahrscheinlichkeit das Koine-Griechisch, in dem alle Bücher des Neuen Testaments abgefasst sind. Diese Sprache war die lingua franca des damaligen östlichen Mittelmeerraums und ziemlich sicher auch die Sprache der bürokratischen Administration im damaligen Galiläa.42 Bereits die Ptolemäer hatten im 3. Jh. v. Chr. Griechisch als Verwaltungssprache in Israel eingeführt, und die Seleukiden hatten daran nichts geändert. Höchstwahrscheinlich haben auch die Hasmonäer, dann Herodes und seine Nachfolger, sowie später die Römer diese Regelung übernommen: Griechisch war im damaligen Galiläa und in ganz Palästina die politische und wirtschaftliche Verkehrssprache. Das passt gut damit zusammen, dass im griechischen Text der Logienquelle Fachtermini hellenistischer Bürokratie nachweisbar sind.43 Während Aramäisch die Umgangssprache der einfachen Bevölkerung war, wurde Griechisch für den administrativen und wirtschaftlichen Schriftverkehr verwendet. Literalität war im damaligen Galiläa zumeist an die griechische Sprache gebunden.44
Das deckt sich perfekt mit dem literarischen Befund von Q: Die wortwörtliche Übereinstimmung zwischen Mt und Lk in den Q-Passagen operiert auf griechischer Sprachbasis. Obendrein wurde in Q 4,4.8.10f.12 der Text der LXX, also der griechischen Übersetzung der jüdischen Bibel, zugrunde gelegt und nicht der hebräische Text.45 Daher muss auch aufgrund von textimmanenten Kriterien angenommen werden, dass Mt und Lk eine griechisch abgefasste Logienquelle vorlag.
Sämtliche Rückübersetzungsversuche der Logienquelle ins Aramäische sind mit hohen Unsicherheiten verbunden.
Zum Ersten: Der schriftliche Text der Logienquelle, wie wir ihn aus dem MtEv und dem LkEv rekonstruieren können, wurde in griechischer Sprache verfasst. Man kann zwar mit Recht vermuten, dass davor eine längere Phase der mündlichen aramäischen Tradition anzusetzen ist, doch bleiben diese Vorstufen der Q-Entwicklung ebenso hypothetisch wie Annahmen, wann der Übergang vom Aramäischen ins Griechische erfolgte.46
Darüber hinaus bietet Q auch nicht den »O-Ton« Jesu, sodass man hier 1:1 auf die Formulierungen des historischen Jesus rückschließen könnte. Auch Q ist bereits das Resultat urgemeindlicher Theologie (s. u. Teil III), wenngleich natürlich noch viel vom ursprünglichen Kolorit der Jesusbewegung mitschwingt.
Das eigentliche Problem aber ist ein philologisches: Wir wissen einfach nicht genau, welches Aramäisch Jesus bzw. die Q-Leute wirklich sprachen. Das Bibel-Aramäische, etwa aus dem Buch Daniel, ist 160 Jahre zu alt, um den Zeitraum Jesu abzudecken, während das Targum-Aramäische47 und das rabbinische Aramäisch zu jung sind. Das Aramäisch in den Schriftrollen von Qumran könnte chronologisch passen, doch geben die Texte judäisches Aramäisch wieder, wovon das galiläische Aramäisch unterschieden werden muss (vgl. Mt 26,73).48 Dasselbe gilt für die Funde von Naḥal Ḥever und Wadi Murabba’at. Obendrein fehlen für bestimmte Ausdrücke der Logienquelle entsprechende Pendants in den Qumranrollen.49 Sämtliche Rekonstruktionsversuche haben somit einen hohen Unsicherheitswert.
Wann für Q der Sprung vom Aramäischen ins Griechische erfolgte, wissen wir nicht, wahrscheinlich ist dieser mit der Verschriftlichung verbunden.50 Nach dem Tod Jesu, also 30 n. Chr., begannen wohl schon bald die ersten mündlichen Spruchsammlungen zu kursieren.51 In der uns heute in MtEv und LkEv erhaltenen Form wurde die Logienquelle jedoch erst um 60 n. Chr. (s. u. II.1.1) abgefasst: Der einheitliche theologische und narrative Duktus der Logienquelle (s. u. III.1) legt solch eine abschließende, formgebende kompositionelle Redaktion nahe.52
Ob man hinter die abschließende Redaktion der Logienquelle, die jenen Text hervorbrachte, wie er sich aus MtEv und LkEv rekonstruieren lässt, zurückgehen kann, ist Gegenstand der Diskussion. Zu Recht bemerkt J. S. Kloppenborg Verbin, dass im Q-Text selbst solche »stratigraphic markers« enthalten sind, die auf ein Wachstum der Texte hinweisen.53 Tatsächlich kann man in der Logienquelle gut die Existenz von »Kernsprüchen« und die spätere Hinzufügung von Kommentarworten erkennen, sowie eine noch spätere Zusammenstellung von kleineren thematischen Einheiten bis hin zu einer letztlich erfolgenden Komposition größerer Cluster. Gerade die Mark-Q Overlaps (s. o. I.1.4.4) belegen, dass gewisse Traditionszyklen schon bald als geprägte Erzähleinheiten kursierten und sowohl in Q als auch in Mk unabhängig voneinander Eingang fanden.54
J. Kloppenborg Verbin geht hier noch einen Schritt weiter und veranschlagt die Existenz von drei schriftlichen Entwicklungsstufen von Q:
Q1 als »formative stratum«, das einige nur lose miteinander verbundene Spruch-Cluster verbindet.55
Q2 als Hauptredaktion, in der besonders von deuteronomistischer Theologie (s. u. II.2.5.2) beeinflusste Deutemuster federführend werden.56
Q3 schließlich wird von Kloppenborg Verbin weniger als eine eigene Redaktion, sondern eher als eine Art »minor glossing« angesehen, die missverständlichen Deutungen des Textes vorbeugen soll (etwa dem Missverständnis, dass nach Q 16,16 das Gesetz nicht mehr gültig sei, was durch Q 16,17 korrigiert wird).57
Im Gegensatz zu J. Kloppenborg Verbin bleibt P. Hoffmann hier jedoch skeptisch:
Hoffmann, Mutmaßungen, 260f.: Ich schließe also nicht aus, dass in dem ›Konglomerat Q‹ ältere und jüngere Stoffe unterschieden werden können oder dass sich in einer Spruchgruppe noch ursprüngliche Tendenzen ausmachen lassen, die von denen der Schlußredaktion abweichen, und so auch inhaltliche Verschiebungen im Traditionsprozess ausgemacht werden können. Ob ein Teil dieser Stoffe bereits zu einer Schrift zusammengefasst und wie diese konzipiert war oder aber ob alle Stoffe aus der vorangehenden Tradition erst durch die Schlußredaktion rezipiert wurden, bleibt offen.
Letztlich bleibt der Unterschied hier wohl auch marginal, da Hoffmann in der von Kloppenborg Verbin angesetzten Hauptredaktion Q2 die einzige und abschließende Q-Redaktion sieht.58 Damit aber wird das von Kloppenborg Verbin veranschlagte Stratum Q1 nicht obsolet, sondern lediglich zu einer möglichen mündlichen Vorstufe von Q – und die für Q3 veranschlagten Eingriffe sind nach Kloppenborg Verbin ohnehin minimal.
Wachstumsprozesse lassen sich für Q also sehr gut nachweisen, doch bleibt fraglich, ob diese bereits auf schriftlicher Basis erfolgten oder lediglich mündlicher Tradierung zu verdanken sind.
Vermittelnd könnte sich hier die Position von C. Heil erweisen, der auf die Bedeutung der secondary orality verweist.59 Zu Recht unterstreicht er, dass in der Antike auch nach der Verschriftlichung von Texten »nicht … die wortwörtliche Wiederholung eines kanonischen Textes …, sondern … die inspirierte, emphatische Aufführung« im Mittelpunkt stand.60 Damit verschwimmen die Grenzen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit: »Manche Varianten in der Textüberlieferung gehen dann nicht auf unabsichtliche Abschreibfehler oder absichtliche Redaktionen zurück, sondern auf Varianten in der mündlichen Überlieferung.«61 Weiter oben haben wir dieses Konzept bereits für eine mögliche Erklärung von minor agreements herangezogen (s. o. I.1.4.1). Solch ein Konzept belegt recht gut, wie selbst bei schon verschriftlichten Traditionen mit einer weiteren Interferenz mündlicher Überlieferungen zu rechnen ist.
Bisweilen wird in der Forschung damit gerechnet, dass die Logienquelle nach der Endredaktion eine spätere »Rezension« erfahren habe und dann in zwei verschiedenen Varianten vorgelegen sei. Demzufolge wäre Q den beiden Evangelisten Mt und Lk in einer QMt und einer QLk Form zugänglich gewesen, wobei nach U. Luz »QMt eine nur unwesentlich veränderte und erweiterte Fassung von Q«62 darstellte, QLk hingegen weiter ausgebaut worden sei. Allerdings lassen sich solche Weiterentwicklungen nicht beweisen und »dienen meist nur als Verlegenheitslösung für schwierige Rekonstruktionsprobleme, besonders bei Sondergut-Logien.«63 Daher wird man bei solchen Texten eher mit der Herkunft aus dem mt oder lk Sondergut zu rechnen haben als mit zwei verschiedenen Q-Rezensionen.
Wie wir schon weiter oben gesehen haben, belegen Dubletten und Doppelüberlieferungen die Existenz von zwei Quellen (s. o. I.1.3.4). Die Häufigkeit der Dubletten bei Lk bezeugt die ihm eigene lk »Blocktechnik« bei der Übernahme seiner Quellen: Ein Block Q wird von einem Block Mk abgelöst.64 Mt hingegen hat sein Quellenmaterial stärker vermischt und neu konzipiert (etwa in Gestalt der »Bergpredigt« oder anderer großer Reden Jesu). Daher hat wohl Lk die ursprüngliche Abfolge seiner Quellen besser bewahrt; in Bezug auf die Logienquelle spricht man hier von der Q-Akoluthie, also von der Abfolge der einzelnen Texte in Q.
Durch die lk Blocktechnik können wir die ursprüngliche Abfolge der Texte in der Logienquelle also relativ gut rekonstruieren. Daher verwendet man bei der Zählung der Kapitel und Verse der Logienquelle auch die Kapitel- und Versangaben des LkEv, nur, dass man statt »Lk« ein »Q« voransetzt. Der Text Lk 11,9–13 wird so zu Q 11,9–13, der Paralleltext dazu findet sich in Mt 7,7–11. Diese Konvention wurde 1983 von J. M. Robinson eingeführt (s. u. I.3.8.1).
Folgt man der Lk-Akoluthie bei der Rekonstruktion der Logienquelle, so entsteht ein gut gegliedertes Textstück vor unseren Augen. Dass der so rekonstruierte Text dabei offensichtlich einem bestimmten Gliederungsschema folgt, mag ebenfalls als Argument zugunsten der Zweiquellentheorie und der Q-Rekonstruktion gelten. Die Logienquelle war damit nicht nur ein Sammelsurium bunt zusammengewürfelter Jesusworte, sondern folgte bereits einem durchdachten Schema. Folgenden Grundaufbau könnte man hier zugrunde legen:65
Teil 1: Johannes der Täufer und Jesus von Nazaret (Q 3,2–7,35)
Die Botschaft des Johannes (Q 3,2b–17)
Taufe und Bewährung Jesu (Q 3,21f.; 4,1–13)
Jesu programmatische Rede (Q 4,16; 6,20–49)
Der Glaube eines Heiden an Jesu Wort (Q 7,1–10)
Johannes, Jesus und die Kinder der Weisheit (Q 7,18–35)
Teil 2: Die Boten des Menschensohnes (Q 9,57–11,13)
Radikale Nachfolge (Q 9,57–60)
Missionsinstruktion (Q 10,2–16)
Das Geheimnis des Sohnes (Q 10,21–24)
Das Gebet der Jünger (Q 11,2b–4.9–13)
Teil 3: Jesus im Konflikt mit dieser Generation (Q 11,14–52)
Zurückweisung des Beelzebul-Vorwurfs (Q 11,14–26)
Ablehnung der Zeichenforderung (Q 11,16.29–35)
Androhung des Gerichts (Q 11,39–52)
Teil 4: Die Jünger in Erwartung des Menschensohnes (Q 12,2–13,21)
Bekenntnis zu Jesus ohne Furcht (Q 12,2–12)
Sucht die Königsherrschaft Gottes! (Q 12,33f.22b–31)
Das unerwartete Kommen des Menschensohnes (Q 12,39–46.49–59)
Zwei Gleichnisse von der Königsherrschaft Gottes (Q 13,18–21)
Teil 5: Die Krisis Israels (Q 13,24–14,23)
Teil 6: Die Jünger in der Nachfolge Jesu (Q 14,26–17,21)
Teil 7: Das bevorstehende Ende (Q 17,23–22,30)
Der Tag des Menschensohnes (Q 17,23–37)
Das Gleichnis vom anvertrauten Geld (Q 19,12–26)
Ihr werdet die zwölf Stämme Israels richten (Q 22,28.30)
Die erste vollständige Rekonstruktion der Logienquelle legte A. v. Harnack (1851–1930) in seiner 1907 erschienenen Monographie Sprüche und Reden Jesu. Die zweite Quelle des Matthäus und Lukas vor. In der folgenden Zeit wurden Rekonstruktionsversuche immer wieder von unterschiedlichster Seite unternommen, die sich jedoch nie völlig durchsetzen konnten.66 Bald wurde klar, dass solch ein Unterfangen nicht nur die Aufgabe eines einzelnen Forschers sein konnte, sondern ein ganzes Team die Grundlagen für einen »textus receptus« legen musste.
Besonders prädestiniert dafür war J. M. Robinson vom Institute of Antiquity and Christianity in Claremont CA, der Anfang der achtziger Jahre die Edition der Bibliothek von Nag Hammadi in Teamleistung bewerkstelligt hatte. Er gründete 1983 ein Q-Projekt in der Society of Biblical Literature mit Zentrum in Claremont. Um die Zitation von Q-Texten zu vereinfachen, führte er 1983 die heute allgemein übliche Konvention ein, Q-Verse nach Lk mit dem Kürzel Q zu bezeichnen (s. o. I.3.6).
1989 gründeten J. M. Robinson (Claremont, Kalifornien/USA) und J. S. Kloppenborg (Toronto/Kanada) das Internationale Q-Projekt (IQP); 1993 stieß auch P. Hoffmann (Bamberg/Deutschland) mit seinem Team zum IQP.
Das IQP verfolgte vier Ziele:67
Erstens bot dieses Projekt eine gemeinsame Plattform, die half, die alten Schulgrenzen hinter sich zu lassen. International vernetzt wurde nun am Text gearbeitet; neben den Zentren Claremont, Toronto und Bamberg stießen auch noch weitere Wissenschaftler unterschiedlichster Provenienz hinzu – insgesamt fast 50 Forscher.
Zweitens